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Fünftes Kapitel.

Auf dem Sopha an der Hauptwand saß die Baronin, eine hohe, würdige Gestalt; ihr gegenüber machte Cornelie, die zweite Tochter, den Thee. Sie war, obschon nur siebzehnjährig, groß wie ihre Mutter, aber nicht so schön, als diese es in der Jugend gewesen sein mußte. Ihre Gesichtsformen waren zu mächtig ausgeprägt, ihre Augenbrauen sehr stark für ein so junges Mädchen und das reiche schwarze Haar gab ihr, bei ihrem ohnehin dunkeln Teint, einen ernsten, fast finsteren Ausdruck.

Helene, die ältere Schwester, lag ausgestreckt in einem niedrigen Sessel vor dem Kamine, dessen flackerndes Feuer auf ihr ebenfalls schwarzes Haar glänzende Reflexe warf. Etwas kleiner als Cornelie und üppiger in allen ihren Formen, zeichneten sich ihre prächtigen weißen Schultern hell ab gegen den dunkeln Grund des Sammetsessels, gegen die weiche schwarze Lockenfülle, und als sie bei Erich's Eintritt das Haupt nach der Thüre kehrte, sah Friedrich in ein anmuthiges Gesicht mit sanften hellbraunen Augen.

Der Baron stand sich wärmend, den Rücken gegen das Feuer gewendet, neben ihm ein junger Arzt, den Friedrich kannte. Ein Fremder hatte sich einen Sessel an Helenens Seite gerückt und war mit ihr in leisem Gespräche begriffen, während die Anderen sich laut unterhielten.

Als Erich seinem Vater Friedrich's Namen genannt und ihn zur Mutter geführt hatte, wendeten die Eltern und Schwestern sich mit freundlichen Bemerkungen an ihn. Man wiederholte ihm, daß Erich erfreut gewesen sei, grade ihn zum Gefährten bekommen zu haben, und richtete jene antheilnehmenden Fragen an ihn, welche dem Weltgewohnten immer bei dem Beginne einer Unterhaltung zu Gebote stehen und die dem Neuling so wohlthuend sind; eine spielende Angelruthe für den, der sie ausgiebt, ein haltender Haken für den, der sie empfängt.

Auch fühlte sich Friedrich gegen sein Erwarten schon nach wenig Augenblicken von der Scheu befreit, mit welcher er in diesen Kreis getreten war, denn er fand sich von einer Aufmerksamkeit umgeben, die ihn in seinen eigenen Augen hob. Die Angelegenheit, welche ihn mit Erich zusammenführte, die Studentenbälle, erregten der Familie des Letzteren um Erich's willen eine große Theilnahme, und die Aussichten, welche die beiden jungen Männer hatten, jene Feste mehr oder weniger glänzend zu Stande zu bringen, wurden von der Baronin und von Erich's Schwestern ernsthaft in Erwägung gezogen. Dadurch lenkte sich die Unterhaltung dem Leben der Studirenden im Allgemeinen zu, und der Baron machte, gegen den Fremden gewendet, die Bemerkung, daß die Art der deutschen Universitätsbildung und das Leben der deutschen Studenten für den Ausländer meist viel Auffallendes zu haben pflegten.

»Weniger für uns, als für die Engländer,« entgegnete der Gefragte. »Bei uns in Frankreich ist das Studium frei geworden wie in Deutschland, wenn schon es sich in anderen Formen bewegt, während es in England nach vielen Seiten hin einem klösterlichen Zwange unterworfen geblieben ist. Was aber das Leben und Treiben der Studirenden betrifft, soweit ich es in Frankreich und in Deutschland kenne, so liegt der Unterschied wohl vorzugsweise darin, daß die Deutschen, bei ihrer Lust an Theorien, ihre jugendlichen Ueberspannungen und Ausschweifungen, ihre Gelage und Raufereien, in ein System gebracht haben, während unsere Jünglinge sich ihren Thorheiten ohne Weiteres überlassen.«

Er hatte Anfangs Deutsch gesprochen, war dann aber in's Französische übergegangen, und Erich entgegnete ihm in derselben Sprache: »Das Leben der deutschen Studenten hat eine tiefere Bedeutung, als Sie ihm geben, Excellenz!«

»Glauben Sie, Baron?« fragte der Graf mit so sarkastischem Tone, daß Alle, mit Ausnahme der beiden Studenten, zu lachen begannen.

Erich und Friedrich aber fühlten sich, Jeder auf seine Weise, verletzt von dem Spotte des Grafen, und Friedrich bemerkte: »Es ist wenigstens bis jetzt die einzige Institution in Deutschland, in welcher der Grundsatz einer vollkommenen Gleichheit aller Stände vertreten und aufrecht erhalten wird.« Als er aber diese Worte durch die Stille dieses Saales tönen hörte, klangen sie ihm wie ein Widerspruch gegen die Anwesenden und so fremd dem Orte, daß er meinte, ein Echo müsse sie von allen Wänden zurücktönen lassen und wiederholen.

Auch nahm der Graf, an den sie gerichtet waren, sie mit seinem früheren Lächeln auf. »Das Princip der Gleichheit,« wiederholte er, die Worte wagend, und sie scharf als Etwas betonend, dessen Tragweite man anzudeuten wünscht. »Ja! es wird aufrecht erhalten, wie man es in einem Badeorte aufrecht erhält – – so lange die Saison dauert.«

Erich fuhr auf und wollte eine heftige Entgegnung machen, die Baronin bemerkte es und kam ihm zuvor. »Wenn solche Ausnahme-Verhältnisse auch keine ewige Dauer haben mögen,« sagte sie, »so trägt die schöne Idee, aus der sie hervorgehen, doch meist ihre guten Früchte, und Universitätsfreundschaften und Badebekanntschaften erwachsen oft zu dauernden Verhältnissen für das ganze Lebe. Oder wollen Sie diese Thatsache leugnen, lieber Graf?«

Der Graf, welcher die Heidenbrucksche Familie vor zwei Jahren im Karlsbade kennen gelernt hatte, lenkte augenblicklich durch eine verbindlich zustimmende Bemerkung ein, ohne daß dadurch der unangenehme Eindruck verwischt worden wäre, den er auf Friedrich gemacht hatte.

»Wer ist der Mensch?« fragte er den jungen Baron, sobald sich eine Gelegenheit dazu darbot.

»Ein Graf St. Brezan, ein französischer Gesandtschaftsrath, der eine Mission nach Petersburg hat. Er hat meinen kleinen Vetter von Lissabon mit hieher gebracht.«

Graf St. Brezan mochte ein Mann von vierzig Jahren sein, obschon seine schlanke Gestalt, die Leichtigkeit seiner Bewegungen und die sorgsame Wahl seiner einfachen Kleidung ihn jünger erscheinen ließen. Sein dunkelbraunes, reiches Haar, die schönen Hände, das scharf geschnittene Profil gaben ihm ein Recht, noch immer für einen schönen Mann zu gelten, aber ein Ausdruck hochmüthiger Zurückhaltung mußte sein Aeußeres für Jeden unangenehm machen, dem er Freundlichkeit zu zeigen nicht für nöthig erachtete. So kam es, daß die Einen ihn schön und anziehend, die Anderen ihn unschön und abstoßend nannten, daß er die Männer leicht verletzte, die Frauen leicht gewann.

Mit dem Takte des Weltmannes hatte er die Bemerkung der Baronin verstanden. Er nahm an, daß sie um irgend eines Grundes willen Rücksicht auf Friedrich und auf den Doctor zu nehmen habe, und war augenblicklich bereit, die ihm befreundeten Standesgenossen in ihren Absichten und Plänen nach seinen besten Kräften zu unterstützen.

Mit einer geschickten und ganz unmerklichen Wendung brachte er das Gespräch von den deutschen Studenten auf die deutsche Literatur, auf ein Feld, in dem alle Anwesenden, selbst Erich und Friedrich, ihm überlegen sein mußten. Er wußte, wie leicht man Jemand gewinnen kann, der sich uns gegenüber behaglich und als der Gebende empfindet. Für den Grafen beschränkte sich die deutsche Literatur auf Klopstock, Schiller und Goethe. Das Klopstock'sche Deutsch war ihm, wie er offen gestand, vollkommen unverständlich und Klopstock's religiöse' Anschauung dem Verehrer Voltaire's fremd. Schiller, den der Convent würdig geachtet, ein Mitglied der französischen Republik zu sein, hatte von jeher schon um dieses Grundes willen das Mißtrauen des Grafen erregt, und der rücksichtslose Idealismus des Dichters, der über alle Convenienz hinaus den Gedanken freier Menschlichkeit geltend machen wollte, mußte ihm als eine unpraktische Schwärmerei erscheinen, deren Einfluß auf die Jugend er für gefährlich hielt. Goethe allein von allen deutschen Dichtern war ihm ein Gegenstand der Hochachtung.

Mit einer ihm seltenen Wärme pries der Graf den greisen Dichterfürsten als den Dichter der Wirklichkeit, der die Wahrheit und die Schönheit nicht jenseits der Grenzen der Vernunft erblicke. »Was ihn so erhaben macht und was zugleich so wohlthuend, so beruhigend in seinen Schriften wirkt,« sagte er, »das ist die Klarheit, mit der er ›die Welt wie sie ist‹ betrachtet, das richtige Licht, das er über die Gesetze der Gesellschaft verbreitet, in der für Jeden der Platz vorhanden ist, den er einnehmen kann, wenn er eben nur den begehrt, den er auszufüllen bestimmt ist. Er ist der Dichter des Friedens und der Versöhnung, und es ist zweifellos, daß Sie die Weisheit Ihres größten Dichters den wüsten Erfahrungen verdanken, welche unsere unglückliche Revolution ihn machen ließ.«

Trotz der ächt französischen Schlußfolgerung des Grafen, machte sein Lob Goethe's einen guten Eindruck auf den Baron, dessen Anschauungsweise in Betreff der Goethe'schen Werke nahe mit der des Grafen zusammentraf. Er stimmte ihm vollkommen bei, und erklärte, daß der Werther, der Wilhelm Meister und die Wahlverwandtschaften für alle Zeiten Musterromane bleiben und vielleicht niemals ihres Gleichen finden würden.

»Für alle Zeiten?« wiederholte der Doctor im Tone des Zweifels, »es giebt Nichts in der Welt, das für alle Zeiten dasselbe wäre!« Diese Worte wurden mit jener Ruhe gesprochen, welche einen Hauptcharakterzug des Doctors machte, dennoch wirkten sie auf Friedrich wie ein Signal zur Befreiung, wie ein Aufruf zu einem Kampfe, an dem Theil zu nehmen er trotz seines Verlangens sich nicht befugt geglaubt hatte.

»Also leugnen Sie, daß es in der Kunst ein Absolutes giebt?« fragte der Baron.

»Unbedenklich!« entgegnete der Doctor. »Das wirklich Große, das, was in seiner Zeit allen Ansprüchen derselben genügte, was ihren ganzen geistigen Gehalt in sich zur Anschauung brachte, das wird, sei es nun ein Werk der Malerei, der Bildhauerkunst oder der Dichtung, für alle Zeiten eine Bedeutung behalten; wir werden darauf fortbauen, es wird maßgebend, lehrreich, begeisternd für uns bleiben, aber ein unbedingtes Muster, das ewig und allein Berechtigte kann es nicht sein. Das hieße den Fortschritt der Menschheit leugnen!«

Der Baron, der den Doctor sehr verehrte, schwieg einen Augenblick nachdenklich, dann sagte er: »Ich wäre begierig, den Dichter zu kennen, der einst über Goethe hinausgehen wird. Wir werden Muße haben, denke ich, uns an Goethe's Werken zu erfreuen, ehe er sich findet!«

»Er kann sich aber finden,« meinte Friedrich, »wenn die Menschheit im Allgemeinen freier geworden sein wird, als sie es war, da Goethe seine großen Werke schuf!«

Diese lebhafte, jugendliche Behauptung stach so auffallend gegen Friedrich's bisherige Zurückhaltung ab, daß die Anderen ihn mit Erstaunen anblickten, während der Doctor ihm zustimmend mit dem Kopfe winkte. Dadurch ermuthigt und von seinen Empfindungen hingerissen, fuhr er fort: »Bei aller Wahrheit des Werthers, des Meisters, der Wahlverwandtschaften, deren ganze Tiefe ich wohl nicht einmal ermessen kann, weil mir die Kenntniß der Gesellschaft fehlt, in der sie sich bewegen, sind sie doch eben nur das Bild dieses Theils der Gesellschaft, einer Welt der Ausschließlichkeit, ihrer Leiden und Freuden, und« – – fügte er plötzlich stockend, dann aber sich mit einer scheuen Hast zum Sprechen zwingend hinzu – »und es giebt noch eine andere Welt hienieden außer dieser Einen!« –

Friedrich litt von seinen eigenen Worten, während er sie sprach, und doch vermochte er sie nicht zurückzudrängen. Er empfand es, daß er plötzlich der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit geworden sei, und diese Beachtung machte ihn verlegen. Die engen Verhältnisse, in denen er erwachsen war, hatten ihn vor Zersplitterung seiner geistigen Kräfte bewahrt, seinen Gedanken Zeit und Ruhe gegeben, sich aus stiller Tiefe auszubreiten, ruhig fortzuschreiten von Schluß zu Schluß, bis er zu jenen Blicken und Zweifeln gekommen war, die ihn das Unhaltbare der bestehenden staatlichen und geselligen Zustände im Gegensatze zu den natürlichen, berechtigten Forderungen des Menschen ahnen ließen. Jetzt indessen, da er auf dem Punkte stand, diese Ueberzeugung in einem Kreise auszusprechen, dessen Vorrechte sie antastete, erschrak er vor dem Unternehmen. Die anerzogene Ehrerbietung vor den Reichen, den Vornehmen lähmte ihn. Eine dunkle Röthe flog über sein Gesicht, aber es war nicht Scham, welche sie hervorgerufen, sondern der Zorn gegen sich selbst, der Zorn gegen die Verhältnisse, welche ihm eine solche sklavische Befangenheit eingeimpft hatten.

Der Doctor errieth den Zustand, in welchem sich Friedrich befand, und kam ihm theilnehmend zu Hülfe. »Sie haben Recht, Herr Brand!« sagte er, »die Goethe'schen Romane haben darin ihre Schranke, daß sie mehr oder weniger auf die Abstraction vom Leben, auf den schönen Schein des Lebens gearbeitet sind. Sie verhalten sich zur Wirklichkeit, wie die griechischen Götterbilder zur menschlichen Gestalt, wie Rafael's typische Menschengestalten zum individuellen Portrait.«

»Sie werden aber zugeben, lieber Doctor,« fiel ihm der Baron in das Wort, »daß diese Behandlungsweise der Wirklichkeit die edelste und angemessenste, die eigentlich klassische ist, wie ja auch Ihre Hindeutung auf die Antike und auf Rafael dies schon zugiebt.«

»Für eine bestimmte Klasse von Romanen,« entgegnete der Doctor, »ist, oder war vielmehr, jene Darstellungsart nicht nur die berechtigte, sondern die geforderte; für den Roman der Bildungsleiden der bevorzugten Stände, um die sich das Interesse jener Zeit fast ausschließlich bewegte. Die Darstellungsweise der Goethe'schen Romane ist ganz und gar aristokratisch, und sie wird unmöglich, sobald man sich von den Leiden und Freuden des Wohlhabenden, des bevorzugten Menschen, zur Bildungsgeschichte der Menschen im Allgemeinen wendet, wie sie sich in den verschiedenen Persönlichkeiten der Stände darstellt, welche noch andere als Seelenkämpfe zu bestehen haben.«

»Aber glauben Sie, Herr Doctor!« fragte der Graf, »daß jene Kämpfe der niederen Stände um ihr äußeres Dasein, daß jene alltäglichen Miseren überhaupt eine poetische Behandlung zulassen, die sich über die Art der skizzenhaften Beleuchtung erheben könnte? Was können die Leiden eines armen Handwerkers, einer kleinen Näherin, die mit der harten Wirklichkeit um ihr täglich Brot zu ringen haben, für eine große, poetische Bedeutung bieten? Goethe hat das wohl gefühlt, und deshalb, dünkt mich, die Behandlung von Motiven vermieden, welche einer Idealisirung, wie die Kunst sie erheischt, nicht fähig waren. Im Kampfe um das tägliche Leben liegt keine Schönheit, keine Poesie.«

Ein Blick des Zornes leuchtete in Friedrich's Augen, und mit fester Stimme sagte er: »Die vornehme Welt, in der die Goethe'schen Romane sich bewegen, weiß freilich von der Sorge um das tägliche Brot noch weniger, als die leichtlebenden Götter Homer's, die denn doch das mühselige Ringen des Erdgebornen wenigstens ihrer Theilnahme nicht für unwerth hielten.«

Und während er das sprach, begegneten sich die Blicke des Studenten und des Grafen mit einem Ausdruck der Abneigung, welche diese beiden durch ihr Alter und ihre Stellung so weit getrennten Männer, seit dem ersten Augenblicke gegen einander empfunden hatten. Es war etwas Unvereinbares zwischen Friedrich's unterdrücktem Selbstgefühl und dem scharf hervortretenden Hochmuthe des Grafen, und der sichtliche Antheil, den die Baronin und ihre Töchter, trotz ihres Schweigens, an dem Jünglinge zu nehmen begannen, trug nicht dazu bei, den Grafen gegen den Freimuth desselben, den er als eine unberechtigte Anmaßung tadelte, milder zu stimmen.

Und wieder war es der Doctor, der die Vermittlung zwischen Friedrich's Worten und den Ansichten des Grafen übernahm. »Ich glaube, Ihr Irrthum, Herr Graf,« sagte er, »besteht darin, daß Sie übersehen, wie die Stimmung und das Interesse unserer Zeit sich gerade den Leiden der Stände zuzuwenden beginnt, welche Sie von demselben ausgeschlossen glauben. Damit aber ist die Aufgabe und die Bedeutung des Romanes eine wesentlich verschiedene geworden. Sobald der Roman sich aus dem Bereich des befriedigten Bedürfnisses in den Bereich des zu befriedigenden wendet, wird der Roman des schönen Scheins, die typische Behandlung desselben, zu einer Unmöglichkeit, der Roman der harten Wirklichkeit und der scharfen Individualisirung zur Nothwendigkeit.«

»Es ist etwas Wahres darin,« pflichtete die Baronin, welche bis dahin eine stumme Zuhörerin geblieben war, dem Doctor bei, »denn wir sehen in den Goethe'schen Compositionen, wie sehr er es vermieden hat, das Bedürfniß an seine Helden und Figuren herantreten zu lassen, um die reine Atmosphäre vornehmer Ruhe zu erhalten, in der sich Alles und Jeder bewegt.«

»Das kannst Du nicht sagen,« wendete der Baron ein. »Du findest den Architekten, Du findest Gärtner, Bauern, Schauspieler, den Harfner und viele andere Gestalten in den Dichtungen, denen die Sorge um des Lebens Nothdurft nicht fremd geblieben sein kann!«

»Aber bei allen diesen Menschen ist das Bedürfniß in dem Augenblicke, in dem wir sie vor uns handelnd erblicken, befriedigt, lieber Vater!« bemerkte Erich, der sich zu den Ansichten des Doctors und seines neuen Freundes neigte.

»Doch nicht bei den Schauspielern und dem Harfner,« wendete der Baron ein.

»Gewiß nicht!« sagte der Doctor, »aber gerade aus der Wahl dieser Gestalten können Sie sehen, wie Goethe es zu vermeiden wußte, die Noth bitter erscheinen zu lassen. Jene Architekten, Bauern, Gärtner, deren Sie erwähnten, sind, wie Erich richtig bemerkte, Alle wohlversorgt im Dienste großer Herren; der Harfner ist ein Geisteskranker, der stumpf geworden ist gegen die äußere Noth des Lebens, und die Schauspieler wissen sich durch Schuldenmachen und Nichtbezahlen vor eigentlichem Mangel zu schützen. So tief Goethe als Mensch für die Noth seiner Mitmenschen empfand, so sehr er in seinem Amte als Minister ihr stets abzuhelfen suchte, so entschieden hat er die Welt der Dichtkunst in der Welt der satten Bildung gesucht, und darin liegt sein Zusammenhang mit der romantischen Schule, die Anschauung, welche ihn in gewissem Sinne von den Bestrebungen der Nachwelt trennen könnte.«

Der Baron gab das, wenn auch mit Bedingungen zu, und die Baronin, welche stets einen ausgleichenden und versöhnenden Abschluß der Unterhaltung herbeizuführen liebte, sagte: »Was Sie auch gegen die Goethe'schen Schöpfungen, als Musterromane, einzuwenden haben, so werden sie dieselben doch als ewige Vorbilder eines klassischen Styls stehen lassen müssen.«

»Unbedenklich!« rief der Graf; und der Doctor sagte: »Dieser abstracte klassische Styl wird aber für den Roman eine Unmöglichkeit werden, wenn wir anfangen, das allgemeine Leben zum Vorwurf des Romans zu benutzen. Die Harmonie des gleichmäßigen Styls, der hochgebildeten Sprechweise, wie wir ihr in allen Figuren Goethe's begegnen, hört auf, sobald der Ungebildete in den Kreis der Dichtung gezogen wird.«

»Dadurch wird der Styl also buntscheckig werden,« meinte der Baron, »und einen untergeordneten Ton annehmen müssen.«

»Ja und nein!« sagte der Doctor. »Die Wirklichkeit hat gegen das Ideal anscheinend oft etwas Untergeordnetes, die Sprechweise des Arbeiters, der Bürgersfrau etwas Unschönes, wenn wir sie mit der glatten, durch keine persönliche Unart unterbrochenen Schönheit des Goethe'schen Styls vergleichen, und doch wird man diesen nicht überall anwenden, jene nicht entbehren können; aber ein strenges Maßhalten wird die Buntscheckigkeit und Kleinlichkeit, die Sie fürchten, leicht vermeiden lassen. Faßt der Dichter die Menschen mit jener großen Anschauung auf, mit welcher die Rafael, Tizian, Van Dyk, Murillo ihre Portraits erschufen, so wird das Bild jedes Menschen eine ewige Wahrheit und selbst das scheinbar Unbedeutende, Unschöne bedeutend und erfreulich; während das tägliche Leben uns überall Karikaturen bieten würde, wenn man kleinlich jede Art und Unart, jedes Fleckchen und jede Warze der Originale festzuhalten suchte.«

»Diese Dinge zugegeben,« meinte der Baron, »so wird aber Ihr humaner Roman der Zukunft eine maßlose Ausdehnung haben müssen, wenn er alle Stände in seinen Bereich ziehen will, und wir werden wieder zwölfbändige Werke wie die alten englischen erleben, wenn Sie sie nicht in zwei bestimmte Klassen, in aristokratische und Volksromane scheiden wollen.«

»Was sicher nothwendig sein wird, wenn sie haltbar und in sich abgeschlossen, das heißt ein Kunstwerk sein sollen,« fügte der Graf hinzu.

»Keinesweges!« meinte der Doctor. »Im Roman eine Trennung der Stände aufstellen, die im Leben immer mehr und mehr zu verbannen unser Bestreben ist, wäre kein richtiger Grundsatz, und die Länge eines Romans wird durch das Zusammenwirken der Stände so wenig bedingt, als seine künstlerische Einheit dadurch gehindert. Beschäftigt sich der Roman, wie es seine Aufgabe ist, mit der psychologischen Entwickelung einzelner Charaktere, so ist dem Zufall jeder Spielraum in demselben genommen. Er ist bedingt durch den Charakter der Helden, und mögen dann auch, wie im Leben selbst, Personen der verschiedensten Klassen an den Helden herantreten und zu seiner Bildung mitwirken, mag er sich in den entgegengesetztesten Sphären bewegen, dem Roman wird in dem Raume eines solchen Bildungsprocesses immer eine Schranke gesetzt sei, die ihn vor übermäßiger Länge bewahrt. Beschäftigt der Roman sich aber mit Vorgängen, macht er die Entwickelung spannender Ereignisse zu seiner Hauptaufgabe, so sinkt er zur Erzählung herab, hat keine innere Nothwendigkeit und kann so unermeßbar werden, als die Möglichkeit der Ereignisse selbst.«

Bei diesen letzten Worten des Doctors öffnete sich die Thür, und ein hellblondes, etwa fünfzehnjähriges Mädchen trat, von einem drei Jahre jüngern Knaben gefolgt, in das Zimmer.

»Meine Nichte!« sagte die Baronin, als das Mädchen an den Theetisch gekommen war und die Tante umarmte.

»Und ich!« fiel der Knabe ein, als ob er es übel empfände, daß man ihn keiner Beachtung werth zu halten scheine.

Alle Anwesenden lachten über ihn, und Helene stand auf, nahm ihn mit scherzender Feierlichkeit bei der Hand und sagte zu Friedrich: »Mein Vetter Master Richard Windham!« In gleicher Weise stellte sie ihn dem Doctor vor, und obschon Richard, wie die Anderen, darüber zu lachen begann, so ließ er es doch geschehen ohne, wie Kinder sonst pflegen, ungeduldig oder verlegen dadurch zu werden. Er schüttelte dem Grafen, der ihn nach Deutschland gebracht hatte, freimüthig die Hand und bewegte sich in dem ihm neuen Kreise seiner Familie mit einer Unbefangenheit und Sicherheit, welche Friedrich an einem so jungen Knaben überraschend waren.

Helene, die sein Erstaunen bemerkte, sagte: »Nicht wahr, Ihnen kommt dieser selbständige Gentleman in der runden Jacke auch so komisch vor, wie mir?«

»Wie kannst Du es komisch finden,« fiel ihr Cornelie in's Wort, »daß ein Knabe sich unter günstigen Einflüssen schneller und gesünder entwickelt, als unter ungünstigen? Ist Dir die Blume komisch, die im Freien besser gedeiht, als in der engen Stube? Ich wollte, ich wäre ein Knabe und mit zwölf Jahren so selbständig gewesen, als Richard ist!«

»Du! ja Du wärst auch würdig gewesen, die Stelle Deiner Ahnfrau einzunehmen oder die Mutter der Gracchen zu repräsentiren!« scherzte Helene und setzte, gegen Friedrich gewendet, hinzu: »Sie müssen nämlich wissen, daß meine Schwester die jetzige Welt sehr erbärmlich, die Männer sehr schwach und charakterlos findet, und nur an den Heroen der Vorzeit noch eine Art von Wohlgefallen hat.«

Cornelie warf ihr einen ernsten, fast strafenden Blick zu, und Erich sagte: »Cornelie und Richard werden gute Freunde werden, wenn Helene ihn nicht verdirbt!«

»Was nennst Du ihn verderben?« fragte Larssen, der gleich nach den Kindern erschienen war, dem Baron und der Baronin seine Aufwartung gemacht und sich nun zu den jüngeren Hausgenossen gesellt hatte.

»Verderben wird sie den Knaben, wenn sie es ihm zum Bedürfniß macht, von ihrer weichen Liebe umgeben zu sein und ihr dafür Alles zu Willen zu thun.«

»Diesem Verderben wird der Knabe nicht entgehen, da Männer ihm erliegen!« sagte der Graf, und so alltäglich Friedrich diese Schmeichelei fand, nahm Helene sie doch mit einem freundlichen Lächeln, als etwas ihr Wohlgefälliges auf.

Friedrich verargte ihr das. Die schöne Helene schien ihm einer anderen Huldigung werth, schien ihm zu gut für das Wortspiel geselliger Galanterie, indeß es blieb ihm nicht lange Zeit, darüber nachzudenken, da der Doctor die Frage aufwarf, ob man Helene heute nicht singen hören werde?

Sie erklärte sich bereit dazu, und Larssen, der mit Selbstgenügen vor Friedrich die Rechte eines alten Bekannten der Familie geltend machte, öffnete den Flügel, holte aus dem Nebenzimmer vom Schreibtisch der Baronin die Leuchter herbei und richtete Alles für den Gesang ein, worauf er sich, mit mehr Nachlässigkeit, als er sich sonst zu gestatten pflegte, in einen der Sessel am Kamine warf, und Friedrich nöthigte, sich neben ihm niederzulassen, was dieser ablehnte, weil er Helenens Gesicht von diesem Platze nicht vor sich gesehen haben würde.

Scherzend setzte sie sich zum Flügel nieder, griff präludirend ein paar Akkorde und ging dann zur Melodie eines damals noch neuen Liedes von Fanny Hensel über, das mit begeisterter Sehnsucht die Reize Italiens feierte. Es lautete:

»Schöner und schöner schmückt sich der Plan,

Schmeichelnde Lüste wehen mich an u. s. w.

und wie es in seiner Schilderung des Südens immer jubelnder wurde, so durchleuchtete eine wahrhaft südliche Gluth, ein hinschmelzendes Feuer die Züge und die Stimme Helenens, bis aus dem Entzücken über die Schönheit der Natur plötzlich ein unterdrücktes Weh in dem Schmerzensrufe verzagender Sehnsucht emportönte:

»O so versuch' es Eden der Lust,

Ebne die Wogen, die Wogen auch dieser Brust!«

Ein lauter Beifall scholl ihr von den Zuhörern entgegen, sie beachtete ihn nicht. Ihr Gesicht war schwermüthig geworden, ihr Auge sah ernsthaft umher, bis es auf Friedrich fiel, der in ihr Anschauen versunken war. Ihre Blicke trafen sich schnell und flüchtig, um sich ebenso schnell von einander abzuwenden, und Helene begann eines jener traurigen Lieder von Berger, in denen er Meister ist, das Lied vom blauen Veilchen, das der Liebende der gestorbenen Geliebten in das Grab senkt, zur Erinnerung an ihren Veilchenkranz beim ersten gemeinsamen Tanze im Grünen.

Friedrich kannte die Composition, er hatte sie oft singen hören, aber niemals mit der Gefühlsinnigkeit, die Helene hineinzulegen wußte. Seine Augen schwammen in Thränen. Er dachte an das Begräbniß seiner Jugendfreundin, an das tiefe Weh seines armen Knabenherzens, und die unbestimmte gestaltlose Ahnung einer viel größeren Liebe, eines viel tieferen Verlustes zitterte in seinem Herzen. Er mußte sich von seinen Phantasieen gewaltsam losreißen, als er gewahr wurde, daß die Gruppe am Flügel sich aufgelöst, die Gesellschaft sich wieder um den Theetisch versammelt, und das Gespräch sich auf Gegenstände der plastischen Kunst in Italien, Frankreich und Spanien gewendet hatte. Dabei kamen Reiseerinnerungen und das Andenken an befreundete Personen zwischen dem Grafen und der Heidenbruck'schen Familie zur Sprache, denn auch Erich und seine Schwestern hatten schon bedeutende Reisen gemacht und waren in fremden Ländern durch eigene Anschauungen wohl zu Hause.

So schwand noch eine Stunde hin, bis die Gäste aufbrachen. Was man bei'm Abschiede gesprochen, welche Verabredung Erich mit ihm genommen, hätte Friedrich in dem Augenblicke nicht zu sagen vermocht. Er erinnerte sich erst am folgenden Tage, da er die Erschütterung überwunden, in welche Helenens Gesang seine musikalische Natur versenkt, daß man ihn zu baldiger Wiederkehr gar freundlich eingeladen hatte.

Wie bezaubert kam er aus dem Hause auf die Straße, Larssen nahm seinen Arm und ging ein paar Minuten schweigend neben ihm her, bis Friedrich, von der Nachtkühle erfrischt, tief aufathmete und sich hoch emporrichtete, als ob er wieder Herr über sich selbst zu werden wünschte.

»Nun,« rief Larssen, den Moment benutzend, »wie haben sie Dir gefallen?«

»Wer?« fragte Friedrich, immer noch zerstreut.

»Die Mädchen!« entgegnete Larssen mit jener selbstgefälligen Vertraulichkeit, welche Friedrich schon im Saale so mißfällig gewesen war. »Ich denke, man kann zufrieden sein mit der Erziehung! Aber sie und die Alten erkennen es mir auch an. Du hast's ja gesehen, ich bin noch heute wie zu Hause unter ihnen! Ich kann mich gehen lassen, wie ich eben will.« Es lag etwas Wahres in dieser Behauptung Larssen's, und doch beneidete ihm Friedrich sein Verhältniß zu der Heidenbruck'schen Familie keinesweges. So wenig Welt- und Menschenkenntniß er besaß, fühlte er dennoch, daß die Freiheit, welche Jener sich nehmen durfte, die Zutraulichkeit, welche man ihm bewies, nicht auf das Gefühl der Gleichberechtigung begründet, sondern ein Zugeständniß für einen Menschen waren, für den man es unmöglich hielt, jemals eine volle Gleichberechtigung zu beanspruchen. Larssen war Friedrich begnadigt, nicht berechtigt erschienen neben seinen ehemaligen Schülerinnen, und er beklagte ihn deshalb in seinem Inneren, während Jener, vollkommen mit sich zufrieden, also fortfuhr:

»Es sind sonderbar geartete Naturen, diese Mädchen. Beide idealistisch, Beide dem Gewöhnlichen feind, Helene aus Liebebedürfniß, Cornelie aus Verstand und Herzensgüte. Helenens Phantasie trägt sie weit hinaus über die Beengung des conventionellen Lebens, in dem sie erwachsen ist. Sie glaubt an ein Ideal von Liebesglück und möchte dies erreichen, während Cornelie von Kindheit an sich skeptisch verhalten hat gegen Alles, was sie umgab, und von geläuterten Weltzuständen phantasirte, in denen es keine Noth und kein Elend geben sollte. Helene wollte immer einen Feenprinzen heirathen und überirdisch glücklich werden, Cornelie eine Fee sein und alle Armen glücklich machen. Ich habe viel Noth mit ihnen gehabt, bis ich sie zur Wirklichkeit gewöhnte.«

»Und ist Dir das gelungen?« fragte Friedrich mit reger Theilnahme.

»Allerdings! Es steckt zwar in Beiden noch die eigene Richtung, die ja dem Menschen angeboren ist wie sein Blut und seine Haut, aber sie haben gelernt sich in die Welt zu fügen und vom Leben keine Ideale zu verlangen. Es sind eben vernünftige Frauenzimmer geworden, und die kluge Mutter wird für sie auch die richtigen Lebenswege bahnen. Ich sehe das im Werden!«

Friedrich hätte fragen mögen, was Larssen werden sähe, da hatten sie aber die Wohnung des Letzteren erreicht und trennten sich für den Abend.


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