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Zusätze

1. Lärm und Webersches Gesetz.

Die Tatsache unserer Anpassung oder Gewöhnung an Schallreize der Umgebung verbirgt eine ganz eigentümliche Beziehung zum Weberschen Gesetz. Der Inhalt dieses Gesetzes ist der folgende: Wir sind nie für die absolute Grösse von Reizen empfänglich, vielmehr nur für den Unterschied eines uns gegenwärtigen Reizes gegen einen früheren. Damit daher Schallempfindungen zu doppelter Stärke anwachsen, müssen ihre äusseren Veranlassungen in weit rascherer Proportion, als der der einfachen Verdoppelung zunehmen! – – Das Wahrnehmen der Reize – (das ist nur eine andere Wendung des Weberschen Gesetzes) – entzieht somit dem objektiven Reize Wirkungsfähigkeit oder »Energie«. Im selben Masse als der Schallreiz bewusst gemacht und apperzipiert wird, stumpfen wir uns gegen die schädigende Wirkung seiner äusseren, objektiven Veranlassung ab. – Der eigentliche Kern dieses Gesetzes ist das, was ich »Gesetz der Entwirkung« benenne. (»Schopenhauer, Wagner, Nietzsche« S. 107-115. »Bühnenästhetik« S. 57-60. »Der Bruch Kants« § 22.) Für den Lärm aber wird nun die dauernde Abstumpfung des Menschen vermöge quantitativer Häufung von Geräuschwahrnehmungen dadurch bestätigt, dass wir bei Nacht unzählige Töne, Klänge und Klanggeräusche wahrnehmen, die während des Tages in dem beständigen dumpfen Lärme untergehen. Es handelt sich hier um eine normale Erschöpfung der Unterschiedswahrnehmung infolge der gehäuften Fülle unserer Wahrnehmungsobjekte. Man kann das als die normale »Abstumpfung aus Überreizung« bezeichnen.

 

2. Primäre und Verschmelzungsgeräusche.

Die Psychologie macht einen theoretischen Unterschied zwischen primären und Verschmelzungsgeräuschen, der für unsere Untersuchungen über den Lärm von grosser Wichtigkeit ist. Unter »primären Geräuschen« versteht man komplexe Geräuschempfindungen, die nicht in differente, einfache und regelmässige Schwingungsfolgen im Ohre zerlegt werden. Man nimmt an, dass bei Individuen, denen keine komplizierte Schneckenmembran gegeben ist, »solche Geräuschempfindungen vorkommen, aber man bezweifelt, ob der Mensch solche unzerlegte komplexe Geräuschempfindungen haben kann. Als »Verschmelzungsgeräusche« dagegen bezeichnet man akustische Gesamtvorgänge, die nicht in sich differenziert sind, sondern durch das Zusammentreffen, Sichdurchkreuzen und Sichstören differenter Tonempfindungsvorgänge entstehen. Die Verschmelzungsgeräusche sind also ungeordnete Erregungszustände des Gehörs. Dass nun aber überhaupt eine Verschmelzung aller auf uns einbindenden Töne im Bewusstsein stattfinden muss, erklärt man aus der »Enge des Bewusstseins«, d. h. aus der Unfähigkeit des Bewusstseins, vielerlei Inhalte gesondert nebeneinander zu gleicher Zeit bestehen zu lassen. Geschieht nun die Verschmelzung akustischer Elementarempfindungen mühelos, so entsteht der »Klang«. Ragt unter den Tönen einer an Stärke besonders heraus oder sind einzelne dabei, die zu einfachem Klang verschmelzen können, so entsteht das »Klanggeräusch«, ist dagegen die Verschmelzung eine blosse »Zusammenschüttung«, dann sprechen wir schlechthin von »Geräusch«, und eine Gleichzeitigkeit vieler Geräusche nennen wir »Lärm«. – Obwohl somit psychologisch die Lärmempfindung ein letztes Ergebnis vieler Wahrnehmungsvorgänge ist, nimmt man an, dass sie entwickelungsgeschichtlich das Erste sei und viel früher da war als die Empfindung von Klang und Einzelton. – Alle diese Tatsachen der Tonpsychologie sind freilich mit äusserstem Misstrauen aufzunehmen. Denn neben der Tendenz zur Verschmelzung gleichzeitiger Tonempfindungsinhalte steht (wenigstens unserer Selbstbeobachtung nach) die ganz spontane Tendenz, jedes komplexe akustische Gebilde zu zerlegen. Es ist eine sehr merkwürdige Selbsterfahrung, dass Geräusch und Lärm am quälendsten sind, wenn man keine Möglichkeit besitzt, ihre Komponenten zu unterscheiden und isoliert zu objektivieren. Indem ich Lärm höre, ertappe ich mich auf unbewussten »beruhigenden Orientierungen«. Zwangsweise automatisch wird jeder Lärm, wenn er überhaupt wahrgenommen wird, auch schon analysiert. »Das ist die Säge.« »Das da der Hund.« »Das ist die elektrische Bahn.« »Das sind Vorübergehende.« »Das ist Maschinengeräusch«. Sobald nun aber in den mich umbrandenden Tagesgeräuschen etwas Fremdartiges noch so leise auftritt, etwas, dessen Herkunft und Natur ich nicht begreife, so erleide ich eine sehr qualvolle Unterbrechung in meiner normalen Anpassung an den Umgebungslärm. – Die Geräusche in einer ungewohnten Umgebung sind nur darum quälend, weil man sie noch nicht analysiert hat.

 

3. Lärm und motorische Vorstellung.

Der Tatbestand, dass man die vorwiegende Empfänglichkeit für akustische Wahrnehmungen mit der Empfänglichkeit für motorische Wahrnehmungen stets vereint gefunden hat, besitzt tiefe Bedeutung. Hinter allem Lärm nämlich stehen direkte oder indirekte »Ausdrucksbewegungen«. Überall dort also, wo Verständigung und Einfühlung der Menschen vorwiegend durch körperliche Akte, Gesten und Symbole vermittelt wird, muss auch der Lärm besonders gross sein. Diese motorische Seite des Lebens aber ist vor allem bei Kindern und Naturvölkern noch vorwiegend. Damit hängt zusammen, dass auf primitiven Lebensstufen jede motorische Vorstellung in motorische Akte übergeht, jedes Vorstellen von Bewegung alsbald den Impuls zu Bewegungen nach sich zieht. Es fehlen hier noch die motorischen »Hemmungen«. Man lebt im Zustande allgemeiner, gegenseitiger, motorischer Mitahmung. Jeder will auf den anderen »Eindruck« machen; jeder für den anderen Autorität und »Vorlage« sein. – Es ist nur eine andere Umschreibung der selben Tatsache, wenn man sagt, dass der primitive Mensch ein »Spieler«, der kultivierte aber ein »Arbeiter« sei. Alles Lernen und Arbeiten auf primitiver Stufe ist spielende Mitahmung. Aber eben dieses allgemeine spielende Vergeuden des Lebens ist ungleich lauter und lärmender als jede ökonomisierte Arbeitskultur. Das Getöse unserer Werkzeuge, Apparate und Maschinen darf uns somit nicht darüber täuschen, dass der Lärm kein Signum von Arbeit ist, keine »notwendige Begleiterscheinung« unserer gebundenen, mechanisierten Lebenshaltung, sondern der primitive Ausdruck ernstlosen, willkürlichen und zufälligen Spiels.


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