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Andreas blieb stehen und blickte eine Weile auf die geschlossene Tür. Dann kehrte er zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich. Er las die Seite, die er eben geschrieben hatte, durch. Sie gefiel ihm nicht. Er machte mehrere Korrekturen. Auch damit war er nicht recht zufrieden. Er zerriß das Blatt und warf die Fetzen in den Papierkorb.

Er schrieb einige Zeilen, die er gleich wieder durchstrich.

Er wandte sich auf seinem Stuhle um und sah wieder nach der Tür. Dabei überkam ihn eine gewisse Unruhe, für die er keine Erklärung finden konnte.

Auf einmal war er zerstreut geworden. Der Faden war zerrissen, er konnte ihn nicht wieder anknüpfen. Seine Stube kam ihm jetzt merkwürdig leer vor. Und da es mit der Arbeitsstimmung nun doch aus war, faßte er einen schnellen Entschluß, erhob sich, nahm Hut und Stock und ging aus. Er bemerkte jetzt zum erstenmal, daß vom Korridor noch eine Tür in eine Stube führte. Er ging etwas langsam daran vorüber ...

Als er auf die Straße getreten war, überschritt er, ganz wider seine Gewohnheit, den Fahrdamm, blieb drüben stehen und betrachtete genauer das gelbgestrichene Haus, in dem er schon seit langen Jahren wohnte, und das er sich bis jetzt noch nie angesehen hatte. Er mußte sich erst einen Augenblick orientieren ...

Das waren die vier Fenster seiner Wohnung. Daneben war noch ein Fenster. Auf dem Brette standen vier Blumentöpfe mit blühenden Hyazinthen von verschiedener Farbe und Levkojen. Es sah hübsch aus. Frau Wittig hätte auch wohl daran denken können, für ihn ein paar Töpfe vom Markte mitzubringen!

Auf einmal wandte er sich schnell zum Gehen. Er hatte oben am Fenster hinter den Blumen eine weibliche Gestalt flüchtig erblickt, jedenfalls Fräulein Kreutzer. Bei dem Gedanken, daß sie ihn auch bemerkt haben könne, wie er, ohne sich etwas Rechtes dabei zu denken, von der Straße zu ihren Blumen hinaufgestarrt hatte, fühlte er so etwas wie Beschämung.

Er ging nun ziemlich schnell durch die Schadowstraße Unter den Linden dem Brandenburger Tor zu.

Die Sonne stand freilich schon ziemlich tief, aber es war einer der ersten warmen Frühlingstage, und der Tiergarten war noch sehr belebt. Er nahm seinen Weg über den Königsplatz an den Zelten vorüber. Da waren alle Tische dicht besetzt, und es schien ihm so, als ob da lauter fröhliche Menschen säßen. Er ließ seine Blicke über die einzelnen Gruppen schweifen: Familienväter mit ihren Frauen und Kindern, verliebte Pärchen, junge Leute, die sich an dünnem Bier und schlechten Zigarren labten und sich Geschichten erzählten, die sie sehr komisch fanden. Alle waren da vereint mit dem festen Vorsatze, sich einige vergnügte Stunden zu bereiten.

Jetzt erst fiel ihm ein, daß heute Sonntag war. Unter den Hunderten war er vielleicht der einzige, der planlos hierher gekommen war! Es war gewiß unrecht von ihm, daß, er sich nicht öfter unter fröhliche Menschenkinder begab und sich an der Freude der anderen erfreute.

Was hatte ihn heute hierhergeführt?

Er mußte einige Augenblicke nachdenken. Ein Zufall war's gewesen! Weshalb hatte er auf einmal die Lust zum Arbeiten verloren, weshalb war ihm sein Zimmer plötzlich so viel ungemütlicher als sonst erschienen ? Ja, wenn am Fenster wenigstens ein paar Blumen gestanden hätten ...

Fräulein Kreutzer hatte sich wegen der Störung so höflich bei ihm entschuldigt. Sie hatte ihn ja gar nicht gestört. Es war ihm im Gegenteil eine große Freude gewesen, mit dem anmutigen jungen Mädchen einige Minuten zusammen zu sein. Was ihn gestört hatte, das war vielmehr sein Alleinsein – nachher. Er war wirklich zu viel allein! Und wenn er jetzt nach Hause ging, dann harrte seiner wieder das Alleinsein. Daß er das früher nicht bemerkt hatte!

Er kehrte um und ging langsam, in einer gewissen schwermütigen Stimmung, die ihm etwas ganz Neues war, seiner Wohnung zu. Wohin sollte er auch gehen?

Er blieb wieder seinem Hause gegenüber stehen und sah wieder nach den Fenstern im zweiten Stock hinauf. Die Flügel ihres Fensters standen jetzt offen.

Ob sie ausgegangen war? Vielleicht hatte sie die Übertragung des Stenogramms beendet und brachte ihre Arbeit zu Doktor Scholl. Aber dazu war es doch wohl schon etwas zu spät ... Wenn er den aufsuchte, um sich Gewißheit zu verschaffen? Er kannte ihn ja sehr gut, und ein Vorwand zu seinem Besuche wäre nicht schwer zu finden gewesen ... Aber es war doch gar zu töricht! Es konnte ihm ja überdies völlig gleichgültig sein, ob seine Vermutung zutraf oder nicht.

Geräuschvoller als sonst schloß er die Korridortür auf, und als er an ihrer Tür vorbeikam, fühlte er eine gewisse Rauheit im Halse und mußte sich räuspern.

In seinem Zimmer machte er es sich bequem und setzte sich dann wieder an seinen Schreibtisch. Er arbeitete, aber ohne rechte Freudigkeit und Sammlung. Manchmal hielt er inne und lauschte, ob sich nicht irgendein Geräusch im Nebenzimmer vernehmen ließ. Alles blieb still. Die Nachbarin war sicher ausgegangen.

Da es inzwischen schummerig geworden war, steckte er seine Lampe an. Aber mit der Arbeit wollte es heute durchaus nicht gehen. Der laue Frühlingstag und der weiche West hatten ihn ermattet. Er stützte die Stirn auf die linke Hand und ließ die rechte, die die Feder hielt, schlaff herabhängen. Als Frau Wittig ihm zur gewohnten Stunde das Abendessen hereinbrachte, schrak er förmlich zusammen.

»Fräulein Kreutzer ist wohl nicht zu Hause?« sagte er in einem Tone, der möglichst gleichgültig klingen sollte.

Frau Wittig blickte überrascht auf. Der Herr Professor waren ja heute ungemein gesprächig.

»Das Fräulein geht jeden Sonntag zu ihren Verwandten«, antwortete sie, während sie die Serviette über das Tischchen breitete und das bescheidene Abendbrot symmetrisch aufstellte. »Zu ihrem Onkel. Er ist Oberlehrer an der Dorotheischen Stadtschule und wohnt hier dicht nebenan, an der Ecke der Schadowstraße. Sie kommt aber immer früh zu Hause, so gegen halb zehn. Manchmal wird es auch dreiviertel, aber selten. Sie hat überhaupt gar keinen Hausschlüssel. Also wenn der Herr Professor dem Fräulein noch etwas zu sagen haben ...«

»Nein, nein«, unterbrach sie Andreas ziemlich lebhaft. »Ich habe dem Fräulein gar nichts zu sagen. Weil ich keinen Laut von nebenan hörte, da fragte ich nur so ... wie man eben fragt.«

Frau Wittig hätte die Unterhaltung wahrscheinlich noch gern etwas fortgesetzt, aber der Professor hatte nun wieder seine gewöhnliche Miene aufgesetzt, die dazu nicht ermutigte.

»Dann also, guten Abend, Herr Professor!«

»Guten Abend!« Während des Abendessens sagte er sich, er hätte die mitteilsame Wirtin vielleicht doch nicht so schnell abfertigen sollen. Sie hätte ihm am Ende gewiß noch das eine oder andere erzählt, das er ganz gern gehört hätte.

Er war nun wieder ganz vernünftig geworden, und als er die Arbeit wieder aufgenommen hatte, ganz bei der Sache. Das dauerte so etwa eine Stunde.

Da fiel sein Blick von ungefähr auf die Uhr, die auf seinem Pulte stand, und nun befiel ihn aufs neue eine seltsame Unruhe. Es fehlten wenige Minuten an halb zehn. Sie mußte in kürzester Zeit nach Hause kommen. ... Er horchte auf. Alles war und blieb still. Er ging einigemal im Zimmer auf und ab, blieb stehen und horchte wieder. Dann trat er ans Fenster, öffnete es und blickte auf die Straße hinab, in der Richtung auf die Schadowstraße. Er hatte sich immer eingebildet, daß die Straße viel heller beleuchtet sei. Nur in unmittelbarer Nähe der Laternen konnte er die Silhouetten der wenigen Vorübergehenden ungefähr erkennen.

Er trat wieder ins Zimmer zurück und rückte das Tischchen, an dem er gegessen hatte, und das ihn jetzt bei seinem Auf- und Abgehen behinderte, an die Wand. Es mußte doch längst dreiviertel sein. Er sah auf die Uhr: eine Minute über halb! Er nahm ein beliebiges Buch und blätterte darin.

Plötzlich fuhr er auf. Er hörte, wie sich der Schlüssel im Schlosse der Korridortür drehte, wie diese behutsam geöffnet und ebenso vorsichtig wieder geschlossen wurde. Dann wurde die Tür zum Nebenzimmer leise aufgeschlossen und kaum hörbar auf- und zugemacht.

Andreas schüttelte den Kopf. Diese einfachsten Vorgänge hatten ihn merkwürdig erregt, sein Herz klopfte laut. Weshalb nur?

Er schlich an das Regal, mit dem die Tür zu ihrem Stübchen verstellt war, und horchte einige Augenblicke. Er hörte ihre leisen Schritte.

Unwillig wandte er sich ab. Er schämte sich seiner albernen Schwäche. Eine Kinderei konnte er sich allenfalls verzeihen, eine Indiskretion nicht.

*

Was war denn nur auf einmal über ihn gekommen? Wie war es nur möglich gewesen, daß eine ganz flüchtige und oberflächliche Begegnung mit einem jungen Mädchen einen so verwirrenden Eindruck auf ihn hatte machen können?

So fragte er sich, als er sich endlich – es war gegen zwei Uhr morgens geworden – dazu entschloß, sich zur Ruhe zu begeben. Aber er fand sie nicht, die ersehnte Ruhe, und er fand auch nicht die Antwort auf die Fragen, die er beständig in sich herumwälzte. Es war wohl nur das Ungewohnte, das ihn aus der Fassung gebracht und sein inneres Gleichgewicht für den Augenblick gestört hatte. Er hatte eben nie den Besuch eines jungen Mädchens empfangen. Wer besuchte ihn denn überhaupt?

Ja, da lag's! Er machte sich Vorwürfe über seine Abschließung von aller Welt. Er hatte den dem Menschen innewohnenden Gesellschaftstrieb zu gering angeschlagen. Die Leute, die er da beim Glase Bier in den Zelten gesehen hatte, die waren alle guter Dinge miteinander. Weshalb sollte nicht auch er, wie alle anderen, mit anderen leben, mit anderen fröhlich sein? So recht jung war er wohl nie gewesen. Aber zum Sonderling fühlte er sich doch noch nicht alt genug. Und er war auch noch nicht so alt, daß er auf die Freude, ein Mensch mit Menschen zu sein, hätte zu verzichten brauchen.

Und da, in seiner nächsten Nähe, Tür an Tür, da lebte so ein junges, sonniges Wesen, das in sein Dasein Licht und Wärme bringen konnte. Und er hatte es bis zur Stunde nicht einmal geahnt! Seine Abgeschlossenheit war tadelnswert. Er war fest entschlossen, sein Leben zu ändern.

Mit diesem guten Vorsatze war er endlich eingeschlafen, und als er am andern Morgen erwachte, konnte er an nichts anderes denken, als an die geeigneten Mittel zur Verwirklichung seines Vorhabens.

Er hatte die gestern unterbrochene Arbeit zwar wieder vorgenommen, aber seine Gedanken schweiften weit ab. Er überraschte sich, daß er über eine ausgeschlagene Stunde allerlei Allotria getrieben hatte. Nicht einmal das! Er hatte nicht einmal geträumt. Er hatte einfach gedankenlos dagesessen.

Bei jedem zufälligen Geräusch im Nebenzimmer hatte er aufgehorcht, und ganz vergeblich hatte er sich über das Zwecklose und Törichte seiner Beschäftigung Vorwürfe gemacht. Denn was konnten ihn diese Laute lehren, das ihn irgendwie interessieren dürfte? Jetzt hatte es bei ihr geklopft. Es war jedenfalls die Wirtin, die das Kaffeegeschirr abtragen wollte. Jetzt war die junge Dame aufgestanden und ging in ihrer Stube umher. Ob sie ausgehen würde? Nein. Der Stuhl hatte gescharrt, und nun war alles wieder still; sie hatte sich wohl wieder an ihre Arbeit gesetzt.

Aber was ging ihn denn das alles an? So war's gewiß seit Wochen und Monaten gewesen, und er hatte es vernünftigerweise nie beachtet.

Jetzt erst machte er sich klar, daß er während der langen Stunde, die er am Pulte verbracht hatte, ohne die Seite des vor ihm aufgeschlagenen Buches zu wenden und ohne die Feder in die Tinte zu tauchen, sich in seinem Geiste unwissentlich und unablässig nur mit ihr beschäftigt hatte.

Nun ja, weshalb sollte er's sich nicht ehrlich eingestehen: er hatte den sehnlichen Wunsch, sie wiederzusehen!

Aber er konnte ihr doch nicht auflauern und eine zufällige Begegnung auf der Treppe erheucheln. Er konnte auch nicht unter irgendeinem fadenscheinigen Vorwande in ihr Stübchen eindringen. Seinem linkischen Gehabe, seinem Verlegenheitsstammeln würde sie die lächerliche Komödie ja auf der Stelle anmerken.

Und doch war sie da, nebenan! Nur eine dünne Wand trennte ihn von ihr. Die Tür war bloß verstellt. Er brauchte nur ein paar Schritte zu machen, und das törichte Verlangen seines Herzens war gestillt. Und das sollte unerreichbar sein?

Als sie sich gestern von ihm verabschiedet hatte, hatte sie in einer eigenen Weise gelächelt. Es war mehr darin gewesen als ein oberflächlicher Dank für seine unbedeutende Gefälligkeit. So schien es ihm wenigstens. Und wenn er sich nicht täuschte, – war es dann nicht unsinnig, sich abzuquälen, sich zu versagen, was schon durch den Naturtrieb geboten ist, und was auch die strengste Sitte nicht verwehrt: die Gesellschaft mit einem anmutigen jungen Wesen?

Aber was würde sie für Augen machen, und wie täppisch und ungeschickt würde er sich benehmen, wenn er so ohne weiteres mit der Tür ins Haus fallen und ihr ohne Umschweife sagen wollte: »Ich bin unruhig, zerfahren, verstimmt. Ich kann mich nicht zur Arbeit sammeln, alle meine Gedanken flattern zu Ihnen hinüber. Es würde mich beruhigen und beglücken, wenn Sie mir gestatten wollten, in Ihrer Gesellschaft zu bleiben, mit Ihnen zu plaudern – oder auch zu schweigen. Denn ich habe Ihnen eigentlich nichts Besonderes zu sagen. Ich möchte Sie eben nur sehen, nur in Ihrer Nähe bleiben ...«

Und wenn er ihr das auch sagen könnte, ohne für einen Narren gehalten zu werden, und wenn sie ihn wirklich gütig anhörte und, gegen alles Erwarten, seinen Wunsch erfüllen möchte, was würde Frau Wittig dazu sagen? Was würde die davon denken und dazu sagen, wenn sich auf einmal zwischen ihren ruhigen Mietern Beziehungen knüpfen würden, für die ihr jedes Verständnis fehlen mußte? Sie hatte ja ohnehin nichts weiter zu tun, als ihre kleine Wirtschaft zu besorgen und sich um den lieben Nächsten und allerlei Dinge zu kümmern, die sie nichts angingen.

Wie oft hatte sie ihn mit unerbetenen Mitteilungen gelangweilt, denen er nur durch sein beharrliches Schweigen ein Ziel hatte setzen können!

Eines ihrer Lieblingsthemata waren die schauerlichen Vorgänge »unten, im ersten Stock«, die Andreas vollkommen gleichgültig waren.

»Unsereinem könnte so etwas nicht passieren, Herr Professor! Man sieht sich eben seine Leute an, ehe man sie ins Haus nimmt. Natürlich, wenn man weniger penibel ist, macht man bessere Geschäfte, natürlich! Wollen Sie mir glauben, Herr Professor, da unten der junge Börsenmann zahlt für dieselbe Wohnung, die der Herr Professor hat, mehr als das Doppelte ... Und wenn er mir noch mal soviel zahlte, nicht sehen! Ist das 'ne Zucht da unten! Gestern ging's wieder auf Viere, als sie auf der Treppe rumorten. Aber lieber trocken Brot in Ehren als so was! Man hält doch auf seine Reputation!«

Als sich Andreas die Erregung der Frau Wittig vergegenwärtigte, kam es plötzlich über ihn wie eine Eingebung ...

Fräulein Kreutzer war ja Stenographin! Früher hatte sie, wie er durch eine gelegentliche Mitteilung der Frau Wittig erfahren hatte, bei einem Rechtsanwalt gearbeitet. Jetzt wurde sie von Dr. Scholl beschäftigt. Warum sollte sie nicht auch ihm gute Dienste leisten können?

Da lag ja in den verschiedenen Mappen seit Jahren aufgespeichertes, zum Teil schon gesichtetes Material, das längst der Bearbeitung harrte. Er hatte sich immer nach einem brauchbaren Sekretär umgesehen. Mit den jungen Studenten, die er ab und zu zu seiner Unterstützung herangezogen hatte, hatte er leider keine guten Erfahrungen gemacht. Aber Fräulein Kreutzer machte keine Kommerse mit, und es war nicht zu befürchten, daß sie am Morgen zu spät, verschlafen und mit schwerem Kopfe an die Arbeit gehen würde. Da lag die Sache ganz anders!

Während er so spintisierte, log er sich in den Selbstbetrug hinein, daß es eigentlich nur der unbewußte Zweckmäßigkeitstrieb gewesen sei, der in ihm die starke unerklärliche Teilnahme für Fräulein Kreutzer geweckt habe. Es war ohne Zweifel nur das instinktive Gefühl gewesen: »sie kann mir nützen«, – nichts weiter! Und um sich darüber zu beruhigen, fragte er sich, ob er wohl Ähnliches für Fräulein Kreutzer empfunden hätte, wenn sie etwa eine berühmte Sängerin oder Schauspielerin, eine gefeierte Modedame oder irgendeine andere viel begehrte Person gewesen wäre? Wie erleichtert atmete er auf, als er diese Frage mit gutem Gewissen verneinen konnte. Ein verschmitztes Lächeln umspielte seine seinen Lippen. Er hatte einen sehr schlauen Einfall gehabt. Er hatte ein einfaches, aber sicherlich wirksames Mittel gefunden, um allem unliebsamen Gerede der schwatzhaften Wirtin vorzubeugen: sie selbst mußte ihm den Vorschlag machen, Fräulein Kreutzer zu beschäftigen.

*

Er machte sich gleich ans Werk, als ihm Frau Wittig den dünnen, aber gut gemeinten Nachmittagskaffee brachte. Er hatte ein so verdrießliches Gesicht aufgesetzt, daß Frau Wittig, wie er richtig vorhergesehen hatte, ihn teilnehmend fragte, ob ihm etwas fehle.

»Nichts Besonderes, Frau Wittig«, antwortete Andreas. »Ich bin nur ärgerlich darüber, daß ich mit einer Arbeit nicht rechtzeitig fertig werden kann. Ich fürchte, daß ich meinem Verleger Unbequemlichkeiten bereite.«

»Mehr als den ganzen Tag arbeiten kann doch der Mensch nicht«, tröstete Frau Wittig. »Und der Herr Professor sind so fleißig ...«

»Ich würde ja fertig werden, wenn ich ein wenig Hilfe hätte! Aber auf meine jungen Herren Studenten kann ich mich nicht ganz verlassen. Es sind eben junge Leute!«

»Der Herr Professor haben ja so recht!« bekräftigte die Wirtin, leise seufzend. »Darauf ist kein Verlaß! Der blonde Herr, der früher manchmal zum Herrn Professor kam, das war einer! Wollen mir der Herr Professor glauben, daß er sich die Stiefel hat wichsen lassen, wenn er vormittags hier arbeiten kam? Draußen in der Küche, vom Mädchen, um zehn Uhr morgens! Er war noch nicht mal zu Hause gewesen! Um zehn Uhr morgens, am hellen, lichten Tage! Ja, die jungen Leute! ... Muß es denn partout ein Student sein?« setzte sie nach einer kurzen Pause fragend hinzu.

»Das wäre eigentlich nicht erforderlich. Er soll ja nicht selbständig arbeiten. Es handelt sich um ein Diktat. Wenn er also nicht ganz ungebildet ist, flott nachschreiben, womöglich stenographieren kann ...«

»Herr Professor!« fiel ihm die Wirtin mit leuchtenden Augen ins Wort. »Wie wär's denn mit Fräulein Kreutzer?«

Andreas empfand eine aufrichtige Freude über den glücklichen Verlauf seiner diplomatischen Umtriebe. Auf den Namen hatte er ja gewartet! Aber er wollte nun seine Rolle durchführen und stellte sich sehr überrascht.

»Fräulein Kreutzer?« wiederholte er, als höre er den Namen zum erstenmal. »Ja so! ... die Nachbarin. Richtig, die stenographiert ja. Aber die Dame ist doch anderweitig beschäftigt, soviel ich weiß. Und es ist doch sehr fraglich, ob sie ...«

»Dafür lassen der Herr Professor mich nur sorgen!« rief Frau Wittig. Ihre freundlichen Augen leuchteten immer heller. »Ob die Lust haben wird! Sie geht ja überhaupt nur dreimal die Woche zu Dr. Scholl: Montag, Mittwoch und Freitag. Und wenn der Herr Professor das Fräulein etwas verdienen lassen können – wozu das Geld aus dem Hause tragen?«

Frau Wittig hatte da eine Frage berührt, an die Andreas noch gar nicht gedacht hatte. Sie, war ihm peinlich. Auch da konnte ihm die Wirtin vielleicht helfen.

»Da ist auch noch eine Schwierigkeit, die zu überwinden wäre. Ich habe, offen gesagt, eine gewisse Scheu, mit einer gebildeten jungen Dame von Geld zu sprechen ...«

»Aber wieso denn? Es ist doch ihr Geschäft. Der Herr Professor brauchen ihr ja nur zu sagen, daß sie dasselbe bekommen soll wie beim Dr. Scholl. Oder, wenn's dem Herrn Professor unangenehm ist, ich kann's ihr ja auch sagen.«

»Das wäre mir allerdings lieber. Aber ich bitte Sie, Frau Wittig, recht klug, recht vorsichtig! Setzen Sie die junge Dame nicht in Verlegenheit...«

»I wo werde ich denn!«

»Sie können ihr ja sagen, wie es auch tatsächlich der Fall gewesen ist, daß die ganze Sache von Ihnen ausgeht...«

»Gewiß doch!«

»Daß mir Ihr Vorschlag sehr angenehm gewesen wäre, und daß Sie nun gleich alles für den Fall ihrer Zustimmung in Ordnung hätten bringen wollen. Es würde Fräulein Kreutzer vielleicht peinlich sein, die Honorarfrage mit mir zu erledigen, und deshalb hätten Sie mich gefragt, ob ich mit den Bedingungen des Dr. Scholl einverstanden wäre? Das hätte ich einfach bejaht. Also Sie verstehen: Sie hätten Fräulein Kreutzer ein peinliches Gespräch mit mir ersparen wollen, und deshalb ...«

»Ich verstehe schon! Der Herr Professor können ganz unbesorgt sein. Delikat muß der Mensch sein. Das ist immer mein Grundsatz gewesen. Darin bin ich komisch ... Also, wenn der Herr Professor es wünschen, spreche ich gleich mit Fräulein Kreutzer ...«

»Ich danke Ihnen und bitte darum.«

Frau Wittig empfahl sich mit dem freundlichsten Lächeln. Sie war sehr stolz auf die ihr anvertraute Mission und glücklich, Fräulein Kreutzer, für die sie eine Art von mütterlicher Zuneigung empfand, einen Dienst leisten zu können. Sie kam sich sehr wichtig vor. Sie hatte einen klugen Einfall gehabt, und der Herr Professor hatte ihr gedankt. Sie ging sogleich zu Fräulein Kreutzer und entledigte sich ihres Auftrags mit Takt und Geschick.

Sabine freute sich über den Vorschlag aufrichtig und völlig unbefangen.

Es war kaum eine Viertelstunde vergangen, als Frau Wittig wieder in das Zimmer des Professors kam und ihn fragte, ob ihm Fräulein Kreutzer ihre Aufwartung machen dürfe, um das Nähere mit ihm zu besprechen.

Wenige Minuten darauf trat Sabine ein.

Sie sah reizend aus. Andreas klopfte das Herz, als er sie so vor sich sah. Er begrüßte sie etwas linkisch, schob einen Stuhl in die Nähe des Schreibtisches und bat sie, sich zu setzen.

Die Verabredung nahm nur kurze Zeit in Anspruch. Es war eigentlich überhaupt gar keine bestimmte Verabredung. Sie kamen schnell dahin überein, daß sie immer zusammen arbeiten würden, wenn Andreas Lust und Sabine Zeit hätten. Da sie Zimmer an Zimmer wohnten, konnte das ja durch Vermittelung der Wirtin ohne Schwierigkeit von Fall zu Fall bestimmt werden.

»So ist es mir weitaus am liebsten. Ich fürchte nur, daß ich, namentlich in den nächsten Tagen, überstarke Anforderungen an Sie stellen werde. Die Arbeit brennt mir auf den Nägeln, und ich werde kaum merken, wenn ich Ihnen zu viel zumute. Dann rufen Sie mich nur, bitte, ruhig zur Ordnung!«

»Darüber brauchen Sie sich nicht zu beunruhigen, Herr Professor! Für uns ist das Außergewöhnliche ja beinahe immer das Gewöhnliche; Wir werden eben nur herangeholt, wenn das Feuer auf den Nägeln brennt. Ich habe manchmal wochenlang bis tief in die Nacht hinein die Diktate des Tages übertragen müssen. Das macht mir nichts. Ich brauche wenig Schlaf.«

»Davon kann keine Rede sein!« rief Andreas. »Mit dem Übertragen hat's gar keine Eile. Da können Sie sich Zeit lassen. Wenn ich nur die Sache aus dem Kopfe habe.«

»Aber Frau Wittig sagte mir doch. Ihr Verleger...«

»Ach, der wartet! Ich wiederhole Ihnen: mit der Übertragung können Sie sich's ganz nach Ihrer Bequemlichkeit einrichten ... Und wann könnten wir denn anfangen?«

»Wann es Ihnen beliebt, Herr Professor. Meinetwegen gleich.«

»Das wäre mir das Erwünschteste«, rief Andreas freudig. »Ich will mir nur das Material ein wenig zusammenlegen. Wenn Sie also ... in einer halben Stunde etwa ... so gut sein wollen...«

»Schön, Herr Professor! In einer halben Stunde.« Mit leichtem Gruß entfernte sich Sabine.

Andreas strahlte. Er war glücklich. Er empfand ein inneres Wohlbehagen, wie er es wohl nie zuvor gekannt hatte. Von einem kleinen Tischchen, das in der Nähe seines Pultes stand, räumte er alle Bücher, Rollen, Schreibereien, die es seit Monaten und Jahren bedeckt hatten. Er wollte zunächst Frau Wittig rufen; aber es bereitete ihm ein sonderbares Vergnügen, selbst den Staub abzuwischen, der sich den prüfenden Blicken der reinigenden Frau Wirtin zu entziehen gewußt hatte und auf Schleichwegen auf die Tischplatte gedrungen war. Hätte Frau Wittig gesehen, daß er sich dabei eines ganz neuen Taschentuchs als Staublappen bediente!

Er rückte den Tisch in paralleler Richtung mit seinem Pulte an das andere Fenster und suchte das Beste, was er an Schreibmaterial besaß, hervor: Papier, Löschblatt, Bleistift, Feder, Tintenfaß, um es in möglichst gefälliger Anordnung auf dem Arbeitstischchen seines neuen Sekretärs aufzustellen. Alle diese Vorbereitungen machten ihm große Freude. Er lächelte während der ganzen Zeit und empfand, als er nach vollbrachter Arbeit die Einrichtung seines Arbeitsraumes überblickte, eine frohe Befriedigung.

Nun rief er Frau Wittig. Sie bemerkte die Veränderung auf den ersten Blick und lächelte, wie immer, wenn sie das Zimmer ihres Herrn Professors betrat.

»Ich weiß schon«, sagte sie. »Sie sind schnell einig geworden. Na, was hatte ich Ihnen gesagt, Herr Professor?«

»Ja, ja ... und ich danke Ihnen nochmals für Ihren guten Einfall und für Ihre Freundlichkeit...«

»Aber bitte, bitte, Herr Professor ...«

»Und was ich Ihnen noch sagen wollte ... Gelegentlich könnten Sie mir wohl ein paar Blumentöpfe mitbringen ...« Frau Wittig sah erstaunt auf. »Da ... für die Fenster. Es macht sich so hübsch ... Ich habe Blumen sehr gern ... so ein ganzes Zimmer wird dadurch freundlicher.«

»Davon habe ich ja keine Ahnung gehabt ... in all den Jahren«, versetzte Frau Wittig, und mit einem gelinden Vorwurf fügte sie hinzu: »Weshalb haben mir denn der Herr Professor das nicht früher gesagt?«

»Ich hab's immer vergessen ... Also, bitte, gelegentlich.«

»Heute noch, Herr Professor! Es ist jetzt die schönste Zeit! Eine Pracht!«

Sie wollte gewiß die Schönheit der Farben und des Duftes noch eingehender schildern, aber Sabine trat ein, mit einem kleinen, liniierten Hefte und zwei scharf gespitzten Bleistiften in der Hand, und Frau Wittig zog sich sogleich zurück. Sie wußte, der Herr Professor wollte arbeiten.

Sabine setzte sich an das Tischchen. Die sorgsame neue Herrichtung entging ihr nicht. Sie rückte ihren Stuhl zurecht.

»Sitzen Sie gut?«

»Sehr gut! Ich danke.«

Andreas stöberte in einer der Mappen, die er aufgeschlagen hatte, herum, entnahm ihr einige Blätter und begann zu diktieren. Er durchmaß das Zimmer die Kreuz und Quer, wand sich an den Möbeln herum, blieb manchmal stehen, um dann wieder um so schneller auf und ab zu schreiten, sprach mitunter hastig, unruhig, stockte dann wieder und machte längere Pausen, suchte in seinen Schreibereien und Büchern herum, improvisierte dann wieder geläufig und rasch, und jedesmal, wenn er Sabinen anblickte, empfand er Fröhlichkeit und herzerfreuende Frische.

Sie saß unbeweglich da an ihrem Tischchen, auch in den längeren Pausen erhob sie die Augen nicht von ihrem kleinen Hefte – es tat Andreas eigentlich leid, daß sie sein schönes Papier ordentlich beiseite geschoben hatte und ihr eigenes Schreibheft, ihre eigenen Bleistifte benutzte, – sie rührte und regte sich nicht, man hörte sie nicht. Wenn sich Andreas, der nach längerem Suchen manchmal den Zusammenhang verloren hatte, oder bei längeren Perioden aus der Konstruktion gefallen war, einige Sätze wiederholen ließ, so las sie langsam, deutlich, ohne Betonung, aber mit offenbarem Verständnis. Sie hatte bei der Arbeit eine Ruhe und einen Ernst, die Andreas anregten und entzückten.

Als er nach etwa zwei Stunden sagte: »Nun könnten wir wohl ein bißchen pausieren«, nickte Sabine, legte den Bleistift beiseite, spreizte die Finger ein wenig und bog sich auf dem Stuhls zurück. Jetzt sah sie ihn zum ersten Male wieder ruhig und freundlich an.

»Es muß ein ganz anständiges Quantum geworden sein!« sagte er, während er an ihr Tischchen herantrat.

»O ja!« erwiderte Sabine lächelnd. »Es ist sehr gut gegangen.« Sie blätterte die mit den feinen stenographischen Schriftzeichen bedeckten Seiten langsam zurück. In freundlicher Überraschung und kopfschüttelnd folgte er der Bewegung ihrer hübschen weißen Finger, wie sie Blatt um Blatt umschlugen. Er erinnerte sich nicht, jemals in so kurzer Zeit so viel gefördert zu haben. Er sagte ihr das in seiner gewinnenden Ehrlichkeit, und sie schien sich darüber sehr zu freuen. Er machte ihr Komplimente über ihre sehr diskrete Haltung während der Arbeit, die wesentlich dazu beigetragen habe, daß es ihm so leicht von der Hand gegangen sei. Sie gerieten ins Plaudern, und die Pause wurde länger, als sie beide gedacht hatten. Daß es inzwischen dämmerig geworden war, merkten sie erst, als sie die Arbeit wieder aufnehmen wollten.

»Nun verlohnt's wohl nicht mehr der Mühe«, sagte Andreas. »Wir können ja kaum noch sehen. Und wir wollen die erste Sitzung doch nicht bis ins Unendliche verlängern.«

Es wäre ihm eigentlich ganz erwünscht gewesen, wenn Sabine Einspruch dagegen erhoben hätte. Aber sie klappte ahnungslos ihr Heft zu und erhob sich.

»Wann wünschen Sie, daß ich wiederkomme?«

»So bald wie möglich! Morgen, wenn es Ihre Zeit erlaubt.«

»Morgen ist Mittwoch. Von drei bis sechs habe ich bei Herrn Dr. Scholl zu tun. Die Übertragung brauche ich erst am Freitag nachmittag abzugeben. Ich stehe also morgen vormittag und, wenn Sie wünschen, auch von sieben Uhr abends an, und am Donnerstag den ganzen Tag zur Verfügung, – wenn Sie sich mit der Übertragung in Kurrentschrift gedulden können.«

»Also morgen um zehn Uhr, wenn ich bitten darf.«

Als ihr Andreas bei der Verabschiedung unwillkürlich die Hand entgegenstreckte, – es war ihm so gemütlich zumute, als sei ihm Sabine keine Fremde mehr, – machte sie eine leichte Bewegung der Überraschung, aber sie schlug unbefangen ein. »Ein reizendes Mädchen«, sagte Andreas leise vor sich hin, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte ...

Als Sabine am nächsten Morgen an ihrem Tischchen Platz nahm, standen auf dem Fensterbrett neben ihr frisch aufgeblühte Levkojen und duftende Hyazinthen. Sie warf einen fragenden Blick auf Andreas, den er sehr wohl bemerkte. Beide fühlten eine gewisse Befangenheit.

»Eine Aufmerksamkeit der Frau Wittig!« sagte er, als ob er sich gewissermaßen zu entschuldigen habe, und kramte in seinen Papieren, während sich Sabine zu den Blumen neigte und den süßen Duft des Frühlings einzog.

*


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