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Die Verbindung, die unter so angenehmen Bedingungen zwischen den beiden eingeleitet worden war, gestaltete sich von Tag zu Tag freundlicher. Andreas hatte nie eine bessere Hilfe gehabt, nie so leicht, sicher und schnell gearbeitet, und nie mit solcher Lust und Liebe wie jetzt.

Jedesmal, wenn er sie da am Tischchen sitzen sah, in ihrem schlichten, graublauen Kleide, das die zarten Formen ihrer mädchenhaften Gestalt knapp umspannte, den runden Kopf mit den vollen blonden Haaren ein wenig gesenkt, die Augen unverwandt auf das Papier gerichtet, die Lippen halb geöffnet, – wenn er sie so vor sich sah, so still und ernst, und dabei so jung und anmutig und erfrischend, lachte ihm das Herz im Leibe. Ihre Nähe gewährte ihm eine nie gekannte Anregung. Kombinationen und Verknüpfungen, die er bisher nur dunkel geahnt, boten sich ihm in lichter Gliederung wie von selbst dar, und der richtige, scharfe Ausdruck, nach dem er früher so oft und so lange tastend hatte suchen müssen, stellte sich mühelos und willig ein.

Seine Arbeit machte so schnelle und glückliche Fortschritte, daß er selbst darüber erstaunte. Er hatte ein Gefühl der vollen Befriedigung,, wenn er, sich den Kopf zerbrechend, in dem kleinen Zimmer auf und ab lief und mit unwillkürlichen Bewegungen, in eigentümlichen Betonungen, die Ergebnisse seines Nachsinnens bald in nervösem Stakkato hervorstieß, bald in merkwürdigem Singsang psalmodierte. Kein anderer hätte ihn belauschen dürfen. Er wäre sich lächerlich vorgekommen. Im Alleinsein konnte er sich zwanglos frei geben, wie's ihm gerade zumute war. Und er war allein. Das ruhige, junge Mädchen am Blumenfenster war kein fremder Zeuge. Es war ein Stück von ihm selbst, seine eigene Hand; es war nur eine Blume mehr im Zimmer, ebenso still und anmutig wie die am Fenster.

Und wenn er sich und ihr nach starker Anstrengung einige Erholung gönnen mußte, wie reizend wurde da geplaudert! Von allem möglichen.

Ohne daß von der einen oder anderen Seite irgendeine lästig neugierige Frage gestellt worden wäre, hatte es sich von selbst gemacht, daß sie nach einiger Zeit manches von ihren früheren Lebensschicksalen voneinander wußten.

Sie hatten viel Gemeinsames. Auch Sabine war eine Holsteinerin, auch ihr Vater war Pastor. Die Väter hatten sich gewiß gekannt. Aber ihre Vermögensverhältnisse waren lange nicht so günstig wie die des Professors, der als einziger Sohn und Erbe eines ziemlich wohlhabenden Mannes Entbehrungen und Geldsorgen nie gekannt hatte. Sabine hatte sechs Geschwister. Ihre älteste Schwester war mit einem Gymnasiallehrer verheiratet, ihr älterer Bruder hatte soeben sein Referendarexamen bestanden, ihre jüngere Schwester war seit einem halben Jahre Gouvernante in England, und die drei jüngsten Geschwister im Alter von zwölf bis sechzehn Jahren waren noch im elterlichen Hause. Da ging es natürlich recht knapp her. Der Pastor Kreutzer mußte für sich und die Seinen mit seinem spärlichen Gehalte auskommen, und die haushälterische Frau Pastorin mußte sich oft den Kopf zerbrechen, wie sie das Kunststück, das Budget ohne Unterbilanz abzuschließen, fertig bringen werde.

So war denn Sabine, die sich zu Hause eine große Fertigkeit im Stenographieren angeeignet hatte, als achtzehnjähriges Mädchen vor drei Jahren nach Berlin gekommen, und seitdem hatte sie die Unterstützung von zu Hause fast gar nicht mehr in Anspruch zu nehmen brauchen. Sie hatte sogar ihrem ältesten Bruder, den sie besonders in ihr Herz geschlossen hatte, von Zeit zu Zeit kleinere Beträge heimlich zusenden können und alle ihre Geschwister zu Geburtstagen und zu Weihnachten beschenkt. Manchmal beschlich sie wohl eine heimwehliche Regung: sie sehnte sich nach dem gemütlichen Pfarrhause mit dem langen Tisch, der ringsum voll besetzt war, und auf dem schließlich noch immer genug stand, um alle satt zu machen, obwohl namentlich die drei Jüngsten einen beunruhigenden Appetit entwickelten. Für ihr Leben gern wäre sie wieder einmal mit ihrem ältesten Bruder zusammen gewesen. Aber das ließ sich nun einmal nicht machen. Sie war vernünftig und eigentlich immer guter Laune.

Im Letteverein hatte sie sich mit einigen sympathischen Damen, wenn auch nicht intim, so doch genügend angefreundet, um mit ihnen gelegentlich einmal ein paar Stunden zu verbringen. An jedem Sonntag aber war sie regelmäßig zu Gast bei ihrem Onkel, dem Oberlehrer Dr. Kreutzer.

Das waren nun eigentlich keine Erholungsstunden. Der Oberlehrer war ein verdrießlicher alter Herr, und die Frau Professor, wie sie vorgreiflich allgemein genannt wurde, klagte unausgesetzt über die Unruhe im Hause, die Verderbtheit der Großstadt, die unerschwinglichen Fleischpreise, den Staub im Sommer, den Schnee im Winter und die Undankbarkeit der Kinder. Ihr einziger Sohn hatte den Eltern allerdings wenig Freude bereitet und trieb sich seit zehn Jahren in Texas herum. Er schrieb ungefähr alle halbe Jahr, um seinen Eltern anzuzeigen, daß er im Begriff stehe, ein steinreicher Mann zu werden, aber augenblicklich – ganz gewiß zum letztenmal! – um eine größere Unterstützung bitten müsse. Mitunter kamen an diesen Sonntagsabenden noch zwei ältere Herren zum Onkel. Dann spielten die drei Skat, und Frau Professor klagte alsdann Sabinen gegenüber um so heftiger über die Lieblosigkeit der Menschen im allgemeinen und der skatspielenden Ehemänner insbesondere. Sabine wollte es sich nicht gern eingestehen, daß sie sich bei ihren Verwandten eigentlich herzlich langweilte. Sie machte es sich zur Pflicht, jeden Sonntag nachmittag pünktlich fünf Uhr beim Bruder ihres Vaters zu erscheinen, aber sie war immer froh, wenn die Tante durch ein ausdrucksvolles Gähnen zu verstehen gab, daß nun auch dieser schöne Tag seinem Ende zuneige. Dann erhob sie sich schnell und freute sich wirklich, wenn sie wieder zu Hause war.

Sie arbeitete gern, und wenn sie nichts zu tun hatte, amüsierte sie sich königlich über Frau Wittig. Die äußerlich ernst und ruhig wirkende Sabine war eigentlich ein ganz übermütiges Geschöpf. Es machte ihr ein unsagbares Vergnügen, die Leute ein bißchen aufzuziehen, ohne daß sie es merkten, und die kinderlose, leidlich einfältige und sehr mitteilsame Witwe war für sie eine unerschöpfliche Quelle innerer Belustigung. Sabine kannte das Repertoire der Wirtin ganz genau, und sie brauchte nur auf den Knopf zu drücken, um sich die beliebtesten Nummern von der ahnungslosen braven Frau vorspielen zu lassen: eigene Erlebnisse und allgemeine Begebenheiten, ihre Verlobung am Pfingstsonntag in der Hasenheide, der blutige Streit mit ihrem Hauswirt in der Philippstraße, ihr bloß durch die Dämlichkeit des Kondukteurs verursachter Sturz von der Elektrischen, bei dem sie sich Hals und Beine hätte brechen können, aber zum Glück mit dem bloßen Schreck davongekommen war, ihre Vernehmung als Zeugin vor Gericht in einem Prozesse gegen einen berüchtigten und gewalttätigen Einbrecher, der auch bei ihr einen verbrecherischen Versuch gemacht hatte, dank ihrer Geistesgegenwart aber unverrichteter Sache hatte flüchten müssen, die Wirkung der Siegesnachricht von Sedan und das lebensgefährliche Gedränge am Abend der Illumination, der Einzug der Truppen, die Eröffnung der Gewerbeausstellung usw.

Wenn Sabine nichts Besseres vor hatte, rief sie unter einem beliebigen Vorwande Frau Wittig und ließ sich mit ihr in ein Gespräch ein. Das machte keine Schwierigkeiten. Sabine freute sich schon vorher darauf, nach eigener Auswahl die von ihr ausersehene Erzählung zu hören. Sie brauchte bloß arglistig den Köder auszuwerfen, dann biß die gute Frau unweigerlich an.

»Wissen Sie, Frau Wittig, es ist doch wohl eigentlich unvorsichtig, daß ich am Abend die Tür bloß verriegle. Ich werde lieber noch den Tisch vorrücken. Man hört so viel von Einbrechern und Totschlägern. Neulich soll hier wieder in der Nähe eingebrochen sein.«

»Seien Sie ganz unbesorgt, liebes Fräulein. Bei mir kann Ihnen nichts passieren. Ich habe Ohren wie ein Luchs. Daß sich hier in Berlin viel Gesindel herumtreibt, das stimmt. Aber uns kann kein Mensch was anhaben. Lassen Sie sich bloß erzählen, was mir im Jahre 1873 zugestoßen ist; im Oktober.«

Sabine war vollkommen glücklich: nun hatte sie die Wirtin dahin gebracht, wo sie sie haben wollte, und sie hörte nun zum soundsovielten Male mit boshaft erheuchelter Andacht die Schreckensgeschichte von dem beinahe geglückten Einbruch. Mit dem Ausdruck der gespanntesten Teilnahme, mit täuschend ehrlichen Gebärden und Lauten des Erstaunens folgte sie dem wortreichen Berichte in allen ihr wohlbekannten Einzelheiten und hing an ihren Lippen, während Frau Wittig ihr breitbeinig gegenübersaß und während der Erzählung mit ihren runden, vollen, appetitlichen Händen in gleichmäßig streichenden Bewegungen die weiße Schürze glättete und ihr Oberkörper langsam auf und nieder pendelte.

In dieser harmlosen Vergnügung war Sabine von grausamer Unersättlichkeit. Sie wurde immer kecker und wagte es sogar, mitunter die Wiederholungen derselben Geschichte in unerlaubt kurzen Zwischenräumen zu provozieren, so daß manchmal Frau Wittig doch ein bißchen stutzig wurde und zweifelnd fragte: »Sollte ich Ihnen denn das noch nicht erzählt haben, was mir mit dem Einbrecher passiert ist?«

»Mir erzählt?« wiederholte Sabine und sah dabei so treuherzig unwissend aus, daß auch ein Klügerer sich hätte täuschen lassen können. »Von einem Einbrecher? Ich verstehe Sie nicht!«

»Dann lassen Sie sich also erzählen«, sagte Frau Wittig, setzte sich, glättete ihre Schürze und begann: »Also im Jahre 1873 war's, im Herbste, so um den Oktober herum ...« Und nun folgte der aufregende Bericht.

Frau Wittig hatte nie eine so aufmerksame Zuhörerin gehabt. Sie hatte für Sabinen eine zärtliche Zuneigung gefaßt, und Sabine war der lieben Frau für die nie versagende Unterhaltung dankbar. Das Verhältnis zwischen den beiden war also sehr nett, und Frau Wittig dankte dem Himmel, daß er ihr so liebe gute Mieter beschieden hatte: den Herrn Professor, den sie wahrhaft verehrte, Fräulein Kreutzer, die eine so feine Dame war, und mit der man sich so gut unterhalten konnte. Wenn Frau Wittig allein etwas erzählen konnte, so nannte sie das: sich unterhalten.

Und nun hatten die jungen Herrschaften Bekanntschaft miteinander gemacht und arbeiteten so hübsch zusammen, so fleißig, so ruhig ... gab es in ganz Berlin eine solche Gemütlichkeit wie hier im Zweiten Stock des gelben Hauses in der Mittelstraße, und eine glücklichere Vermieterin als sie, die verwitwete Frau Steuerinspektorin Christine Wittig, geborene Lemcke?

So waren nun schon einige Wochen vergangen. Der Frühling hatte sich zu voller Pracht entfaltet, der Flieder blühte, und die schönen Bäume des Tiergartens leuchteten im jungen Grün.

In Andreas hatte sich eine starke Wandlung vollzogen. Auch seine frühere Lebensweise hatte er verändert. Die über alles Erwarten schnelle Förderung seiner Arbeit ging doch nicht spurlos an ihm vorüber. Wenn er vier, fünf Stunden Sabinen angestrengt diktiert hatte, so war seine Arbeitsfähigkeit für den Tag ungefähr erschöpft. Dann war es ihm nicht mehr möglich, wie früher, abends bei der Lampe noch fünf, sechs Stunden an seinem Pulte zu sitzen. So verkürzte sich denn die Dauer seiner Arbeitszeit sehr beträchtlich, obwohl er in der Hälfte der Zeit mehr als das Doppelte seines früheren Pensums leistete; und für die Stunden, die er auf diese Weise gewann, fand er nun eine ihm bisher ganz ungewohnte Verwendung. Er ging spazieren, er verabredete sich auch mit Kollegen, die über die an ihm plötzlich wahrgenommene Geselligkeit höchlich, aber angenehm verwundert waren, er ging auch einigemal ins Theater, – ein Vergnügen, das er sich seither kaum einmal im Jahre gegönnt hatte, – er legte sich früher schlafen.

Diese neue und viel vernünftigere Einrichtung seines Lebens schien ihm sehr gut zu bekommen. Es fiel allen auf, wie frisch er aussah. Er hielt sich auch besser. Er war wirklich seelenvergnügt. Für Sabinen empfand er eine rührende, dankerfüllte Zärtlichkeit. Wenn er sie an seinem Fenster sitzen sah, war er ganz glücklich.

Aber wie sich draußen in den himmlischen Rausch von Farbe und Duft manchmal das häßliche trübe Grau kalter regnerischer Tage einschlich, so huschten auch über den sonnigen Lenz seines neuen Daseins garstige Schatten.

Er fühlte mitunter, wenn er allem war, eine merkwürdig quälende Beunruhigung, für die er zunächst keine rechte Erklärung finden konnte. Aber allmählich mußte es ihm doch auffallen, daß sich diese unbegreifliche Mißstimmung mit einer gewissen Regelmäßigkeit einstellte. Und zwar gerade immer an den Nachmittagen, an denen Sabine bei Dr. Scholl beschäftigt war. Das verdroß ihn, er wußte selbst nicht recht, weshalb. Der hätte sich doch auch einen anderen Sekretär suchen können!

Mißmutig blickte er auf den leeren Stuhl am Fenster. Ihm schien, als sei er gerade jetzt besser zum Arbeiten aufgelegt denn je, als habe ihm Sabine nie so gefehlt wie in diesem Augenblicke. Weshalb ihm gerade dieser kostbare Nachmittag entzogen werden mußte!

Nun ward ihm auch klar, weshalb ihm dieser Dr. Scholl gerade in jüngster Zeit instinktiv antipathisch geworden war. Er hatte ihn mehrfach angetroffen, vor und in der Universität. Er hatte es immer zu vermeiden gewußt, mit ihm ein Wort zu wechseln. Es hatte ihn sogar verdrossen, daß er den artigen Gruß seines früheren Schülers hatte erwidern müssen; Scholl machte ihm ja Sabinen abspenstig, deren Eigenschaften er sicherlich nicht nach Gebühr zu würdigen wisse.

An einem der nächsten Tage fragte Andreas in einer der Erholungspausen, die sie mit allerlei Geplauder ausfüllten: »Weiß Dr. Scholl, daß wir zusammen arbeiten?«

Die einfache Frage schien auf Sabinen einen besonderen Eindruck zu machen. Sie hob den Kopf auf, öffnete ihre Augen weiter als gewöhnlich, und ein flüchtiges Rot bedeckte ihre Wangen. In einem Tone, der ihm fremd klang, sagte sie nach einigen Augenblicken, mit einer gewissen Befangenheit: »Wieso?«

»Mein Gott, ich frage nur ... wie man eben fragt«, antwortete Andreas, der nun auch etwas verlegen geworden war.

»Ich habe keine Veranlassung gehabt, es ihm zu sagen.«

Ihre Stimme hatte etwas Kaltes, Abweisendes, das Andreas peinlich berührte.

Er fühlte das Bedürfnis, sich wegen seiner ungewollten Indiskretion zu entschuldigen. Sabine entgegnete zwar, daß von einer Indiskretion gar nicht die Rede sein könne, und daß sie nichts zu entschuldigen habe, aber Andreas fühlte doch ganz deutlich, daß nun ein kühlerer Hauch zwischen ihnen wehte.

Das Gespräch stockte. Er durchmaß, seiner Gewohnheit gemäß, einigemal das Zimmer, nahm dann seine Notizen zur Hand und diktierte weiter. Aber er brach früher ab als sonst. Es wollte nicht mehr recht gehen ...

Mit demselben freundlichen Gruß und Händedruck wie immer verließ Sabine das Zimmer.

Er hatte schon öfter an ihr ähnliche Momente bemerkt. Sie war ihm so lieb geworden! Er fühlte sich zu ihr hingezogen, und manchmal regte sich in ihm das Bedürfnis, ihr ein intimeres, herzlicheres Wort zu sagen. Aber als ob sie es vorahne, nahm dann ihr gewöhnlich so fröhliches Gesicht wie mit einem Schlage einen kälteren, geschäftsmäßigen Ausdruck an, der jeder vertraulicheren Annäherung wehrte. Gleich darauf jedoch, sobald Andreas, der sehr feinfühlig war, dem Gespräch eine andere Wendung gab, war sie wieder ganz die Alte – heiter, harmlos, unbefangen und wahrhaft liebenswürdig.

Er glaubte Sabinen ziemlich genau zu kennen, aber diese stumme Abwehr, dieses scheue Zurückweichen – dieser Stimmungswechsel war in dem Exempel, das er sich von ihr machte, ein unauflöslicher Rest. Denn er hatte das ihn beglückende Bewußtsein, daß ihr nicht nur ihre Beschäftigung bei ihm, sondern daß ihr auch seine Gesellschaft angenehm, daß er ihr wirklich sympathisch war. Er war sicher, daß er sich in dieser Voraussetzung nicht täuschte.

Und das war doch die Hauptsache! Und dabei mochte es denn in Gottes Namen fürs erste sein Bewenden haben. Mit der Zeit werde sich alles schon machen, – so machen, wie er's im Innern seines Herzens wünschte, sich's aber selbst noch nicht recht zu gestehen wagte.

»Fürs erste« und »mit der Zeit«, – das war seine ruhige Zuversicht. An ein Ende dachte er gar nicht. Er glaubte, eine Ewigkeit vor sich zu haben.

Deshalb läuterte sich auch das dunkle Verlangen, das ihn schon am ersten Tage der Begegnung mit Sabinen erfüllt hatte, nicht zu klarer Erkenntnis. Deshalb fühlte er auch keine Nötigung, einen raschen Entschluß zu fassen. Er hatte ja Zeit! Fürs erste war es Glücks genug, daß er mit Sabinen so verkehren, so arbeiten konnte, wie in diesen letzten seligsten Wochen seines Lebens ...

Und nun war auf einmal das Unerwartete gekommen! Wenn nicht das Ende, – daran mochte er nicht denken! das war für ihn überhaupt unfaßbar! – aber doch ein vorläufiger Abschluß ...

Da lag sie vor ihm, die Depesche aus Konstantinopel, klar und unzweideutig. Er las sie noch einmal durch. Zum vierten Male in einer halben Stunde!

Da stand es deutlich zu lesen:

»Beirut, 29. April. Wollen Sie an meinen Ausgrabungen in Sidon teilnehmen? Falls Zusage, baldigste Abreise erwünscht. Erbitte Drahtantwort. Deutsches Generalkonsulat Beirut.

Hamdy Bey.«

Das Herz hatte ihm stürmisch geklopft, und seine Hände hatten vor freudiger Erregung gezittert, als er den Inhalt dieser überraschenden Botschaft zu fassen imstande gewesen war. Nun war ihm ja der Weg erschlossen, der ihn zum heißersehnten Ziele aller seiner Wünsche führen sollte! Wie konnte sein edler Gönner nur fragen, ob er dieses Anerbieten annehmen wolle? ...

Auf einmal aber schoß ihm eine heiße Flutwelle zu Kopfe: Sabine!

Er ging unruhig im Zimmer auf und ab.

Da lagen sie, all die Kollektaneen, Exzerpte, Notizen und Skizzen ... nun konnten sie lange liegen bleiben! Die große Arbeit, die in diesen letzten Wochen so leicht und schnell und gut vorgeschritten war, – jetzt, da er so recht im Zuge war, mußte er sie jäh abbrechen. Wann würde er sie überhaupt wieder aufnehmen können ...

Und sein Kolleg für das kommende Semester! Gerade die angekündigten Vorlesungen lagen ihm am Herzen und schienen nach allen Anzeichen auch bei seinen Hörern ein besonders starkes Interesse zu erwecken. Nun mußte er sie absagen.

Er versäumte wirklich nicht wenig! ...

Und die lästigen Scherereien ... Audienz beim Minister, Gesuch um einen längeren Urlaub ... und die Abreise so plötzlich, so überstürzt!...

Aber das alles war es ja eigentlich nicht, was in ihm den Widerstreit der Empfindungen: die Freude über den ihm gemachten Antrag und das Unbehagen, sich jetzt auf unbestimmte Zeit von Berlin zu trennen, hervorrief.

Von Berlin? Von Sabinen!

Sie hatte nach seinen bestimmten Zusicherungen darauf rechnen müssen, daß sie noch auf Monate, zum mindesten auf Monate hinaus von ihm beschäftigt werden würde. Sie hatte sich gewiß darauf eingerichtet und seinetwegen vielleicht anderweitige Anerbietungen von der Hand gewiesen. Seine unerwartete Abreise schädigte sie materiell, und er durfte es nicht wagen, ihr in irgendeiner Form eine Entschädigung anzubieten, die ihren Stolz hätte verletzen müssen ...

Aber auch das war es eigentlich nicht, was ihm den Abschied erschwerte!

Wenn er sich ganz ehrlich prüfte, dachte er doch nur an sich selbst. Er war ja nie so froh gewesen und hatte nie so wahrhaft behagliche Stunden verbracht wie in diesen letzten Wochen. Sabine war ihm so unsagbar sympathisch geworden; ihre Gegenwart war für ihn eine stete Erfrischung und Anregung. Und nun sollte er sie nicht mehr da am Fenster mit den Blumen sitzen sehen, in ihrem graublauen Kleidchen, mit den schönen blonden Flechten, die in einem tiefsitzenden Knoten aufgenommen waren, – so wie er sie in diesem lieblichsten Frühling täglich gesehen hatte, stundenlang!

Es war ja vielleicht noch etwas Schlimmeres als eine Trennung auf lange Zeit. Vielleicht war es ein Abschied auf ewig! ...

Wer konnte ihm denn verbürgen, daß er sie bei seiner Heimkehr hier wiederfinden würde? Vielleicht war sie umgezogen. Vielleicht hatte sie inzwischen eine feste Stellung gefunden, – sie hatte ihn schon einmal durch eine gelegentliche Andeutung der Art beunruhigt. Es war ja auch nicht ausgeschlossen, daß Dr. Scholl mit der Zeit ihn verdrängte. Er mußte es ruhig über sich ergehen lassen. Er hatte ihr keine Vorschriften zu machen. Sie brauchte nicht auf ihn zu warten und konnte frei über sich verfügen, ohne die geringste Rücksicht auf ihn zu nehmen. Sie war ja frei, ungebunden!

Nein, das sollte sie nicht sein! Aber wie sie binden? ...

Am unerträglichsten war ihm sonderbarerweise die Vorstellung, daß Dr. Scholl bei Sabinen das Terrain gewinnen könne, das er aufzugeben gezwungen war. Jedem andern hätte er die Rechte, die er an Sabinen erworben zu haben vermeinte, eher gegönnt als gerade diesem Dr. Scholl, der ihm – er wußte selbst nicht, weshalb – unausstehlich geworden war. Für den Salon besaß ja dieser junge Herr gewiß sehr bestechende Eigenschaften. Er war ein hübscher Mensch, das ließ sich nicht leugnen. Er legte Wert auf seine äußere Erscheinung, kleidete sich elegant, hatte ein wohllautendes Organ und besaß eine große Redegewandtheit. Er hatte auch Talent; auch das mußte man zugeben. Es wäre gar nicht zu verwundern, wenn sich ein unerfahrenes junges Mädchen durch diese glänzenden Gaben blenden ließe ...

Was hatte Andreas nur an Dr. Scholl, der allgemein beliebt war, auszusetzen? In Wahrheit doch nichts anderes, als daß er befürchten durfte, Sabine möchte an dem jungen Gelehrten mehr Gefallen finden, als ihm lieb war. Es war Eifersucht, die keinen festen Boden braucht, um Wurzel zu schlagen, und in der Luft üppig weiterwuchert.

Eifersucht? Dann also auch Liebe?

Nun ja! Er liebte sie, ehrlich und von ganzem Herzen.

Es hatte lange genug gedauert, bis er sich's zu gestehen gewagt hatte. Sie sollte nicht länger frei und ungebunden sein! Sein Entschluß stand fest.

Er wollte mit ihr sprechen, und auf der Stelle.

Durch Frau Wittig ließ er Fräulein Kreutzer bitten, wenn ihre Zeit es erlaube, womöglich gleich zu ihm zu kommen, er habe ihr eine wichtige Mitteilung zu machen.

Nach wenigen Minuten trat Sabine ein, wie gewöhnlich in der Hand das kleine blaue Heft und zwei scharf gespitzte Bleistifte.

Andreas mußte bei diesem Anblick wehmütig lächeln und trat ihr entgegen, als sie ihren gewohnten Platz am Fenster einzunehmen sich anschickte.

»Nein, Fräulein Kreutzer, aus dem Diktieren wird heute nichts werden ... und morgen auch nicht ... und in den nächsten Wochen und Monaten auch nicht ... Bitte, setzen Sie sich ... hier ... zu mir.« Er wies ihr einen Stuhl an, den er in die Nähe seines Pultes gestellt hatte.

Sabine war durch die Worte des Professors in äußerstes Erstaunen versetzt worden. Sie schien deren Sinn im ersten Augenblick gar nicht zu fassen und sah ihn zweifelnd an. Dann setzte sie sich zögernd.

»Ich muß mit dem Anfang anfangen«, sagte er. »Da Sie zufälligerweise viel mit Archäologen zu tun gehabt haben, ist Ihnen vielleicht schon zu Ohren gekommen, daß seit einer Reihe von Jahren in der wissenschaftlichen Welt lebhaft dafür agitiert wird, die türkische Regierung dazu zu bestimmen, an den Küstenstrichen Syriens Ausgrabungen vornehmen zu lassen. Mit annähernder Sicherheit ist vorauszusetzen, daß da Schätze von unberechenbarem Werte verscharrt liegen. Ich selbst habe in einem halben Dutzend Artikel auf die Notwendigkeit hingewiesen, das Gebiet zwischen dem Libanon und dem Meer genau zu durchsuchen. Aber alle unsere Bemühungen sind bis jetzt an der strafbaren Indolenz der türkischen Regierung gescheitert. Der Beharrlichkeit des ausgezeichneten Direktors der türkischen Museen, Hamdy Bey, ist es nun endlich gelungen, seine Regierung für die Wünsche der Wissenschaft geneigt zu stimmen. Als ich vor einigen Jahren Hamdy Bey in Konstantinopel kennen zu lernen die Ehre hatte, versprach er mir, wenn er etwas erreichen würde, mich zu den Ausgrabungsarbeiten heranzuziehen. Die Geschichte verschleppte sich aber so, daß ich die Hoffnung, den heißesten Wunsch meines Lebens erfüllt zu sehen, schon beinahe aufgegeben hatte. Da erhalte ich eben ... vor einer Stunde ... diese Depesche.« Er reichte sie Sabinen. »Bitte, lesen Sie nur!«

Sabine, die sehr aufmerksam zugehört hatte, nahm das Blatt und las es. Mit dem Ausdruck ehrlicher und unbefangener Freude gab sie es ihm zurück und sagte mit herzlichem Tone: »Da gratuliere ich Ihnen aufrichtig! Das ist ja wundervoll!«

Andreas wußte nicht recht, ob ihn die Glückwünsche erfreuten oder kränkten.

»Ja, es ist allerdings ein unerwartetes und großes Glück«, sagte er. »Aber ich gehe doch nicht leichten Herzens von hier fort ... gerade in diesem Augenblick.«

»Es gehört ja natürlich immer ein gewisser Entschluß dazu,« erwiderte Sabine, »auf unbestimmte Zeit die Heimat, die gewohnte Umgebung und Beschäftigung aufzugeben, aus einem liebgewordenen Kreise zu scheiden. Aber ich sollte meinen, das alles müßte doch weit zurücktreten, wenn sich so etwas Außerordentliches darbietet wie dies Anerbieten zum Beispiel. Das kann doch für Ihre ganze Zukunft entscheidend werden. Und welche Freuden stehen Ihnen bevor! Ich kann mir gar nicht denken, daß die Ihnen durch irgend etwas anderes ersetzt werden könnten. Und wer weiß, vielleicht finden Sie noch mehr als Freuden und Genugtuung, – Ruhm!«

»Ach, Ruhm!« entgegnete Andreas mit einem rührend kindlichen Lächeln. »So hoch will ich gar nicht hinaus. Und daran habe ich wirklich nie gedacht. Glauben Sie mir: Ruhm würde mich nie für das entschädigen können, was ich hier aufgebe, jetzt aufgebe.« Er betonte die Worte mit einer gewissen Absichtlichkeit und sah sie prüfend an.

»Das überschätzen Sie, glaube ich«, antwortete Sabine ruhig und freundlich. »Wenn Sie erst in voller Tätigkeit sind, in einer völlig veränderten Umgebung, dann wird Ihnen gewiß manches, das Ihnen jetzt wichtig erscheint, recht unbedeutend vorkommen, und manches, das Sie jetzt für unentbehrlich halten, werden Sie kaum vermissen.«

»Glauben Sie das nicht!« entgegnete Andreas mit mehr Eifer, als er sonst zu zeigen pflegte. Sie sah ihn ruhig lächelnd an. »Fräulein Kreutzer!« sagte er nach einer kleinen Pause. Er räusperte sich ein wenig und schien gewissermaßen einen Anlauf zu einer längeren Rede nehmen zu wollen. Sie sah ihn noch immer ruhig an, aber sie lächelte nicht mehr. »Als ich Sie vorhin um Ihren Besuch bitten ließ, hatte ich die Absicht, Ihnen eine Mitteilung zu machen, zu der alles, was ich Ihnen eben gesagt habe, eigentlich nur als Einleitung dienen sollte.«

Sie lehnte sich ein wenig zurück und bemühte sich wiederum zu lächeln. Aber es hatte etwas Erzwungenes, und auch ihre Stimme klang anders als gewöhnlich, als sie einfiel: »Machen Sie es nur nicht gar zu feierlich, Herr Professor!«

»Wenn ich etwas sage, was Ihnen mißfällt, so seien Sie nachsichtig! Ich bin im Ausdruck mitunter recht unbeholfen – und namentlich, wenn's darauf ankommt.«

»So geht's mir gerade«, unterbrach sie ihn. Und mit einer Gewandtheit, die Andreas überraschte, fuhr sie fort: »Und deshalb habe ich mich, wenn es sich für mich um irgend etwas Wichtiges handelte, auch nie auf meine Fertigkeit mit dem gesprochenen Wort verlassen. Ich habe in dem Falle immer lieber geschrieben. Es ist weitläufiger, aber sicherer. Auf eine unerwartete Frage gibt man so leicht eine Antwort, die man nachher bereut.«

»Ich werde Ihnen schreiben«, versetzte Andreas kurz entschlossen. Er atmete auf, als sei er von einer schweren Last erleichtert. Etwas kleinlaut setzte er hinzu: »Werden Sie mir antworten? Ich lasse Ihnen Bedenkzeit! ... Werden Sie mir antworten?« wiederholte er.

»Wie können Sie daran zweifeln?« gab Sabine zurück. Sie hatte nun ihr anmutiges Lächeln wiedergewonnen. »Sie werden voraussichtlich schon in den nächsten Tagen abreisen?«

»So bald wie irgend möglich! Mehr weiß ich selbst noch nicht! Ich muß mich sogleich im Reisebureau erkundigen, wann und von wo das nächste Schiff nach der syrischen Küste abfährt. Es kann gleich sein, es kann unter Umständen noch ein paar Wochen dauern ...«

»Aber wir sehen uns doch jedenfalls noch öfter? ... Ich will Ihnen nochmals von Herzen alles Glück wünschen. Und danken will ich Ihnen, Herr Professor ...«

»Beschämen Sie mich doch nicht!« fiel Andreas ein.

»Sie sind immer so gut zu mir gewesen! Ich danke Ihnen!«

Zum erstenmal reichte sie ihm die Hand. Andreas war betroffen und gerührt. Er konnte kein Wort hervorbringen. Er drückte ihre Hand so fest, daß es ihr etwas weh tat. Sie biß sich auf die Unterlippe. Dann lächelte sie wieder, erwiderte den Druck schlicht und herzlich wie eine Freundin und ging ...

Die Auskunft des Reisebureaus zwang Andreas, seine Abreise aufs äußerste zu beschleunigen, wenn er nicht einen vollen Monat verlieren wollte.

Am andern Tage konnte Andreas seinem Gönner Hamdy Bey das Datum seiner Einschiffung in Triest und den Tag seiner voraussichtlichen Ankunft in Beirut telegraphisch anzeigen. Der Minister hatte ihn selbst empfangen und ihm unter warmen Beglückwünschungen den erbetenen Urlaub sofort erteilt. Er interessierte sich lebhaft für die Sache und ersuchte den Professor Möller, ihm über die hoffentlich günstigen Ergebnisse gelegentlichen Bericht zu erstatten. Er freute sich, daß einem jungen deutschen Gelehrten die Gelegenheit geboten sei, an diesen Arbeiten, die der gesamten gebildeten Welt zugute kommen würden, sich zu beteiligen.

Während der knappen zwei Tage, die Andreas auf die Vorbereitungen zu seiner Abreise zu verwenden hatte, war seine Zeit durch unvermeidliche Besuche, Besorgungen und Anschaffungen, Vernichten von überflüssigen und Einordnen von wesentlichen Schriftstücken voll besetzt. Seine Siebensachen waren zwar schnell gepackt, aber er gönnte dem Schlafe doch nur wenige Stunden; den versäumten konnte er ja auf der langen Bahnfahrt bis Triest und auf dem blauen Wasser der Adria und des Mittelmeeres nachholen. Er war ein ordentlicher Mann und hatte für alle Fälle Verfügungen getroffen. Ob er nun bald, oder erst nach langer Zeit, oder überhaupt nicht wiederkommen würde, – sein Kommen oder sein Wegbleiben konnte keinem Menschen Verlegenheiten bereiten, und seine Habseligkeiten würden nie als herrenloses Gut herumirren.

Frau Wittig war beim Abschiede sehr gerührt.

Sabinen sagte er: »Auf dem Festlande werde ich nicht zum Schreiben kommen. Ich fahre auf geradem Wege bis Triest und habe auch da nur ganz kurzen Aufenthalt – gerade genug, um mich ohne Überhastung einzuschiffen. Ich schicke Ihnen von dort wohl eine Karte. Aber zur Ruhe komme ich erst, wenn ich an Bord des Lloyddampfers sein werde. Es wird also ziemlich lange dauern, bis Sie den Brief von mir erhalten werden, und ich werde auf Ihre Antwort noch länger zu warten haben ... Und nun leben Sie wohl! Möge es Ihnen recht gut gehen, Fräulein Sabine!«

Es war das erstemal, daß er sie bei ihrem Vornamen nannte.

»Reisen Sie recht glücklich, mein lieber Herr Professor! Ich wünsche Ihnen von Herzen Freude und Erfolge. Auf Wiedersehen!« Sie drückte ihm die Hand.

Andreas nickte. Er wollte nichts mehr sagen. Seine Sachen waren schon auf die Droschke geladen. Er lüftete den Hut und stieg schnell die Treppe hinab. Auf dem Treppenabsatz wandte er sich noch einmal um und blickte nach oben. Sabine, die sich übers Geländer gebeugt hatte, rief ihm nach: »Glückliche Reise!«

Frau Wittig hatte ihn unten an der Droschke erwartet. Er blickte noch einmal zum zweiten Stock hinauf, ihr Fenster war offen, blauer Flieder und Maiglöckchen, aber sie ließ sich nicht sehen. Sie stand mitten in ihrem Stübchen und dachte an ihren guten und lieben Professor mit wehmütigem Gefühl, und ihre Augen wurden feucht ...

Die Fahrt zur See war prachtvoll. Das gute Schiff des österreichischen Lloyd war mäßig besetzt. Andreas hatte eine schöne, luftige Kajüte für sich allein. Während der ganzen Reise war das Wetter beständig schön. Ruhig glitt das Schiff auf dem tiefblauen Wasser dahin. Die malerischen Ufer der griechischen Inseln zeichneten sich in herrlichen Linien und Farben am wolkenlosen Horizonte ab. An den interessanteren Haltestellen stieg man ans Land und machte wohl auch kürzere Ausflüge, an denen sich Andreas, der gut Bescheid wußte, mehr aus Gefälligkeit für seine Reisegefährten als aus eigenem Drange beteiligte.

Endlich, am zehnten Tage, nachdem sie die Reede von Triest verlassen, wurden im Osten in zart bläulichem Dunste die schroffen zerklüfteten Bergrücken der nördlichen Ausläufer des Libanon sichtbar. Noch wenige Stunden, und die syrische Küste war erreicht.

Andreas hatte sich während der Fahrt von der Reisegesellschaft zwar nicht zurückgezogen, – sie bestand ausschließlich aus Leuten, die im oberflächlichen Verkehr angenehm und diskret wirkten, – aber er hatte sich, seiner ganzen Natur entsprechend, nicht sonderlich um sie gekümmert und sich gewöhnlich schweigsam verhalten. Weniger denn je war er gerade jetzt dazu aufgelegt, mit Unbekannten, die ihn nicht interessierten, von gleichgültigen Dingen zu sprechen.

Während der ersten Tage hatte er sich sehr bedrückt und niedergeschlagen gefühlt. Seine Gedanken gehörten weit mehr dem, was er verlassen hatte, als dem, was ihn erwartete. Immer stand das gelbe schmucklose Haus in der Mittelstraße vor seinem Auge; am offenen Fenster im zweiten Stock blühten Maiglöckchen in Töpfen und große Büsche bläulichen Flieders in einer Majolikavase ...

Er wollte ihr schreiben, er mußte ihr schreiben. Aber es wurde ihm nicht leicht.

Als er den langen Brief durchlas, schämte er sich seiner Überschwenglichkeit. Er zerriß ihn und schrieb einen zweiten. Der erschien ihm wieder entsetzlich nüchtern und kühl und entsprach so gar nicht dem, was er empfand. Er zerriß ihn ebenfalls und verschob das Schreiben, wie schon so oft, auf eine günstigere Stunde.

Es währte lange, bis sie sich einstellte. Da machte er ihr in schlichten Worten ein einfaches Geständnis dessen, was er empfand. Er fragte Sabinen, ob sie, wenn er glücklich heimgekehrt sein werde, ihr Schicksal mit dem seinigen verbinden wolle. Er wisse sehr wohl, daß er nicht verführerisch sei, aber er werde ihr ewig dankbar sein, wenn sie seine Gefühle erwidern könne; und ihr Vertrauen zu rechtfertigen, sie glücklich zu machen, werde sein heiliges Bestreben sein, denn er liebe sie aufrichtig.

Er las den Brief gar nicht wieder durch, aus Angst, daß er auch den verwerfen würde. Er verschloß ihn. Und derselbe Dampfer, auf dem er jetzt nach Syrien fuhr, sollte seinen Brief von Beirut nach dem österreichischen Hafen bringen.

Als er das erledigt hatte, war ihm zumute, als habe er eine schwere Arbeit getan. Seine Stimmung wandelte sich, es kam eine gewisse harmonische Ruhe über ihn.

Und nun blickte er nicht mehr beständig, wie bisher, rückwärts; jetzt richtete er den Blick nach vorn – in die leuchtende Zukunft.

Er konnte es noch immer nicht fassen, daß seine traumhaften Wünsche nun frohe Wirklichkeit werden sollten! Seine freudige Erwartung wuchs, je mehr sich das Schiff der Ostküste näherte, sie steigerte sich zu einem wonnigen Fieber, in dem seine erhitzte Phantasie ihm die verlockendsten Bilder von herrlichen Erfolgen vorgaukelte.

Und nun war das Schiff in den Hafen von Beirut eingelaufen, die Maschine hatte nach ihren letzten wuchtigen Stößen unter schwerem Paffen ihre Tätigkeit eingestellt, der Anker war geworfen.

Nach flüchtiger Verabschiedung von den Reisegefährten und vom Kapitän bahnte er sich seinen Weg durch die johlende und drängende Horde, die, sobald die Brücke niedergelassen war, das Deck stürmte, und stieg ans Land.

Ein sympathisch aussehender Herr, der ihn scharf ins Auge gefaßt hatte, trat an ihn heran und fragte Andreas, dem er den jungen deutschen Professor auf den ersten Blick angesehen hatte, in deutscher Sprache: »Habe ich die Ehre, Herrn Professor Möller vor mir zu sehen?«

Andreas nickte bejahend und erwiderte den Gruß.

»Mein Name ist Goldap. Ich bin der deutsche Generalkonsul in Beirut. Exzellenz Hamdy Bey hat mich gebeten, Sie vom Schiff abzuholen und Ihnen für Ihr Weiterkommen behilflich zu sein. Hamdy Bey bedauert, daß er Sie nicht selbst hat abholen können, aber er darf sich jetzt keine Stunde von Sidon entfernen. Er hat Ihnen zwei zuverlässige Leute geschickt«, – Goldap wies auf zwei in einiger Entfernung stehende Araber von schlankem, kräftigem Bau, die neben ihren Pferden standen. »Mit dem Alten, Hassan, können Sie sich verständigen. Er war ein paar Jahre in Pera und versteht ein bißchen Französisch. Er kann auch ein paar Worte sprechen. Er ist klug und ein prächtiger Mensch. Ich habe für Sie ein gutes Pferd besorgt und stelle mich Ihnen im übrigen vollkommen zur Verfügung.«

»Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar!«

»Sie können doch reiten?«

»Na ja«, antwortete Andreas lächelnd. »Wie ein Archäologe.«

»Das reicht aus. Ich habe Ihnen ein lammfrommes Tier ausgesucht.«

Während die Araber das Gepäck vom Schiffe brachten und einen starken Esel damit bepackten, machten sich Dr. Goldap und Andreas auf den Weg nach dem Generalkonsulat.

»Ich wohne hier in nächster Nähe ... Bei meinen Dispositionen habe ich voraussetzen müssen, daß Sie sich bei uns in Beirut leider nicht lange aufhalten werden. Sie werden mit Sehnsucht erwartet und sind gewiß selbst ungeduldig. Sonst würde ich Sie natürlich gebeten haben, unser Gast zu sein.«

»Sie sind sehr gütig, aber ich habe allerdings eine fieberhafte Ungeduld, an Ort und Stelle zu kommen.«

»Und die wird sich noch steigern, wenn Sie hören, daß Hamdy Bey gerade in den letzten Tagen Schätze aufgefunden hat, die an Großartigkeit die kühnsten Hoffnungen weit überbieten sollen. Griechische Sarkophage aus der besten Zeit, von einem Reichtum, wie er niemals auch nur annähernd auf griechischen Marmorsärgen gesehen worden ist, und geradezu wunderbar erhalten!«

Andreas' Augen flammten auf. Der ruhige Bericht seines Führers versetzte ihn in eine Art von Rausch.

»Sarkophage aus der besten Zeit? Und wunderbar erhalten?« wiederholte er. Aber zugleich überkam ihn auch ein Gefühl wehmütigen Bedauerns. »Wenn ich doch ein paar Tage früher gekommen wäre!« seufzte er leise.

»Sie werden noch genug lohnende Arbeit finden!« erwiderte der Generalkonsul. »Und auf alle Fälle werden Sie nach Hamdy Bey der erste sein, der diese Schätze sehen wird.«

»Ja!« rief Andreas in ehrlicher Begeisterung. »Ich darf mich wirklich nicht beklagen! Sie haben recht! Wissen Sie denn noch etwas von diesen Sarkophagen?«

»Nur das wenige, was mein Freund Hamdy Bey mir geschrieben hat. Aber das wenige ist genug! Ich habe eben seine eigenen Worte gebraucht. Er schreibt mir in fieberhafter Erregung, wie in einem Taumel von Wonne. Er nennt die aufgedeckten Kunstschätze vollendete Meisterwerke der schönsten Zeit; er spricht von Reliefs, die an Phidias erinnern, und er sagt, die Sachen seien zum Teil so erhalten, daß man glauben könne, sie seien gestern aus der Werkstatt des Meisters gekommen. Bei einigen hätten sich auch die Farben vorzüglich gehalten.«

»Wieviel Stunden braucht man von hier bis Sidon?«

»Gute fünf Stunden, meine ich. Ein Tierquäler macht's wohl auch in vier.«

»Und Sie sind noch hier?« rief Andreas im Tone ernst gemeinten, aber unwillkürlich komisch wirkenden Vorwurfs. »Ein paar Stunden Wegs vom Heiligtums, zu dem ich pilgern würde, wenn ich am andern Ende der Welt wäre, und es drängt Sie nicht dahin?«

»Es ist die alte Geschichte!« erwiderte Dr. Goldap lächelnd. »Es wird mir eben zu bequem gemacht! Und Sie wissen ja: wenn man sich sagen darf: ›das läuft mir doch nicht weg!‹ verschiebt man die Besichtigung auf die sogenannte günstige Gelegenheit, und wenn die ausbleibt, bekommt man's gar nicht zu sehen. Übrigens habe ich mir fest vorgenommen, an einem der nächsten freien Tage nach Sidon hinüberzureiten, um mir die ausgegrabenen Wunder anzusehen. Eigentlich sollte mich Ihr Enthusiasmus aus meiner Schläfrigkeit aufrütteln. Ich sollte gleich mit Ihnen reiten ... Sie werden mich nun gewiß sehr verächtlich finden, wenn ich Ihnen sage, daß ich durch elende Berufsgeschäfte hier zurückgehalten werde. Aber ich bin doch nicht so barbarisch, wie ich Ihnen in diesem Augenblick erscheinen mag. Und hoffentlich werden Sie noch eine bessere Meinung von mir gewinnen.«

Während sie so sprachen, waren sie vor einem hübschen, am Meere gelegenen Hause, hinter dem sich ein herrlicher Garten ausbreitete, angelangt. Auf der Schwelle stand eine anmutige junge Frau mit blonden Haaren, frischen Wangen und freundlichen blauen Augen, die den Gast herzlich bewillkommte. Ein reich besetzter Tisch harrte schon der Kommenden.

Frau Dr. Goldap war eine reizende Hanseatin, die an den Klängen aus der Heimat, an der Aussprache ihres nordischen Landsmanns die hellste Freude hatte.

Der etwas unbeholfene junge Gelehrte gewann die Herzen der beiden lieben Menschen im Fluge. Und auch er fühlte sich merkwürdig schnell behaglich in diesem freundlichen Hause, dem man es, sobald man nur den ersten Schritt über die Schwelle getan hatte, anmerkte, daß hier die echte und rechte Gastfreundschaft waltete. So stürmisch es ihn auch nach seinem Ziele drängte, er hatte die beiden Stunden, die er mit Herrn und Frau Goldap verbracht hatte, doch nicht zu bereuen.

Nun war es aber höchste Zeit zum Aufbruch, wenn er bis Sonnenuntergang Sidon erreichen wollte. Mit warmem Danke für die gastliche Aufnahme verabschiedete er sich von seinen artigen Wirten und bestieg sein Pferd.

Der alte Hassan ritt als Führer voran. Der jüngere, Sadi, ein flinker Bursche, der den Packesel an der Halfter führte, trabte hinter Andreas.

Der Weg von Beirut bis Sidon, dem heutigen Saida, ist wundervoll. In scharf südlicher Richtung läuft er unausgesetzt hart am Strande des Meeres entlang. Auf lange Strecken ist das Ufer reich bewaldet. Malerische Höhen steigen sanft auf, und in der Ferne erheben mächtige Berge ihre stolzen Häupter. Der Weg führt an lieblichen Niederlassungen, Weilern und Flecken vorüber. Da wurde von Zeit zu Zeit kurze Rast gemacht.

Eine unbeschreibliche wohlige Stimmung zog in Andreas' Brust, als er hinter dem alten schönen Araber, der sich öfter sorgend nach ihm umblickte und mit dem Ausdruck rührender Gutmütigkeit seine weißen Zähne zeigte, gemächlich dahertrabte. Die Hitze belästigte ihn nicht, denn die weite, weite Wasserfläche wehte dem Glücklichen, der in frohem Bangen den kommenden Stunden sich entgegensehnte, erfrischende Kühlung zu.

Und nun näherten sie sich allmählich ihrem Ziel, und es wurde kühl. Die untergehende Sonne zauberte auf dem herrlichen Spiegel eine Farbenpracht von berückender Schönheit hervor.

Ein breiter, mit Goldspritzen besprenkelter kupferroter Streifen zitterte auf dem tiefblauen Wasser, und im Westen erlosch die feurige Glut in stumpfem Violett, auf dem einige leichte, zarte, feuerverbrämte Wölkchen in phantastischen Bildungen schwebten.

Es war ein köstlicher Abend ...

Dr. Goldap war gewiß ein ungewöhnlich artiger und sympathischer Mann. Aber es war Andreas doch lieb, daß der Generalkonsul ihn nicht begleitet hatte. Die Wonne dieser Stunden mochte er mit niemand teilen! Schweigsam wollte er schwelgen – und allein.

»Allein? ... Die eine, die er gern an seiner Seite gehabt hätte, war ja in unerreichbarer Ferne! Er dachte an Sabine in ruhiger Freude. Er sah sie am Fenster stehen, hinter den blaßblauen Fliederbüschen. Aber da stürmte eine wilde Jagd heran, sie trat ins Zimmer zurück, und das Fenster blieb leer. Und eine tobende Schar von krausen Gedanken und wirren Empfindungen: vermessene Hoffnungen und grausame Enttäuschungen, liebliche Bilder und wüste Fratzen umkreisten ihn. Seine Schläfen hämmerten, und sein Herz pochte.

Das Dunkel war plötzlich hereingebrochen, und in immer hellerem Funkeln traten die Sterne auf der unermeßlichen Wölbung des Himmels hervor.

Hassan lenkte von der Straße ab. Er bog in einen schmalen Weg ein, der unter Bäumen bergan führte. Andreas sah Lichter, die sich bewegten. Die Pferde hielten an.

»Willkommen! Herzlich willkommen in Sidon!« rief eine Stimme aus nächster Nähe. Und jetzt erkannte Andreas im unsichern Licht der Fackeln, die von arabischen Dienern getragen wurden, einen Herrn in grauem Anzug mit dem Fez: Hamdy Bey.

Andreas war vom Pferde gestiegen. Die beiden begrüßten sich herzlich.

»Sie kommen zu guter Stunde!« rief Hamdy. »Mein Freund Dr. Goldap hat Ihnen gewiß schon gesagt ...«

»Ja! Was Sie ihm geschrieben haben, weiß ich ... und Sie können sich denken, wie ich darauf brenne, die Sarkophage zu sehen ... Was müssen Sie empfunden haben, Sie Glücklicher! ... Ach Gott, ich vergesse ganz, Ihnen Glück zu wünschen!«

»Ja, mein junger Freund, das sind allerdings Stunden, die man nicht vergißt! Unter Millionen und aber Millionen sind solche Erregungen kaum einem Sterblichen beschieden. Man kann es nicht schildern, man kann es nicht fassen. Aber wenn Sie die Sarkophage gesehen haben werden, werden Sie wenigstens ungefähr ahnen können, wie mir zumute war, als ich diese Herrlichkeiten aus mehr denn zweitausendjähriger Nacht ans Licht brachte ... Das Herz schlug mir zum Zerspringen, ich war berauscht, ich fiel dem ersten besten Araber, der mit der Schippe in der Hand in meiner Nähe stand, um den Hals, ich mußte irgend jemand umarmen, – und ich habe seitdem nicht geschlafen! Wenn mich das Fieber nicht aufrüttelte, wäre ich schon zusammengebrochen. Ich bin halb verrückt, ich weiß es. Gottlob, daß ich jetzt einen Menschen habe, der einen versteht, vor dem man sein volles Herz ausschütten kann. Ich will meinem lieben Genossen, dem prächtigen Ingenieur Bechara Effendi, nicht unrecht tun. Ich kann mir für die Leitung der technischen Arbeiten keine bessere Hilfe denken. Aber er ist eben Techniker. Er muß kühl und nüchtern bleiben. Sie sind Archäologe, und die Archäologie ist die leibliche Schwester der Kunst. Sie werden alles begreifen, die Schlaflosigkeit, die Umarmung, das Fieber, die Verrücktheit, wenn Sie die Sarkophage gesehen haben werden, – alles!«

»Gewiß, gewiß!« rief Andreas, der selbst fieberte. »Wann werde ich sie denn sehen?«

»Wann Sie wollen. Morgen in aller Frühe, wenn Sie ausgeschlafen haben werden«, antwortete Hamdy.

»Ja, glauben Sie denn, daß ich schlafen werde?!«

Sie waren vor einem Kiosk angelangt, aus dessen offener Tür ein heller Lichtstrahl in den Garten fiel.

»Treten Sie einstweilen nur hier ein. Hier werden wir freundnachbarlich hausen. Haben wir nicht Glück,« setzte er hinzu, als sie eingetreten waren, »daß wir nicht unter dem Zelte zu kampieren brauchen? Ist es nicht sehr nett hier? Hier der gemeinsame Raum, da eine Kammer für mich und dort für Sie ... kann man sich's schöner denken? Und bis jetzt sind wir auch von Moskitos und sonstigem Geschmeiß verschont geblieben. Und morgen werden Sie staunen, wie reizend der Garten ist, wie schön die Aussicht aufs Meer.«

»Und wo ist denn das Ausgrabungsfeld? Wie weit von hier? meine ich.«

»Drei Minuten ... hier im Garten.«

»Hier im Garten!« rief Andreas. »Und da muß ich bis morgen warten?«

»Ja, jetzt geht's doch nicht mehr!«

»Weshalb denn nicht?«

Hamdy zog seine Uhr.

»Weil's ein bißchen spät ist. Die Sonne ist vor einer halben Stunde untergegangen ... Unsere Leute legen sich jetzt schlafen.«

»Die beiden Diener, die Sie mir geschickt haben, sind doch noch wach, und Ihre Fackelträger auch ...«

Hamdy lächelte. Er freute sich über den Eifer des jungen Gelehrten.

»Sie würden, glaube ich, besser tun, wenn Sie bis morgen warteten. Einen der Sarkophage haben wir aus dem anstoßenden Gewölbe schon in den Hauptschacht gebracht. Sie werden einen viel stärkeren Eindruck haben, wenn Sie den Marmorsarg, der einer der schönsten ist, bei Sonnenlicht sehen. Und dann, und hauptsächlich, ist es doch eine ziemlich halsbrecherische Geschichte. Die alte Holztreppe, die ich habe bauen lassen, habe ich gerade heute wieder abtragen lassen, weil sie gar zu wackelig war, und die neue wird erst morgen fertig. Sie müßten also, gerade wie's mit mir in den ersten Tagen geschehen ist, am Seil heruntergelassen werden. Dreißig Fuß tief! Und das ist in der Nacht für jemand, der noch nicht unten gewesen ist, doch nicht ganz unbedenklich. Eigentliche Gefahr ist freilich nicht vorhanden, aber es könnte Ihnen doch am Ende etwas zustoßen, und ich möchte die Verantwortung nicht gern übernehmen.«

»Aber wenn ich eine gute Lampe habe, werde ich doch wenigstens etwas sehen, und wenn ich fest angeseilt werde, – was kann mir denn da passieren?«

»Sie haben Courage? Das ist recht! Die brauchen wir Soldaten der Wissenschaft gerade wie die anderen. Aber vor allen Dingen wollen wir uns setzen, einen kleinen Imbiß nehmen und noch ein bißchen plaudern.«

»Ich danke! Ich habe mich bei Dr. Goldap genügend gestärkt und nicht den geringsten Appetit.«

»Aber Durst werden Sie haben? Sie sind doch ein guter Deutscher? Wenn Sie sich gestärkt haben – na, dann in Gottes Namen! Dann führe ich Sie zum Schacht!«

Andreas strahlte. Er schüttelte seinem Gönner mit kräftigem Druck die Hand und ergriff das rubinrot funkelnde Glas, das Hamdy mit feurigem Zypernwein gefüllt hatte.

»Auf Ihr Wohl, teurer Meister! Möge Ihnen das Glück treu bleiben, zu unser aller Nutzen und Freude!«

Er sprach die einfachen Worte mit einer gewissen Feierlichkeit und einem ungewollten, natürlichen Pathos, die Hamdy bewegten, und er leerte das Glas in einem Zuge.

»Ja, das Glück!« bekräftigte Hamdy mit ernstem Ausdruck. »Und wenn man noch so vernünftig und fleißig arbeitet und noch so scharfsinnig die verwischten Spuren erkennt, die in verschlungenen Irrgängen zum erstrebten Ziele führen, – hat man das Ziel wirklich erreicht, darf man sich eines wirklich lohnenden Ergebnisses seiner Arbeit freuen, so muß man sich als ehrlicher Mensch schließlich doch immer wieder das beschämende Geständnis machen: alles wäre vergeblich gewesen, wenn uns nicht im entscheidenden Augenblick das blinde Glück beim Schopfe gefaßt und geleitet hätte!«

»Nein!« entgegnete Andreas feurig. »Sie unterschätzen sich und schmälern Ihr Verdienst. Sie haben auf einer deutschen Universität studiert und kennen den tiefsinnigen Vers unseres Goethe:

Wie sich Verdienst und Glück verketten,
Das fällt den Thoren nimmer ein.
Wenn sie den Stein der Weisen hätten,
Der Weise mangelte dem Stein!

Das Glück mag blind gewesen sein, aber Sie waren sehend. Am Blinden wäre es unbemerkt vorübergegangen. Sie haben es festgehalten.«

Mit atemloser Spannung lauschte Andreas dem Berichte Hamdys, der ihm in ungeregeltem, farbenreichem Vortrag, bald fließend, bald stockend, bald sich überhastend, bald schleppend erzählte, wie er die ersten Funde gemacht, die Wegweiser zu den weiteren erkannt und jetzt den Gesamtkomplex der im harten Schoße der Erde tief verborgenen Königsgräber entdeckt zu haben glaube.

Mehmed Scherif Effendi, der Besitzer des Gartens mit dem Kiosk, in dem die beiden jetzt zusammen plauderten, hatte vor einigen Wochen, als er sich Material zu Bauzwecken aus seinem Grundstück gewinnen wollte, Steinbrüche vornehmen lassen. Der Garten Mehmeds liegt etwa zwanzig Minuten vom Meere entfernt, dessen Ufer sanft aufsteigen und hier eine Höhe von dreißig bis vierzig Meter erreichen. Der kleine Hügel, der angebrochen werden sollte, zeigte inmitten der üppigen, ringsum blühenden Vegetation eine gewisse Dürftigkeit. Er war stellenweise fast kahl, nur einige wenige genügsame Ölbäume hatten da Wurzel gefaßt und fristeten ein kümmerliches Dasein.

Die Arbeiter stießen denn auch, nachdem sie eine dünne Schicht vegetabilischer Erde entfernt hatten, sogleich auf felsigen Untergrund: auf eine mit Kalkstein durchsprengte Sandsteinschicht.

An einer Stelle zeigte sich den Steinbrechern eine Erscheinung, die ihnen auffiel. Da lagen schon gebrochene Steinstücke, zwischen die sich allerlei Geröll in größeren und kleineren Bröckeln eingefilzt hatte, und die miteinander durch die allmählich durchsickernde Feuchtigkeit zusammengepappt waren. Das war keine natürliche Bildung. Hier mußten schon Menschen tätig gewesen sein! Aber wann konnte das geschehen sein – hier im Felsen, dessen rauher Leib sich mit einer Erdschicht bekleidet hatte, die immerhin genügte, um das, wenn auch nur kümmerliche Fortkommen von Bäumen zu ermöglichen?

Als sie nun vorsichtiger und bedächtiger ihre Arbeit fortsetzten, merkten sie, daß die Stelle, die diese eigentümliche Erscheinung darbot, rundum begrenzt war. Es war also ein Loch in den Felsen gesprengt und wieder zugeschüttet worden ... Sie beeilten sich, von dieser merkwürdigen Entdeckung dem Besitzer des Grundstücks Kunde zu geben.

Selbst den weniger gebildeten Einwohnern von Sidon war es nicht unbekannt, daß hier tief in der Erde, deren Boden ihr Fuß stampfte, vielleicht noch sehr seltsame und wertvolle Dinge verscharrt lägen. Sie erinnerten sich wohl, daß vor einigen Jahren Männer aus dem Frankenlande gekommen waren, die Grundstücke erworben und alles durchwühlt hatten. Sie hatten auch einen alten Totenschrein aus schwarzem ägyptischen Stein ausgegraben und mit großen Schwierigkeiten und Kosten nach dem Strande geschleift und auf das Schiff gehoben, das den schweren Steinsarg weit übers Meer getragen hatte. Viele hatten nun selbst in ihren Gärten herumgegraben. Sie hatten auch mancherlei gefunden: künstlich gemeißelte Marmorbruchstücke, verbogene und verunstaltete Geräte aus Bronze, die ganz verwittert und angefressen waren. Und dafür hatten ihnen Händler in der Stadt gute Preise gezahlt ...

Mehmid Scherif Effendi aber war ein gebildeter Mann. Er eilte auf die erste Mitteilung seiner Arbeiter sogleich an Ort und Stelle und erkannte sofort, daß sich hier ein Schacht öffnete, wie ihn die Alten in grauer Vorzeit in den Felsen sprengten, um dort die Sarkophage einzulassen, die alsdann in anstoßenden, tief unterirdischen Grüften geborgen wurden.

Wie das verendende Wild das tiefste Dickicht des Waldes aufsucht, um ungesehen zu vermodern, so wollten auch die Großen der alten Zeit einsam und weltabgeschieden in ihrem steinernen Schrein und in unzugänglicher Kammer den ewigen Schlaf schlafen. Keinem Sterblichen wollten sie den Anblick ihrer letzten Ruhestätte gönnen. Mit dem Ende ihrer irdischen Tätigkeit sollte auch alles verschwinden, was in ihnen an die Vergänglichkeit alles Irdischen gemahnen mußte. Wie ihre Taten selbst, so wollten auch sie, die Vollbringer, nur noch in der Erinnerung der Nachwelt weiterleben. Kein lebender Mensch sollte an ihrem Sarge stehen und sagen dürfen: »Dieser Kasten birgt nun alles, was von dem einst gepriesenen Helden übriggeblieben ist. Da liegt er nun, ein knöchernes Schreckensbild, ohnmächtig und wehrlos! Und ich, ich lebe und bin stärker als er ...«

Wie es ihm durch die gesetzliche Vorschrift zur Pflicht gemacht war, erstattete Mehmed Scherif unverzüglich Anzeige an die oberste Ortsbehörde, den Kaimmakam (etwa Landrat) Sadik Bey. Und sobald von diesem der Bericht in Konstantinopel eingegangen war, setzte Hamdy Bey Himmel und Hölle in Bewegung, um die apathische Regierung, die für die Sache der Kunst und Wissenschaft schwer zu erwärmen ist, zu einem schnellen und energischen Entschlüsse zu bewegen. Er setzte es durch, daß die Ausgrabung auf Staatskosten beschlossen wurde. Er selbst wurde mit der Leitung dieser Arbeiten beauftragt und begab sich nun auf kürzestem Wege nach Sidon. Auf Befehl des verständigen Kaimmakam waren die Arbeiten im Garten Mehmed Scherifs nach der Entdeckung der Schachtöffnung sofort eingestellt worden. Der Steinbruch selbst wurde, um allen Eventualitäten vorzubeugen, abgesperrt und Tag und Nacht militärisch bewacht.

Hamdy hatte nun sogleich nach seiner Ankunft eine große Schar zuverlässiger Arbeiter, meistens Araber, angeworben und für die technische Leitung den Bezirksingenieur Bechara Effendi herangezogen.

Gleich bei der Aufdeckung des Schachtes wurden, nachdem man ihn von Schutt und Erde gesäubert hatte und nach langwieriger, mühevoller Arbeit auf den Grund gedrungen war, in der Tiefe von etwa zwölf Metern vermauerte Türen aufgefunden. Diese Türen, die sogleich erbrochen wurden, führten, wie sich nun herausstellte, zu einem ganzen Komplex von willkürlich und unregelmäßig gelagerten Felsenkammern; sie führten zu den Entdeckungen ungeahnter Schätze, die Hamdy Bey im Verein mit seinem ausgezeichneten technischen Mitarbeiter, Bechara Effendi, in den nächsten Tagen machen sollte.

Der scharfe Blick und die geistvolle Kombinationsgabe Hamdys erspähte hier, dreißig Fuß unter dem Boden, eingesprengt in den steinigen Schoß des Felsenhügels, sieben solche, wie es schien, planlos aneinander- und übereinanderliegende Grüfte. Sie alle wurden geöffnet, und alle beherbergten, seit über zweitausend Jahren unerreichbar im Schatten undurchdringlicher Nacht gebettet, Sarkophage ... darunter vier von unerhörter Pracht.

Das hatte Hamdy Bey sogleich erkannt, so unmöglich es bis jetzt auch noch war, sich von der künstlerischen Bedeutung der Marmorsärge eine genügend klare Vorstellung zu machen. Denn bis zur Stunde hatte man nur einzelne Teile von dem häßlichen Kleide, in welches das graue Alter sie gehüllt hatte, vorsichtig befreien können. Bei der trügerischen Beleuchtung wirkten Licht und Schatten falsch, und bei der Enge der Grüfte war es unmöglich, das Ganze zu überschauen, ganz abgesehen davon, daß die unerträgliche Hitze und der atembenehmende stickige Dunst die Besichtigung erschwerten. Noch standen all die Herrlichkeiten in der Finsternis der Grüfte, die durch das gewöhnliche Licht ungenügend, durch das blendende Licht der Magnesiumlampe zwar hell, aber unschön und falsch beleuchtet wurden, in Staub und Schutt.

Das aber, was Hamdy schon in den ersten Tagen, ja in den ersten Stunden erschaut, hatte ihm die beseligende Gewißheit gewährt, daß er vom Schicksal berufen sei, in kurzer Zeit der Mit- und Nachwelt zu dauerndem Genuß, aus ferner Vergangenheit Schätze ans Licht der Sonne zu bringen, die zu dem Wunderbarsten gehören, was Menschenhand gebildet hat.

Es war Unvergleichliches, Einziges, was hier in finsterer Felsenzelle geschmachtet hatte.

Das war es, was ihm den Schlaf geraubt, was seine Seele erzittern und ihn vor Wonne halb wahnsinnig gemacht hatte.

»Ja, ja! Ich begreife alles – nur das eine nicht: daß Sie diese Stunde überhaupt überlebt, daß Sie den Verstand nicht völlig verloren haben!« rief Andreas mit leuchtenden Augen. »Wann brechen wir auf?«

»Jetzt!« antwortete Hamdy. Er lächelte befriedigt. Das war der Mann, den er für seinen Enthusiasmus brauchte!

Er klatschte in die Hände. Gleich darauf trat Hassan ein, dem er in türkischer Sprache einige Weisungen gab. Hassan eilte wieder hinaus. Man hörte ihn mit lauter Stimme seinen Genossen etwas zurufen.

Hamdy und Andreas traten ins Freie. Es war um die Zeit des Neumonds. Die Sterne glitzerten und strahlten in wunderbarer Pracht. Vom Meere her wehte köstliche Kühle. Der süße berauschende Duft der Orangen und Myrten durchwürzte die milde Luft, und ringsum klagten, schluchzten und lockten die Nachtigallen.

Die Diener hatten die Fackeln wieder angezündet. Zwei schritten voran und beleuchteten den Weg, zwei gingen neben ihnen, Hassan und Sadi, mit Laternen, in denen dicke Kerzen brannten, folgten ihnen.

Plötzlich wurden sie angerufen. Hassan war vorgesprungen und sagte einige Worte. Die beiden Wachen traten beiseite.

Nun standen sie am oberen Ende des Schachtes, der von Geröll, Erde und Schutt völlig gesäubert war. Auf Hamdys Befehl traten die Diener hart an den Rand und ließen das Licht der Fackel, so weit es eben möglich war, in das viereckige Loch fallen. Andreas starrte hinein. Nur der obere Teil der Schachtwände war deutlich zu erkennen. Manchmal huschte ein Schimmer tief hinein. Und Andreas glaubte den Boden und auf dem Boden einen helleren länglichen Kasten zu sehen. Er bog sich weiter vor. Hassan, der neben ihm stand und ihn beobachtete, packte ihn mit kunstgerechtem Griff, hielt ihn fest und sagte, während er lächelnd seine prachtvollen Zähne zeigte, in verständlichem Französisch: »Besser so!«

»Nun?« fragte Hamdy, »reizt es Sie noch immer, in dieser Dunkelheit in die Unterwelt hinabzusteigen? Der Eingang ist nicht verlockend, wie Sie sehen. Wollen Sie nicht lieber warten, bis die Sonne aufgegangen ist?«

»Nein, nein! Gönnen Sie mir die Freude! Und gleich! Ich bitte Sie!« –

»Also gut! Gefährlich ist's weiter nicht. Nur unbequem.«

Hassan besorgte mit großer Gewandtheit und Vorsicht das Geschäft des Anseilens. Er befestigte auch an einem Gurt, den er fest um Andreas' Leib gelegt hatte, die Laterne mit dem brennenden Lichte. Einer der Diener nahm jetzt die Fackeln der anderen, die nun den langen, über eine primitive, aber verläßliche Winde gelegten Strick packten. Andreas stieß ab und schwebte nun in der Luft. Ganz langsam und unter Beobachtung der äußersten Vorsicht wurde er hinabgelassen.

Jetzt berührten seine Füße den Boden ... jetzt stand er da.

»Wohlbehalten angekommen?« hörte er Hamdys Stimme von oben, die im Schacht schauerlich dumpf wiederhallte.

»Vollkommen wohl!« rief Andreas hinauf. Er erschrak über den gellenden Klang seines Rufs.

Das Licht seiner Laterne verbreitete eine genügende Helligkeit. Er stand vor einem Sarkophage, der mit Skulpturen reich geschmückt war. Es war eine mächtige Truhe, deren Wände in rechteckige Felder eingeteilt waren; in jedem Felde in faltiger Gewandung eine weibliche Gestalt im Ausdruck tiefen Schmerzes. Langsam, jedes einzelne dieser trauernden Weiber beleuchtend, umschritt Andreas in tiefer Ergriffenheit den Sarkophag, in innerster Seele bewegt von der künstlerischen Schönheit des Werkes, von der Ehrwürdigkeit des Alters, von der stimmungsvollen Schaurigkeit der Umgebung. Es stürmte mächtig auf ihn ein von diesen senkrecht aufsteigenden grauen Felsenmauern, deren brüchige Unebenheiten bei der wechselnden Beleuchtung phantastische Schatten, Fratzen in zuckenden Bewegungen, einen sonderbaren Tanz von lebenden grauen Schemen hervorzauberten.

Und wieder betrachtete er die klagenden Weiber. Um wen mochten sie klagen? Wer war der Stolze, der seine Gebeine in diese herrliche Truhe hatte betten lassen? der mehr als zwei Jahrtausende sein königliches Ruhebett vor den profanen Blicken der kleinen Welt in Nacht und Felsen verborgen hatte?

Nicht durch den zärtlichen Kuß des verliebt schmachtenden Ritters war hier ein Dornröschen aus dem Schlummer geweckt worden, die ernste, rauhe, unerbittliche Wissenschaft hatte mit Hammer und Haue die steinerne Hecke der Felsenrosen gesprengt und in inbrünstig gewaltsamer Umarmung den Langschläfer aufgerüttelt.

»Ist es nicht schön?« kam es dumpf von oben.

»Ja, ja!« rief Andreas, ungeduldig über die Störung. Und beschwichtigend fügte er hinzu: »Wunderschön! wunderschön!«

Er war tief ergriffen, ja erschüttert.

Ihm, dem bescheidenen jungen Forscher, sollte das unerhörte Glück beschieden sein, der erste Zeuge dieses Wiedererweckens zu sein! Ihn hatte man berufen, an diesem Werke der Auferstehung mitzuwirken! Er konnte es nicht fassen. Die dämmernde Erkenntnis erfüllte ihn mit tiefer Dankbarkeit für dies ungeahnte Glück und erregte ihn so, daß er zitterte und bebte.

»Doktor!« scholl es dumpf und geisterhaft.

Er erschrak heftig.

»Doktor!« hallte es jetzt lauter von oben. »Hören Sie mich nicht?«

»Doch, doch! ...«

»Nun lassen Sie's für heute genug sein! Unsere Leute müssen mit Tagesanbruch wieder an die Arbeit. Kommen Sie!«

»Ich komme!« »Prüfen Sie genau das Seil und ziehen Sie es wieder fest, wenn es sich gelockert hat.«

»Es ist alles in Ordnung!«

»Befestigen Sie die Lampe im Gurt, und wenn Sie bereit sind, rufen Siel«

»... Ich bin bereit! Los!«

Langsam und bedächtig, wie er hinabgelassen war, wurde er wieder heraufgewunden.

Während Hassan die feste Schlinge löste, sog Andreas den Wohlgeruch und die köstliche Luft der frischen Nacht in langen Zügen ein, unfähig, ein Wort hervorzubringen. Hamdy betrachtete ihn mit glücklichem Lächeln. Er schwieg. Er vermochte dem wie vom Taumel ergriffenen jungen Gelehrten nachzuempfinden.

»Nun?« sagte er nach einer Weile. »Habe ich zuviel gesagt?«

Da schöpfte Andreas noch einmal tief Atem. Er warf einen langen, traumhaften Blick auf Hamdy, der gütig lächelnd vor ihm stand. Er zeterte heftig und warf sich, überwältigt von seinem Empfinden, schluchzend seinem Gönner an die Brust, der ihn mitfühlend und herzlich umfing.

Staunend blickten die arabischen Arbeiter auf die beiden, die sich in den Armen lagen. Sie verstanden zwar die Ursache dieses befremdlichen Schauspiels nicht, aber sie fühlten instinktiv, daß es sich um etwas Schönes und Großes handle. Und auch sie wurden von der freudigen Erregung mitgerissen. Sie stießen hohe, gellende Freudenschreie aus und tanzten, die Fackeln schwingend, wild in der Runde. Die sehnsüchtig klagenden Nachtigallen schwiegen erschrocken.

Der jauchzende Reigen, dem Hamdy und Andreas fröhlich zuschauten, – auch die beiden Soldaten waren herangetreten und grinsten vergnügt, – währte lange, bis endlich Hamdy Hassan bedeutete, es sei nun an der Zeit, den Rückweg nach dem Kiosk anzutreten. Andreas beschenkte die Tänzer, der kleine Zug ordnete sich wieder wie vorher, und unter dem sternenbesäeten Nachthimmel, unter duftenden Orangen, Zitronen, Bananen und Myrten kehrten sie zum Gartenhaus zurück, während die wieder beruhigten Nachtigallen sehnsüchtig flöteten.

Sie saßen noch lange zusammen und sprachen Sie sprachen von nichts anderm, als von den Sarkophagen. Es war ein unergründliches Thema Immer wieder drängten sich neue Fragen auf, die zu breiten Erörterungen führten. Andreas fand kein Ende, und Hamdy Bey, durch den rührenden Wissensdrang des jungen Gelehrten angeregt, suchte durch immer neue Argumente und positive Ermittlungen die aufgestellten Kombinationen zu bekräftigen oder zu bekämpfen.

Aber es war schon sehr spät geworden, und Hamdy Bey machte der erregten Debatte ein Ende.

»Sie haben einen bewegten Tag hinter sich! Sie bedürfen der Ruhe, denn morgen müssen Sie mit frischer Kraft, mit klarem Kopf und hellem Auge an die Arbeit gehen. Also ohne weiteres: Gute Nacht! Und schlafen Sie wohl!«

»Schlafen? Sie glauben es doch wohl selbst nicht, daß ich schlafen werde!«

»Dann entkleiden Sie sich wenigstens und strecken Sie sich aus! Das hilft auch schon. Übrigens werden Sie schlafen, wie ich hoffe. In Ihren Jahren schläft man noch. Und wenn es mir zu lange dauert, bis ich Sie sehe, dann wecke ich Sie! Gute Nacht!«

Sie drückten sich die Hand und suchten ihr Lager auf.

Hassan, der Andreas zu besonderer Bedienung beigegeben war, ließ es sich nicht nehmen, seinem neuen Herrn, der ihm sehr zu gefallen schien, beim Auspacken des kleinen Handkoffers behilflich zu sein. Er wollte sich auch an das große Gepäck machen, aber Andreas sagte ihm in Worten und Gebärden, daß es damit keine Eile habe.

» Pek eji, effendim!« sagte Hassan, wie überhaupt nach jedem Satze, den er verstanden hatte – »Sehr wohl, Herr!« Er verneigte sich tief mit der üblichen Begrüßungsgebärde des Orients, indem er die Hand Zu Boden streckte, als wollte er den Staub aufheben, und sie dann an Herz, Stirn und Mund führte. Er trat in das gemeinsame Zimmer, verschloß Tür und Läden, löschte die Lampe und streckte sich vor der Schwelle der Kammer seines Herrn auf den Teppich nieder, wo er sogleich in tiefen Schlaf verfiel.

Auch Andreas hatte sich, nachdem er sich entkleidet, auf sein Lager geworfen. Er hatte die Kerze brennen lassen. Er wußte ja, daß er nach den gewaltigen Erregungen dieser Nacht doch nicht schlafen werde. Aber allmählich verschlangen und verwirrten sich unmerklich seine Vorstellungen; er versuchte zunächst dagegen anzukämpfen und in das krause Durcheinander Klarheit zu bringen, aber sein Widerstand gegen die sanfte Gewalt der Müdigkeit erschlaffte. Er merkte kaum noch, daß er die Kerze löschte, und er schlief ein.

Andreas schlief traumlos, lange und fest. Er fühlte sich ganz beschämt, als er durch leises beharrliches Pochen von Hamdy geweckt wurde. Die Sonne stand schon hoch am Himmel.

Die Arbeiten waren, wie Andreas sah, als er mit Hamdy Bey am ersten Tage bei Sonnenlicht die Ausgrabungsstätte besichtigte, unter den Weisungen des umsichtigen und begeisterten Leiters schon weit vorgeschritten, wenn auch noch viel, sehr viel zu tun blieb, um sie zu gutem Ende zu führen. Mit der Aufräumung war man so ungefähr fertig. Das in den Gewölben aufgelesene Geröll und der Kehricht waren zum Teil schon sorgfältig durchsucht und durchsiebt, zum andern Teil zusammengekehrt, um mit aller Genauigkeit geprüft zu werden.

Denn vor langer, langer Zeit, – wie man aus gewissen Anzeichen mit annähernder Sicherheit schließen durfte: wahrscheinlich nicht allzulange nach der Bestattung, – also vor etwa zweitausend Jahren – hatten leichenschänderische Räuber den geheimgehaltenen Weg zu diesen Totenkammern zu finden gewußt. Da es ihnen nicht möglich gewesen war, die schweren Deckel beiseite zu schieben, so hatten sie mit frevelhafter Roheit die Sarkophage stellenweise zertrümmert und Löcher geschlagen, die groß genug waren, um es den Verbrechern zu ermöglichen, die Leichen heranzuzerren und der ihnen mitgegebenen Kostbarkeiten zu berauben.

Die Trümmer dieser ruchlosen Zerstörungsarbeit lagen zerstreut am Boden unter Geröll im Schutt. Es galt nun diese Bruchstücke herauszulesen, um sie später an gehöriger Stelle wieder einzufügen. Durch einen wunderbar glücklichen Zufall waren die größten Schönheiten des bildnerischen Ausschmucks der Vernichtung entgangen, und die abgeschlagenen Stücke wurden fast samt und sonders aus dem Moder und Staub wieder aufgelesen.

Diese Aufräumung und Sichtung war aber eben nur ein Teil der Arbeit, die hier zu leisten war, und der verhältnismäßig leichtere und schnellere.

Was Hamdy Bey und seinen technischen Beirat, den Ingenieur Bechara Effendi, nun vor allem beschäftigte, war die Lösung der Frage: wie diese Steinkolosse von ihrem Fundorte an den Strand zu schaffen seien, wo ein Staatsschiff sie aufnehmen sollte, um sie nach Konstantinopel zu bringen.

Der Gedanke, sie auf demselben Wege, auf dem sie dereinst versenkt worden waren, wieder ans Sonnenlicht zu fördern, sie also aus den Grüften in den Schacht zu schieben und von da hinaufzuheben, mußte von vornherein als völlig undurchführbar aufgegeben werden. Das Gewicht einzelner dieser Sarkophage war ungeheuer. Der größte, reichst geschmückte, der auch als der schönste gilt, der sogenannte Alexander-Sarkophag, wog allein 25 Tons oder 500 Zentner. Eine Maschine, die auch nur annähernd stark genug gewesen wäre, um eine solche Last dreißig Fuß hoch aus der Tiefe zu heben, war nicht zu beschaffen. Und damit, daß man die Sarkophage auf die Hohe des felsigen Hügels gebracht hätte, wäre auch noch nicht viel erreicht worden. Die Schwierigkeiten der Lokomotion nach dem Meere wären immer noch zu überwinden gewesen.

Es wurde also beschlossen, da das Grundstück Mehmed Scherifs etwa dreißig Meter über dem anderthalb Kilometer entfernten Spiegel des Mittelländischen Meeres liegt, nach der nächstgelegenen geeigneten Stelle am Strande von den Grüften aus in einer sich sanft senkenden schiefen Ebene einen eigenen Weg zu bauen, auf dem dann die Sarkophage auf Walzen vorsichtig herabgeschoben werden sollten. Zu dem Ende mußten bei der Unebenheit des Terrains zeit- und kostspielige Arbeiten vorgenommen, Tunnels gesprengt, Trancheen gelegt, Bodenaufschüttungen und -abtragungen vorgenommen werden. Und trotz der angespanntesten Anspannung aller verfügbaren Arbeitskräfte – es waren über hundertundfünfzig Araber und Syrier beschäftigt, – vergingen lange Wochen, ehe man an das heikle Werk, die Marmorsärge von ihrem zweitausendjährigen Standorte an den improvisierten kleinen Hafen zu schaffen, herantreten konnte.

Je mehr Andreas sich mit den unvergleichlichen Funden vertraut machte, desto höher lohte seine Begeisterung. Jeder Tag rückte die wunderbaren Schönheiten heller ins Licht. Und je mehr er davon in sich aufnahm, desto verzehrender wurde sein Wissensdurst. Er gönnte sich keine Ruhe und Rast. Das völlig Bekannte betrachtete er immer wieder, mit dem brennenden Verlangen, doch noch etwas noch nicht Gekanntes und Beobachtetes wahrzunehmen, überall zu spüren, zu forschen, von bisher Verhülltem den Schleier zu lüften, unscheinbare Symptome aufzulesen, die am Ende doch irgendwelche neuen Aufschlüsse geben und als Spuren auf einen noch nicht betretenen Weg führen könnten – Aufschlüsse, die eine nähere Bestimmung der Zeit, der Ereignisse, der Persönlichkeiten ermöglichten. Denn keine Inschrift kam der Forschung zu Hilfe.

Mit dieser rastlosen Tätigkeit des Suchens, Tastens, Kombinierens hatte er seine Geisteskräfte bis zur äußersten Erschöpfung angespannt. Und auch sein Körper litt unter dieser unmäßigen Anstrengung.

Seine Nächte waren qualvoll. In peinigendem und marterndem Halbschlaf warf er sich auf seinem Ruhebett, von dem die Ruhe geflohen war, hin und her, und seine überhitzten Sinne spannen töricht und kindisch die Fäden weiter, die er in wachem Zustande zufällig eingeschlagen hatte, und verknoteten und verwustelten sie zu einem unentwirrbaren Knäuel.

In solchen trügerischen Halluzinationen sah er, kunstvoll in die Ornamente des Randes eingeflochten und um die ganze Länge des Sarkophags laufend, eine umfangreiche griechische Inschrift, die über den Namen, die Abkunft und die Lebensschicksale des darin Gebetteten erschöpfenden Bescheid gab; sie enthielt überdies eine Art von testamentarischer Verfügung, aus der über gewisse, bisher unklar gebliebene Einzelheiten in der Geschichte der Diadochen mit voller Sicherheit Schlüsse von unschätzbarem Werte für die Wissenschaft gezogen werden durften. Auf der Innenseite des Deckels, den er im Halbschlaf aufhob, als sei er federleicht, entdeckte er herrliche Strophen, als deren Verfasserin sich in der Schlußzeile Sappho selbst bekannte, und im Rachen eines der Löwen, die aus den Enden des Deckels hervorsprangen, fand er unter der Zunge den Namen des Meisters, der den Sarkophag gefertigt hatte. Es war ein gewisser Hippophilos, der sich einen Schüler des Praxiteles nannte.

Solche und ähnliche Gebilde seiner überreizten Phantasie umschwirrten ihn, wenn er sich in der stillen Nacht ruhelos auf seinem Lager hin- und herwälzte. Beim ersten Morgengrauen war er schon wieder auf den Beinen, und noch bevor die frühesten der Arbeiter zur Stelle waren, kletterte er auf der hölzernen Treppe, die jetzt im Schacht angebracht war, zu den geheimnisvollen Totenkammern hinab und spähte umher, im kindlichen Glauben, daß ihm das narrende Gaukelspiel des Halbtraums am Ende doch richtige Spuren gewiesen habe.

Manchmal wurde er wiederum von bleischwerem Schlafe überfallen, aus dem er gar nicht zu ermuntern war. Wenn er vom getreuen Hassan zur bestimmten Stunde geweckt wurde, so starrte er ihn blöde an. Er brauchte lange Zeit, bis es in ihm aufdämmerte, wo er war, und was der braune Mann mit den glänzend weißen Zähnen und den Waffen im breiten Gürtel eigentlich von ihm wollte.

Er aß und trank wenig, ohne Appetit, sogar mit Widerstreben.

Hamdy Bey hatte sich zunächst über den Feuereifer des jungen Professors herzlich gefreut, aber allmählich mischte sich in diese Freude doch ein Gefühl väterlicher Sorge.

»Sie sind unermüdlich, lieber Professor, aber Sie übernehmen sich, wie ich befürchte«, hatte er ihm eines Abends gesagt, als sie im Kiosk einander gegenüber saßen und Andreas das aufgetragene Essen wieder einmal kaum berührte. »So dürfen Sie's nicht weitertreiben! Sie müssen mit Ihren Kräften etwas haushälterischer umgehen. Ich lobe mir Ihren Eifer. Sie haben die richtige sacra fames auri – ich meine natürlich nicht die schnöde Goldgier des niedrigen Genußmenschen; die scheußliche Sucht nach dem Ansammeln von Mitteln, die die Befriedigung gemeiner Lüste ermöglichen, – ich meine die sacra fames, die den richtigen Gelehrten ausmacht: den vornehmen Heißhunger nach den verborgenen Schätzen des Wissens, die der ganzen Menschheit zugute kommen sollen. Das ist löblich und schön, und stündlich habe ich mich meiner Wahl mehr zu freuen. Sie machen der Empfehlung unseres Meisters Renan Ehre. Sie sind mir ein treuer, gewissenhafter, umsichtiger und rastlos fleißiger Mitarbeiter, ein Freund geworden. Aber, aber! ›Ne quid nimis‹, ›pas trop de zèle‹, ›allzuviel ist ungesund‹. Die Alten und Neuen aller Länder haben diese philisterhafte Mahnung zu rationeller Zügelung auch respektabler Leidenschaften, zum Maßhalten auch im Guten zu geflügelten Worten gemacht. Das ist gewiß kein Zufall ... Sie müssen unbedingt ein etwas bedächtigeres Tempo annehmen. Sie müssen sich mehr schonen. Sonst werden Sie mir hier noch ernstlich krank.«

Andreas gelobte nach dieser freundschaftlichen Strafpredigt, die Hamdy öfter wiederholte, Besserung. Er hielt sich denn auch ein paar Tage ganz vernünftig, aber dann ging die Leidenschaft wieder mit ihm durch, und bald trieb er's ärger denn je zuvor.

Die Arbeit, die Hamdy ihm besonders überwiesen hatte, fesselte ihn zwar ungemein, aber seinem Ehrgeize genügte sie doch noch lange nicht!

Wohl hatte er sich gewissenhaft mit dem Meister in der Überwachung der langwierigen und verwickelten Veranstaltungen geteilt, die zur Befreiung der Sarkophage aus ihrer Gruft und zu ihrer Beförderung ans Ufer getroffen werden mußten. Er hütete die seiner Obhut anvertrauten Sarkophage wie seinen Augapfel und stand mitten in der Nacht auf, um die an den unterirdischen Grüften aufgestellten Wachen zu inspizieren. Wohl durchsiebte er selbst den Schutt, war glücklich, wenn er irgendeine wertvolle Kleinigkeit, die Überreste eines vom Rost zerfressenen Bronzeschmucks, ein paar Goldrosetten, die die Diebe verloren hatten, ein von der Feuchtigkeit verbogenes und verunstaltetes Gerät fand, am glücklichsten, wenn er ein Bruchstück von den Sarkophagen selbst aus dem wertlosen Gebröckel herauslas. Am stolzesten war er auf die Aufstöberung zweier alten Bronzelampen, deren sich unzweifelhaft die gewalttätigen Leichenschänder bei ihrer Beraubung der Eingesargten zur Beleuchtung der Totenkammern bedient hatten. Die geringe Qualität der Lampen machte das nahezu zur Gewißheit, und ihre Form berechtigte zu dem Schlusse, daß die Beraubung wahrscheinlich von Zeitgenossen der Bestatteten verübt worden sei, was überdies um so wahrscheinlicher erschien, als man damals noch wissen konnte, welches Versteck die verstorbenen Großen für ihre Beisetzung sich ausersehen hatten.

Aber alles das gewährte ihm noch nicht die volle Befriedigung.

Inmitten all der Freuden, die ihm jede Stunde seines angestrengten Wirkens bereitete, überkam ihn immer wieder eine tiefe Traurigkeit. Als er eingetroffen war, war ja all das Herrliche und Schöne, das nun ans Licht der Sonne geschafft werden sollte, schon aufgefunden!

Schon in der ersten unvergeßlichen Nacht auf syrischem Boden hatte er beim Kerzenlicht die kostbare Truhe mit den klagenden Weibern in der Tiefe des Schachtes erblickt, und am anderen Morgen all die anderen wundervollen Sarkophage: den des »Satrapen« mit den von der durchgesickerten Feuchtigkeit sanft abgestumpften Konturen des Reliefs, den gewaltigen »lykischen« mit dem hohen, mit wundervollen Sphinxen geschmückten Deckel, an den Wänden in flachem Relief Tiergestalten, Eber, Bären und Löwen, vor allem die vor die Quadriga gespannten, sich hoch aufbäumenden Rosse, die zu dem Vollendetsten gehören, was die antike Bildnerkunst überhaupt geschaffen hat, und endlich der größte, kostbarste, im verschwenderischen Reichtum seines farbigen Reliefschmucks einzig dastehende »Sarkophag des Alexander« mit den großartig komponierten wilden Kampf- und Jagdszenen.

Hätte doch auch ihm das gütige Geschick die höchste Gunst gewährt, eines dieser Kunstwerke in der Nacht des Felsengewölbes zu finden!

Der Gedanke ließ ihn nicht los. Er folterte ihn unausgesetzt und unbarmherzig.

Es war nicht törichte Eitelkeit, die ihn quälte. Ob die Welt es je erfuhr, daß er es gewesen, der den Schatz gehoben habe, war ihm vollkommen gleichgültig. An seinen »Ruhm« dachte er dabei nicht. Aber er sehnte sich, sehnte sich mit aller Kraft seiner Seele, mit einem Ungestüm, das er nicht zu zügeln vermochte, nach dem einzigen, was in Jahrhunderten unter ungezählten Millionen Sterblicher kaum einem beschieden ist: der erste zu sein, der diesen ehrwürdigen Gebilden aus grauer Vergangenheit gegenüber tritt, der erste, der vom Zauber ihrer Schönheit umschlungen wird, der erste! Ein Beglücker der Menschheit, zu deren andächtiger Freude, Erhebung und dauerndem Genuß er diese Herrlichkeiten wieder von der Sonne bescheinen lassen würde.

Das dünkte ihn der höchste Augenblick des Glücks. Danach strebte er in wildem Sehnen. Und trotz aller Mahnungen der nüchternen Vernunft steigerte sich von Stunde zu Stunde sein töricht vermessenes Ikarusverlangen.

Inzwischen hatte der geschickte Ingenieur Bechara Effendi die sinnreichen, umfassenden und schwierigen Arbeiten zur Beförderung der Sarkophage nach dem Einschiffungsplatze vollendet. Schon lag der von der Regierung entsandte Dampfer »Dschadik«, der mit allem zur Hebung der schwersten Lasten erforderlichen Material ausgestattet war, mit Kranen und Winden und Hebeln, vor Anker. Nur noch wenige aufregende Tage, – vielleicht die aufregendsten von allen, und die mächtigen Sarkophage waren am Strande, waren mit äußerster Vorsicht in gewaltigen festen Kisten wohlverpackt und an Bord des Staatsschiffs gehoben.

Alles war wohlgeborgen, und auf den heutigen Abend war die frohe Abfahrt angesetzt.

War es in Wahrheit eine frohe Abfahrt?

Ohne Zweifel. Aber auch tiefe Wehmut bemächtigte sich der Scheidenden. Sie nahmen Abschied von dem Strande, der ihnen die vollsten und ergreifendsten Freuden ihres Daseins gebracht hatte, von unvergeßlichen und unwiederbringlichen Stunden. Es war ihnen zumute wie dem Alternden, der die Jugend scheiden sieht. Und wenn er nun auch des Ersehnten die Fülle hat, eines fehlt ihm doch und kommt nicht wieder: eben die Jugend, die sich mitleidlos von ihm wendet! »Brüderlein fein, es muß geschieden sein!«

So saßen sie denn am Morgen des Abschiedstages zum letztenmal in dem traulichen Kiosk zusammen, Hamdy Bey und Andreas Möller. Und all die wechselvollen, ergreifenden und erschütternden Begebenheiten der letzten zwei Monate zogen an ihrer Seele vorüber. Und eine tiefe Rührung erfaßte sie.

»Und Sie, mein junger Freund,« sagte Hamdy endlich, »haben rechtschaffen Ihre Pflicht getan. Wir brauchen nicht viel Worte zu machen. Reichen Sie mir die Hand! Sie wissen, was der Händedruck Ihnen sagen soll. Wir sind in den gesegnetsten Stunden in gemeinsamer Arbeit Freunde geworden und wollen es bleiben bis zu unserm letzten Atemzuge.«

Er hatte die zitternde Hand des jungen Freundes ergriffen und sah ihn besorgt an.

»Ihre Hand ist brennend heiß und trocken ... Es ist die höchste Zeit, daß Sie sich endlich in wohlverdienter Ruhe pflegen. Die sollen Sie bei mir finden! Sobald wir unsere Sarkophage ausgeschifft und sie in ihrer vorläufigen, aber sichern Herberge zu Stambul geborgen haben, kommen Sie mit mir nach Gebseh ... Da in der köstlichen Ruhe, in meiner bescheidenen, aber lieblichen Niederlassung am Golf von Ismid, inmitten blühender Rosen und Azaleen, unter düstern Zypressen, mit der Aussicht auf den Hügel, der nach einer alten Sage, die wir grausamen Wissenschafter nicht zerstören wollen, Hannibals Gebeine deckt, auf die herrliche Burgruine des Palaiokastron am Ufer, auf das blaue Wasser des Golfs und auf die malerischen Höhenzüge – da wollen wir Sie wieder frisch und gesund machen. Und dann kehren Sie mit Gott in Ihre Heimat zurück! Und im Gedenken an unsere Gemeinschaft unter Syriens glühender Sonne bearbeiten Sie dann in Ihrem behaglichen Stübchen das unschätzbare Material, das Sie gesammelt haben ... Abgemacht... Nun? Sie antworten nicht? Sagt Ihnen mein Vorschlag nicht zu?«

Andreas saß unbeweglich da, wie in sich versunken. Er hatte den Kopf geneigt, seine Hände hingen schlaff herab, seine großen Augen leuchteten in unheimlichem Glanze, und ohne zu seinem väterlichen Freunde aufzuschauen, hatte er den Blick starr vor sich hin gerichtet.

»Was fehlt Ihnen?« fragte Hamdy, nun wirklich beunruhigt.

Da sprang Andreas jäh auf, als würde er von einer Feder emporgeschnellt, schüttelte den Kopf und sagte mit trotziger Entschlossenheit, lauter, als er sonst zu sprechen pflegte: »Ich bleibe hier!«

Er ließ sich wieder auf seinen Sitz fallen und starrte vor sich hin.

»Um Gottes willen!« rief Hamdy erschrocken aus. »Was fehlt Ihnen?« wiederholte er dringlich.

»Ich kann nicht von hier fort!« entgegnete Andreas. »Ich kann nicht! Ich kann nicht!« Im Tone seiner Stimme lag etwas nervös Eigensinniges, Weinerliches. Hamdy glaubte, es spräche ein anderer Mensch.

»Ich verstehe Sie kaum ... Sie wollen hier zurückbleiben? Allein?«

»Ja! Ich bin zu krank!«

»Dann müssen Sie erst recht von hier fort! Die Hitze ist jetzt schon am Tage kaum zu ertragen, und es wird noch viel schlimmer! Die nächsten Wochen sind geradezu fürchterlich! Mit dem syrischen Klima ist nicht zu spaßen, namentlich nicht, wenn man, wie Sie, vom Norden kommt. Raffen Sie sich auf, lieber Freund! Sie sind immer tapfer gewesen. Sie werden sich doch im letzten Augenblicke nicht von der Schlaffheit unterkriegen lassen. Lassen Sie sich nur erst einmal gehörig von der frischen Seeluft durchwehen. Sie werden sehen, wie Ihnen das gut tut. Unser braver Kapitän, der Ingenieur und ich – wir wollen Sie schon pflegen. Und wenn wir unser Ziel erreicht haben, sind Sie nirgends besser aufgehoben als in Gebseh. Da haben Sie Ruhe und Frische und im Sommer zufällig auch einen sehr tüchtigen Arzt, der in Deutschland studiert hat, meinen nächsten Nachbarn ...«

»Ich danke Ihnen herzlich! Aber ich kann nicht fort! Es ist mir nicht möglich, glauben Sie mir! Bitte, quälen Sie mich nicht! Und machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen! Was soll mir denn hier zustoßen? Mein alter Hassan ist mir ergeben wie ein Hund. Alle Leute, die ich hier kennen gelernt habe, sind mir wohlgesinnt. Unser Wirt, Mehmed Scherif Effendi, würde mir jeden Dienst, den ich von ihm erbitten könnte, freudig erweisen. Ärztliche Hilfe brauche ich nicht. Ich brauche nur Ruhe, vollkommene Ruhe! Und die finde ich nirgends so vollkommen wie hier, selbst nicht in Ihrem verlockenden Landsitze zu Gebseh. Ihre Einladung nehme ich herzlich dankend an! Sobald ich mich ausgeruht habe, mache ich einen kleinen Abstecher nach Damaskus, auf den ich mich sehr freue. Ich kenne die herrliche Stadt. Und dann nehme ich in Beirut das erste Schiff, das mich nach Konstantinopel bringt. Dann wollen wir ein fröhliches Wiedersehen feiern.«

Er hatte sich sehr zusammengenommen, um seine innere Unruhe und nervöse Gereiztheit zu verbergen. Es war ihm auch wirklich gelungen, Hamdy durch seine ruhige und bedächtige Rede einigermaßen zu täuschen. Von der Nutzlosigkeit seines weiteren Drängens überzeugt, gab er schließlich, wenn auch nicht leichten Herzens, seinen Widerstand auf.

Andreas reichte ihm die Hand und sagte mit einem mühsamen Lächeln: »Und Sie geben mir also einen regelrechten Urlaub. Die Schlacht ist gewonnen, und wenn ich beim Siegeseinzug fehlen muß, werden Sie mich nicht der Fahnenflucht zeihen?«

»Das bei Gott nicht, mein guter Kamerad!« erwiderte Hamdy wirklich gerührt und drückte ihm fest die Hand.

*

Es war Andreas gar nicht unerwünscht, als dieser peinlichen Szene durch Hassans Eintreten ein Ende gemacht wurde. Hassan sagte etwas in türkischer Sprache, das Andreas nicht verstand. Hamdy erhob sich lachend. In demselben Augenblick hatte Hassan die Tür geöffnet, und herein trat Dr. Goldap, der deutsche Generalkonsul aus Beirut.

Die drei begrüßten sich freundlich.

»Also endlich lassen Sie sich sehen! Ein bißchen spät!« rief Hamdy vergnügt.

»Ja, die verwünschten Berufsgeschäfte!« seufzte Goldap. »Und dann und vor allem die niederträchtige, verächtliche, aber himmlische Faulheit, die man sich hier im Orient angewöhnt. Nichts lernen wir zappeligen Menschen der nordischen Kultur schneller als das gemächliche Tempo des morgenländischen Daseins. Ich hab's nun auch schon dahin gebracht, daß mir ein eiliger Mensch ungesittet, beinahe unanständig vorkommt. Deswegen habe ich mich auch nicht beeilt. Als ich aber hörte, daß die »Dschadik« hier angelaufen ist, da sagte ich mir doch: nun ist es die höchste Zeit, wenn ich Ihre Herrlichkeiten überhaupt sehen will, und da habe ich mich denn schleunigst auf mein Roß geworfen, und da bin ich!«

»Wann haben Sie denn von der Ankunft der »Dschadik« Kenntnis erhalten?« fragte Hamdy belustigt.

»Wann? Nun, das kann doch wohl acht Tage her sein.«

»Acht Tage. Das stimmt ganz genau. Und heute abend dampfen wir ab.«

»Heute noch?«

»Heute noch! Der Kapitän, der uns vor einer halben Stunde verlassen, hat uns gesagt, daß wir etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang in See gehen werden.«

»Dann haben Sie also wohl schon alle Sarkophage an Bord gebracht?«

»O ja! schon lange!« erwiderte Hamdy immer lächelnd.

»Aber man wird sie doch an Bord noch sehen können?«

»Das leider nicht! Sie sind alle recht gut verpackt!«

»Ja natürlich!« versetzte Goldap etwas beschämt. »Das hätte ich mir eigentlich selbst sagen können! Das ist ja heiter! Da bekomme ich sie also gar nicht mehr zu sehen? ... Na, wie Allah will! Übrigens komme ich ganz sicher im Herbste nach Konstantinopel. Und mein erster Besuch gilt den Sarkophagen! Das versteht sich! Wer konnte denn aber auch ahnen, daß man sich hierzulande mit der Expedition so fabelhaft beeilen würde? Daran sind Sie ganz allein schuld, Exzellenz! Mit Ihrem Enthusiasmus, mit Ihrem Eifer, mit Ihrer Liebe zur Kunst ... ja, mit solchen Faktoren rechnet man hier gewöhnlich doch nicht!«

Er mußte über sein selbstverschuldetes Mißgeschick auch lachen.

»Und Sie, Herr Professor!« fügte er, sich an Andreas wendend, hinzu, »was müssen Sie von mir denken? Aber um des Himmels willen verraten Sie mich nicht! Bewahren Sie das Geheimnis meiner Schwäche. Machen Sie in Ihrem Reisetagebuch keine Bemerkung über den kunstsinnigen Generalkonsul in Beirut. Ich würde mich totschämen, wenn meine Landsleute von meiner Besichtigung der Sarkophage von Sidon etwas erführen!«

»Ich verspreche es Ihnen!« sagte Andreas lächelnd. »Ich habe Sie um etwas Ernsteres zu bitten: verzeihen Sie mir, wenn ich mich auf eine Stunde zurückziehe. Ich habe einen langen und wichtigen Brief zu schreiben, den ich meinem Freunde mitgeben möchte, um ihn in Konstantinopel auf die Deutsche Post zu geben.« Und einen erstaunten Blick des Generalkonsuls beantwortend, fügte er hinzu: »Ich bleibe nämlich noch einige Zeit hier, Hamdy Bey wird Ihnen alles erzählen. Ich fahre über Beirut zurück, und es versteht sich, daß ich Sie da aufsuchen werde.«

»Und da werden Sie ein paar Tage ... oder noch lieber, ein paar Wochen unser Gast sein! Das ist ja reizend! Sie werden uns eine große Freude bereiten. Meine Frau hat mir natürlich an ihren Landsmann tausend schöne Grüße aufgetragen, die ich ebenso natürlich um ein Haar vergessen hätte.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar! ... Und für jetzt nochmals: verzeihen Sie mir, wenn ich Sie verlassen muß ... Sie bleiben doch noch ein paar Stunden hier?«

»Das ist nun sehr fraglich geworden ... Ich denke doch, daß ich hier ein frisches Pferd finden werde. Mein Diener kann hier übernachten und mit dem Pferde ohne Reiter morgen nach Beirut zurückreiten. Ich mache mich dann bald wieder auf den Heimweg. Es ist mir schließlich noch lieber, wenn ich mich gleich heute von meiner Frau auslachen lasse, dann habe ich's wenigstens hinter mir.«

»Dann also auf alle Fälle: auf Wiedersehen in Beirut!«

»Auf Wiedersehen!«

Sie drückten sich die Hand, und Andreas wandte sich zum Gehen.

»Übrigens ... der von Ihnen erwartete Brief ist noch immer nicht eingetroffen.«

Andreas nickte mit müdem Lächeln und trat in sein kleines Stübchen. Er räumte von dem schmalen Tisch am Fenster die Bücher und Schreibereien, die ihn bedeckten, nahm einen großen Briefbogen und schrieb ...

»Der Professor kommt mir so ... so anders vor, so gedrückt. Hat er sich nicht recht bewährt?« fragte Goldap, nachdem Andreas die Tür geschlossen hatte.

»Ganz im Gegenteil!« rief Hamdy. »Er hat das Ausgezeichnetste geleistet. Er hat nur zu viel gearbeitet. Und nun bricht er zusammen. Er ist krank, wirklich krank. Er will sich hier erholen ...«

»Aber das ist doch ein Unsinn!« fiel der Generalkonsul ein.

»Natürlich ist es ein Unsinn! Ich habe meine ganze Beredsamkeit erschöpft, um ihm das klarzumachen. Er will durchaus keine Vernunft annehmen. Er will bleiben. Er ist eben wirklich krank! Und da ich nicht bei ihm bleiben kann ...«

»So nehme ich ihn mit nach Beirut! Mit tausend Freuden!«

»Sie werden ihn nicht von der Stelle bringen. Geben Sie sich keine Mühe! Er hat sich nun einmal in den Kopf gesetzt, daß er hier und nur hier wieder ruhig werden könne. Dagegen ist nicht anzukommen. Übrigens ist er hier gottlob relativ nicht schlecht aufgehoben. Der Kiosk ist, wie Sie sehen, sehr wohnlich. Wir haben hier am Abend und in der Nacht immer die kühle Luft vom Meere. Der Besitzer des Grundstücks, Mehmed Scherif Effendi, spricht ganz gut Französisch und wird es wohl auch ungefähr schreiben. Er kennt Möller und hat ihn gern. Ihm werde ich vor allem die Pflege meines armen Freundes ans Herz legen. Außerdem ist der alte Hassan, der Möller hier bedient hat, ein durchaus zuverlässiger Mensch. Wenn ich in der Beziehung nicht beruhigt wäre, würde ich Möller sogar unter Anwendung von Gewalt an Bord schleppen. Aber nun kommt meine Bitte – ich möchte doch noch ein übriges tun. Ich möchte auch Ihnen noch empfehlen, sich Ihres Landsmanns anzunehmen.«

»Darauf dürfen Sie sich verlassen. Und da soll mir die orientalische Bequemlichkeit keinen bösen Streich spielen, das verspreche ich Ihnen. Wenn Sie erlauben, begleite ich Sie zu Mehmed Scherif. Ich bitte ihn, mir ganz regelmäßig, wenigstens alle Wochen einmal, ein ganz kurzes Bulletin zu geben, nur eine Zeile. Ich selbst werde in vierzehn Tagen wieder hierher kommen und meine Besuche so lange fortsetzen, bis wir ganz beruhigt sein können. Sollte der Professor, was hoffentlich nicht eintreten wird, wirklich bedenklich krank werden, so würde ich ihn sofort zu mir bringen. Wir haben ein sehr nettes Gartenhaus, das für Fremdenbesuch eingerichtet ist. Da ist er ganz ungestört, und wenn er von uns nichts wissen will, bekommt er von uns nichts zu sehen und nichts zu hören.«

»Das ist mir wirklich eine große Beruhigung!«

»Sehen Sie, nun habe ich meinen Ritt nach Sidon doch nicht vergeblich gemacht!«

Bald darauf brachen sie auf, um mit Mehmed Scherif Effendi alles Erforderliche zu besprechen.

*


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