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G

Groß die Gegenwart des Menschen. Dieses Wesens, das seine wahre Vollkommenheit sucht. Weit größer ist die Zukunft der Menschheit. Man kann sie mit einem Worte beschreiben: Herrschaft des Geistes über den Stoff, der Wahrheit über die Lüge, des Vollkommenen über das Unvollkommene. Der einzige berechtigte und lohnende Lebensinhalt jedes einzelnen ist, diesem Ziele sich und alle seine Kräfte ganz zu weihen. Wir sind heute die wichtigsten Menschen, durch die alle Kräfte hindurchlaufen auf die große Zukunft der Menschheit. Wir sind heute in all unserer Unvollkommenheit das unersetzliche Glied der langen Kette des Werdens, ohne das es ein Ziel überhaupt nicht gibt. Von dem jeweilig lebenden Geschlecht hängt die ganze Zukunft der Menschheit ab.

 

Wir dürfen nicht glauben, daß die Entwicklung heute stille steht oder jemals still stehen wird. Alles deutet darauf hin, daß die Menschheit längst noch nicht fertig ist, und die Frage der Entwickelung ist durchaus nicht bloß eine Frage nach unserem Woher? sondern ebenso eine Frage nach unserem Wohin? Es ist auffallend, daß noch niemand diese Frage vom naturgeschichtlichen Standpunkte aus behandelt hat.

Uns steht eine menschliche Vollkommenheit deutlich vor Augen, aber wir haben sie nicht. Das kann nur daher kommen, daß die gerade Linie der Entwicklung durch uns hindurchgeht, daß sie aber ihr Ziel noch immer nicht erreicht hat.

Die Unvollkommenheit des Menschen ist also naturgeschichtlich im Verlaufe der Entwickelung begründet. Dieser Zustand ist zugleich unser Unglück und unser Glück. Unser Unglück ruht in unserer Unvollkommenheit und dem Bewußtsein dieses Zustandes; unser Glück aber darin, daß es einen Drang nach vorwärts gibt, der niemals stille stehen kann, daß also auch die menschliche Unvollkommenheit niemals das letzte sein darf, sondern daß es auch für den Menschen eine Vollendung gibt, die erreicht werden kann und wird. Noch fehlt unser wahres Menschsein, aber es ist kein Zweifel, daß es nicht außen bleiben kann.

 

Aus der Menschheit wird noch vieles herauskommen, was man nicht ahnt. Sie ist wie ein Kind, das die unverständigen Lehrmeister wegschätzen als unbegabt und unartig, weil es nicht nach den von ihnen ausgedachten Regeln fein säuberlich daherfährt. Aber Augen, die tiefer sehen als Schulgewaltige, werden sagen: Aus dir wird noch etwas Großes.

 

Der Glaube an die Menschheit ist die größte Macht aller Zeiten gewesen, die Wurzel jeglichen Fortschritts. Es mag aufwärts gehen oder abwärts: Dieser Glaube steht ewig und unabänderlich da und hilft uns immer wieder heraus.

Dieser Glaube ist das Wesen des Geistes. Sein eigenes Selbstbewußtsein. So wie das Leben an sich glaubte und immer neue, höhere und höchste Formen schuf, so glaubt der Geist an sich, also an die Menschheit.

Wer den Glauben teilt, der steht im Fortschritt und bildet ein unentbehrliches Glied des Werdens; wer ihn nicht teilt, steht im Schatten und versinkt und verkümmert außerhalb der Lebenslinien.

 

Zahllose Helden hat unser Geschlecht. Von den wenigsten kennt man die Namen. Schadet nichts. Ihr Wert ruht in ihnen selbst und bleibt ihre Herrlichkeit. Wie wurden sie Helden? Nur im Kampfe gegen das Böse. Weil das Gute, das Wahre ihren Geist erfüllte, und sie ihre Person dafür einsetzten und ungeahnte Menschenkraft entwickelten, darum wurden sie Helden.

Vielerlei sind die Gebiete, auf denen sie arbeiteten. Der eine machte Erfindungen, der andere vermehrte das Wissen, ein dritter schaffte in der Kunst. Alle für die Gesamtheit, bewußt oder unbewußt. Alle vertieften Menschenwesen und Menschengeist und offenbarten seine Gottesnatur. Mensch ist der höchste Adel, den es gibt. Sogar der Mensch, den wir am höchsten stellen, weil er alles bewußt und klar dahingab zur Befreiung der Menschen vom Bösen – er wollte durchaus nur Mensch sein. Man kann sagen, das Menschentum war das einzige, was er wirklich für sich begehrte. Alles andere, auch sein Leben, gab er her. Er wird gewußt haben, warum er das tat.

Viele haben ihr Leben eingesetzt im Kampfe für das Gute. Wer es nicht einsetzt, erreicht gewiß nicht viel. Es hat sich herausgestellt, daß das Gute für die Menschheit überhaupt viel mehr wert ist als irgendein Einzelleben. Das Leben ist nicht der Güter höchstes. Es gibt höhere Werte, auch höhere Wonnen, als nur die, zu leben. Aber der Übel größtes ist die Schuld. Es ist um kein einziges Leben schade, auch kein einziges ist verloren, das im Kampfe gegen das Böse eingesetzt wurde.

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Es liegt im Menschen als Menschen eine unwiderstehliche Kraft des Willens, wenn er einfach und schlicht ohne jegliche Rücksicht allein für die Wahrheit eintritt.

Es ist völlig unmöglich, irgend etwas zu erreichen, wenn man nicht das Bewußtsein des Sieges in sich trägt. Alles große Werden ist zuerst im Geiste fertig geworden. Aus diesem trat es heraus in sichtbare Wirklichkeit. Was nicht im Geiste fertig ist und mit der Urkraft felsenfester Zuversicht daherbraust, kann niemals Wirklichkeit werden.

 

Ein verzagtes Heer wird niemals siegen, und ein verbitterter Geist kann nichts erreichen. Um am Glück der Menschheit mitzuarbeiten, dazu muß man selbst Glücksträger sein und im Geiste voll des großen Vertrauens, dem schließlich alle Herrschaft und Kraft beschieden ist.

 

Nichts im Leben ist schwer, wenn man ein Vorwärts kennt.

 

Ein Mensch, der etwas zu hoffen hat, lebt erst richtig!

 

Starke haben Zeit und sind in ihrer Zielsicherheit leicht zu Nachgiebigkeit geneigt.

 

Den Kräftigen hilft die große Kraft.

 

Je mehr einer sich Gott hingibt und auf sich verzichtet, um so reicher wird sein Leben, um so seliger sein Zustand, weil er in Gott seine eigene Wahrheit findet. Und der Gott der Mannigfaltigkeit wollte nie die Einerleiheit. Die Einheit im Geiste bei größter persönlicher Lebensverschiedenheit. Wenn irgendwo geistlich uniformierte Menschen mit einerlei Ansichten, Formeln und Gebärden erstehen, so ist in ihnen vielleicht viel Frömmigkeit, aber nicht des Vaters Geist, der immer Verschiedenheiten harmonisch ausprägt.

Wer dagegen sein Leben sucht und sein Wünschen eigensinnig festhält, der wird und muß es verlieren. Er verliert sich selbst, und solche Leute werden dann die Dutzendmenschen, die Vielzuvielen, die abgeschliffenen Bachkiesel der Einerleiheit, die um ihr Eigensein gekommen sind, weil sie's nicht im Urquell, in Gott suchten.

Alle diese werden durch ihr persönliches Wünschen zu den bekannten philiströsen Nichtigkeiten, sind angefüllt mit kleinlichem Begehren und so lange ausgeschlossen vom Himmelreich.

Das sind einfache, aber unerbittliche Naturgesetze des menschlichen Seins.

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Wenn ich das Wort Menschlichkeit höre, ist's mir immer, als sollte man einen Edelstein aus dem Staube aufheben. Es gibt in der Welt einen geheimen Zauber, mit dem die festesten Türen gesprengt, die größten Taten verrichtet, und wirkliche Wunder vollbracht werden können. Dieses Zaubermittel gibt's. Wer Wunder tun will, kann's, denn das Mittel ist nicht etwa im Besitz weniger Auserwählter, sondern aller ohne Ausnahme. Nur wissen die Menschen nicht, wie reich sie sind, und lassen ihren Edelstein im Staube liegen, ja häufen selbst noch Staub darauf. Dieses köstlichste Gut ist die Menschlichkeit.

Im rein Menschlichen liegt unsere beste Kraft und größte Macht. Es ist nur bei vielen tief vergraben unter dem Gebildeten, oder dem Geadelten, oder dem Besitzlichen, oder dem Religiösen, oder dem Politischen, oder irgendwelcher bunten Torheit, mit der wir uns zu behängen lieben. Aber wer irgendeinen Wirkungskreis haben will, wer irgend etwas Weitergehendes leisten will, kann es nur durch seine wahre Menschlichkeit.

Je wahrer, je einfacher und klarer ein Mensch ist, desto nachdrücklicher wird er sich auswirken. Je gekünstelter, geschraubter und absichtlicher jemand sich gibt, desto mehr schrumpft sein Wirkungskreis zusammen. Wer harte Herzen erschließen, Widerspenstige zähmen, Menschen, Tiere und die ganze Natur überwinden will, muß alles Berechnete, Überstiegene, Gewalttätige ablegen und mit einem wahren Kinderherzen voll Vertrauen, voll Freude und Herzlichkeit, voll unverwüstlichen, unverbitterlichen Frohsinn seine Straße gehen. Er muß mit einem Worte Mensch sein, und soweit er's sein kann, reicht sein Einfluß. Bei dem einen reicht er weiter, bei dem anderen ist er sehr eng begrenzt. Das liegt nicht in einem Tun, oder einer Angewöhnung, sondern in einem ganz einfachen Sein, das angeboren, oder auch erwachsen sein kann, aber nie angelernt, angewöhnt.

Eigentlich weiß das jeder ohne weiteres. Jeder Künstler, jeder Schriftsteller, jeder Lehrer und Erzieher, jeder Prediger, jeder Redner, jeder Arzt, jeder Feldherr, ja jeder Fabrikherr, jeder Kaufmann, jeder Vorgesetzte überhaupt, weiß, daß sein wahrer Einfluß reicht, soweit seine Menschlichkeit geht. Man kann die Menschen auch anders zwingen, mit Gewalt, mit Wissen, mit Geld, man kann sie mit Polizeimacht Hurra zu schreien nötigen, aber jeder weiß ganz genau, daß er sich mit diesen Mitteln ebenso leicht verhaßt als lächerlich macht. Wunder wird solch einer nicht tun und weiß auch, daß er's nicht kann, und bleibt darum ewig unbefriedigt.

Aber merkwürdig. Obgleich wir alles das wissen, entschuldigen wir unverdrossen jede Schwäche mit unserer Menschlichkeit, erklären unsere Torheiten damit, daß wir Menschen sind, und wenn's in einem Kreise zu recht gröblichen Schlechtigkeiten kommt, sagt man: es menschelt. So häufen wir Staub auf den besten Edelstein dieses Planeten und vergraben unser Bestes im Schutt. Wir verstehen unsere Wahrheit nicht.

Wenn wir wenigstens sagten: Wir haben unsere wahre Menschlichkeit noch nicht erreicht, wir sind vorläufig noch zu schwach und darum unfähig und minderwertig, so wäre dagegen nichts einzuwenden. Wir wüßten dann wenigstens, daß es nicht ewig so sein wird, und könnten freudig ausblicken auf das, was wir sein werden. Aber so verachten wir unser Köstlichstes und lähmen damit unseren wahren Fortschritt. Darum liegt soviel Trostlosigkeit überall da, wo Menschen sind.

Gerade hier war der Weg Jesu grundanders. Seine wahre Menschlichkeit war das Geheimnis seiner Wirksamkeit und seiner großen Kraft. Und er wußte das und begehrte darum auch weiter nichts zu sein als ein Mensch. Darin lag auch seine Macht über die Massen. Er hat doch nie unter ihnen Umtriebe gemacht und Einrichtungen ins Leben gerufen, aber er hatte die Massen. Ein unendlicher Zauber ging von seiner Person aus. Das war sein Menschliches. Das merkte jeder, daß er für jeden ein Herz hatte, für jeden mindestens ein teilnehmendes Wort, aber auch rettende Kräfte. Daß er seine ganze Person für jedermann einzusetzen bereit war, das zog alle an und schuf um ihn her einen Lebensbereich voll froher Menschen.

Von jedem Menschen gehen unsichtbar und unmeßbar Strahlen seines Wesens aus. Je lebendiger er in sich ist, um so stärkere. Sie gehen unbewußt aus. Denn unser Bestes liegt im Unbewußten und Unpersönlichen. Sie gehen ungebrochen aus und unbemerkt, bis sie einen Widerstand finden. Den finden sie natürlich nicht an toten Gegenständen – sie sind ja viel feiner als Röntgenstrahlen – sondern nur an Menschen. Jeder strahlt. Aber nicht jeder strahlt gleichartig. Wer nun fähig ist, unsere Strahlen aufzunehmen, der erleichtert uns und beglückt uns. Er versetzt uns in die Möglichkeit des Gebens. Geben ist Seligkeit. Wo sie aber abprallen, da fallen sie auf uns zurück und belasten uns. Oft so, daß wir's körperlich empfinden, wie ein drückendes Unwohlsein. Das muß so sein und ist auch gut. Es bedeutet für uns: Ihr müßt stärker strahlen. Ihr müßt solche Kräfte anwenden, daß sie allen Widerstand jauchzend überwinden und überall Eingang finden. Sie können es, denn sie sind die echten Strahlen.

 

Wir können nicht willkürlich erzeugen, was wir besitzen und weitergeben möchten. Die Leute, die etwas machen wollen und sich dazu Mühe geben, verraten nur ihre Armseligkeit und Verständnislosigkeit für natürliche Vorgänge. Alle Strahlen gehen nur unbewußt aus und stehen im geraden Verhältnis zu ihrem Quell. Es ist genau so, wie bei jedem Kerzenlicht. Die Lichtstrahlen gehen so weit, bis die Finsternis sie verschluckt. Wollte nun das Licht im Verdruß darüber anfangen, nervös zu flackern und sich selbst zu überleuchten versuchen, so würde es höchstens auslöschen, aber die Strahlen gingen keinesfalls weiter, als sie an sich konnten. Wenn man aber die Lichtquelle vergrößert, dann wird augenblicklich die Strahlung mächtiger, ohne Mühe und Anstrengung, ganz von selbst. Es kann nicht anders sein. Die Natur ist so.

Genau so ist's bei dem Menschen. Wenn seine Strahlen Widerstände finden, und er die Last des Rückpralls empfindet, dann darf er nicht flackern wollen und irrlichtelieren. Sonst verlöscht er ganz und wird zum blechernen Schwätzer, der mit Worten rasselt und sich ewig wiederholt. Er muß umgekehrt die Strahlungsquelle vertiefen und erweitern. Er muß immer mehr seine eigene Wahrheit herausarbeiten und dem echten Menschenwesen zur Geltung verhelfen, unbekümmert um alle Widerstände und alle Schlacken. Dann braucht er sich nicht zu sorgen. Er wird schon strahlen im Maße seines inneren Zunehmens. Er kann nur strahlen im Unbewußten. Darum ist unser bewußtes Sein weniger wertvoll, als unser unbewußtes. Unsere Werte liegen da, wo wir's nicht wissen.

Alles Sorgen ist völlig unnütz, und wer Eindrücke hervorrufen will, macht sich lächerlich vor den Menschen und vor der Natur. Es gibt nichts Komischeres oder Traurigeres, als einen eitlen Menschen. Er lebt ja nur vom Bewußten und ist ein Widerspruch in sich selbst, denn er verkennt seinen eigentlichen Wert, der ganz anderswo liegt.

Wenn sich Menschen untereinander verstehen, ist's im Grunde ganz gleichgültig, über welchen Gegenstand sie miteinander reden. Es ist in jedem Falle erquicklich, weil sie nicht so sehr auf ihre Worte, als auf ihr Wesen achten, weil alles, was sie miteinander reden, nur die Strahlungen ihres innersten Seins vermittelt. Es handelt sich immer nur darum, den Weg vom Menschen zum Menschen zu finden. Sobald man gegenseitig miteinander klar ist, findet sich alles andere von selbst. Dann findet sich auch ein Boden, auf dem man sich begegnet, unabhängig von seinen zufälligen Anschauungen.

Das mutet mich immer ganz besonders an, wenn Menschen glauben, ihre Ausdrucks- und Anschauungsweise sei etwas Wesentliches. Ich bin doch gewiß etwas anderes, als die Summe meiner jeweiligen Anschauungsformen. Schon deshalb, weil ich viel älter bin als sie. Ich sagte »Ich«, als ich überhaupt noch keine Ansichten hatte. Ein richtiger Mensch ändert überhaupt in gewissem Zeitverlauf seine Meinungen in dem Maße, als er sein Wissen und Denken bereichert. Nur der Philister bleibt ewig stehen. Dafür ist er auch kein lebendiger Mensch, sondern irgendwann und wie erstarrt.

Ich habe mich stets gut vertragen können mit allerlei Menschen, die über die Hauptfragen des Lebens ganz anders dachten und redeten als ich, und Menschen, die die gleichen Worte brauchten, waren mir oft unerträglich. Gleiche Anschauungen sind gleiche Gewänder, sie gewährleisten noch kein gleiches Wesen. Das innere Verstehen liegt jenseit aller Ansichten.

 

Die Gleichheit der Worte verbirgt gerade die Ungleichheit der Gedanken und des Verständnisses. Es wird niemals gelingen, eine Einheit der Menschen im Geiste herzustellen durch Vereinheitlichung ihrer Ausdrucksweise. Es kann jemand heute kaum durch etwas seine Unkenntnis des Seelenlebens besser bezeugen, wie durch den Versuch, wortgleiche Bekenntniseinheit zwischen Menschengruppen herzustellen.

 

Zwei Menschen können zu verschiedenen Zeiten genau Entgegengesetztes tun und sagen und doch sich innerlich eins wissen, und man kann andre genau nachahmen und gerade das Gegenteil von dem ausführen, was jener Sinn ist.

 

Menschen, die Trostquellen für Unglückliche sind, wirken sich im allgemeinen mehr unbewußt aus. Wohltätige Wirkungen entströmen ihnen wie sonnige Glücksstrahlen. Ihr ganzes Sein vermag zu trösten, nicht ihr Tun oder Reden.

 

Sammle in dir die Strahlen des Friedens, ganz still, ganz unscheinbar, ganz verborgen und mache sowenig Aufhebens wie möglich davon. Es schadet nichts, wenn deine Augen und Mienen noch finster bleiben. Du sollst gewiß keine Friedensgesichter schneiden. Das würde dich nur verunstalten. Du kennst solche ewig freundliche Vollmondsfriedensfratzen. Sie stehen dir übel an.

Nein, sammle die Friedensstrahlen in dir, für dich. Sie werden, ohne daß du's merkst, aus dir herausleuchten und dich verklären. Nur so wird der Friede Wirklichkeit, Geschichte, Beweis für die Welt.

 

Um versöhnlich zu wirken, dazu bedarf man gar keiner Umstände. Man hat weder eine Partei, noch Religion, noch Konfession, noch irgendeinen andern Menschen dazu nötig. Nur einen einzigen Menschen hat man nötig. Der ist man selbst. Man hat gar nichts dabei zu tun, nur ganz einfach eine neue, aufrichtige Haltung allen Menschen gegenüber einzunehmen, der nächsten Umgebung gegenüber zuerst.

Wer damit anfängt, zunächst auf weitere Kreise wirken zu wollen, ist ganz gewiß auf falschem Wege. Unser Einfluß liegt überhaupt nicht im Bereiche des persönlichen Lebens, sondern des unpersönlichen. Rechte Wirkungen gehen nur unbewußt und unwillkürlich von uns aus und sind ein Zeichen unserer geistigen Gesundheit.

 

Es gibt kaum ein deutlicheres Kennzeichen für die Zugehörigkeit zum Reiche Gottes als die Versöhnlichkeit. Kein frommes Gebärdenspiel, keine religiöse Sprechweise gehört zum Reiche Gottes. Nur wer mit leidet, mit trägt, mit glaubt, mit hofft, und zwar unter allen Umständen, der ist Christi, ganz gleichviel, ob er eine Religion hat, oder welcher religiösen Sonderfärbung er zugehört.

... Vergeben, wie der Vater vergibt. Das ist nicht eine Kunstfertigkeit, die man erlernen kann, sondern das Natürliche, was das Reich Gottes von selbst bewirkt in dem Maße, als jemand in seinem Lichte steht, und auch der Sündigste und Stumpfste und Ungebildetste weiß ohne weiteres, daß das die Wahrheit ist für die Welt.

 

Unzählige Menschen sind heute dahin gekommen, daß sie sich nicht mehr getrauen, sie selbst zu sein, ihre eigenen Gedanken zu denken und ihr eigenes Leben zu leben. Man hat ihnen eingeredet, daß ihr eigenes Sein grundschlecht sei, und während sie darüber erschrocken, verzagt und unsicher werden, wird ihre Kraft von anderen aufgesogen, die sich außerordentlich brav und nachahmungswert und durchaus nicht in Grund und Boden verderbt vorkommen.

Würden befreiende Geister den Menschen begegnen, so würden diese armen Gefangenen den Mut gewinnen, eigene Wege zu gehen, und die wundervolle Mannigfaltigkeit des Seins würde sich auch in ihnen spiegeln voll Leben und Freude. Natürlich würde bei solcher Befreiung zunächst manches Störende unterlaufen. Wer lange eingesperrt war, mag wohl die verwegensten Sprünge machen vor fröhlichem Übermut, ehe er seinen rechten Gang findet. Aber das sind Begleiterscheinungen, die sich von selbst verlieren, sobald jemand die Pflichten des Eigenseins klar erkennt und übernommen hat. Wenn ein frischer Lufthauch kommt, fürchten auch viele, sie könnten sich erkälten und erkälten sich auch, schließlich wird aber doch der frische Hauch als lebenrettende Wohltat empfunden.

Solche Leute, von denen Lösungen auf weitere Kreise ausgehen, sind die wahren Lebensquellen. An ihnen können Menschen werden, weil die Erquickung des Lebens von ihnen ausgeht. Sie haben nicht das Bedürfnis, allem ihren eigenen Stempel aufzudrücken, sondern jedes in seinem Sondersein aufleben zu sehen, ganz anders vielleicht, als man gemeint, aber doch verbunden in der Einheit des Lebens. Von ihrem ganzen Sein gehen Ströme lebendigen Wassers aus.

 

Segnen ist bewußtes Überfließenlassen der verborgenen Kräfte des Menschen auf andere. Es ist ein Mitteilen von Geistesbeziehungen, die hoch über allen niederen Kräften der Seele und des Stoffes stehen. Die Segenskräfte sind geistige, nicht seelische. Darum wirkt Segen befreiend, niedere Kräfte wirken bindend. Man darf nie glauben, Jesus oder irgend jemand in der Schrift habe etwa magnetische oder hypnotische Kräfte, oder wie man sagen will, durch Handauflegen ausgeströmt und damit geheimnisvolle Wirkungen hervorgebracht. Seine Mitteilung war eine innere Gemeinschaft im Geiste, der als höchstes und verborgenstes Sein des Menschen belebend, befreiend, beseligend auf die Umgebung strahlte. Das geschah oft ganz unbewußt und unbeabsichtigt. Hat doch jeder Mensch einen unsichtbaren Wirkungskreis um sich her.

Wer im Wechsel der Dinge den festen Punkt im lebendigen Gotte gefunden hat, von dessen Leibe strömt Leben und Gutes auf seine Umgebung, gleichviel, ob sie gläubig ist oder nicht, gleichviel auch, welcher Religion sie angehört. Leben ist überströmende Wahrheit Gottes. Diese kann nicht vor den winzigen konfessionellen oder religiösen Schranken Halt machen. Sie strömt wie der Regen und rauscht daher wie eine Wasserflut, die sich weder an Grenzsteine noch Feldmarken gebunden hält.

 

Wie kann die Welt neu werden? Mit Gewalt nicht. Mit guten Lehren und Ermahnungen auch nicht. Aber durch eine Handvoll Menschen, die Jehova hat, und an denen Jehova gesehen und erlebt wird.

 

Das sicherste Heilmittel für Verbitterte und Unglückselige beruht auf Ansteckung durch Gesundheit. Die Gesundheit des Geistes besteht in einem Zustand der Zuversicht und Hoffnungsfreudigkeit. Die großen Vorwärtslinien, das Grundgesetz der Welt, müssen durch ihn hindurchlaufen. Sie machen ihn zum Lebensträger und Kraftbehälter auch für andere Geister. An solchen Leuten können Menschen gesunden. Ihr bloßes Sein, nicht nur ihr Tun oder gar nur ihr Reden, ermutigt, und wer ermutigt wird, der gesundet und kommt in das Glück. Ohne solche Lebensträger bleibt die Menschheit stumpfe Masse.

Aber wer das Glück hat, solchen Leuten zu begegnen, muß sich gegenwärtig halten, daß er nur dann gesundet, wenn er sich selbst finden lernt. Solange man nur eines anderen Leben findet, solange fehlt noch das eigene Glück.

Viele begnügen sich damit, sich irgendwo an bestehendes Leben anzuhängen und erwarten davon ihr eigenes Glück. Das ist aber viel zu wenig. Wer wirklich auf gesunde Weise satt werden will, muß wohl Fremdes in sich aufnehmen, aber dann verdauen und zu eigenen Bestandteilen umwandeln und alles Unbrauchbare wieder abstoßen. Wer glücklich werden will, darf überall Leben suchen und von überallher Gutes aufnehmen, aber dann muß er's in sich zu einem ganz neuen Sondersein verarbeiten, das sich eigenständig auswirkt, und alles, was nicht für ihn brauchbar ist, muß er ausstoßen.

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Wer seine Stärke in Jehova hat, sieht der ganzen Welt Ohnmacht und Schwäche und ist darum freundlich und nachgiebig gegen jedermann. Aus Kraftbewußtsein.

Das ist nicht Frömmigkeit oder Tugendprotzentum, sondern das unwillkürliche Mitleid mit der unterliegenden Ohnmacht des andern. Das verleiht der Blick für die einzige Wirklichkeit, die es gibt, das Verständnis für Jehova. Es ist die Gesinnung, die Feinde lieben muß, die Schelten nicht erwidern kann, die sich auch noch auf den anderen Backen schlagen lassen kann, weil ihr eine neue Welt des Seins aufgegangen ist, deren unaussprechliche Herrlichkeit kleinliche Rache weit hinter sich läßt. Wer das nachmachen will, wird natürlich zum traurigen Zerrbild, zum unausstehlichen Heuchler, aber wer's hat, kann nicht anders. In diesem Zustande wird die ganze Welt liebenswert, und diese Kraft ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.

 

Liebe ist Kraft, und Kräfte werden erhalten und wachsen nur durch Übung. Die größte Entfaltung von Liebe ruht in Gott, denn Gott ist Liebe. Darum hat Gott die Welt geliebt und an ihr Anlaß genommen, in immer neuem Maße Liebe und Barmherzigkeit zu entfalten. Das Unerschöpfliche, Grenzenlose, das erst ist Liebe, das Begrenzte ist weichliche Schwäche. Nur die unter allen Umständen Friedfertigen sind Gottes Kinder.

Liebe ist weder ein Erzeugnis des Verstandes noch der Religion. Sie ist das eigentliche Wesen des Menschen, das gleichmäßig sein sinnliches, seelisches und geistiges Wesen umspannt und in die Vollkommenheit rückt. Sie ist jedermann ohne weiteres verständlich. Ohne jeden Beweis wird jeder sagen, daß solche Menschen die wahren Menschen sind.

 

Die Liebe ist das einzige Band vom Menschen zum Menschen. Sie ist die Wunderkraft, die die Löwen zu Lämmern zähmt, der Magnet, dem kein Mensch widerstehen kann. Sie ist auch das innerste Wesen und darum das tiefste Bedürfnis des Menschen. Es muß nur die echte Hingabe sein. Sie kann weder durch das Gerede von Liebe noch durch geistliche Vielgeschäftigkeit ersetzt werden, denn sie ist unersetzlich. Je reiner und einfacher jemand Mensch ist, um so mehr muß er Liebe ausstrahlen, um so größere Anziehungskraft ausüben. Er tut das mit unbewußter Selbstverständlichkeit kraft seines Menschseins, ohne eine Ahnung zu haben, wie groß er dadurch wird.

 

Die Liebe ist die Lösung des Lebensrätsels, der Haß die verzehrende Sehnsucht danach.

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Hatte denn Jesus Feinde? Nun an sich hatte er sie nicht, aber er gewann sie. Das ist ein Glück und Reichtum im Leben. Denn Feindschaft entsteht nur durch Offenbarung von Überlegenheit. Unbedeutendes erzeugt Gleichgültigkeit, ganz Geringes Verachtung. Die Überlegenheit braucht nicht immer eine wirkliche zu sein, oft ist sie nur eine zur Schau getragene, aber in welcher Form sie auch vorhanden und anerkannt ist, stets wird sich der Haß gegen sie regen. Darum ist Haß stets mit Liebe verwandt. Wer Feinde hat, der hat auch Freunde. Das sind die Anerkenner der Überlegenheit. Wer keine Feinde hat, der hat auch keine Freunde, höchstens Gönner. Gönner wirken auf feinfühlende Persönlichkeiten wie eine Beleidigung.

Um Haß zu äußern, dazu gehört eine Wallung der Gefühle. Nicht jeder Mensch macht unsere Gefühle aufwallen. Viele schläfern sie ein. Manche wirken wie Gifthauch und machen sie ersterben. Aber viele erregen sie und versetzen uns in eine erhöhte Lebenstätigkeit. Darum sind sie ein Lebensglück, gleichviel nach welcher Richtung sie uns zunächst erregen, bejahend oder verneinend.

Wir müssen übrigens noch einen Unterschied feststellen zwischen Feindschaft und Gegnerschaft. Feindschaft ist stets etwas Persönliches, Gegnerschaft etwas Sachliches. Jemand kann Gegner sein mit freundlichen Gefühlen für die Person des Gegners, aber nicht Feind sein und zugleich lieben. Nur entwickelt sich meistens die Gegnerschaft zu offenbarer Feindschaft und muß das in dem Augenblicke tun, wenn die Persönlichkeit des Gegners als überlegen empfunden und anerkannt wird.

 

Wenn Feindschaft herausfließt aus Erkenntnis der Überlegenheit, und Haß eine lebenweckende Erregung menschlichen Wesens ist, so muß es einen Grad der Feindschaft und Siedepunkt des Hasses geben, in dem Anerkennung und Liebe daraus wird. Überlegenheit in ihrer Unbeschränktheit muß Unterwerfung hervorbringen. Ja, die Feinde müssen in sich die Fähigkeit haben, beste Freunde zu werden, die nimmer verloren gehen können. Denn das Auge des Hasses ist das schärfste, dem kein Stäubchen entgeht. Wenn ein hassendes Auge jemals in Liebe erglüht, das ist für ewig gewonnen. Ja, je größer die Feindschaft war, desto inniger und unverlöschlicher muß die Liebe werden können. Wer nach großer Liebe Sehnsucht hat, muß großen Haß hochschätzen. Von der Naturgeschichte des Geistes aus betrachtet ist Haß und Feindschaft nur eine Vorstufe der Liebe und Freundschaft. Ja die Liebe, die aus dem Hasse herausgeschmolzen ist, ist im Grunde die wertvollere als die billige, die überall wortreich und wertlos herumliegt.

Große Liebe ist große Kraft. Sie muß durch ihre Überlegenheit den Haß erzeugen, den Versuch, sie durch Kraft zu überbieten. Aber um so wahrer und heißer wird die Liebe erglühen, um ihre unter allen Umständen größere Kraft kund zu geben. Liebe und Haß bedingen sich gegenseitig und können ohne einander nicht bestehen, und der Haß ist's, der die Liebe zu immer größerer Glutentfachung reizt. Es ist ein Ringen zwischen ihnen um Sein oder Nichtsein. Und es wäre die Liebe nicht, wenn sie jemals nachgeben und unterliegen würde. Sie fühlt sich eher dem Hasse zu freudigem Danke verpflichtet, daß er sie zu stets neuer Glutentfaltung erregte. Der Haß ist der Liebe Lebenserreger, und die Liebe ist das unlöschliche Verlangen, sich immer tiefer in den Haß hineinzusenken, um seine Grenzen zu erreichen und ihn zu erschöpfen.

Soviel man sehen kann, ist Jesus der erste Mensch gewesen, der diese Beziehungen klar erkannt hat. Sie sind so unglaublich einfach und naheliegend und selbstverständlich, daß man meinen sollte, es bedürfte keines Wortes der Aufklärung darüber. Und doch hat Jesus als der erste das verstanden, was so tief in jedes Menschen Herz und Schicksal hineingreift und das ganze Leben durchzieht und gestaltet. Aber Jesus hat's nicht nur verstanden und etwa eine Erkenntnisreihe darüber aufgestellt, nein, er hat es in der besonderen Art, die ihm in einziger Weise eignete, körperlich dargestellt durch ein Menschenleben. Die Wahrheit der Liebe wurde in ihm Fleisch und Blut. Eine Wahrheit, die nicht Fleisch und Blut wird, können wir nicht gebrauchen. Sie könnte nie Menschenbestandteil werden. Wahrheiten, die nicht wir selber werden können, flattern als Gespenster in der Luft. Wir brauchen Menschen bildende Wahrheit.

 

Nichts erregt und nichts dämpft so schnell Angriffe als Gewährenlassen. Nur muß dieses freilich aus der Kraft, nicht aus der Schwächlichkeit kommen.

 

Zu einem Feinde ist's leicht die rechte Stellung finden, aber schwer ist's mit einem Anhänger. Die Sache Jesu wäre heute in der Welt eine unbezwingliche Großmacht, wenn sie nicht soviel Anhänger hätte. Dieses ewige Kämpfenwollen für die Liebe und das stete, lahme, mattherzige Unterliegen und kleinliche sich Ärgern ist der beständige Aufenthalt. Jesu war's viel lieber, wenn jemand seine Gabe liegen ließ und nicht opferte, als daß er Frömmigkeit mit Verdruß paarte. Wieviel Gottesdienstwesen könnte da heute zur Freude Jesu unterbleiben!

 

Erregung von Haß ist für die wirklich Verstehenden als Erfolg freudig zu begrüßen, denn Haß und Feindschaft ist Anerkennung von Überlegenheit. Es darf aber der Haß nicht gezüchtet, also die Überlegenheit nicht zur Schau getragen werden. Überlegenheit vorzeigen wollen viele. Das ist Eitelkeit und Hochmut. Diese erzeugen keine echte Feindschaft und enden in Verachtung. Jesus verbarg seine Überlegenheit und erwartet das auch von seinen Jüngern: Wer groß sein will, der werde aller Knecht. Werdet wie die Kinder! Macht gar kein Wesen aus euch!

An ihm war das eins der klarsten Erkennungszeichen, und darin ist er auch der erste Entdecker und Vertreter einer großen Wahrheit. Weltliches siegt mit Gespreiztheit, Göttliches durch Auswirken schlichter Natürlichkeit. Das Göttliche lebt im Bewußtsein seiner Ewigkeit und Unvergänglichkeit und hat darum Zeit genug, alles andere, was vergänglich ist, sich voll und ganz auswirken zu lassen. Göttlich kann man sich leicht entäußern und der Allerunterste, Allerverachtetste und Unwerteste werden so lange, bis alles andere seine wirkliche oder vermeintliche Größe ausgespielt hat. Dann bleibt doch das Göttliche das einzige und wird als das Wahre erkannt. Und mehr noch. Alles andere gesteht einmal seine Überlegenheit zu und gibt sich ihm zu eigen. Niedrigkeit und Verzicht ist der göttliche Weg zum Siege und zur Versöhnung. Aber er ist gestellt auf lange Geduld. Alles vorschnelle Eingreifen und jegliche Absichtlichkeit ist weltlich, nicht göttlich. Die wahre Überlegenheit äußert sich als Demut und Geduld. Wenn diese den Haß und die Feindschaft erregt, dann sind's fröhliche Lebensspuren.

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Was die Menschen unter gewöhnlichen Verhältnissen haben, ist nicht Gemeinschaft. Wir leben alle auf der Hut voreinander und haben gegeneinander in schweigender Übereinkunft Lügenzäune errichtet, hinter denen wir unsere innere Vereinsamung verstecken.

 

Menschen werden zusammengeführt wie Wassertropfen im Meere. Ihrer viele müssen zuweilen eine Woge bilden, aber sobald sie's getan, stieben sie auseinander und fließen hierhin und dorthin. Jeder bleibt dem Meere treu, aber keiner fühlt sich gebunden an irgendeine Tropfengemeinschaft. Sie wären sonst nicht Tropfen, sondern Tröpfe ... Nur die Freundlichkeit ist allumspannend.

 

Wenn man bedenkt, daß alles, was Menschen gewirkt haben, zuerst im Geiste fertig wurde, und dann durch das Wollen ins Dasein trat, so kann man sehen, was für ungeheure Kräfte im Wollen der Menschen in Bewegung sind. Sobald diese in einem Menschen stärker zur Entwickelung gekommen sind, müssen sie seiner ganzen Umgebung fühlbar werden, ohne daß er irgendwelche Anstrengungen macht, sich durchzusetzen. Unwillkürlich herrscht überall der stärkste Wille, in jedem Hause, in jeder Gesellschaft, jedem Staate, auch jedem Geschlecht. Diese Willensäußerungen sind natürlich ganz unabhängig von der Stellung, die seine Träger einnehmen. Oft herrschen gerade untergeordnetere Persönlichkeiten, weil sie gleichsam zur höchsten Anspannung ihrer Kräfte veranlaßt sind, um zur Geltung zu kommen. Diese Kräfte entströmen uns beständig und werden in dem Maße ihrer Stärke unserer näheren oder weiteren Umgebung, oft vielleicht dunkel, aber jedenfalls deutlich fühlbar. Starke Geister vermögen sich ohne irgendwelche äußeren Mittel maßgebend zur Geltung zu bringen. Wollte man einmal die Namen der eigentlich leitenden Persönlichkeiten nennen, würde man erstaunt sein, wo die geheimen Fäden des Geschehens zusammenlaufen.

 

Die Stärksten bestimmen den Lauf der übrigen, die sich zu ihnen wie Nebenströme zu Hauptströmen verhalten. Dadurch kommen Menschen in Abhängigkeit. Die Schwächeren verlieren ihr Eigensein und werden nur Verstärkung der ohnehin zu Starken. Das ist auch eine Lebensunterbindung.

Die weitaus meisten Menschen wirken bindend und knechtend. Wer wirklich im Dienste des Lebens steht, muß befreiend wirken, d. h. es müssen solche Wirkungen und Kraftströme von ihm ausgehen, daß jeder andere an ihm erstarken und sich selbst finden kann. Der Mensch als freier Geist ist nicht dazu bestimmt, bloß Nebenfluß zu sein. Jeder sollte seine eigene Bahn zum Ozean verfolgen, mancher breiter und tiefer, mancher vielleicht kürzer und flacher, aber jeder frei und sich selbst treu.

Ich würde jedem Menschen aus dem Wege gehen, der mich nicht frei sein läßt und die Eigenart, die gerade ich habe, nicht aufkommen lassen will. Was hilft's, wenn uns jemand auch zum Guten knechtet! Es gibt kein Gutes, das nicht unwillkürliche Lebensäußerung ist. Alles Aufgenötigte wird Verzerrung. Nichts unangenehmer als die Verrenkung ins Tugendhafte.

Es mag ja besonders krankhafte Zustände geben, in denen zeitweilig, wie bei der Einsperrung in eine Trinkerheilstätte die Unterordnung unter fremdes Wollen für den Menschen notwendig erachtet werden mag. Das dürfte aber doch nur als Heilverfahren auf Zeit in Aussicht genommen werden und ist auch als solches nicht unbedenklich. Ziel müßte immer sein, die Befreiung der Eigenart eines jeden, daß er sich selbst findet. Wer sich findet, findet auch das Gute. Kein Gesetz und keine Gewalt vermag das Leben zu erzeugen. Das Leben wächst und hat sein eigenes Gesetz in sich selbst. Äußere Gewalten können ihm zuweilen Richtung geben, aber wesentlich sind sie belanglos, im schlimmen Falle sogar Leben schädigend.

 

Jeder Mensch ist bestimmt, eine Eigenart des Vaters in der Welt des Stoffes darzustellen. Je mehr man Menschen kennen lernt, um so weitere Begriffe vom Wesen des Vaters müßten aufgehen. Um so mehr müßte der Gottesbegriff vertieft werden. Gott an sich ist unbeschreiblich und unerklärlich, aber in seiner menschlichen Auswirkung wird er verständlich.

Es kann nicht Gottes Wille sein, daß Menschen sich zu Menschen verhalten sollen, wie Pyramiden zu glatten Ebenen. Vielmehr, wie wir leiblich jeder eine gewisse Größe und als regelrechte Menschen keine wesentlich verschiedene herumtragen, so soll's auch geistig sein und geistlich. Wenn's recht wird, gibt's kein Groß und Klein mehr.

 

Heuchelei ist offen oder versteckt häufig bei Gewissensangelegenheiten im Spiele. Sollte wirklich ein aufrichtiger Mensch mit bedrückenden Fragen nicht allein fertig werden können, wenn er sich ehrlich unter Gottes Walten stellt? Gewissensfragen betreffen doch unser Verhalten zu Gott. Wer solche Fragen in anderer Menschen Denken hineinschiebt, hat schon eine ungöttliche Stellung eingenommen. Es ist geradeso, wie wenn ein Kind bezüglich seines rechten Verhaltens den Eltern gegenüber bei den Dienstboten herumfragen wollte. Solches Kind hat schon damit eine grundfalsche Stellung zu den Eltern, und wenn noch halbwegs ein Zug von gutem Schein dazu kommt, ist's ein Heuchler. Wenn ein Kind unter den Augen der Eltern einen Fehler macht, so ist's für seine Kindesstellung besser, als wenn es mit Hilfe von Dienstbotenratschlägen eine richtige Haltung bewahrt. Kinder mit Fehlern sind geliebter, als musterhafte Tugendspiegel. Sollte es vor Gott anders sein? Frage nicht in Gewissensfragen bei frommen Leuten herum. Laß sie dich lieber schelten oder beklatschen. Dieses ist dir besser, als daß du heucheln lernst. Ein aufrichtiger Sünder ist vor Gott angenehmer und leichter zu erretten, als ein musterhafter Heuchler.

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Anhänger sind Gewichte im Weiterschreiten und Kämpfen. Wer nicht von uns los ist, kann nicht unsern Weg gehen. Jesu Jünger sollen wandeln und schreiten, aber nicht sich schleppen lassen.

 

Man darf keinen Menschen nachahmen, nicht einmal Jesu äußere Gebärden dürfen nachgeahmt werden. Das wäre gewiß nicht in seinem Sinne.

 

Was Jesus angefangen hat, will überall weiter gebildet werden zu unerhörtem Fortschritt, aber niemals darf es steif nachgeahmt werden. Wo man nachahmt und sich in Formen zwingt, ist der Meister nicht voll dabei. Er ist immer bei denen, die vorwärts gehen, auch wenn sie Fehler machen, nicht bei den Zurückbleibenden. Die können unbeschadet dessen in den Himmel kommen und für ihre Person selig werden, aber die Sache Jesu geht nicht durch sie.

 

Es scheint, als habe sich bei Petrus im Laufe der Jahre die Meinung gebildet, er müsse Jesum nachmachen, wenn er sein Nachfolger sei. Die ganze Christenheit steht ja bis heute noch in diesem Glauben und bedauert nur, daß sie's nicht kann. Aber alles Nachgemachte ist unecht. Jesu Sache sollte weitergebildet werden. Nachgemachtes ist auch unfrei. Jesus wollte Freiheit und wahres Menschentum für alle Welt.

 

Jesus will durchaus nicht nachgemacht, sondern tief im Geiste erfaßt sein, und will freie, selbstbestimmte Menschen schaffen, keine uniformierten Rekruten.

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Wir müssen Menschen werden, die sich untereinander volle Freiheit gewährleisten.

Erstlich darf es in der ganzen Gesellschaft nicht mehr dahin kommen, daß jemand um seines Denkens willen irgendwelche Nachteile erleidet. Es muß für seine Lebensstellung ganz gleichgültig sein, ob er sich Christ oder Atheist nennt, ob er konservative oder liberale, kirchliche oder sozialdemokratische Blätter hält. Er darf in seinem Arbeitsbereiche lediglich nach seiner Tüchtigkeit und Leistungsfähigkeit geschätzt werden.

Soll aber die Gesellschaft diese Haltung einnehmen, so kann sie nur dazu kommen, wenn diese Gesinnung von einzelnen ausgeht. Große Wahrheiten treten nur dadurch ins Leben, daß einzelne ihre Lebenspförtner werden. Unsere neue Gedankenfreiheit ist ein Lebenskreis, der von einzelnen geschaffen wird durch ihr ganzes Sein.

Das muß aus uns hervorleuchten als unbeschränkte Wahrhaftigkeit: In unserer Umgebung hat es schlechthin keinen Einfluß auf die Wertschätzung des anderen, in was für Gedankenreihen er sich bewegt. Er mag denken, wie er will, und sich aussprechen, wie er kann – das hat nicht den mindesten Einfluß auf unser Verhalten zu ihm.

Freiheiten sind entgegengebrachtes Vertrauen. Das weckt im Menschen die edeln Triebe und darf nicht zurückgezogen werden, auch wenn es gelegentlich mißbraucht würde. Natürlich wird Vertrauen zunächst immer mißbraucht. Das ist gar nicht verwunderlich, denn wo kommt der Mensch her! Aber in dem Maße, als es bewahrt wird allen Mißbräuchen zum Trotz, löst es die wahre, gute Geistesnatur aus und hilft die Herrlichkeit des Menschen offenbaren.

 

Überall wo die Menschen eingeteilt werden in gute und böse, hat man den Menschen nicht verstanden. Heute ist ja in einer gewissen Sittlichkeitsanschauung alles nach diesen Maßstäben eingeteilt. Daher kommt's aber, daß die weitaus meisten Menschen klagen, sie würden nicht verstanden.

Sie werden auch nicht verstanden. Jeder Mensch hat in sich ein klar empfundenes Bild seiner wahren Gestalt in der Vollkommenheit. Jeder weiß ferner ganz genau, wo die Wirklichkeit dieser Vollkommenheit mangelt und leidet bewußt oder unbewußt darunter. Wenn man ihn dann »böse« schimpft oder, was beinah noch unangenehmer ist, »gut« nennt, hat man beide Male sein Wesen – mißverstanden. Er ist auf Vollkommenheit ausgerichtet und je nach dem Maße seines Werdens mehr oder weniger mit Bösem bedeckt, aber sein Wesen ist etwas anderes als das Böse oder das Gute.

Vielleicht versteht man das deutlicher an einem Beispiele. Würden heute auf der Erde etliche vollkommene Menschen leben, wahre Menschen, wie sie uns allen innerlich vorschweben, so würde es nicht lange währen, und Massen der Menschheit wären durchflutet von einem Lichte der Vollkommenheit, das unwiderstehlich alle durchleuchten, heilen, retten würde. Würde es aber bloß gelingen, statt der wahren, vollkommenen nur gute Menschen zu erzeugen, und wir anderen wären daneben die bösen Menschen, so würde ein unerträglicher Zustand werden, ein Parteigegensatz, den man sich, wenn die Zahl der »guten« Menschen sehr zunehmen sollte, nicht schrecklich genug vorstellen kann. Glücklicherweise kann dieser Fall nie eintreten, weil Gut und Böse unterhalb der Geisteshöhe des wahren Menschen liegen.

 

Der wahre Mensch hat die Sinnlichkeit in seiner Herrschaft, aber sie nicht ausgerottet. Der bloß gute Mensch fastet etwa und zähmt seinen Leib, der wahre macht aus dem Essen und Trinken einen Gottesdienst. Der bloß gute Mensch hat überall etwas zu beschneiden, zu verbieten, gegen Mißstände ein Vereinchen oder dgl. zu gründen, der wahre Mensch entfaltet Lebenskräfte, schafft Freiheit und Kraft um sich, und in dieser Luft versinken die Todesschatten.

 

Wir sind Lebensfrüchte, die nur nicht reif sind. Noch nicht. Aber wenn wir's sind, sind wir göttliche Majestäten. Wir sind nicht Stoff. Der Stoff ist nur unsere Erscheinungsebene.

Wer das sehen kann, wird den andern mit einer Ehrfurcht behandeln, die eines Gottesgeistes würdig ist. Diese Ehrfurcht ist die Gesinnung der neuen Sittlichkeit. Sie haftet nicht mehr an Äußerlichkeiten, oder an Gut und Böse. Sie beugt sich vor der Majestät Gottes, die in dem Geiste zur Erscheinung drängt.

 

Die neue Sittlichkeit kennt erstlich keine guten und bösen Menschen. Die gibt's ja in Wirklichkeit auch nicht. Es gibt nur Menschen überhaupt. Ferner gibt es nur unfertige Menschen in der Wirklichkeit und wahre Menschen in der Zukunft, die vor uns liegt und in dem Bilde, das jedem von uns vor Augen schwebt.

Wenn man durchaus unterscheiden will unter der heutigen, unfertigen Menschheit, mag man werdende und stillstehende unterscheiden. Damit darf aber kein Werturteil ausgesprochen sein, sondern das ist ein Übersichtswert. Ein Mensch, der heute im Stillstande ist, wird's nicht immer sein, und ein werdender muß vielleicht bald einen Stillstand durchmachen. Höchst wahrscheinlich bedürfen wir beiderlei Zustände, und es mag wohl sein, daß es einen völligen Stillstand überhaupt nicht gibt. Jedenfalls sind wir ganz unfähig, über irgendeinen Menschen ein Werturteil auszusprechen. Wir sind alle unfertig.

Die neue Sittlichkeit steht über jeder Partei. Sie kennt nicht Familie, Volk, Sprache, Farbe, Religion, Konfession, Gut, Böse. Sie kennt nur den Menschen.

 

Eines ist die Ehrfurcht vor der Majestät des Menschen. Das andere ist das Bewußtsein, daß wir Einheit sind. Die Erkenntnis der Einheit bezeichnet überhaupt einen Werdefortschritt unseres Seins. Daß Stoff Einer ist, daß Kraft Eine ist, daß Leben Eines ist, und daß alles das auch Eines ist, nämlich Geist, der sich als Stoff, als Kraft, als Leben darstellt und offenbart, das wird unserer Zeit mehr und mehr den Stempel aufprägen. Schon dämmert die Einheitslehre auf allen Seiten den Geistern. Sie wird aufhören, Lehre zu sein, und bewußtes Erlebnis und erkannter Zustand der Menschen werden.

Wir Menschen sind erst recht Einheit, ob des Blutes oder der Abstammung wäre nicht wichtig, aber des Geistes und der Entwickelung. Sind wir aber Einheit, so wird klar, daß unsere wahren Vorteile nicht widereinander streiten, sondern auch einheitlich sind. Um was streiten wir eigentlich? Um das Mein und Dein, um Ehre und Vorrang, um Gedanken und Meinungen, um Formen und Äußerlichkeiten, kurz lauter Dummheiten, die an der stofflichen Oberfläche des Seins liegen und mit unserem Wesen schlechthin nichts zu tun haben.

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Die neue Haltung, die wir zum Menschen einnehmen, ruht auf der Erkenntnis seiner wahren Natur. Sie besteht in Ehrfurcht vor seinem tiefsten Wesen, das bei jedem wertvoll ist, auch wenn an der Oberfläche viel Gegenteiliges liegen sollte.

Aber gerade deshalb ist es unerläßlich, daß man sich über den andern nicht täuscht. Der Glaube an das Gute, Edle, Große in jedem Menschen schließt durchaus nicht aus, daß wir uns auch das Unedle, das ihn häufig zurzeit beherrscht, deutlich machen. Nichts wäre schädlicher, als in einer gefühlvollen Liebelei und Schwärmerei ohne weiteres jedem vertrauensvoll zu begegnen. Es gibt Menschen, zu denen jede Beziehung geradezu verhängnisvoll werden kann, die augenblicklich ganz unter dem Zeichen des Raubtieres stehen. Vor denen muß man sich natürlich sehr hüten.

Wenn ich weiß, daß jemand mich doch betrügt, sobald ich mich mit ihm in irgendwelche geschäftlichen Beziehungen einlasse, so breche ich einfach den Verkehr ab und lasse ihn zeitweilig unter keinen Umständen an mich heran. Für viele Menschen ist Stillschweigen die einzige Sprache, die sie verstehen. Namentlich Schwätzer, die immer von Tugendhaftigkeit triefen, kommen nur durch Schweigen zurecht. Man muß auch sein Haus verschließen und bewachen lassen, wenn draußen Diebe und Einbrecher sind. Trotz dieser notwendigen Schutzvorrichtungen und Maßnahmen kann man an das Gute im andern glauben. Man wartet seiner in Geduld.

 

Manche Menschen sind in ihrem augenblicklichen Zustande wie wilde Tiere und geberden sich auch so. Solche muß man nicht ohne weiteres streicheln, sondern es ist unter Umständen recht gut, wenn Gitter zwischen uns liegen. Die müssen die Menschen aufrichten, denn die Bestien tun's nicht. Um ohne Bild zu reden, Vergebung muß immer da sein. Aber von Vergebung darf man erst dann reden, wenn die Menschen sich danach sehnen. Sonst bleiben vorläufig besser Zwischenwände bestehen. Persönliche Zwischenwände müssen oft der Wahrheit dienen, und wir haben nicht ohne weiteres das Recht, sie niederzureißen. Auch der Vater hat seine Zeiten, die wir empfinden, ohne sie immer zu verstehen.

Will aber jemand die Zwischenwände gern beseitigen, so wartet er am besten, bis der andere in Not kommt. Er hat dazu nicht lange zu warten. Dann ist gewöhnlich der Zeitpunkt gekommen, wo ihm die Ströme der Gnade zufließen dürfen. Im Reiche Gottes gibt's keine Schadenfreude, nur herzliches Erbarmen und unbegrenzte Hilfsbereitschaft. Das ist die Sprache, die jeder Mensch versteht, der Heimatsklang, der auch harte Herzen weich stimmt. Auch der Vater wartet oft, bis bei uns die Not am höchsten ist, um uns dann der Allernächste zu werden und zu bleiben.

Von den Gliedern des Reiches Gottes fließen Ströme von Erbarmen in die Welt. Sie selbst sind vorläufig keine Heiligen, geben auch nicht vor, solche zu sein. Sie sind die allergewöhnlichsten Menschen und betonen gerade ihre Menschlichkeit, wie Jesus auch tat, der sich nur den Menschensohn nannte. Würden sie ihr Sein in Gott betonen, so würde das nur Mißtrauen, Haß oder Schrecken hervorrufen, die Menschheit trennen, nicht einigen. Zurzeit gibt's auch keine vollkommenen Menschen. Es soll auch keine geben. Die Menschheit ist eine Einheit, und die wenigsten könnten vertragen, den anderen voraus zu sein. Sie würden mit ihrer Vollkommenheit nur blutlose Heilige, die sich unnötig aufblasen und sich Heiligenscheine wachsen lassen würden, aber sich damit von uns Sündern trennten. Aber was es heute geben kann und muß, sind Menschen, die ein Ort sind der Versöhnung und des Erbarmens. Nur des Erbarmens.

Richtet nicht. Das heißt natürlich nicht, alles laufen lassen, wie es will und mag. Nicht richten kann ebenso die dürftigste Schwäche wie die größte Stärke sein. Es ist ein nicht Eingreifen, das Kräfte des Geistes entfaltet statt Kraft des Fleisches, eine äußerste Anspannung der Liebe gegenüber dem Haß.

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Es kommt etwa vor, daß zwischen Menschen eine tiefgehende Abneigung fällt, oft aus Anlaß eines kleinen Verdrusses. Das geschieht meistens, wenn sie einander näher gekommen waren, als für das Wesen der Menschen gut ist. Unser Sein ruht auf Einsamkeit in der Gemeinsamkeit. Wir sind nicht zerfließlich und gar nicht fähig, ineinander grenzenlos überzugehen. Wo wir den Versuch bewußt oder unbewußt machen, tritt eine natürliche Gegenwirkung ein. Diese äußert sich oft als feindliche Gefühlserregung, die sich zu körperlichem Widerwillen steigern kann.

Daß sie eintritt, ist ein Glück, ein Heilversuch der Natur, die sich gegen unsere frühere Schwäche aufbäumt. Aber andererseits muß die so entstandene Wunde ausheilen. Gegen den eingetretenen Widerwillen müssen wir uns also solange auflehnen, bis der Zustand der Achtung, die wir jedem Menschen als solchem schulden, wieder eingetreten ist. Auch hier heilt die Natur. Es bedarf wieder Zeit und Geduld, ein bewußtes Nichtwiderstreben, und die Heilung gelingt.

Man sollte sich aber nicht mit Umgehung der Zeit gewaltsam und augenblicklich in Empfindungen hineinrecken, die wir einmal nicht haben. Jede bloß seelische Erregung und Berauschung schädigt den Menschen. Viele machen aber den Versuch, das Walten der Zeit, das langsame, durch gewaltsame seelische Steigerungen zu ersetzen. Solche Augenblickserfolge rächen sich bitter. Es tritt immer ein Rückschlag ein.

Wir müssen uns viel mehr und viel einfacher an die Natur anschließen. Wir lieben z. B. nicht alle Menschen. Manche sind uns einfach zuwider. Ich halte für den ersten Schritt zur Heilung, daß man sich das in vollem Umfange klar macht, dann den Ursachen nachzugehen sucht und schließlich, wenn es irgend angeht, eine Zeitlang so weit als irgend möglich voneinander abrückt, damit die Heilung nicht immer wieder gestört wird.

Es ist an sich natürlich, daß nicht jeder zu jedem einen Weg hat, und daß viele Menschen miteinander nichts anzufangen wissen. Das hängt zusammen mit unserer inneren Gebundenheit und Kleinheit. Unser wahres Wesen wird einstweilen niedergehalten durch mancherlei Einflüsse. Dazu bedarf es Lösungen und Zeit zum Werden und Wachsen auf Grund solcher Lösungen.

Im Maße unseres Wachsens erweitert sich unser Sinn auch für Menschen, so daß allmählich in das Bereich unserer inneren Anteilnahme immer mehr Menschen treten. Wenn wir uns räumlich erheben und etwa einen Berg besteigen, werden wir mit jedem Schritte aufwärts eine größere Gegend überblicken. Ebenso geht's, wenn wir zeitlich weiter kommen. In dem Maße, als unser Wesen sich wachstümlich entwickeln kann, erweitert sich unser Blick und Zugang zu Menschen. Immer verschiedenartigere treten in unseren Bereich, und wir lernen ihren Wert verstehen, sie selbst schätzen und lieben. Was vorher oft abstieß, wird mit der Zeit oft lieb und wert. Je näher ein Mensch der Vollkommenheit steht, desto weiter wird sein Herz und sein Menschenverständnis. Der vollkommene, wahre Mensch hat zu jedem einen Weg. Darum ist die Liebe der Gradmesser der Vollkommenheit.

Wem heute der Gesichtswinkel für Menschenwert klein, und wessen Zugang zu anders Gearteten gering ist, dem kann die Zeit zum gesunden Werden helfen. Es ist gar keine Ursache, daß solche an sich verzweifeln. Wollten sie sich aber selbst helfen und in die Vollkommenheit recken, indem sie sich etwa mit Gewalt in Empfindungen hineinsteigern, die sie an sich nicht hatten, so wird's ungesund. Mit der Zeit welkt die frühgereifte Frucht zusammen. Die Zeit rächt sich gleichsam für solche Mißachtung und zertritt dieses naturwidrige Wesen. Ohne die Geduld der Zeit wird auch das beste Vorwärts falsch, unbrauchbar, ja schädlich für uns.

In eine allgemeine Menschenliebe kann man nur hineinwachsen mit der Zeit. Sie ist an sich unser tiefstes Bedürfnis, wir dürfen aber zeitliche Zwischenglieder nicht überspringen, sonst werden wir unwahre Heuchler.

Darum sollte niemand den Mut verlieren, der in unangenehmen Beziehungen zu Menschen steht und seinen Widerwillen vorläufig nicht meistern kann. Räumliche und zeitliche Entfernungen helfen am besten zum Ausheilen. Gerade wo Schärfen liegen, muß man nicht den Vollkommenen spielen wollen und sich fortwährend Reibungen aussetzen, sondern seine Schwachheit eingestehen und zur Genesung räumliche oder zeitliche Zwischenräume suchen.

Es kommt ganz gewiß einmal für jeden ein Augenblick, wo die verwundeten Beziehungen ausgeheilt sind. Dann werden gerade die schwersten Erlebnisse die liebsten Erinnerungen werden. Niemand sollte sich um irgendeine Abneigung, die ihn beherrscht, Sorgen machen. Er sollte nur den Glauben an die Heilung unerschütterlich festhalten. Die Heilung ist dann eingetreten, wenn die Erinnerung uns ein Lachen abnötigt. Wer herzlich und fröhlich lachen kann, ist gesund geworden.


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