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Zum dritten Male las Andreas langsam und bedächtig die lakonische Meldung aus Konstantinopel, die der Telegraphenbote vor einer halben Stunde bei ihm abgegeben hatte. Er kannte sie auswendig, aber es war ihm trotzdem ein Bedürfnis, sich jedes Wort noch tiefer einzuprägen.

Die Aufregung, die sich beim ersten Lesen der Depesche seiner bemächtigt hatte, war stetig gestiegen und wurde durch die widersprechenden Gefühle, die ihn wechselseitig beherrschten, immer mehr geschürt. Er empfand die dankbarste Freude für das heißersehnte Glück, das ihn nun, wie es schien, endlich und doch wiederum viel früher, als er zu hoffen gewagt hatte, beschieden werden sollte, zugleich aber auch eine gewisse wehmütige Trauer darüber, daß er sich gerade jetzt – und vielleicht auf lange Zeit – von der Heimat zu trennen habe. Sie war ihm nie so lieb und teuer erschienen, wie in diesen sonnigen Frühlingstagen! Dann aber machte er sich wieder bittere Vorwürfe darüber und schalt sich undankbar, daß seine Freude nicht ungetrübt sein konnte.

Schon von früher Jugend auf hatte er eine besondere Vorliebe für die fernsten Tage der grauen, von der Wissenschaft nur unvollkommen wieder aufgelichteten Vergangenheit empfunden, und in den Jahren des Heranreifens hatte ihn die echte und ernste Begeisterung für die Erforschung des Altertums erfaßt. Er war Archäologe geworden mit Leib und Seele. In seinen Ansprüchen von äußerster Bescheidenheit, ohne irgend welches Verlangen nach Wohlleben, ja, ohne Verständnis dafür, instinktiv haushälterisch, hatte er wie etwas ganz Selbstverständliches die größere Hälfte des nicht ganz unbedeutenden Vermögens, das ihm sein Vater, ein rechtschaffener Pastor im Holsteinischen, hinterlassen hatte, seinem Studium geopfert. Er hatte sich längere Zeit in den großen europäischen Zentren der Wissenschaft und Kunst aufgehalten, die Museen und Sammlungen eifrig studiert und, mit glänzenden Empfehlungen von Ernest Renan ausgestattet, der an dem unermüdlichen, fleißigen jungen Gelehrten, besonderes Gefallen gefunden, zwei Jahre – die vollsten und genußreichsten seines bisherigen Daseins – in Kleinasien, Syrien und Ägypten zugebracht.

Immer war es das alte Sidon gewesen, – das heutige Saïda, unterhalb Beirut, etwa auf der Höhe von Damaskus, von dem es durch die beiden hohen Gebirgsstränge des Libanon getrennt ist, am Meere gelegen, – das eine unwiderstehliche, fast unheimlich zu nennende Anziehungskraft auf ihn geübt hatte. Die ersten Ausgrabungen, die Ernest Renan dort unternommen hatte, und der zuversichtliche Hinweis des französischen Gelehrten, daß hier an der syrischen Küste sicherlich noch Schätze von unberechenbarem Wert – namentlich für die Geschichte der Phönizier und Alexandriner – verscharrt sein müßten, ließen ihm keine Ruhe und Rast.

Wie glücklich war er gewesen, als man ihm bei seinem letzten Aufenthalte in Konstantinopel die feste Zusicherung gegeben hatte, daß man zu guter Stunde seiner gedenken würde!

Durch die Ernennung Hamdy Beys zum Konservator der türkischen Kunst- und Altertumssammlungen hatte die archäologische Forschung in dem weiten Reiche, das die ergiebigste Ausbeute darbot, mächtigen Aufschwung genommen. Der Gewissenlosigkeit und dem brutalen Getriebe des habgierigen privaten Antiquitätenschachers, den man in strafbarer Indolenz ungestraft hatte schalten und walten und am Gemeingute der Kultur sich hatte versündigen lassen, trat man nun, auf Hamdy Beys Anregung, mit Entschiedenheit entgegen; und die rationelle und systematische Aufdeckung der versunkenen und verborgenen Herrlichkeiten wurde von nun an der kundigen Leitung wissenschaftlich gebildeter Männer anvertraut, welche die mühevollen Arbeiten zu überwachen und zu leiten hatten. Hamdy Bey hatte nun dem jungen deutschen Gelehrten, der auf das beste, nämlich durch eine Empfehlung Renans, bei ihm eingeführt worden war, das feste Versprechen gegeben, ihn, sobald sich die Gelegenheit bieten würde, zu einer dieser Ausgrabungsarbeiten heranzuziehen.

Andreas Möller hatte lange vergeblich darauf gewartet, und es waren Jahre seitdem vergangen.

Er hatte sich in Berlin als Privatdozent habilitiert. Seine Arbeiten hatten ihm den Ruf eines echten, tüchtigen, scharfsichtigen Gelehrten, insbesondere eines gründlichen Kenners der altsemitischen Sprachen erworben. Durch die Entzifferung einer bis dahin rätselhaft gebliebenen phönizischen Inschrift hatte er auch die fördernde Freundschaft Renans und unter den Fachgelehrten überhaupt Ansehen gewonnen. Seit einem Jahre war er nun zum außerordentlichen Professor der Archäologie an der Berliner Universität ernannt worden. Er hatte das siebenunddreißigste Lebensjahr eben überschritten.

Er hatte nur seinen Studien gelebt, – ein stilles, beschauliches, genügsames Leben für sich, ohne Zusammenhang mit der lärmenden Gegenwart, in stetem, ihn immer mehr beglückenden Verkehr mit der dunklen Abgeschiedenheit. Ein Anachoret mitten im Gewühl der Weltstadt, für deren Vergnügungen er kein Verständnis besaß, deren Erregungen ihn kalt ließen.

Seitdem er sich in Berlin niedergelassen, hatte er seine Wohnung bei der verwitweten Steuerinspektorin Frau Wittig, im zweiten Stock eines älteren Hauses in der Wittelstraße, nicht gewechselt. Vor kurzem hatte er, da er sich wegen des unaufhörlichen Anwachsens seiner Bibliothek in der Arbeitsstube nicht mehr umdrehen konnte, zu seinen zwei mittelgroßen Zimmern noch ein drittes hinzugenommen. Und es war ihm nicht ganz leicht geworden, sich in diese einzige Veränderung in seinen äußeren Lebensbedingungen und die ihm dadurch gewährten Bequemlichkeiten hineinzufinden.

Er wußte nicht, wer über ihm, unter und neben ihm wohnte. Mit seiner Wirtin sprach er nur das Nötige, viel weniger, als ihr lieb war. Denn Frau Wittig respektierte und verehrte ihren Herrn Professor aufrichtig und fand nichts weiter an ihm auszusetzen, als daß er ihrem Bedürfnis, dies und das zu erzählen und dies und das zu hören, so wenig entsprach.

Aber sie pflegte ihn liebevoll, mütterlich. Sie kannte die Gewohnheiten ihres angenehmen Mieters, seine peinliche Ordnung und Sauberkeit. Das Mädchen durfte nie in das Arbeitszimmer; sie ließ es sich nicht nehmen, es allein aufzuräumen. Seine Kleidung und Wäsche waren stets in tadellosem Zustande; wenn das eine oder das andere schadhaft wurde, so sorgte sie, nach vorheriger, regelmäßig bejahter Anfrage, für rechtzeitigen Ersatz. Das war sehr einfach. Denn Professor Möller trug nie etwas anderes, als den zweireihigen schwarzen Tuchrock mit ziemlich langen Schößen, Beinkleider und die hohe Weste in derselben Farbe und aus demselben Stoff – alles aufs gründlichste gebürstet. – Im Schrank hing noch derselbe Frack, in graue Leinwand sorgsam eingehüllt, in dem Andreas vor vierzehn Jahren zum Doctor philosophiae et magister artium liberalium promoviert worden war. Der wurde bei den seltenen feierlichen Gelegenheiten noch immer hervorgeholt, und er saß heute noch gerade so gut und gerade so schlecht, wie am ersten Tage. Denn die Figur des Professors hatte sich seit seinem zwanzigsten Lebensjahre nicht mehr verändert.

Mit zwanzig Jahren war er ein hochaufgeschossener Jüngling gewesen, jetzt war er ein ziemlich großer, schmalbrüstiger Mann, dem man es auf den ersten Blick ansah, daß er bei seiner Einberufung zum Militär vom Generalstabsarzte mit etwas geringschätzigem Lächeln als hoffnungslos dienstuntauglich ohne weiteres abgetan worden war. Sein Rücken hatte sich durch das überlange Sitzen am Arbeitstisch etwas gekrümmt, und die eine Schulter ein wenig gesenkt. Der Bücherwurm war als Vaterlandsverteidiger nicht zu gebrauchen.

Aber trotz dieser offenbaren Defekte hatte die ganze Erscheinung doch etwas ungemein Sympathisches, ja, in ihrer kindlichen Naivität beinahe etwas Rührendes.

Seine hohe und gewölbte Stirn war von starken, dunkelblonden Haaren umrahmt, die ziemlich lang und scheitellos nach hinten gekämmt seinen Nacken bedeckten und den Rockkragen streiften. Da er keinen Bart trug, hatte er einen leicht pastoralen Anstrich und wurde auch oft für einen Theologen gehalten. Er hatte fein geschnittene Züge, eine ziemlich lange schmale Nase, dünne Lippen. Er sah interessant und klug aus. Vor allem war es der Ausdruck seiner großen graublauen Augen, der sein Gesicht freundlich belebte. Wenn er die Augen aufschlug und mit seinem lebhaften und dabei doch so guten Blick einen ansah, so konnte man ihn beinahe schön nennen.

Obwohl er nichts weniger als anschmiegsam war, erfreute er sich durch die Verbindlichkeit seiner Formen allgemeiner Beliebtheit. Man kann nicht sagen, daß er der Gesellschaft aus dem Wege ging, er fühlte nur kein Bedürfnis, sie aufzusuchen; er wußte, daß er ein schweigsamer und unergiebiger Mann war. Und so vereinsamte er auf ganz natürliche Weise.

Er hatte in seinem Leben überhaupt nur einen einzigen Freund gehabt, mit dem er in innigem Verkehr gestanden, mit dem er von allem, was ihm durch Kopf und Herz ging, zwanglos hatte sprechen können. Und der war gestorben. Der ihm Gleichgesinnte war als ein tragisches Opfer seines Wissensdranges gefallen. Es war ein junger Mediziner, der sich bei einem an sich selbst vorgenommenen wissenschaftlichen Versuche eine Blutvergiftung mit tödlichem Ausgang zugezogen hatte. Den hatte er nie vergessen können! Er hatte ihm treue Freundschaft bis übers Grab hinaus bewahrt und nie wieder einen andern in sein Herz geschlossen.

Aber vor kurzem, – es waren kaum sechs Wochen seitdem vergangen, – hatte er eine Bekanntschaft gemacht, die in sein bisher so ruhiges Leben eine ungeahnte Bewegung gebracht, ja, eine förmliche Umwälzung hervorgerufen hatte.

*

Eines Nachmittags hatte es an seine Stubentür geklopft. Auf seinen Herreinruf war Frau Wittig erschienen und hatte ihn mit verlegenem Lächeln gefragt, ob er in seiner Bibliothek vielleicht ein Konversationslexikon besitze, und, als er diese Frage, ebenfalls, aber verwundernd lächelnd, bejaht hatte, hinzugefügt, ob er wohl die große Freundlichkeit haben würde, es ihr auf einige Augenblicke zu leihen.

»Gern«, hatte Andreas versetzt. »Welchen Band wünschen Sie?«

»Welchen Band?« wiederholte die Wirtin mit gesteigerter Verlegenheit. »Ja, das kann ich Ihnen eigentlich nicht sagen ... Das Buch ist nämlich nicht für mich. Fräulein Sabine Kreutzer hat mich darum gebeten.«

Andreas sah sie fragend an.

»Die junge Dame, die auch bei mir wohnt, hier in der kleinen Stube gleich nebenan,« erläuterte Frau Wittig. Und sie gab unaufgefordert die weiteren Aufschlüsse: »Eine sehr fleißige junge Dame, vom Lette-Verein. Sie ist Stenographin und lebt ganz still für sich. Sie werden sie kaum je gehört haben, obgleich die beiden Stuben eine Verbindungstür haben. Da, die Tür, die Sie mit Ihren Büchern verstellt haben. An einen lauten Mieter würde ich das Stübchen auch nie vermietet haben. Lieber ließe ich es leer stehen, denn ich weiß ja, der Herr Professor müssen ungestört sein.«

Andreas hörte ohne besondere Teilnahme zu. Um dem Redeflusse der Wirtin einen Damm zu setzen, warf er ein:

»Dann erkundigen Sie sich gefälligst bei der jungen Dame, welchen Band sie zu haben wünscht, – welchen Buchstaben? Ich stehe gern zur Verfügung.«

»Welchen Buchstaben«, wiederholte die Wirtin, als ob sie sich die Bestellung einprägen wollte.

Zögernd entfernte sie sich.

Nach einigen Minuten wurde wieder geklopft. Die Wirtin kehrte zurück, diesmal gefolgt von einem jungen Mädchen, das sich an der Tür artig verneigte. Andreas hatte sich jetzt erhoben und erwiderte den Gruß etwas ungelenk.

Die junge Dame mochte etwa einundzwanzig Jahre alt sein. Sie war hellblond und hatte frische Farben. Sie war sehr einfach, aber sehr adrett gekleidet.

»Ich habe Fräulein Kreutzer gebeten, lieber selbst zu kommen,« sagte Frau Wittig, »ich finde mich doch nicht zurecht. Der Herr Professor werden es gewiß nicht übelnehmen.«

»Aber bitte, bitte«, fiel Andreas ein. »Sie wünschen das Konversationslexikon?« fuhr er, sich an die junge Dame wendend, fort.

»Entschuldigen Sie nur meine Indiskretion, hier so ohne weiteres ...«

»Bitte, bitte«, warf Andreas abermals ein. »Es ist mir ein Vergnügen, Ihnen eine unbedeutende Gefälligkeit erweisen zu können.« Er hatte sich einem Regal genähert. »Hier, mein Fräulein, steht das Lexikon.«

Mit einer leichten Verbeugung trat Fräulein Kreutzer an die bezeichnete Stelle und nahm einen Band heraus.

Andreas näherte sich dem Fenster, wo die Wirtin stand, und stellte irgend eine gleichgültige Frage, die Frau Wittig zu einer längeren Expektoration veranlaßte. Er hörte mit anscheinender Teilnahme zu und spann das Gespräch sogar weiter. Frau Wittig war ganz überrascht. So gesprächig war der Herr Professor noch nie mit ihr gewesen.

Sabine hatte indessen den Band wieder in die Lücke gestellt und einen andern herausgenommen und durchblättert. Dann einen dritten. Sie schüttelte den Kopf und entfernte sich vom Regal, während sie Frau Wittig durch einen Blick zum Abschied veranlassen zu wollen schien.

Andreas hatte das stumme Spiel beobachtet und brach das Gespräch mit der Wirtin jäh ab.

»Nun? Haben Sie gefunden, was Sie suchten?« fragte er.

»Nein«, antwortete Sabine. »Und es ist mir ein bißchen unangenehm. Es ist ein Eigenname, der in dem Stenogramm, das ich zu übertragen habe, sehr oft wiederkehrt ... ein phönizischer König ...«

Andreas fuhr erstaunt auf und blickte Sabinen mit seinen großen Augen so blitzend an, daß sie unwillkürlich die Lider senkte.

»Ein phönizischer König? Da weiß ich ja einigermaßen Bescheid ... Aber – verzeihen Sie die etwas indiskrete Frage, was haben Sie denn mit phönizischen Königen zu tun?«

»Ich werde seit einiger Zeit von Herrn Dr. Scholl beschäftigt«, gab Sabine Bescheid.

»So, so, von Dr. Scholl?« wiederholte Andreas. »Den kenne ich sehr gut. Er hat mehrere Semester bei mir Kolleg gehört. Und der beschäftigt Sie?«

»Herr Dr. Scholl ist Mitarbeiter am Konversationslexikon. Er bearbeitet einen Teil der archäologischen Artikel. Und da diktiert er mir mitunter größere Aufsätze. Ich mag ihn nicht gern unterbrechen. Er benutzt für seine Arbeit zahlreiche Notizen und Quellenwerke, und es bringt ihn aus dem Zusammenhang, wenn man ihn während des Diktats mit Fragen unterbricht. Heute habe ich vergessen, ihn nach beendigter Arbeit zu fragen, wie ich es sonst immer tue. Und das ist mir um so unangenehmer, als ein und derselbe Name, den ich nicht verstehen konnte, wohl ein dutzendmal vorkommt. In Ihrer Ausgabe des Brockhaus finde ich ihn aber nicht. Es wird sich wohl um eine neuere wissenschaftliche Feststellung handeln, die in der letzten Auflage noch nicht berücksichtigt werden konnte.«

»Vielleicht kann ich's Ihnen sagen. Wie heißt denn der Gesuchte? Ungefähr ... meine ich.« »Esch ... Muh ... Lazar, habe ich verstanden.«

»Eschmunasar!« rief der Professor mit freudig leuchtendem Blick, mit einem fast zärtlichen Ausdruck. »Eschmunasar, Sohn des Tabnit! König von Sidon!«

»Ganz recht,« bekräftigte das junge Mädchen, »Sohn des Tabnit. Das habe ich auch im Stenogramm. Und wie schreibt man das, wenn ich bitten darf... ›Esch ... mu... na ... far‹? Mit einem s oder mit einem z?«

»Wie Sie wollen. Schreiben Sie's, wie Sie's hören. Richtig ist es ja doch nicht.«

Sabine lächelte ein wenig.

»Scholl spricht wohl von dem anthropo¿den Sarkophag mit der phönizischen Aufschrift, in dem Eschmunasar geruht hat? Von dem Sarkophag im Louvre?«

»Ja«, entgegnete das junge Mädchen etwas befangen. »Eigentlich spreche ich nie von dem, was mir diktiert wird. Aber es hat mich zu sehr überrascht, daß Sie sogleich erraten ...«

»Das darf Sie nicht überraschen, und Sie machen sich keiner Verletzung des Amtsgeheimnisses schuldig. Die Existenz des phönizischen Königs Eschmunasar, des Sohnes Tabnits, wird eben nur durch die eine Inschrift beglaubigt, die auf dem 1855 vom Herzog von Luynes entdeckten Sarkophag angebracht ist. Das weiß jeder, der sich um diese Dinge, wenn auch nur oberflächlich, bekümmert hat. Als Sie den Namen Eschmunasar nannten, war es also kein Kunststück, auf den anthropoïden Sarkophag zu verweisen.«

»Ja so ...« versetzte Sabine. Sie stockte und lächelte wiederum. Sie hatte gewiß noch etwas auf dem Herzen. »Und da Sie mich nun einmal belehren,« fuhr sie beherzter fort, »gestatten Sie mir wohl gleich noch eine Frage. Ich komme mir immer so töricht vor, wenn ich Sachen stenographiere und übertrage, die ich nicht verstehe. Ein ›anthropoïder‹ Sarkophag ... was ist denn das?«

»Sie haben gewiß schon einmal in einem Museum einen Mumienschrein gesehen? Einen langen, mit bunten Hieroglyphen bemalten Holzkasten, mit möglichst sorgfältig durchgebildetem Kopf, während der Rumpf und die Gliedmaßen, ohne irgendwelche feinere Gliederung, als plumpe Masse behandelt, lediglich den Umfang und die Verhältnisse des Körpers grob andeuten, – also eine lange Kiste, die einen menschlichen Körper bequem beherbergen kann, mit übergroßem Kopfe, der manchmal nicht übel modelliert ist, in Länge und Breite den Verhältnissen des Menschen, der einen solchen Kopf haben würde, etwa entsprechend, an der Schulterhöhe etwas abgerundet, in der Gegend der Hüften etwas erweitert, am unteren Teile zur Andeutung der Beine etwas geschwungen, ganz ungeschlacht modelliert, und am Ende, zur Andeutung der aufrechtstehenden, auf den Fersen ruhenden Füße, eine Erhöhung – ungefähr wie eine angewachsene Fußbank. Diese Mumiensärge sind nun auch in Stein, in Marmor oder Basalt geformt worden; da sind die Ornamente und Schriftzeichen natürlich nicht bloß mit Farben aufgetragen, sondern in den Stein eingemeißelt. Und diese steinernen Leichenschreine, die die Ähnlichkeit mit dem Menschen anstreben und grobmassig andeuten, nennt man eben ›menschenähnliche‹ – anthropoïde Sarkophage. Daß Sie das nicht verstanden haben, ist ganz begreiflich. Kein Mensch darf von Ihnen verlangen, daß Sie Griechisch verstehen sollen.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Professor!« versetzte Sabine, der es nicht entgangen war, daß die Wirtin während der belehrenden Auskunft etwas ungeduldig geworden war. »Noch einmal bitte ich Sie um Vergebung, daß ich Sie in Ihrer Arbeit gestört habe.«

»Es ist mir eine wirkliche Freude gewesen«, erwiderte Andreas sehr aufrichtig. »Und wenn ich Ihnen gelegentlich wieder einmal mit irgendeiner Mitteilung dienlich sein kann, bitte, ich stehe gern zu Ihrer Verfügung.«

Sabine neigte mit dankendem Gruß den Kopf, die Wirtin lächelte ohne Grund, sie öffnete die Tür, und die beiden entfernten sich.

*


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