Meinrad Lienert
Das Hochmutsnärrchen
Meinrad Lienert

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III.

Das Heleneli durfte nun, so klein es noch war, schon vielerlei im mütterlichen Gasthause zum »Pfauen« helfen. Es führte die Pilger zu den Kramladen, in denen sie allerhand Kleinkram, bemalte und unbemalte Muttergottesstatuettchen aus gebranntem Lehm, Rosenkränze (»Noster« genannt), Wachssächelchen (als: Beinchen, Ärmchen und dergleichen), überhaupt mannigfaltige Devotionalien, aber auch Leckereien, besonders ein nach Waldhonig duftendes Gebäck (»Schafböcklein« geheißen), zu kaufen pflegten. Oder es zeigte den Fremden die Kirche, geleitete sie zur Gnadenkapelle, ihnen mit feierlicher Miene andeutend, daß in dem kleinen glänzenden Tabernakel unter dem wundertätigen Muttergottesbildnis das Haupt des heiligen Meinrad, des Landespatrons, aufbewahrt werde. Darnach machte es mit ihnen die Runde um alle Altäre und erzählte ihnen mit eifriger leiser Stimme die Legenden der Heiligen, die wie Schneewittchen in gläsernen Särgen unter den Altären, prunkvoll bekleidet, die vergoldeten Marterwerkzeuge in den Armen, ihrer Wiedererweckung harrten. Auch führte es sie zum Altar des heiligen Sigismund, wo die 22 in den Kramladen erworbenen Devotionalien eingesegnet wurden. Es durfte den Pilgern sogar den Weg zum Frauenkloster der Waldschwestern in der Au zeigen. Oft ließ es die Neugierigen, das Tor verstohlen öffnend, in den großen Herrengarten des Klosters hineinwandern, bis ihm der gartenbebauende Konversus die Türe vor der Nase zuschlug und es sich aus Furcht vor den großen Hofhunden schleunigst davonmachte.

Seine ganz besondere Aufgabe aber war die Unterhaltung der Kinder, die bessere Pilger mit sich in die Waldstatt brachten. Oft stiegen hochvornehme Herrschaften aus deutschen Landen, und nun seit den Unruhen in Frankreich besonders viele welsche Adelige im Gasthause ab. Dann pflegte die stattliche Wirtin ihre schöne Schwyzertracht anzuziehen; denn die weiße Kammhaube, das feine mailändische Fazolettli als Halstuch und gar der seidene dunkle Heiligtagrock standen ihr gar wohl an. Auch das Heleneli wurde besser angezogen, und weil es all die Kleiderherrlichkeiten der fremden vornehmen Kinder zu sehen bekam, lag ihm sehr daran, sich ebenfalls so fein als möglich zu machen. So kam es, daß es sich nicht nur an sogenannten Stoßtagen, an denen das Dorf voll Pilger war, sondern auch an gewöhnlichen Werktagen immer sauber, nett und gefällig zu tragen wußte, so daß die redeflüssigen Kramladenweiber es ein 23 Hochmutsnärrchen nannten. Seine kleinen Dienste trugen ihm von den Pilgern hin und wieder einige Kupfermünzen ein, die es mit den Kindern der Nachbarschaft jeweilen zu verschlecken pflegte.

Seine größte Freude aber war, sich mit französischen Wallfahrern zu unterhalten. Seine Mutter gab ihm dazu Gelegenheit, so oft es sich machen ließ, um es in der fremden Sprache sich einüben und ausbilden zu lassen. Sie selbst sprach, wie es bei den Wirtinnen der ersten Gasthäuser im Dorf immer bräuchlich war, das Fränkische recht gut und hatte auch ihr Kind nach Zeit und bestem Vermögen in diese Sprache eingeführt. Auch es sollte für die vielen welschen Gäste eine gute Wirtin werden.

So verstand denn das Heleneli das Französische ganz gut und radebrechte es auch schon leidlich. Mit großen bewundernden Augen pflegten es die übrigen Waldkinder anzustaunen, wenn es, so laut als tunlich redend, mit welschen Pilgern in der Kirche oder im Dorf herumzog. Das waren allemal glückhafte Zeiten für das Heleneli; denn da glänzte es wie ein vergoldetes Heiligenbild. Selbst die Waldfrauen in den Kramladen, denen es nie recht gelingen wollte, ihre ererbte und wohlerworbene Zungenfertigkeit auch in der französischen Sprache zur vollen Geltung zu bringen, erbleichten vor Bewunderung, wenn sie das Mägdlein »fränkisch« reden hörten, 24 und riefen aus: »Jetzt hört einmal das kleine Hochmutsnärrchen an, wie es schon parliert!«

Aber es konnte nicht nur Welsch parlieren; es hatte die hellen Augen früh aufgetan und den welschen Frauen auch das welsche Tudichum abgeguckt, so daß es nichts Anmutigeres zu sehen geben konnte als das Heleneli, wenn es in der Kirche am Allerheiligsten vorbeiknixte. Dabei war es von einer natürlichen Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit, die auch dem griesgrämigsten Wallfahrer, selbst wenn er ungekochte Erbsen in den Wanderschuhen hatte, einen wohlwollenden Blick abnötigte.

Es war am Vorabend eines hohen Feiertages.

Auf dem eisernen Vortreppengeländer vor dem Pfauen rutschten das Heleneli und ein zarter blasser Knabe um die Wette herum. Sie reichten einander die Hände, glitten mitsammen immer wieder, übermütig auflachend, die Geländer hinunter und schienen sich dazu in der fremden Sprache aufs vortrefflichste zu unterhalten.

»Was ist das für ein fremder Bub?« fragte jetzt verdrossen der Gerbebattisteli aus der Knabenschar, die, neugierig der Rutschpartie zuschauend, die Stiege umstand.

»He, wer wollte es denn sein?« antwortete das Heleneli, »halt ein Franzosenbub. Seine kranke Mutter und eine alte Magd sind noch bei ihm, und er heißt Pierre. Spiel auch mit, Battisteli!«

25 Er schüttelte unwillig den Kopf und tutete ein paarmal durch das niedliche Waldhörnchen, das er sich eben im Klosterwald aus frischabgeschälter Weidenrinde gedreht hatte.

»Aber du hast ein schönes Hörnchen«, sagte sie, »o, wenn ich doch so eins hätte! Laß mich auch einmal dreinblasen.«

»Nein«, machte er schmollend, »wenn du immer mit dem Franzosenbuben gehst.«

»He, es muß doch gewiß jemand mit ihm reden.«

Was sie denn miteinander reden täten, wollte er wissen.

»He«, machte sie verschämt lächelnd, »er hat gesagt, ich sei ein kleines Waldfräulein.«

Überlaut lachten die Buben heraus, und der Battisteli sagte: »O Heleni, der flattiert dir ja bloß. Laß doch den fremden Fetzel gehen und spiel lieber mit uns; dann schenke ich dir das Waldhörnchen.«

Verlockend stieß er ins Hörnchen, und die Buben flöteten, soviel sie vermochten, auf ihren frischen grasgrünen Weidenpfeifen.

Nein, das tue sie nicht. Die Mutter habe sie geheißen, den fränkischen Knaben ein bißchen zu verkurzweilen. Zudem sei er ja ein so Guter und Netter. Gewiß sei er auch nicht recht gesund, da er so bleich aussehe.

»Dann habe ich nie mehr etwas mit dir!« rief der Battisteli entrüstet aus. »Kommt, Buben, wir gehen zum Frauenbrunnen!«

26 Fort stürmte die Knabenschar, dem nahen Brunnen zu, zwischen dessen Säulen die neuvergoldete Statue der Unbefleckten Empfängnis in der Abendsonne glänzte.

Beklommen, den Finger im Mund, schaute das Mägdlein den abziehenden Buben nach, und als Battisteli sich nochmals umsah, rief es ihm zu: »Wartet, Buben, wir kommen auch!«

»Nein«, lärmte er zurück, »ihr dürft nicht zu uns kommen; wir wollen den Welschen nicht!«

»Nein, der Welsche darf nicht zu uns kommen!« stimmten die andern Jungen bei.

Ein flüchtiger Schatten ging über Helenelis Gesicht. Aber es nahm seinen fränkischen Spielkameraden, der dem Auftritt verständnisvoll zugeschaut hatte, an der Hand, und langsam gingen sie zusammen ebenfalls auf den Frauenbrunnen zu. Battisteli und sein Anhang schienen spurlos verschwunden zu sein.

»Nun wollen wir von allen vierzehn Röhren trinken, wie es die Pilger auch tun«, sagte das Heleneli, und zog ihn sorgsam über die Rinnen.

Da schoß die ganze Bubenschar hinter dem Brunnen hervor und lärmte: »Macht daß ihr wegkommt! Der fremde Bub darf nicht von diesem Wasser trinken; das ist unser Brunnen! Geht weg, geht weg!«

Erschrocken wich das Pärchen zurück. Aber dann ermannte sich das Mädchen.

27 »Was!« machte es empört, »ihr wollt den Pierre nicht trinken lassen? Das sage ich der Mutter. Das Gnadenwasser ist doch gewiß für alle Leute, nicht nur für euch, ihr wüsten Buben ihr!«

»Waldfräulein, Hochmutsnärrchen, Hochmutsnärrchen!« höhnten die Buben lärmend.

Das welsche Büblein schob den ihm zunächststehenden Knaben entschlossen zur Seite und machte sich an eine Röhre. Doch bevor er zu trinken vermochte, stürzte sich Battisteli zornig auf ihn und stieß ihn also über die Rinnen vom Brunnen weg, daß er zu Boden fiel.

»Du Böser, du Böser!« schrie das Heleneli, fiel über Battisteli her, faßte ihn am Kittel und versuchte ihn ebenfalls vom Brunnen wegzuziehen. Er vermochte sich ihrer kaum zu erwehren; denn er wagte sie nirgends herzhaft anzufassen.

»Laß mich doch los«, sagte er bedrückt; »wir haben ja keinen Streit mit dir, bloß mit dem Welschen!«

»Willst du ihn wohl trinken lassen oder nicht?!« schrie sie weinend und verschüttelte ihn also, daß ihm sein kleines Waldhorn fast entfiel.

»Au!« jammerte sie auf, und nach allen Seiten stoben die Buben auseinander.

Es hatte jemand einen Stein nach ihr geworfen. Doch nun weinte sie nicht mehr. Betrübt kniete sie an eine Rinne und ließ das bißchen Blut, das 28 ihr aus einer leichten Schürfung über die Stirne floß, ins Wasser tröpfeln. Doch der fremde Knabe hatte sogleich sein weißes Nastuch in die Rinne getunkt, tupfte ihr nun sorglich das Blut weg und fragte, ob es sehr weh tue.

O nein, weh tue es nicht; aber es hätte nie gemeint, daß die Waldbuben so böse seien. Es gehe nie mehr mit ihnen.

»Ich habe dir ja nichts getan«, sagte nun halblaut der Battisteli, der beschämt zur Seite stand. »Wenn ich den erwische, der den Stein geworfen hat, haue ich ihn gehörig durch!« – Tiefes Schweigen. – »Wenn du wieder gut mit mir bist«, fuhr er fort, »so schenke ich dir nun das Waldhörnchen, schau!« – Es kam keine Antwort. – »Nimm es, nimm es doch! Du mußt es nehmen!« machte er, an sie herantretend, und versuchte ihr's gewaltsam in die Hände zu drücken.

»Nein, ich will es nicht!« herrschte sie ihn an und sprang auf. »Ich mag nichts annehmen von einem, der dem bleichen Franzosenbüblein nicht einmal einen Schluck Wasser gönnen mag. Wegen ihm bin ich dir böse und gar nicht wegen mir! Ich habe gemeint, was du für ein freiner, lieber Bub seiest, und nun bist du so einer!«

»Dann, wenn du's nicht nimmst, mag ich das Hörnchen auch nicht mehr«, machte er weinerlich, ließ es in die Rinne fallen und ging, steif vor sich hinsehend, schnell davon.

29 Ein Weilchen sah ihm das Heleneli schier erschrocken nach und hörte plötzlich zu weinen auf. Als es aber bemerkte, daß er hinter einer Pfauenecke stehen blieb und verstohlen nach ihr zurückguckte, tat es noch einen trockenen Schluchzer, warf sich dann wieder an die Rinne und fluderte des welschen Knaben rotbetropftes Nastuch so lange hin und her und wand es also aus, daß es wieder schlohweiß wurde. Aufmerksam schaute das fränkische Büblein der Wäsche zu.

»Pierre!«

»Mama!«

Freudestrahlend wandte sich der Knabe. Jetzt trippelte an einem Stock, gestützt von einer alten Magd, eine schwarzgekleidete Dame auf den Brunnen zu. Erstaunt, schier mißfälligen Blickes, schaute sie bald auf Pierre, bald auf das waschende Mägdlein.

Was er denn am Brunnen treibe? Sie und die Bonne hätten schon lange nach ihm gesucht; es sei bald Zeit, in die Vesper zu gehen.

O, er schaue nur der kleinen Helene, dem Kind ihrer Wirtin zu, wie es sein Nastüchlein wasche.

Wie denn aber das Kind dazukomme, sein Nastüchlein zu waschen?

Nun erzählte er den Streithandel mit den Waldbuben, und wie das Heleneli so tapfer für ihn eingestanden und sogar seinetwegen verwundet worden sei.

30 »Ah«, sagte sie nun lächelnd, »das ist ja die hübsche Kleine, mit der man sich schon so gut in der Sprache des hl. Ludwig unterhält. Mein liebes Kind, so hör doch!«

Eifrig, dem Brunnen zugekehrt und schier den Atem anhaltend, hatte das Heleneli immerfort das Nastuch ausgewunden. Jetzt sah es schüchtern lächelnd auf.

»Was tust du denn so fremd?« fragte verwundert die kranke Frau. »Kennst du mich denn nicht mehr?«

»Doch!« machte es, ihr in die Augen sehend.

»Warum bist du denn auf einmal so schüchtern? Bist doch sonst ein so amüsantes, keckes Plappermäulchen.«

»Ich hab' gemeint, Ihr tätet mit mir schimpfen, weil ich nicht gut genug zu Euerm Pierre geschaut habe.«

Die Frau lächelte und streichelte das Mägdlein mit zärtlicher Hand übers Flachshaar.

»Was du doch für ein tapferes kleines Herz hast, meine liebe Kleine, dich so für meinen armen Pierre zu wehren. Steh doch auf, mein Täubchen!«

Das Heleneli stand auf und hielt das gründlich gewaschene Nastuch dem Pierre hin, der es, an einem Zipfel zimperlich mit zwei Fingern erfassend, sogleich an die Bonne übertrug.

»Sei vielmal bedankt, mein gutes Kind«, sagte Pierres Mutter, »und nun laßt mich von dem 31 Brunnen Unserer Lieben Frauen trinken, nach dem ich so viele Jahre vergeblich gedürstet habe.«

Aber rings um den Brunnen zogen sich die Rinnen, durch die das eiskalte Wasser floß. Die halblahme Frau getraute sich nicht darüber an die Röhren zu treten; sie fürchtete, mit den Füßen in eine Rinne zu geraten und sich also zu erkälten.

»Ach, das wäre ja schrecklich!« klagte sie. »Nun soll ich am Ende gar nicht von dem gnadenreichen Brunnen trinken können!«

»Mama, wir werden dich über die Rinnen tragen lassen«, tröstete Pierre.

»Ich will einen Becher im Hotel holen«, sagte die Bonne.

Aber das Heleneli griff flink Battistelis weidenrindenes Waldhörnchen aus der Rinne auf, huschte an den Brunnen, legte einen Finger an die kleinere Öffnung des Hörnchens und ließ das flüssige Silberkettlein dareinstrudeln.

»Hier trinkt, gute Frau!« sagte es, so achtsam als möglich herantrippelnd, damit ja kein Tröpfchen verloren gehe, »trinkt nur; ich hole gleich wieder!«

Einen langen, wohlwollenden Blick tat die würdige Frau auf das waldduftige Trinkhörnchen. Dann trank sie mit zitternden Lippen.

»Ah!« machte sie dann aufatmend, »wie gut, wie frisch, wie rein!«

32 Und schon wieder kam das Kind mit seinem vollen Rindenbecherlein von einer andern Röhre, und so ging's rings um den Brunnen, bis die Dame das Gnadenwasser von allen vierzehn Röhren getrunken hatte.

Doch als sie ihren welken Mund zum letztenmal ins Waldhörnchen getaucht hatte, küßte sie das Heleneli auf Mund und Wangen und zog aus einem Täschchen ein Agnus Deii, ein Amulett, das in Gestalt eines blutenden Herzchens an einem roten Schnürchen hing und mit einem winzigen Pergamentstreifchen umwickelt war.

»Gott segne dich, liebes Kind!« sagte sie gerührt und hing ihm das Herzchen um. »Nimm das als Andenken an mich. Dies Amulett, das ich von Loretto habe, wird den, der es trägt, aus höchster Not glücklich herausbringen.« Und wieder und wieder küßte sie das überglückliche Mägdlein.

Jetzt hub mit silberheller Kinderstimme das Glöcklein der Gnadenkapelle zu rufen an. Zwei ferne Glöckchen im Oberchortürmlein stimmten mit heimweherischem Gesange ein, und nun erhob sich in den großen Türmen ein vielstimmiges Halleluja, das stille Hochtal St. Meinrads aller Enden erfüllend.

Noch einmal küßte die Dame das Kind auf die Stirne; dann machte sie sich, geführt von ihrem Söhnchen und der alten Bonne, zur Kirche hinauf, der feierlichen Pontifikalvesper anzuwohnen.

33 Das Heleneli aber beschaute nun, selber durstig geworden, mit recht begehrlichen Augen das Waldhörnchen in seiner Hand und hielt es dann zögernd unter eine Röhre. Als es aber munter dreinquirlte, errötete es, leerte das Wasser, ohne davon zu trinken, plötzlich aus und legte das Hörnchen wieder in die Rinne. Dann setzte es seinen roten Schnabel an die Röhre, und als es sich satt getrunken und mit flinkem Zünglein ein paar hängengebliebene Wassertropfen von den Lippen geschnellt hatte, tat es nochmals einen langen Blick auf das in den Rinnen umgehende Waldhörnchen und hüpfte dann singend dem elterlichen Hause zu, um der Mutter sein Geschenk zu zeigen.

Aber als es die Vortreppe hinaufjagen wollte, sah es einen Krauskopf verstohlen um die Hausecke gucken und blitzgeschwind wieder verschwinden.

»Battisteli«, rief es, »komm nur hervor; ich bin dir nicht mehr böse!«

Doch der Krauskopf wollte nicht wieder zum Vorschein kommen.

Da sprang sie die Treppe hinunter, eilte um die Hausecke und prallte mit dem Knaben, der eben wieder hervorgucken wollte, zusammen. Aufkreischend lief er weg.

»Battisteli«, rief sie, ihm nachrennend, »so wart doch, so wart doch!«

34 Sie vermochte ihn aber nicht einzuholen. Jetzt schlug sie das Schürzchen vor die Augen und blieb stehen. Nun machte er auch Halt und begann sich ihr zu nähern. Als er aber so ziemlich an sie herangekommen war, ließ sie auflachend das Schürzchen fallen und schoß auf ihn zu. Doch er machte wieder ein Schmollmäulchen und lief davon. Sie ums Haus herum hinter ihm her. »Battisteli, Battisteli!« rief sie. »Sei mir doch nicht böse. Ich mußte doch den Pierre verkurzweilen, weil ich fränkisch kann. Die Mutter hat mich ja geheißen. Battisteli!« Aber sie vermochte ihn nicht einzuholen. »O weh, weh!« schrie sie auf und sank ins Knie.

Beunruhigt blieb er sogleich stehen und kam rasch zu ihr herangegangen.

»O, o!« wehklagte sie.

»Hast du etwa den Fuß verrenkt?« fragte er besorgt.

Wie er aber bei ihr stand, schoß sie auf, packte ihn am Kittel und machte frohlockend: »Ich lasse dich nicht mehr los, bis du sagst, du seiest mit mir nicht mehr im Streit!«

Er wollte sich aber, das Gesicht abwendend, doch von ihr losmachen. Da umwand sie ihn mit beiden Armen und sagte, mit ihm ringend: »Bleib, bleib; sei wieder gut und frei mit mir; ich zeige dir dann etwas!«

»Was denn?« wunderte er, ergab sich sofort und machte ein Paar neugierige Augen. »O«, rief er, 35 toll auflachend und mit dem Finger auf ihre Nase zeigend, »du hast noch einen Blutstropfen auf der Nasenspitze! das ist lustig, das ist lustig!«

Rasch netzte sie einen Schürzenzipfel etwas im Mund und rieb dann ihr Näschen aufs angelegentlichste ab. »Bin ich jetzt sauber?«

Ja, jetzt sei sie wieder sauber. Was sie ihm denn zeigen wolle.

Sie hielt ihm das Agnus Dei unter die Augen.

»Gelt, Battisteli, das ist ein feines Agnus Dei. Das hat mir Pierres Mutter gegeben.«

»O, ich habe ein ganz gleiches«, sagte er, zog hurtig den Kittel aus, vertat sein Hemd so weit als möglich, und nun erblickte sie zu ihrer Verwunderung an seiner bloßen Brust ebenfalls ein blutrotes Herzchen.

»Ja, es ist ein ganz gleiches«, bestätigte sie etwas kleinlaut, »nur daß es an einem blauen Schnürchen hängt und das meinige an einem roten.«

»Ein Kapuziner hat es mir geschenkt«, sagte er, »und auf dem winzigen Streifchen, das ums Herzchen gewickelt ist, heiße es: Heiliges Herz Jesu sei mit mir! hat meine Mutter gesagt.«

»Wollen wir tauschen?«

»Ja, wenn du nicht mehr mit dem Franzosenbub gehst, will ich mit dir tauschen, sonst nicht.«

»Nein«, sagte sie, »ich gehe nicht mehr mit ihm; denn morgen verreist er mit seiner Mutter. Aber 36 dann, Battisteli, mußt du mir immer gehorchen, wenn wir Mütterlein spielen; nicht wie letzthin; denn da liefst du davon als es am schönsten war und du das Püppchen in Schlaf hättest singen sollen.«

»Nein, ich will dir nie mehr davonlaufen«, sagte er, ihr am blauen Schnürchen sein Herzchen hinhaltend.

Sie nahm es und hing sich's um. Flink streifte sie nun auch ihr Herzchen vom Hals und sagte: »Du mußt das Hemd noch mehr herabtuen; sonst kann ich's dir ja nicht um den Hals legen.«

Nun krempte er sein grobleinenes Hemd also um, daß seine spitzigen Achseln bloß lagen, und jetzt hing sie ihm mit sorgsamer Hand das Agnus Dei mit dem roten Schnürchen um, wobei er fortwährend kicherte.

Oben im Gasthause ging ein Scheiblein.

»Kinder«^ rief die Pfauenwirtin verwundert, »was treibt ihr denn da unten? Der Battisteli wird doch nicht heitern hellen Tages auf der Straße zu Bett gehen wollen?«

»Mutter, Mutter!« jubelte das Heleneli auf. »Ich und der Battisteli haben die Herzchen vertauscht!«

»Was habt ihr vertauscht?« fragte die Wirtin mit großen Augen.

»He, halt die Agnus Dei-Herzchen haben wir vertauscht.«

»Jaso, die Agnus Dei-Herzchen!«

37 »Der Battisteli hat nun ein rotes und ich habe ein blaues Schnürchen daran. Schau, Mutter, wie fein sie sich machen!«

Heleneli stellte sich auf die Zehen. Battisteli aber nahm das Hemd, mit einem verschämten Blick nach der Pfauenwirtin, wieder sorglich zusammen.

»Ja, ja, du Hochmutsnärrchen!« sagte die Mutter, lächelnd und wohlgefällig auf ihr Kind herunterschauend. »Jetzt komm aber zum Vespertrinken! Kannst ja den Battisteli auch mitnehmen.«

Jauchzend, Hand in Hand, liefen die Kinder unter dem Ausläuten der Klosterglocken über die Vortreppe hinauf ins hochgiebelige Gasthaus. 38

 


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