Karl Lerbs
Der lachende Roland - 1. Band
Karl Lerbs

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– und noch einmal Stadt und Land,
etwas ausführlicher

Die Ahnfrau

In einer Bank, die in einer bremischen Kreisstadt behaglich, zuverlässig und ein wenig verschlafen die nicht sehr aufregenden Geschäfte ihrer ländlichen Kundschaft erledigte, erschien am ersten Tage eines jeden Monats eine alte Dame. Sie entstieg mühelos und ohne Hilfe einer riesigen Kutsche, die ein verschlissen aussehender, livrierter Schnauzbart auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Bankgebäude mit unnötig nachdrücklichem Zügeldruck zum Halten brachte, und durchquerte dröhnenden Schrittes den Schalterraum: bolzengerade, in derben Schuhen, umrauscht von einer Mantille aus starrer schwarzer Seide, im Bogen der unter dem Kapotthut kühn vorspringenden Nase, im scharfen Blick der blauen Augen, in den erzenen Falten des grauen Gesichts die bedrohlich gesammelte Tatkraft eines alten Generals. So trat sie an den Schalter, zielte mit dem aus schwarzem Halbhandschuh knochig vorschnellenden Zeigefinger auf den Kassierer, der ihr dienstwillig entgegensah, und fragte mit kräftiger Baßstimme: ob nun endlich ihr Geld angekommen wäre? Der Kassierer verwandelte sich dann regelmäßig mit schiefgeneigtem Kopfe, gehobenen Achseln und hilflos ausgespreizten Händen in ein Standbild des Bedauerns; worauf die alte Dame den Zeigefingerknöchel 134 mit hartem Prall auf das Zahlbrett schlug und den Mann ein paar Sekunden lang mit einem Blicke ansah, der die ernstliche Befürchtung weckte, daß ihren grimmig verkniffenen Lippen ein Kriegerfluch von männermordender Scheußlichkeit entfliehen könnte. Dann wandte sie sich stumm und schritt hinaus; und erst wenn draußen der livrierte Schnauzbart die dicken Gäule mit einem nun sehr nötigen nachdrücklichen Zügeldruck in Bewegung setzte, wagte sich im Gesicht des Kassierers das belustigte und ein wenig gerührte Lächeln hervor, das schon längst hinter der beflissenen Dienstwilligkeit gelauert hatte.

Nun begab es sich, daß in dem alten grauen Bankgebäude ein neuer Direktor zu wirken anhub, den die »Zentrale« aus der Großstadt entsandte, um mit seiner ehrgeizigen und wirkungsbedürftigen Person eine Lücke nutzverheißend auszufüllen. Es konnte nicht fehlen, daß er seine Entsendung als eine Sendung und diese als eine Verpflichtung zu strenger und schneidiger Rührigkeit auffaßte –: ein tragikomisches Beginnen, das von den alteingesessenen Bankleuten mit Erheiterung, Verständnis und gelassener Zuversicht beobachtet wurde. Als dieser unruhige Mann eines Tages tatendurstig den Schalterraum durchforschte, gewahrte er Auftreten, Gebaren und Abgang der seltsamen Kundin und nahm sich alsbald den Kassierer vor, um von ihm das Wer, Woher und Warum zu erfahren. Die Freude darüber, daß er für eine alte Geschichte einen neuen Hörer fand, begeisterte den alten Herrn zu einer Erzählung von ungewohnter Lebhaftigkeit.

135 Die Ahnfrau, sagte er – so würde sie überall genannt –, lebte als Großmutter oder Urgroßmutter oder weiß der Himmel vielleicht gar Ururgroßmutter im Hause einer nahewohnenden Gutsbesitzersfamilie, deren Geschäfte seit Generationen von der Bank betreut wurden. Sie hauste in einem Seitenflügel des weitläufigen alten Wohnhauses, einsam, nur bedient durch eine betagte Magd, voll harter und grimmiger Mißbilligung gegen alles, was rings um sie her sein neumodisches Wesen trieb. So war sie, von allen Bewohnern des Gutes in scheuer und doch verstohlen lächelnder Ehrerbietung gemieden, ein gespenstisches und zugleich unheimlich lebendiges Stück Vergangenheit, ein durch seltsame Fügung in die Gegenwart verpflanztes und ihr gänzlich entfremdetes und unzugängliches Dasein, straff und hart und von der einschüchternd herben Jovialität eines alten Feldherrn. In dem Maße aber, wie das Alter ihre Beziehungen zur Gegenwart lockerte, ihre Maßstäbe verschob und ihren Geist in eine wirre und wunderliche Abseitigkeit rückte, wuchs die gewaltige und schlagkräftige Überlegenheit ihres Wesens; so daß der Gutsbesitzer, ihr Enkel, ein vergnügter und fleißiger Mann, ihr ratlos, gutmütig und mit einer fast kindlichen Ehrfurcht den Lebensbezirk schuf, in dem sie, umgeben von alten Möbeln, Bildern, Büchern, Pferden und Hunden, ihr spukhaft seltsames und nach eigenen gegenwartsfernen Gesetzen geordnetes Leben entfalten konnte.

Eine Zigeunerin hatte ihr, so erzählte der Kassierer weiter, in ihrer Jugend geweissagt, daß sie einmal einen 136 großen Lotteriegewinn machen würde. Diese Prophezeiung war jetzt, in ihrem späten Alter, zu dem geworden, was man gemeinhin eine fixe Idee nennt, und hatte sich auf geheimnisvolle Art mit der Vorstellung verbunden, daß die Bank, die immer ihre Geschäfte erledigt hatte, für das Eintreffen dieses Geldes verantwortlich sei. Deshalb kam sie am Ersten eines jeden Monats an den Schalter; und es war ihr nie auch nur in den Sinn geraten, daß sie dem Schicksal billigerweise durch den Kauf eines Loses sozusagen entgegenkommen müsse. Irgendwer hatte sie einmal darauf hingewiesen; ein Zweiter, der es wagte, hatte sich nicht gefunden.

Der Direktor klimperte nachdenklich mit dem Gelde, das er nach liederlicher Großstädtersitte immer noch lose in der Hosentasche trug. Dann lächelte er. Und schließlich fischte er ein großes Silberstück heraus und reichte es dem Kassierer: »Ich glaube zwar nicht an so'nen Zimt, aber ich lasse mich gern belehren, und jedenfalls ist es Dienst am Kunden. Kaufen Sie ein Los, und nehmen Sie es für die alte Dame ins Depot.«

Als die Ahnfrau am Ersten des nächsten Monats durch den Schalterraum geschritten kam und auf den Kassierer ihre Frage abschoß, kam der alte Herr um die genießerisch vorgekostete Wirkung seiner Antwort, denn sie blieb ihm im Halse stecken. Er brachte nur eine zustimmende Verbeugung zustande und zählte mit zitternder Hand der alten Dame die zwanzig nagelneuen Tausendmarkscheine hin, die als Gewinn auf ihr Los gefallen waren. In der laut- und atemlosen Spannung, 137 die den Schalterraum füllte, hörte man jeden der Scheine schicksalhaft bedeutsam knistern. Neun Augenpaare saugten sich am ehernen Gesicht der Ahnfrau fest.

Nichts geschah. »Aha!« sagte die Ahnfrau mit grimmiger Befriedigung. »Na endlich!« Sie zählte die Scheine mit rasch blätterndem Daumen und fegte sie in den schwarzseidenen Pompadour, den sie zu diesem Zwecke mit geöffnetem Schlund an die Tischkante hielt, hieb mit harter Hand ihre stakige Unterschrift auf die Empfangsbestätigung – wandte sich und schritt hinaus. Der Kassierer, zwischen Verblüffung, Enttäuschung und Heiterkeit, suchte den Blick seines Direktors. Aber dieser weltgewandte Mann hatte bereits die Tür seines Zimmers hinter sich geschlossen, um seine Stellungnahme zu dem Ereignis vor unberufenen Augen zu schützen. Wir kennen sie nicht.

Dagegen wissen wir, daß die vielköpfige Familie des Gutsbesitzers, die gerade beim Mittagessen saß, in der jeweiligen Gebärde der Nahrungsaufnahme erstarrte, als die Ahnfrau zum ersten Male seit vielen Jahren das Eßzimmer betrat. Sie kam dröhnenden Schrittes an den Tisch, leuchtenden Triumph in den erzenen Falten des grauen Gesichts, und der blanke Blick ihrer blauen Augen fuhr spöttisch über die regungslose Familie hin.

»Mal herhören!« sagte die Ahnfrau und stieß den Zeigefingerknöchel mit hartem Prall auf die Tischplatte. »Natürlich habt ihr immer heimlich über mich gegrinst. Für verschroben und abergläubisch habt ihr mich gehalten. Keine Ehrfurcht und keinen Glauben habt ihr. 138 Respektlose Bande! Aber ich habe natürlich recht behalten! Da!«

Ihre knochige Hand knallte die Scheine verächtlich auf den Tisch. Elf in fassungslosem Staunen vorquellende Augenpaare waren auf das Geld gerichtet. Dann hielt die Ahnfrau ihren schwarzseidenen Pompadour mit geöffnetem Schlund an die Tischkante, fegte die Scheine hinein, schloß ihn mit knirschendem Ruck an der Zugschnur – wandte sich und schritt hinaus. Mit einem groben Knall, der wie ein siegverkündender Kanonenschuß durchs Haus dröhnte, fiel die Tür endgültig hinter ihr ins Schloß. 139

 

Die Glückssträhne

Mein Großvater, hochgewachsen, schlank, weißbärtig, von dem gemessenen Gehaben und der besonnen unerschütterlichen Kühle des alteingesessenen hanseatischen Großkaufmanns, erlebte es, daß ihm das Glück einen Streich von seltsam durchdachter und erklügelter Bosheit spielte.

Er besaß in einer der ältesten Straßen der alten Stadt ein nicht großes, aber auf gesicherter Grundlage ruhig und stetig arbeitendes Geschäft und hielt sich von allem, was nach der neuen Mode halsbrecherischer Börsenkunststücke in fiebrig erregten Stunden um Vermögen spielte, sorgsam und grundsätzlich fern. Als er nun eines Abends ziemlich spät noch in seinem Kontor beim gelblichen Schein der surrenden Gaslampe nach einem hartnäckigen Buchungsfehler suchte, erschien ein stiernackiger und kurzatmiger Mann, angelockt durch die mächtige Front des hohen Giebelhauses, und wollte in aller Geschwindigkeit noch ein paar Lose für irgendeine landwirtschaftliche Ausstellung in einer benachbarten Stadt verkaufen. Seine atem- und hemmungslose Geschwätzigkeit begann sich bald unter dem unbarmherzigen Blick der blauen Augen seines schweigsamen Gegenübers zu verhaspeln und zu verheddern. Mein Großvater aber, ungeduldig, wollte dem Gesprudel anpreisender Worte ein 140 rasches Ende machen und tat, was er zu anderen Zeiten wohl nicht getan haben würde. So kam es, daß sich der Dicke, erleichtert schnaufend und erlöst schwitzend, mit dankenden Bücklingen empfehlen konnte; indessen mein Großvater zwei Lose für je einen Taler in seinen Geldschrank verschloß – um alsbald über der Suche nach besagtem Fehler und anderen, wichtigeren Dingen diese unsicheren Unterpfänder des Glückes gänzlich zu vergessen.

Dennoch waren sie das Mittel, mit dem das Schicksal meinem Großvater klarzumachen gedachte, daß es bei Anwandlungen spaßhafter Laune auch einen hanseatischen Großkaufmann unter Umständen nicht verschont. Es kam nämlich eines guten Tages, als der alte Herr sich eben über die »ständig rückgängige Tendenz« des Neuyorker Warenkurszettels ärgerte, durch den Fernsprecher die Nachricht, daß auf den Namen meines Großvaters bei der Auslosung ein beträchtlicher, persönlich abzuholender Gewinn gefallen sei, ohne daß der Draht – dessen bekannte Neigung zur bewußten Tücke damals noch nicht in technische Fesseln geschlagen war – zur Preisgabe näherer Umstände zu bewegen gewesen wäre. Mein Großvater, nun doch in leiser Spannung, wenn er sie sich auch äußerlich nicht anmerken ließ, entsann sich, daß er in jener benachbarten Stadt sowieso ein Geschäft zu erledigen habe, und fand so willkommenen Vorwand, der etwas konfusen Mitteilung näher auf den Grund zu gehen. Denn er war gewohnt, etwas zu verdienen oder etwas zu verlieren, aber mit »Gewinnen« hatte er sich nie abgegeben. Das hatte 141 verdächtige Ähnlichkeit mit jener unsoliden Erfindung, die der Kaufmann »Luftgeschäfte« nennt.

An Ort und Stelle nahm ihn der uns schon bekannte dicke Mann mit vielen Bücklingen, die eine unbehagliche Verlegenheit nur schlecht verbargen, in Empfang und führte ihn durch ein Gewirr von Menschen und Maschinen landwirtschaftlichen Gepräges bis zu der Stelle, wo jener geheimnisvolle Gewinn sich befand. Mein Großvater, gemessen, im schwarzen Rock, den spiegelblanken Seidenhut auf den gepflegten weißen Locken, hob den Blick und sah sich einem gewaltigen Zuchtbullen gegenüber, der furchtbar mit einer armdicken Kette rasselte. Der alte Herr, stumm, nahm das Ereignis mit würdiger Fassung hin; es gab eine längere Betrachtung, die von dem Bullen ebenso eingehend erwidert wurde, ohne daß bei dem beiderseitigen Mangel an Sachkenntnis die Angelegenheit dadurch wesentlich gefördert worden wäre. Der dicke Mann, durch den störungsfreien Verlauf der Begegnung ermutigt, machte meinen Großvater darauf aufmerksam, daß er diesen für ihn wohl nicht unmittelbar verwendbaren (der alte Herr nickte ernst) Gewinn nachher auf einer Versteigerung werde veräußern können: wobei er, um den Erlös angemessen zu gestalten, zum fleißigen Mitbieten ergebenst zu raten sich erlauben wolle.

So kam es, daß mein Großvater zwei Stunden später in einem Kreise mißtrauischer Bauern stand und gelangweilt wartete, bis nach einer endlosen und zäh umkämpften Folge von Pflügen, Schweinen, Dreschmaschinen und sonstigem das gehörnte Untier an die 142 Reihe kam. Als dann endlich die Schlacht einsetzte, schloß mein Großvater aus den unerhört niedrigen Anfangsgeboten, daß man seine Unerfahrenheit ausnutzen wollte; in seinem Bestreben, den wortkarg spuckenden Bauern als wohlerfahrener Kaufmann gründlich heimzuleuchten, geriet er tatsächlich ins Mitbieten und darüber schließlich in Eifer. Die Bauern aber, längst schon argwöhnisch, warfen einander bedeutungsvolle Blicke zu und klemmten plötzlich samt und sonders ihre Kalkbrösel zwischen endgültig geschlossene Zahngehege; und mein Großvater, der sich zu weit vorgewagt hatte, erhielt inmitten beifälligen Gebrummels den Zuschlag.

Nach dieser Wandlung der Dinge begab er sich, steil aufgerichtet, mit erloschener Zigarre, von allen Wissenden sorgsam gemieden, in die auf dem Ausstellungsgelände gelegene Wirtschaft, um bei einer Flasche Wein still mit sich zu Rate zu gehen, wie er diesen heimtückisch geführten Schlag finsterer Mächte zweckmäßig parieren könne. So saß er, mit unheilverkündenden Brauen, zuweilen bei einem fernen Brüllen seines Eigentums nervös zusammenzuckend; und es entging ihm ganz, daß der vom Schicksal schon mehrfach benutzte kurzatmige Mann geraume Zeit gleich einem dicken, schuldbewußten Kater in weiten Kreisen den Tisch umstrich, ohne daß er das dräuende Schweigen des alten Herrn zu stören wagte: Bis mein Großvater, endlich aufblickend, in achtungsvoller Entfernung eine andächtige Versammlung von Bauern stehen sah und schließlich des scheuen Getues hinter seinem ehrfurchtgebietenden Rücken inne ward. Auf seine gereizte Frage erhielt er 143 endlich von dem Unglücklichen die von vielem Stottern und angstvollen Atempausen unterbrochene Erklärung: Es sei leider Gottes ein böser Irrtum passiert, und man habe dem alten Herrn unverantwortlicherweise vorhin einen falschen Bullen gezeigt. Es blieb meinem Großvater nichts übrig, als aus dem Gestammel des nach vollbrachter Mitteilung geflohenen Unheilkünders den Schluß zu ziehen, daß er sich nunmehr als glücklichen Besitzer von zwei Zuchtbullen ansprechen dürfe; bei welcher Feststellung er durch lebhafte Kundgebungen jener Bauerngruppe gleichzeitig einen unanfechtbaren Beweis rasch erlangter Volkstümlichkeit empfing.

Dies war die Stelle, wo mein Großvater die Erzählung der Vorgänge regelmäßig abbrach, um sich einer stummen Betrachtung über die Hinterlist des Glückes hinzugeben, das seinem Leben immer mit jähen Wechselfällen ferngeblieben war, um ihm, dem Ahnungslosen, eines Tages mit einem so boshaften Streich jede Lust zu weiteren Proben auf das unsichere Exempel zu nehmen. Es war schwer, sich vorzustellen, daß er den Schauplatz der Begebenheit anders als mit siegreich wiederhergestellter Würde verlassen haben sollte; aber selbst das leise Lächeln um seinen ernsten Mund vermochte keinem seiner Zuhörer den Mut zu geben, die Frage nach dem endlichen Ausgang dieser Geschichte zu wagen. 144

 

Der lautere Wettbewerb

Ein altes Ehepaar in einer niedersächsischen Kleinstadt mußte es in den grausam närrischen Jahren nach dem Kriege erleben, daß sein in einem langen Dasein mühevoll zusammengerackertes und erspartes Vermögen unaufhaltsam in lauter Nullen zerrann, während sein nicht unerheblicher Besitz an Häusern und Ländereien durch den zunehmenden körperlichen Verfall der beiden, durch die lastenden Steuern und den Mangel an Barem bald zu einem fragwürdigen Vorteil, ja zu einer Last wurde. Die alten Leute, die ihren einzigen Sohn im Kriege verloren hatten und seitdem vereinsamt waren, widersetzten sich zäh und ängstlich jedem Versuche, sie zum Verkauf ihres Eigentums zu bewegen, und schienen so von wirklicher Not bald nicht mehr weit entfernt. Da nun nahm der Pfarrer ihrer Gemeinde, ein beweglicher, verständnisvoller Mann voll herzhafter Güte, sich der Sache an, sprach mit entfernten Verwandten des Ehepaares und brachte alsbald unter seinem Vorsitz eine Art von Familienrat zusammen, in dem es seiner herzaufrüttelnden Beredsamkeit gelang, eine brauchbare Lösung durchzusetzen. Verwandte des alten Herrn, die auf einem nahen Landgute lebten, erklärten sich bereit, ihn zu sich zu nehmen; 145 worauf sich die in der Stadt wohnenden Verwandten der Frau hochherzig erboten, an dieser das gleiche Liebeswerk zu üben. Die alten Leute, die sich wohl alles auf dieser Welt Sagenswerte gesagt hatten und der ewigen Wiedervereinigung mit heiterer Gelassenheit entgegenpilgerten, trennten sich wider Erwarten leicht, so daß alles aufs beste geregelt schien.

Als der Pfarrer bald darauf die alte Frau in ihrem neuen Heim besuchte, sah er, daß man sie mit rührender Sorgfalt umhegte. Man litt es nicht, daß sie für sich und andere auch nur eine Hand rührte; man kochte ihre Lieblingsspeisen und gab ihr stärkenden Wein; man sah ihr jeden Wunsch von den Augen ab; man rückte ihren Stuhl an den schönsten Platz in der Sonne, stopfte ihr Kissen in den Rücken und wies jeden Dank bescheiden von sich. Der Pfarrer, voll herzlicher Freude, begab sich eilends zu den Verwandten des Mannes, um diesem die gute Kunde zu bringen, und fand auch hier seinen Plan herrlich gelungen. Man fütterte den alten Herrn mit den besten Dingen des Hauses und gab ihm stärkenden Wein; er brauchte nur zu niesen, so holte man den Doktor herbei; man besorgte ihm gute Zigarren und stopfte seine Pfeife mit friedensmäßig duftendem Knaster; man umhüllte ihn mit einem prächtigen Schlafrock und bekleidete seine gichtischen Füße mit bestickten Pantoffeln von ausschweifender Farbigkeit. Und man wies jeden Dank bescheiden von sich.

Nun geschah es aber, daß der alte Herr, als er mit dem Pfarrer allein gelassen war, diesem eine 146 Enthüllung machte, die das ganze Ding in ein seltsam verändertes Licht rückte. Die alten Leute hatten nämlich mit Wissen der beiderseitigen Verwandten ein gleichlautendes Testament gemacht, worin bestimmt war, daß der überlebende Teil den ihm vorangegangenen ausschließlich beerben sollte, während später der gesamte Besitz den Verwandten des überlebenden Teils zufiel. Der Pfarrer, nachdenklich heimwandernd, mußte ernüchtert erkennen, daß sich das Ehepaar mit großer Umsicht auf Lebenszeit versichert hatte, während die scheinbare Uneigennützigkeit der Verwandten auf beiden Seiten nur ein stummer, aber erbitterter Kampf und Wettbewerb darum war, wem es glücken werde, seinen Schützling am längsten lebendig zu erhalten und zum Erbträger zu machen. Es wollte dem geistlichen Herrn nicht gelingen, Klarheit darüber zu gewinnen, ob hier die scheinbar lobenswerten Mittel durch den selbstsüchtigen Zweck entheiligt würden, oder ob man versöhnlich annehmen dürfe, daß die guten Mittel gewissermaßen den verwerflichen Zweck heiligten. Und schließlich ist das auch wohl eine Preisfrage für Moralphilosophen.

Dies ging so hin, bis eines Tages der alte Herr ein paar Züge aus der Zigarre tat und diese gelassen lächelnd aus der Hand legte; worauf er mit einem Laut, der halb ein Kichern, halb ein Seufzer war, aus seinem Polsterstuhl geradenwegs in die Ewigkeit marschierte. Bei dem Begräbnis hielt der Pfarrer eine Rede, als wüßte er von nichts Ungutem und vermöchte in der Angelegenheit nur Gutes und Schönes zu sehen. Die 147 Verwandten des Verstorbenen steiften sich zu der Haltung von Leuten, die zeitlebens für Liebe und Güte nur Undank und Unheil geerntet haben, aber sich durch ihre eigene Vortrefflichkeit hinlänglich belohnt wissen und der Vergeltung durch einen höheren Richter gewiß sind; die Verwandten der Frau standen da in der bescheidenen Haltung von Leuten, die eine wohlverdiente Belohnung empfangen haben, aber weit entfernt sind, sich dadurch stolz und übermütig machen zu lassen; die alte Frau aber, auf hilfreiche Arme gestützt, lächelte still, gefaßt und weise.

Nachdem die Eröffnung des Testaments das erwartete Ergebnis gebracht hatte, unternahm die alte Frau eines Tages allein einen Spaziergang, trank, zurückkehrend, ein Gläschen Portwein, schüttelte sich hierauf ein wenig wie in leichtem Frost, nickte wie zur abschließenden Bestätigung einer Gedankenfolge und war dem Irdischen entrückt. Beim Begräbnis hielt der Pfarrer mit etwas anderen Worten dieselbe Rede wie beim vorigen Anlaß. Die Verwandten des Mannes zeigten die würdige Haltung von Leuten, die wissen, was Takt und Herzensbildung gebieten; und die Verwandten der Frau traten so ernst und bescheiden auf, daß man ihnen wohl anmerkte, wie demütig und ohne alle unchristliche Hoffart sie ihr Glück tragen wollten.

Der Pfarrer wohnte auf ausdrücklichen Wunsch des mit der Aufbewahrung des letzten Willens betrauten Notars der Testamentseröffnung bei. Diese nun ergab, daß die alte Frau auf jenem ihrem letzten Wege den Justizrat aufgesucht und in aller Stille das ganze 148 Testament umgestoßen hatte. Statt dessen lag ein neues vor, wonach den beiderseitigen Verwandten in Anerkennung ihrer treuen Fürsorge einiger alter Hausrat zufiel. Die Häuser und die gesamten Liegenschaften aber wurden einer milden Stiftung vermacht mit der ausdrücklichen Klausel, daß der Pfarrer sie verwalten und sobald wie möglich zu Heimen für mittellose alte Leute umgestalten sollte. Nach der Verlesung des Dokuments verließen die Verwandten der Frau das Zimmer mit der Eile von Leuten, die sich außerstande fühlen, die Situation länger in anständiger Verfassung zu ertragen; die Verwandten des Mannes beglückwünschten den Pfarrer mit der aufrichtigen Herzlichkeit von Leuten, die der höheren Gerechtigkeit gefestigten Sinnes ihren Lauf zu lassen gesonnen sind, auch wenn es dabei scheinbar zu ihrem Nachteil zugeht; der Pfarrer aber, nachdenklich vor sich hinblickend, entsann sich jenes sonderbaren Lächelns, das er bei den alten Leuten zu gewissen Stunden gesehen hatte. Und er merkte gar nicht, daß er, über die Zusammenhänge nachsinnend, allmählich auf eine ganz ähnliche Art zu lächeln begann.

 


 


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