Karl Lerbs
Der lachende Roland - 1. Band
Karl Lerbs

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Der Bremer

besitzt ein Einfamilienhaus mit einem wohlgeordneten blumenbunten Ziergarten davor und einem ertragreichen Obstgarten, dessen Ernte in Weckgläsern eingemacht wird, dahinter. Er hat eine ausgeprägte Freude an Erwerb und Besitz und liebt es nicht, sich den Genuß dieser Güter durch die berechtigten Lebensäußerungen allzu nahe gerückter Mitmenschen stören zu lassen. Infolgedessen hat er seine Stadt auf eine erstaunlich große Grundfläche gebaut und sie mit wunderschönen, das Auge erfreuenden und die Gesundheit fördernden Grünanlagen durchflochten und umgeben. Platz genug hat er dazu. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb– fügt diese Vielheit von Einzelwesen sich zu einem Gemeinwesen von großartiger, auf dieser Welt seltener Einhelligkeit.

Der Bremer haftet an und in seiner Stadt mit einer leidenschaftlichen, unwandelbaren, seßhaften Liebe. Das hindert ihn indessen nicht, sich plötzlich nach irgendeinem entlegenen Weltteil aufzumachen und sich dort nachdrücklich als Kolonisator zu betätigen. Darin liegt durchaus kein Widerspruch. Denn:

Der Bremer trägt im Blut das ewige Erbteil jener 6 aus ihren überschwemmten Höfen vertriebenen Bauern, die sich in grauer Vorzeit auf der dürren Weserdüne festgesetzt, ein Fischerdorf, eine Stadt, eine machtvolle Gebieterin der Hanse, einen Welthafen, eine Großstadt geschaffen und das alles trotz Fehden, Krieg, Pestilenz und Wechselgunst der Zeiten behauptet, verankert und ausgeweitet haben. Der Bremer hat es niemals leicht gehabt; er mußte der Erde und dem Wasser in verbissener Arbeit abtrotzen, was die große hanseatische Schwester an der Elbe von der Natur sozusagen als Patengeschenk erhielt. Deshalb kennt er seine Kräfte genau. Die Mahnung seines Wahlspruchs, »bedächtig« zu sein und nicht Unmögliches zu wagen, verschwistert sich sinnvoll mit dem stolzen »Buten un binnen – wagen un winnen«; der mit klarem Wirklichkeitssinn im heimischen Boden Verwurzelte, dessen Tun aus einem Kraftmittelpunkt wirkt und immer irgendwie zu ihm zurückfließt, ist der dauerhafteste Welteroberer und der verläßlichste Pionier.

Der Bremer ist noch niemals auf den Gedanken gekommen, daß es eine andere als eine gute Fee gewesen sein könnte, die seiner Stadt bei ihrer Geburt den kargen Anfang und den harten Durchsetzungskampf als Lebensschicksal schenkte. Gab sie ihm doch zur Begrenzung zugleich den Blick und Drang in die Weite der Welt. Er liebt Schwierigkeiten. Und wenn er sie bezwungen hat, belohnt er sich umsichtig und großzügig mit wahrhaft guten Dingen: denn er ist den greif- und schmeckbaren Freuden dieser Erde kennerhaft zugetan. Aber Maßlosigkeit ist ihm zuwider.

7 Der Bremer behält in jeder fremden Umgebung seine Prägung, seine Erscheinung, seine Sprache. Wenn er sich vielleicht auch nicht absondert, so geht er doch nicht in fremdem Wesen auf. Hat er etwas erreicht, so darf man mit seiner Heimkehr rechnen. Dann besitzt er ein Einfamilienhaus – siehe oben.

Der Bremer redet nicht gern über sich selbst und wird deshalb oft mißverstanden. Das kann er aushalten, und er sagt nichts dawider. Man nennt ihn »steif« – aber er ist nur zurückhaltend und wartet ab, ob es sich verlohnt, daß er sich aufschließt. Man nennt ihn »schwerfällig« oder gar »rückständig« und »hochnasig« – aber er hält nur – und mit immerhin erweislichem Recht – an dem Glauben fest, daß das verantwortungsbewußte Bauen auf bewährtem Erfahrungsgrund besser sei als übereilte Neuerungsanbetung und flinkes Rechnen mit unbewiesenen Größen. Deshalb ist er ein wagemutiger Rechner, aber er war niemals ein »Spekulant«. Hat er aber einmal eine Sache oder eine Idee oder noch besser beides zusammen wahrhaft gepackt, so wird man an ihm sein blaues Wunder erleben. Man nennt ihn »materiell« – und ist höflichst eingeladen, sich davon zu überzeugen, daß er sich in gelehrten und musischen Dingen jeder Art eine anspruchsvolle und lebendige Eigenkultur geschaffen hat.

Der Bremer soll – sagt man – auch eine Anzahl unguter Eigenschaften besitzen. Das ist möglich; sie gehen dann aus einer allzu kräftigen Entwicklung und übertrieben gründlichen Anwendung seiner guten hervor. Dem Verfasser sind sie bekannt; daß er sie hier 8 aufzählt, wird man billigerweise nicht verlangen, da es dem Leser natürlich längst klargeworden ist, daß dieser naturkundliche Abriß stellenweise einen durchaus defensiven Charakter trägt. Wer es versteht, sich den Bremer menschlich zu gewinnen, der hat an ihm einen niemals wankelmütigen, immer weitherzigen, ehrlichen und fortschrittlichen Freund, dem es durchaus einerlei ist, ob der Weg durch Dick oder durch Dünn geht.

Der Bremer redet ein herrliches Plattdeutsch und, wenn man ihn reizt, ein vorbildliches Hochdeutsch. Aber er hat noch eine dritte Sprache, die zwischen diesen beiden ein gesundes Eigenleben führt: das Bremische, das gemütliche und mundgerechte Idiom der »Tågenbåren«. In ihm sind, zum Nutzen allgemeiner Verständlichkeit und mit dem Bemühen um lauttreue Wiedergabe, die Anekdoten dieses Buches erzählt. Das bremische Wesen offenbart sich in diesen Geschichten – diese Begrenzung sei ausdrücklich betont – nur in seiner heiteren Hälfte: in seinem wortkargen, deftigen, vernünftigen, helläugigen Humor. Mag er freiwillig oder unfreiwillig, bedachtsam oder derb, naiv oder bewußt, herausfordernd oder voll behaglicher Selbstironie sein: immer ist er zu unverkennbarer und aufschlußreicher Eigenart geprägt.

*

Der Nichtbremer wird, wenn er den Riesen Roland vorm Rathaus betrachtet, entdecken, daß hinter dem kühlen, klaren, gesammelten Ernst des gelassen in die Ferne blickenden Antlitzes ein stummes, gutes und weises Lächeln aus einer erkenntnisvollen Tiefe 9 heraufglänzt. Er wird sich dann gewiß vorstellen können, daß der steinerne Ritter auch lachen kann: ein volltönendes, herzhaftes, mitreißendes Lachen, wie es oft aus den weinduftenden Tiefen des alten Rathskellers herauftönt; ein Lachen, das die mannigfachen »gesetzten« und lustigen, nüchternen und behaglich angeregten Geschöpfe zu seinen Füßen, ihr emsiges Treiben und ihr allezeit urbremisches Gehaben mit väterlich verständnisvoller Liebe umschließt. Daraus leitet dieses Buch das Recht her, sich »Der lachende Roland« zu nennen.

Karl Lerbs

*

Vorbemerkung für besonders aufmerksame Leser:

Die in den Anekdoten geschilderten Gestalten tragen, soweit sie nicht vor lauter Berühmtheit in Nachschlagewerken stehen, erfundene Namen. Wenn diese Namen, die ihres guten heimatlichen Klanges wegen gewählt sind, irgendwo in der Wirklichkeit vorkommen, so stehen sie zu den erzählten Vorgängen in keiner Beziehung. Es ist daher zwecklos, an den Verfasser Anfragen zu richten, die der Sippenforschung oder der Vervollständigung von Ahnentafeln dienen sollen.

 


 

Von großen und kleinen Bürgern
sowie von Onkeln und Tanten

Olbers

Der große Astronom Heinrich Olbers hatte ein zwiefaches Los gezogen: Sein forschend durch die Himmelsräume schweifender Geist erwarb sich unvergänglichen Ruhm; und seine den Menschen bekannte bürgerliche Erscheinung tat in Bremen als Arzt ehrlich und derb ihr Tagewerk. Dieser letztere, der irdische, Olbers irrte (so erzählte meinem Großvater ein Gewährsmann) eines Abends rastlos wie jener von ihm entdeckte Komet durch die bremischen Wallanlagen und erwog in heftigem Selbstgespräch das Schicksal eines schwierigen Patienten.

»Wat fang ick nu mit den Keerel an?« fragte er. Dann, in einer weitgeschwungenen Kurve plötzlich stockend, mit jähem Entschluß: »Ach wat! Ick will em man eerst mål rentlich wat to – –Zwei Silben vom Verleger gestrichen. Der Verfasser. ingeben, denn so schall't woll rutkåmen!« Und nach zehn weitern Schritten, mit abschließender Bekräftigung: »Jå! To – –Zwei Silben vom Verleger gestrichen. Der Verfasser. mutt de Keerel wat inkriegen!«

Und der irdische Olbers begab sich zur Vorbereitung des Notwendigen festen Schrittes in die Gelehrtenklause, die er als Wohnung brüderlich mit dem himmlischen teilte. 14

 

Richter Smidt

Richter Smidt, der Weltweise, der sehr Bremische, der seit mehr als einem Säkulum Lebendige und in der bremischen Anekdote Unsterbliche, wandelte einmal durch die damals noch stillen Straßen zum Gerichtsgebäude: als ihm eine Schar jener schlichtbehosten Männer auffiel, die mit Ernst und Sachkenntnis die seit der Erschaffung Bremens unerläßliche, mit der gleichen Pünktlichkeit wie die Stinte, Lachse und Aale alljährlich wiederkehrende lenzliche Straßenbuddelei veranstalteten.

»Was macht ihr da?« fragte Richter Smidt.

Der Vorarbeiter nahm Haltung an.

»Herr Richter«, sagte er, »wir machen en Kanal.«

Am Mittag, als Smidt nach seiner salomonischen Arbeit heimwärts ging, fand er die schlichtbehosten Männer damit beschäftigt, das verursachte große Loch wieder zuzuwerfen.

»Was macht ihr denn nu?« fragte er. »Ich denke, ihr macht en Kanal?«

Der Vorarbeiter nahm Haltung an.

»Herr Richter«, sagte er, »da war all einer.«

*

»Sind Sie«, fragte Richter Smidt pflichtgemäß einen Prozeßzeugen, »mit dem Angeklagten verwandt oder verschwägert?«

»Wie kann ich das denn woll wissen?« fragte der Zeuge dagegen. »Mich haben se dscha doch anner Weser gefunden.« 15

 

Fitger

Vor vier Jahrzehnten hatte ein junger bremischer Dichter ein durchaus revolutionäres Drama in drei Akten geschrieben. Er besaß natürlich genug Selbstvertrauen, um es für genial zu halten, aber auch wiederum nicht genug, um auf das Urteil eines anerkannten und berühmten Fachmannes verzichten zu können.

Infolgedessen sandte er sein Werk an Arthur Fitger, den Maler und Dichter, den bremischen Romantiker der Jahrhundertwende. Und zwar war er bestrebt, sich von der Schar der Mitbewerber – Fitger war »stark gefragt« – durch Besonderheit abzuheben: Er schickte an einem Sonntag den ersten Akt, am Montag den zweiten, am Dienstag den dritten. Durch Boten; und ohne jegliches Begleitschreiben.

Der Mittwoch verlief ohne besondere Ereignisse.

Am Donnerstag erhielt er von Fitger den ersten Akt zurück; am Freitag den zweiten; am Sonnabend den dritten. Durch Boten; und ohne jegliches Begleitschreiben. 16

 

Heymel

Als Alfred Walter Heymel nach einer seiner rastlosen und romantisch-weltmännischen Irrfahrten, damals schon ein kranker Mann, einmal wieder zu kurzem Besuch in Bremen einkehrte, fand er sich bereit, eine Abendgesellschaft zu besuchen. Hier nun kam ein gewichtiger Baumwollimporteur reiferen Alters mit freundlich schräggeneigtem Kopfe auf ihn zu und redete ihn ohne Überleitung und sonstige Begrüßung an wie folgt:

»Herr Heymel, is das wahr, Sie sollen dscha wohl Tubeerkeln haben –?« 17

 

Sage vom Wacholder

Als Friedrich Karl Freiheer von Tettenborn, im damaligen Abschnitt seines abenteuerlichen Lebens russischer General, aus der Stadt Bremen im Oktober 1813 die Franzosen vertrieben hatte, kampierte eine Schwadron Kosaken auf dem Neustadtsmarkt. Die Überlieferung berichtet, die Gäste hätten rüstig und rasch alle im Umkreise befindlichen Schenken und Gasthäuser leergetrunken; und wer das in Bremen übliche Oktoberwetter kennt, wird sich nicht darüber wundern, daß sie das Bedürfnis hatten, der kältenden äußeren Feuchtigkeit die wärmende innere entgegenzusetzen. Als aber in den Schenken nichts mehr zu holen war, gerieten sie, durch ein Schild irregeleitet, an die Apotheke. Und hier beginnt die Sage.

Der Apotheker, ein friedlicher Mann, gab, was er hatte: Wacholder. Aber die Russen kamen wieder und verlangten mehr und Stärkeres. Der Apotheker würzte den Wacholder ohne Rücksicht auf Neben- und Nachwirkungen mit heftigen Drogen. Die Russen kamen wieder und verlangten Stärkeres. Und man darf vermuten, daß sie es durchaus unsanft verlangten. Da nahm der Apotheker in Wut und Verzweiflung die Vitriolflasche, tat einen ordentlichen Schuß in den Wacholder, sprach einen bösen Fluch und ein inniges 18 Stoßgebet und setzte sich hinter seinen Tresen, um mannhaft das Ende zu erwarten.

Die Russen kamen wieder, packten den Apotheker, küßten ihn schmatzend auf beide Backen, hoben ihn brüllend auf die Schultern, nannten ihn »Väterchen.« und »Brüderchen« und schworen bei der Mutter Gottes von Kasan: Das wäre in Deutschland der erste anständige Schnaps gewesen, und bei der Sorte wollten sie nun aber auch bleiben. 19

 

Kleine Dialektproben

»'chott nee, was 'n auch ümmer alles so belebt!« sagte Minna Knake. »Sitz ich gestern abend in mein Zimmer un lutsch saure Bontschen, die hol ich dschetz dscha ümmer bei Crüsemeyer, früher ging ich dscha zu Meyerdierks, aber da kann ich dscha nich ümmer um zu laufen, das is mich zu um. No, mit einmal, da pingelt das. Ich verdschag mich dscha eers, denn das konnte dscha 'n Telegramm sein, un da hab ich nix mit in 'n Sinn, da steht dscha meist was Übles in. No, ich geh bei un mach auf – was meinen Se? Steht da so 'n lüttschen Bötel. So 'n richtigen kleinen Schietbüdel. Un wissen Se, was er sagt? ›'tschuldigen Se‹, sagt er, ›ob Sie woll so freundlich wären un meinen kleinen Hund nich gesehen hätten?‹«

*

»An'n Tage«, sagte die alte Dame in der Straßenbahn, »da hat'n denn dscha ümmer genug rumzupüstern; da kömmt denn dscha auch ümmer mal wer, oder man geht mal zu wen. Aber abends, da is es denn dscha manchmal so'n büschen einsam. Und ümmer, wenn'n das mal so merkt, denn kömmt dscha keinein. Aber denn hab ich dscha meinen Radio; den stell' ich denn dscha ümmer an. Manchmal schlaf' ich'r denn dscha über ein; aber morgens, denn is'r denn dscha wieder was in.« 20

 

Der Sinnspruch

In einem prachtvollen alten Giebelhause, das seit wechselvollen Jahrhunderten den bremischen Marktplatz schmückt, betrieben dereinst zwei Apotheker, Vater und Sohn, friedlich und gemeinsam ihr heilkräftiges Gewerbe. Nun befand sich im Giebelfelde des Hauses eine Sonnenuhr, deren zur Nachdenklichkeit stimmendes Vorhandensein zur Anbringung eines tiefsinnigen und lebensweisen Spruches dringlich aufzufordern schien.

Die beiden Apotheker, nachdenkliche und betrachtsame, aber arglose Köpfe, erwogen den Fall; und sie fanden, was sie suchten.

Nicht lange danach sah man die Zeitkünderin der Apotheke mit dem in Goldbuchstaben leuchtenden Spruch geziert:

»Wie dem Zeiger der Schatten, so folgt der Tod unseren Schritten.« 21

 

Wohltätigkeit

Aus lauter Eulenspiegeln bestand die heitere und liederliche Zunft der Zigarrenmacher, die einstmals in Hemelingen bei Bremen ansässig waren und sämtlich Meyer hießen: so daß der Arm der Gerechtigkeit bei ihren Streichen nie den »Richtigen« erwischen konnte. Richter Smidt, der bremische Salomo des neunzehnten Jahrhunderts, pflegte daher jeden von ihnen, der in irgendwelcher Eigenschaft vor Gericht erschien, vor jeder weiteren Verhandlung mit dem Verdikt »Dree Dåge!« zu begrüßen. Verdient hatte der Delinquent es immer.

Drei Zigarrenmacher, als »Deputatschon« feierlich mit gepumpten Bratenröcken und struppigen Angströhren angetan, erschienen vor dem für Kunstangelegenheiten zuständigen Senator.

»Herr Senoter«, sagte der Sprecher, »weil daß wir dscha so schön singen können – ob Sie wohl so freundlich wären und uns erlauben täten, daß wir ein Wohltätigkeitskonzert für die Abgebrannten geben?«

»Lobenswert«, sagte der »Senoter«. »Sehr lobenswert. Aber wer sind denn die Abgebrannten?«

»Herr Senoter«, sagte der Sprecher treuherzig und glaubwürdig, »die Abgebrannten, das sünd wir!« 22

 

Nächtlicher Kampf

Der »starke Gerd«, einer von jenen »Mascopsträgern«, die vor der Schaffung der bremischen Häfen die an der »Schlachte« anlegenden Schiffe zu löschen und zu beladen hatten, und die mit denkwürdigen Kräften und sagenhaftem Durst begabt waren – der starke Gerd war eines Abends mit einem Kameraden »langs die Glitschen« gegangen.

Früh um fünf, bei heulendem Südwest und brausendem Regen, kriegten sie es in der Lichamstraße mit dem Streiten, weil der starke Gerd sich vermessen hatte, mit einem Kentuckyfaß beladen ganz allein durch die Sögestraße zu gehen; während der Kamerad die Möglichkeit einer solchen Kraftleistung bestritt.

»Dierk«, sagte der starke Gerd, »du büst mein bester Freund, und du machst mich ganz traurig, aber wenn du mich das nich zu glaubst, denn muß ich dich vertobacken.«

»Gerd«, sagte Dierk schmerzlich, »denn komm man ran, denn ich glaub dich das nich zu.«

Gerd faßte Dierk sachkundig um, legte ihn auf das Straßenpflaster und kniete auf seinem Bauch. Der Regen prasselte.

»Dierk«, sagte Gerd nach einer Weile, »glaubst du es dschetzt?«

»Nee«, sagte Dierk.

Fünf nasse Minuten vergingen.

»Dschetzt?« fragte Gerd.

»Nee«, antwortete Dierk.

»Denn laß mich nu mal ein büschen unten liegen,« sagte Gerd. »Ich bün all klatschnaß.« 23

 

Kamillentee

Zu »Jandokter«, dem prachtvollen, weißbärtigen, sagenhaft hageren, mit derber Weltweisheit begnadeten alten Arzt, dessen Bild im bremischen Gedächtnis mit unzähligen Anekdoten bekränzt ist – zu »Jandokter« kam eine stattliche Frau und sagte:

»Herr Dokter, ich hab nu all acht Kinner, un da hab ich dscha wohl einklich meine Schulligkeit getan, un man sollte dscha wohl einklich denken, daß ich nu so langsam aus die Raseldschahre raus bün. Aber ich weiß nich – ich glaub, das läßt ümmer noch nich nach. Un da meinten wir nu, ob Sie nich so freundlich wären un mie en Rat geben könnten –?«

»Den sollst du haben, mein Deern«, sagte Jandokter, der zur Welt in ihrer Gesamtheit brüderlich »du« sagte. »Du nimmst en orntlichen Pott kochendes Wasser, un das gießt du auf 'ne orntliche Handvoll Kamillentee, un da tust du zwei Eßlöffel voll Zucker rein, un denn trinkst du das reineweg aus, bevor daß du zu Bett gehst.«

»Och, Herr Doktor«, sagte die Patientin zweifelnd, »meinen Sie wirklich, daß das da gut gegen is?«

»Mein Deern«, antwortete der Doktor ernst, »das is nich gegen, das is statt24

 

Jandokter

»Jandokter« hatte es einmal bitter schwer mit einer Patientin. Sie legte sich nämlich, jung und drall wie sie war, ins Bett und entdeckte an sich nacheinander alle Merkmale der ihr bekannten tödlichen Krankheiten.

»Herr Dokter«, sagte sie eines Tages, »nu bringen se mich aber doch bald nach'n Kirchhof hin. Nu hab ich dscha Typhus.«

Jandokter überlegte einen Augenblick, nahm seinen Überzieher über der Brust zusammen (er war ihm schon seit langem so weit geworden, daß bequem noch ein zweiter Jandokter darin Platz gehabt hätte) und kletterte gestiefelt, wenn auch nicht gespornt zu der Kranken ins Bett.

»Zo, mein Deern«, sagte er, als er sich nach einer halben Minute wieder hinausbegab, »meinst du dummes Mensch nu wohl, daß ich das getan hätte, wenn du wirklich Typhus hättest?«

Die Kranke genas. 25

 

Nichtswürdige Inschrift

Vor dem Kriege hatte man in Bremen einen sehr stattlichen Geldbetrag gesammelt, der dazu dienen sollte, den Platz vor dem Dom mit einem Bismarckdenkmal zu schmücken. Mit der Verwaltung der Summe wurde ein angesehener – vielleicht doch nicht ganz ausreichend angesehener – Rechtsanwalt betraut. Eines Morgens – ein schöner Morgen kann es nicht gewesen sein – reiste er ab und packte in der Eile die Kassette mit der Denkmalsspende versehentlich zugleich mit vielen anderen Dingen von Wert in seinen Koffer.

Als man feststellen mußte, daß er zur Angabe seines Aufenthaltsortes und zur Berichtigung des Irrtums nicht gewillt schien, wandte man sich an einen reichen Petroleumimporteur, der die ihm in solchen Fällen überlieferungsgemäß zukommende Ehrenpflicht erfüllte und aus seiner Tasche die ganze Geschichte noch einmal bezahlte. Mithin konnte das Denkmal enthüllt werden.

Am Morgen nach der Enthüllung fand man seinen Sockel mit zwei unheimlich »ähnlichen« Bleistiftzeichnungen geschmückt – links den hochherzigen Kaufmann, rechts den nichtswürdigen Anwalt. Unter dem Bilde zur Linken stand: »Der Herr hat's gegeben –«; unter dem zur Rechten: »– der Herr hat's genommen.« 26

 

Byzantinismus

Der freisinnige Abgeordnete Hinrich Hormann, ein trefflicher, fleißiger, ehrlicher Mann, Triebkraft der »Freien Vereinigung liberaler Reichstagswähler«, der einen linksbürgerlichen, gemäßigt-revolutionären, im Ernstfall behutsam konservativen Liberalismus vertrat, bestieg in einer ungemütlichen Wahlversammlung im »wilden Westen« der Stadt das Rednerpult und versuchte die tosenden Gewässer des Wahlkampfes beschwörend in die sorgsam kanalisierten Wasserstraßen seiner Partei zu lenken.

»Meine Herren«, rief er, »viele von Ihnen machen dem Kaiser einen Vorwurf daraus, daß er den Reichstag aufgelöst hat. Solche Vorwürfe sind gefährlich, meine Herren, weil sie über das Ziel hinausschießen. Wenn der Kaiser einen Reichstag auflöst, mit dem er nicht glaubt regieren zu können, so übt er damit nur ein Recht aus, das ihm die Verfassung nun einmal zugesteht. Wir, die wir Achtung vor unseren verfassungsmäßig verbrieften Rechten verlangen, müssen die gleiche Achtung vor den gleichen Rechten des Kaisers fordern.«

Hier wandte sich ein alter Arbeiter, der in der ersten Reihe saß und sich nach sozialdemokratischem Brauch einen jungen »Genossen« zur Einschulung mitgebracht hatte, an seinen Schüler, wies mit dem Daumen auf Hormann und sagte sachlich erläuternd:

»Kuck, das is Byzantinismus.« 27

 

Das Opfer

»Was mein' Tochter Line is«, sagte Frau Lehmkuhl, »der geht's dscha nu langsam besser, und ich sag ümmer, an unsere Familje, da is dscha wohl kein Vergang an, sonsten wär mein' Tochter Line all lange hin. Dschetz is sie dscha bei so'n Dokter, der strahlt ihr an; das scheint dscha zu helfen. Aber vorher, da is sie Dschahren – och, was sag ich! – Dschah-ren-den der Tummelplatz von alle Ärzte gewesen.« 28

 

Ne bis in idem

Tante Doris war eine jener in bremischen Familien besonders reichlich vorhandenen Tanten, angesichts deren Zuneigung, Heiterkeit und Furcht mit wechselndem Glück um die Vorherrschaft streiten. Es ging ihr gut; bei jedem Gespräch über Kaffee zum Beispiel pflegte sie mit dem behaglichen Stolz der »Gutsituierten« zu sagen: »Was wir sind, wie trinken ümmer bloß den guten Mala!« Selbstverständlich war Tante Doris im Stadttheater abonniert, dritte Reihe Sperrsitz, ganz in der Mitte.

Da wurde dann natürlich alle Jahre wieder der »Lohengrin« geboten. Tante Doris war einverstanden; gleich bei Beginn der Gralserzählung aber erhob sie sich mit entschlossenem Ruck und erzwang sich durch die drängende Kraft ihrer stämmigen Gestalt den Ausgang, ohne sich um den lauten Unwillen des Publikums und die stürzenden Bonbontüten, Operngläser und »Pompadours« zu kümmern.

Mein Vater, dem das Ärgernis zu Ohren kam, stellte Tante Doris zur Rede: »Das geht doch nicht, Tante. Du störst doch die Leute. Warum tust du denn das?«

»Och, weißt woll, mein Dschung«, sagte Tante Doris, »denn kömmt denn dscha das mit dem Schwan, nich? Denn geh ich denn dscha ümmer weg; das hab ich denn dscha schon mal gesehn.« 29

 

Selbsterziehung

Freiwillig:

Grünkohl, dessen zarte und unmündige Frühlingstriebe man genußsüchtig abschneidet und verzehrt, wird in Bremen »Scherkohl« genannt. Dem Bremer gilt er als Gottesgeschenk für den Gaumen. Die Einstellung des Nichtbremers zu ihm ist Glückssache.

»Magst du Scherkohl?« wurde Tante Doris gefragt.

Tante Doris, obzwar höchstprozentige Bremerin, schauderte.

»Nee«, antwortete sie. »Den kann ich auf'n Tod nich verknusen. Dabei bin ich doch sonst gar nich so klistern. Aber ich laß'r mich nich mit her. Ich koch'n dschede Woche mal.«

 
– und zwangsweise:

Auf dem alten Freimarkt inmitten der Stadt, als noch die verrunzelten, mit traulichen nachtmützenartigen Hauben geschmückten alten Frauen an der Börsentreppe inmitten einer unwahrscheinlichen Duftwolke Räucheraale feilhielten, sagte Tante Doris:

»Speckaal –? Nee, da kannste mich mit dschagen. Un das is auch man gut, daß ich den nich mag; denn wenn ich'n möchte, denn äß ich'r ümmerzu von, un ich kann'en gar nich vertragen.« 30

 

Nachsicht

Tante Doris hatte Freunde, die im Sommer in der Gegend von Leuchtenburg wohnten. »Wunnerschön«, sagte sie, »aber'n büschen schwer hinzukommen.« Infolgedessen schickte man ihr, wenn sie mal hinkam, ein »Fuhrwerk« an die Bahn.

Als dieses Fuhrwerk, gelenkt von dem Kutscher Fiedchen Pundsack, eines Tages mit Tante Doris unterwegs war, geschah es, daß der den Wagen ziehende Braune nach längerer starker Vorbereitung eine offenbar seit geraumer Zeit fällige Verrichtung hinter sich brachte.

Fiedchen Pundsack erblickte darin einen Verstoß gegen die guten Sitten.

»Nehmen Se's vielmals nich für ungut, Madam«, sagte er errötend.

Tante Doris winkte großzügig ab.

»Laß'n man«, sagte sie. »Ischa rein menschlich.« 31

 

Angewandte Lebensweisheit

Tante Linchen kam herein und sagte in sichtlich bewegter Gemütsverfassung: »Denk mal an, der alte Gehrken heiratet 'ne ganz dschunge Deern. Er is nich weit von siebzig, da kannste auf ab, und sie soll dscha wohl knapp mal mündig sein.«

Tante Minchen ließ die Zeitung sinken, bedachte die sich ergebende Lebensrechnung und versetzte:

»'chott dscha, no, ihm kann es dscha egal sein, und sie muß es dscha wissen.«

 

Höhere Gewalt

»Nee«, sagte der alte Kastendiek, »ich bün dscha gar nich pestimistisch, aber das gibt dscha wohl so Sachen, da kömmt Keinein' gegen an. Was meine Frau is, die gehört da zu. Wenn der Liebe Gott, wenn der was will, un meine Frau, die will das nich, denn wird'r nix von.« 32

 

Höhere Gerechtigkeit

Dem alten Niebuhr aus der Humboldtstraße hatte an einem Sonntagmorgen, als er »bloß mal 'n büschen um 'en Pudding gehn« wollte, ein böser Geist beim Kanthaken genommen und auf Abwege gebracht. Um Mißdeutungen gar nicht erst aufkommen zu lassen, sei diese Redewendung sogleich für den Sonderfall abgegrenzt: Der alte Niebuhr wurde durch seinen Nachbar Bockelmann in die Wirtschaft von Kohlmeyer verschleppt, dort mit einem gewissen Asendorf bekannt gemacht und zur Teilnahme an einem zügellosen Skatspiel veranlaßt.

Als der alte Niebuhr mittags nach Hause kam, hatte er sein Taschengeld für die nächsten vierzehn Tage verspielt.

»Tschä, siehste«, sagte Frau Niebuhr, die nach anderthalb Minuten völlig im Bilde war. »So verfumfeiste dein Geld. Das haste da nun von. Hätteste stattsdessen inner Kirche gesessen, wie sich das gehört, denn hättste dein Geld nu dscha noch.«

»Mudder«, versetzte der alte Niebuhr bescheiden, aber fest, »das sagste nu wohl so gegen mir: Kirche, und da meinste dscha wohl die höhere Gerechtigkeit mit, und das solls dscha wohl geben. Aber kuck mal, die beiden, die mir das Geld abgewonnen haben, waren'er dscha auch nich in.« 33

 

Dienst am Kunden

Wenn man in den Laden des Krämers Fennkohl (östliche Vorstadt, in dem kinderreichen Bezirk zwischen Horner Straße und dem »Schwarzen Meer«) kam, fand man es gemütlich und wohlriechend, aber eng. Zudem war es der glatten Abwicklung des Verkehrs nicht eben förderlich, daß auf dem »Tresen« eine Fülle großer offener Glasgefäße mit eingemachten Gurken aller Art Schärfegrade stand: Gewürzgurken, Pfeffer, Salz- und Essiggurken, süßsauren und Aziagurken.

»Herr Fennkohl«, sagte eines Tages der »Stadtreisende« Lohrengel mit einem Blick auf die gewürzte Gurkenpracht, »is das nich bannig unbequem für Sie, wenn Sie mal viel um'e Hand haben? Weswegen stellen Sie die Pötte nich'n büschen hinterzu?«

»Für mich is es unbequem«, räumte Herr Fennkohl ein, »aber es is zur Bequemlichkeit für die Damens, wo was unnerwegens is.« 34

 

Der Hochzeitsgast

Bei Dörgelohs in der Stedingerstraße war der kleine Heini, ein wohlgeratenes, emsiges und befähigtes Kind, vier Jahre vor der amtlichen Hochzeit angekommen. Obwohl sich für diesen Vorgang mancherlei natürliche und keineswegs ehrenrührige Ursachen anführen ließen, und obwohl er nachträglich sozusagen gesühnt und legitim verklärt worden war, meinten Dörgelohs ihn als dunkles Geheimnis behandeln zu sollen. Insbesondere wurde er dem kleinen Heini kunstvoll verhehlt.

Da aber hatten Dörgelohs nicht mit der geistigen Reichweite des kleinen Heini gerechnet. Als es nämlich einmal an Herrn Dörgelohs Geburtstag dessen Lieblingsspeise gab, Beefsteak mit Bratkartoffeln, das Standardessen aller Dörgelohschen Familienfeste: da betrachtete der kleine Heini, nunmehr zehn Jahre alt, grüblerisch ein auf seine Gabel gespießtes halbes Beefsteak, stellte eine Gedankenverbindung her und sagte:

»Ich weiß nich – aber ich werd und werd das Gefühl nich los, daß ich bei eure Hochzeit schon mit beigewesen bün.« 35

 

Fehlgegangen

Frau Bullenkamp ist, ohne besondere Absichten oder Vorkenntnisse, in die Aufführung einer Shakespeareschen Komödie geraten und sitzt verblüfft vor der bunten Lustigkeit der Vorgänge, die sich da unten auf der Bühne begeben. Es stellt sich heraus, daß sie in dem Bestreben, Bildung durch Stilanpassung darzutun, das Opfer eines Irrtums geworden ist.

»Mein' Zeit!« sagt sie enttäuscht, »das ischa'n Luststück! Un ich hab gemeint, das is 'n Trauerstück! Un nu hab ich extra die bedeckte Bluse an!« 36

 

Wege zum Kunstgenuß

Als die Stammiete – auch Platzmiete oder Anrecht genannt; Gewissenhafte pflegen zur Vorsicht hinzuzufügen: »Ich meine das Abonnemang!« – also als die Stammiete es mit sich brachte, daß Frau Dunkrack sich den »Hamlet« anzusehen hatte, fügte es die freundliche Vorsehung, daß sie unter einer Notlampe »zu sitzen kam«; so daß sie in der Lage war, bei jedem etwa auftauchenden Zweifel ihr Spielplanheft zu Rate zu ziehen. Jedesmal, wenn drunten ein tragisches Schicksal sich vollendete, machte sie einen Strich im Personenverzeichnis.

»Das is wegen dem Verständnis«, erwiderte sie auf eine nachbarliche Anfrage. »Wenn einer tot is, den streich ich denn dscha ümmer gleich durch, denn kann ich'r denn dscha besser durchfinden.« 37

 

Mal was Lustiges

»Ich geh dscha ümmer ganz gern mal ins Stadttheater«, sagte Tante Doris, »aber weißt woll, mein Dschung, da geben sie mich einklich ümmer viel zu viel Ernstes. Da liegt mir nich so viel an, das hat'n dscha im Leben genug. Aber morgen, da will ich'r mal hin; da gibt's denn dscha wohl man endlich was Lustiges: ›Fidelio‹.« 38

 

Aufgehobene Wirkung

Während drunten auf der Bühne Egmonts und Clärchens Schicksal nach düsterem Gesetz sich vollendete, erhob sich droben im zweiten Rang ein unmäßiges Getöse; es war, wie sich beim Hellwerden ergab, dadurch verursacht worden, daß Frau Tüdelmann die Vertilgung ihres gigantischen Abendbrotes vorbereitete und vollzog.

Frau Tüdelmann, die sich über die Ursache der auf sie gerichteten vorwurfsvollen Blicke durchaus klar war, sich aber nicht im Unrecht fühlte, gab, liebevoll die auf ihrem Schoß ausgebreiteten Lebensmittel ordnend, folgende Begründung ihres Verhaltens:

»Ich seh dscha gar nich gern so'ne traurigen Stücke, aber ich hab dscha nu mal das Abonnemang, un denn geh ich'r denn dscha auch hin. Zueers geht es denn dscha auch; aber wenn es denn so ganz schlimm wird mit die Traurigkeit, denn kann ich das nich ab; und wenn ich'r denn so richtig gegen anesse, denn seh und hör ich nix vom Stück.« 39

 

Verstandener »Faust«

Generationen von Gehirnen jeder Bauart und Fassungskraft, Generationen von Lesern und Hörern aus jeder Menschenschicht, Generationen von Gelehrten aller Stärkegrade haben die unermeßliche Fülle und Tiefe des »Faust« zu ermessen, zu ergründen, zu deuten und zu erläutern versucht. Sie hätten sich die Mühe sparen können. In Bremen lebt eine schlichte Frau, die alles, was sie mühevoll erstrebten, mühelos gewann.

Diese Frau, eine in der Humboldtstraße wohnende starkleibige alte Dame mit Namen Gesine Pagenstecher, erhob sich nach einer »Faust«Aufführung von ihrem Rangsitz, umhüllte sich mit ihrem gemäßigt violetten Strickschal, steckte den Operngucker und die Bontschentüte in den Pompadour, machte ihre Ellbogen für den Weg zur »Gadrobe« gefechtsklar und sagte:

»Da heißt es nu ümmer, das wär so schwer zu verstehn. Kann ich garnich finden. Ich hab alles verstanden.« 40

 

Mittelbare Kritik

Dadurch, daß dereinst – hier muß man drei Jahrzehnte zurückdenken – ein Charakterspieler vom Stadttheater eine Wohnung suchte, geriet eine Familie Nuttelmann in der Bohnenstraße in quälende Gewissenskonflikte. Man hätte gern an ihn vermietet: »Denn was sollen wir mit all den Zimmern – und intressant is es dscha auch«, sagte Frau Nuttelmann. »Aber so'n Schauspieler, da hab ich einklich nix mit im Sinn. Da kann man denn dscha alles Mögliche mit kriegen.«

Tante Miele, Autorität in Fragen der Etikette, trat überraschenderweise entschieden und entscheidend für den Charakterspieler ein. »Kinners«, sagte sie, »ich hab ihn nu dreimal auf'r Bühne gesehen, einmal als Geßler, einmal als Franz Moor und einmal als Dschago. Da könnt Ihr ruhig an vermieten, das is nie im Leben en schlechter Mensch.« 41

 

Bekehrung eines Lügners

»Lügen«, sagte Onkel Theo, als er das Podagra (im biederen Volkston als »Potengram« bezeichnet) hatte und infolgedessen sittlichen Erwägungen besonders zugänglich war, »lügen, das soll man nich, und das tu ich nu auch nich wieder. Da kömmt nix bei raus. Du weißt dscha, daß ich ganz gern mal so'n büschen was trinken tu. No, und da hat mich der Dokter denn dscha gefragt, wieviel Bordeaux daß ich wohl im allgemeinen so trinke. Vier Flaschen am Tage, hab ich da so gesagt, von wegen der Schanierlichkeit. Das wäre viel zu viel, hat der Dokter gesagt, und das wäre das reine Gift, wegen dem Reißen. Aber so ganz batz damit aufhören, das ginge auch nich, sonst würde der Köhrper zu sehr in Leidenschaft gezogen. Zwei Flaschen wollte er mir eers mal erlauben. Siehste, und ich hab das dscha nu gelogen; ich hab dscha meist sechs getrunken. Wenn ich die Wahrheit gesagt hätte, denn dürfte ich dscha nu drei. Nee, mein Dschung – lügen, das tu ich nu nich wieder.« 42

 

Etwas zum Nachdenken

Spät, sehr spät, als der grünsilberne Mond seine Lichtfluten über die Kupferdächer und Spitzgiebel der Altstadt strömen ließ, begaben sich zwei gesetzte und beleibte Bremer Bürger, die Brasil im Mundwinkel, unter traulichen Gesprächen heim.

»Heini«, sagte der eine, »warum gehst du einklich ümmer inner Gosse? Da is es doch naß.«

»Fidi«, versetzte der andere, »ich weiß dscha auch nich, wie das kömmt. Ich kann auf'm Trottoah gehen, soviel ich will – ich geh ümmer inner Gosse.«

»Heini«, sagte der erste nach kurzem Bedenken, »denn machst du es falsch. Du mußt es machen wie ich. Kuck: Ich geh gleich inner Gosse; denn geh ich ümmer auf'm Trottoah.« 43

 

Das Frühstück

Heinrich W., ein denkwürdiges Prachtstück aus der an Originalen einstmals besonders ergiebigen Zunft der Gymnasialprofessoren, leistete Unvergeßliches in der Beseitigung geistiger Getränke. Als daher ein paar Freunde, die mit ihm eine Reise machten, ihn morgens um halb acht im Speisesaal des Hotels am Frühstückstisch hinter einer ziemlich geleerten Flasche Niersteiner Heiligenbaum, Spätlese, fanden, waren sie nicht erstaunt; aber sie waren immerhin entrüstet.

»Igitt, Heini!« sagte einer von ihnen mit sanftem Vorwurf. »Magst das nu wohl tun? Schämst dich denn gar nich? Morgens um halb acht sitzt du all hinter'n Wein?«

»Dscha«, sagte Heini wahrheitsgemäß und entschieden. »Und schämen tu ich mich da auch nich um. Soll ich vielleicht meinen Kaffee trocken runnerwürgen?« 44

 

Geheimjustiz

Zwischen dem Domhof und dem Wall liegt als schmale Verbindungsstraße die Bischofsnadel – und an der Bischofsnadel gab es in den Tagen traulich-grünlicher Gasbeleuchtung einen dunklen Winkel, der von späten Heimgängern oft zu verbotswidrigem Tun benutzt wurde. Einem Hohen Senat waren diese kleinen und großen Verstöße gegen Schönheit und Anstand im Straßenbild Dornen im Auge – aber er machte sie mit nüchternem Wirklichkeitssinn auf dem Wege über die Justiz zugleich geldlich nutzbar.

So kam es, daß ein würdiger Großkaufmann, der auf der nächtlichen Wanderschaft zwischen dem Ratskeller und seinem Heim hier notwendigerweise verweilte, durch die auf seine Schulter gelegte schwere Hand des Polizeidieners Schimmelpfennig fast aus dem ohnehin nur mühsam gewahrten Gleichgewicht gebracht wurde.

»Herr!« sagte Schimmelpfennig streng. »Das is Flagranti! Das kostet en Taler.« Und er schwenkte die bereitgehaltene »Quietung«.

»En Taler?!« versetzte der alte Herr erbittert. Und er wies mit zornigem Zeigefinger auf zwei zweckverwandte Gestalten, die in einer noch dunkleren Ecke des dunklen Winkels schattenhaft, aber kriminologisch einwandfrei erkennbar waren: »Un die beiden annern da – haben die auch dscheder 'n Taler bezahlt?«

»Die brauchen nich zu bezahlen«, antwortete Schimmelpfennig. »Das sünd Lockspitzels.« 45

 

Der Tausendfuß

Der alte Feldhusen stand auf dem Marktplatz, unter sichtlichen Schwierigkeiten bemüht, das seinen Jahren und seiner sonstigen Würde angemessene Gleichgewicht zu bewahren, und sang leise vor sich hin:

»Scheer, Scheer, Scheer, wo kummst du her
bi dat slackerige Weer?
Vun'n Swarten Meer, dår kåm ick her,
dår gifft dat Köhm un Beer!«

– wobei zu sagen ist, daß das »Schwarze Meer« eine aus unbekannten Gründen so benannte Straße in Bremen ist.

Der alte Kloppenburg kam des Weges und gewahrte den Vorgang mit Überraschung und Betrübnis.

»Aber Heini!« sagte er vorwurfsvoll. »Was haben se denn mit dir gemacht?«

»Och«, verteidigte sich der alte Feldhusen unter leichten Schlingerbewegungen, »Christel hat dscha heute Geburtstag, nich? Und da sagte er, da müßten wir einen auf trinken. Un denn sagte er, auf einem Bein könnte man nich stehn. Und da hat er denn dscha auch recht an. (Mit einem Aufschluchzen:) Dschohann, auf so viele Beine aber auch nich!« 46

 

Die arme Frau

Bei der alten Frau Pastor Meiners, der guten Seele, erschien eine ärmlich angetane Frau und begann unter durchdringenden Klagelauten die Geschichte ihres beispiellosen Elends zu berichten:

»Och, Frau Pastohr, was mein Mann is, der is tot, un denn hab ich sieben Kinner un reineweg nix dafür anzuzieh'n, un zu essen haben wie all lange nix mehr gesehn, un was mein Bruder is, der kann es dscha, aber er is'n alten gnietschigen Übelmeier un gibt uns nix, weil daß er'n Piek auf meinen Mann hatte . . .«

Und so weiter. Die arme Frau wurde gut und reichlich versorgt.

Nach vierzehn Tagen kam sie wieder.

»Och, Frau Pastohr, was mein Mann is, der is krank und liegt aufs Letzte, un . . .«

»Augenblick mal«, sagte die alte Frau Pastor Meiners, die gute Seele. »Haben Sie mir nicht neulich erzählt, Ihr Mann wäre tot?«

»Zo?« sagte die arme Frau traurig. »Hab ich das gesagt? Dscha, sehense, Frau Pastohr, man kömmt'r dscha ganz durchher bei all das Unglück!« 47

 

Im Nichtbeitreibungsfalle . . .

Als nach der Vernichtung des Zeppelinschen Luftschiffes bei Echterdingen der Opferwille der Nation die Millionenspende schuf, fand auch Mutter Cordes aus der Kleinen Krummenstraße sich ein und zeichnete nicht ohne Mühe, aber mit berechtigtem Stolz einen Beitrag von zehn Mark in die Liste ein.

Der Sparkassenbeamte, ein mißtrauischer Funktionär der nüchternen Rechenkunst, war erstaunt: »Ja, haben Sie das Geld denn aber auch, Frau Cordes? Das müssen Sie denn nämlich auch bezahlen.«

»Och«, versetzte Mutter Cordes mit einem durch Erfahrung gehärteten Heroismus, »ich dachte, ich wollte das denn woll absitzen.« 48

 

Der Kirchendiener

Der Kirchendiener Christian Heemsoth habe ihr einmal, so erzählte die Gattin eines bremischen Geistlichen, einen gänzlich unerwarteten Beweis für die Tatsache geliefert, daß sich die Wirkung der Umwelt auf den Menschen nicht immer mit voller Sicherheit abschätzen läßt.

Dieser Heemsoth erschien im Pastorenhaus, um seinem Vorgesetzten eine Meldung zu erstatten. Er solle sich einstweilen setzen, wurde ihm bedeutet – der Herr Pastor werde gleich wiederkommen. Aber Heemsoth blieb, auch auf mehrfach wiederholte Einladung, stehen.

»Warum setzen Sie sich denn nicht, Heemsoth?« fragte die Hausfrau schließlich etwas ungeduldig. »Genieren Sie sich etwa?«

»Frau Pastohr«, entgegnete Heemsoth lächelnd und mit Festigkeit, »wenn man, wie ich das nu tu, dreißig Dschahre mit der Geistlichkeit umgeht, denn hat man sich das Schanieren abgelernt.« 49

 

Die Glückszahl

In den Tagen, als das Glück, soweit es sich auf dem Gebiet des Lotteriespiels betätigt, noch nicht unter staatlicher Aufsicht arbeitete, kam einmal ein verschämtes Dienstmädchen zu einem bremischen Lotterie-»Kollekteur« und bat um Rat.

»Och«, sagte das puterrote Mädchen, »ich wollt' wohl mal fragen, weil daß ich dscha von meinem Bräutigam geträumt habe, un der faßte mir um un küßte mir ümmerzu, ob das wohl was zu bedeuten hätte? Ich mein', wegen Nummer un so.«

»Ganz gewiß hat das was zu bedeuten«, versetzte der »Kollekteur« mit schicksalhaftem Ernst. »Das is'n Wink is das. Wenn Sie sich da nich gegen gewehrt haben, denn bedeutet es Nummer 36, und wenn Sie sich gesträubt haben, denn bedeutet es Nummer 48.«

Es war ein kluges und ehrliches Mädchen. »Och«, sagte es und errötete noch stärker, »wenn das so gerechnet wird, denn so kömmt für mir am Enne wohl Nummer 12 in Frage.« 50

 

Das Unglück schreitet schnell

Als der »junge Mohrmann«, der durch Mitwirkung im Geschäft seines Vaters einen nicht unbeträchtlichen Teil der östlichen Vorstadt mit »Kolonialwaren« versorgte, in seinem verhältnismäßig biederen Herzen eine Neigung für eine Nachbarstochter feststellte, kam es eines Morgens im Laden unversehens zu einigen nennenswerten Zärtlichkeiten. Der junge Mohrmann glaubte sich unbeobachtet; aber es ergab sich alsbald, daß Frau Hornkohl »von gegenüber«, gedeckt durch den Stapel der Büchsen mit fadenfreien Brechbohnen, den Vorgang mitangesehen hatte.

Der junge Mohrmann kriegte einen furchtbaren Schreck. Sein Gewissen war zwar noch rein, und er zielte auf Legitimes. Aber er hatte allen Grund, die Familienlage keineswegs als geklärt anzusehen. 51 Infolgedessen begab er sich ehestens zu Frau Hornkohl und bat sie, die gewonnene Kenntnis einstweilen für sich zu behalten.

»Och, dascha schade«, sagte Frau Hornkohl mit ehrlichem Bedauern. »Wenn ich das man gewußt hätte! Was meine Tochter Line is, die isser grade mit los!« 52

 

»Einheirat«

Als mein guter Vater noch seine Tage mit dem Ein- und Verkauf von Lebensmitteln »en gros« zubrachte, hatte er einmal einen Lehrling, für dessen Mangel an geistigen Kräften es weder Maß noch Beispiel gab. Wir waren überzeugt, daß die Mauern meines großelterlichen Hauses, obzwar aus einem verschwenderischen Aufwand von Steinen gefügt, dem Schädel dieses Knaben im Ernstfalle nicht standgehalten hätten.

»Ooh, ooh, ooh!« sagte mein Vater eines Tages, von Verzweiflung übermannt. »Menschenskind, wenn Sie mal ›ausgelernt‹ haben – was soll aus Ihnen bloß werden?«

»Och«, versetzte der Knabe mit jener heiteren Selbstsicherheit, die eine gütige Vorsehung zur geistigen Begrenzung gesellt, »denn setz ich mir ürgendwo warm hinein.«

– – – da sitzt er noch heute. 53

 

Heini hat Glück

Heini spielt auf der Straße. Meta, seine etwas ältere Schwester, beugt sich aus dem Fenster und sucht ihn durch schrilles Geschrei herbeizulocken. »Hei – nii! Sollst mal reinkommen! Sahne lecken!«

Heini bezweifelt die Zuverlässigkeit seiner (umfänglichen) Hörvorrichtungen: »Sahne lecken?!«

»Dscha. Da hat sich 'ne Maus in vertrunken.« 54

 

Die dicke Backe

Altmodische und in tierschützlerischer Hinsicht sorglose Menschen pflegen beim Angeln lebendige Regenwürmer als Köder zu benutzen. Die armen Tiere haben den begreiflichen Wunsch, sich vor ihrer Verwendung vom Schauplatz zu entfernen; durch kunstvolle Aufbewahrung werden sie daran gehindert. In der bremischen Umgangssprache werden sie »Mettjen« genannt.

Mit dieser Kenntnis ausgerüstet, stelle man sich einen Bewohner Bremens vor, der am Ufer der Weser sitzt und geduldig den lustig tanzenden Korken seiner Angel betrachtet. Ein anderer kommt des Weges und mustert ihn voll erstaunter Besorgnis:

»Mensch, wie kannst du hier mit deiner Infulentscha ans kalte Wasser sitzen?! Du hast dscha 'ne ganze dicke Backe.«

»Och nee«, versetzte der erste fröhlich, wiewohl nicht ganz mühelos, »da hab ich man bloß die Mettjen in55

 

Dscholli

»Was'n kluger Hund is«, sagte der alte Sengstake, »da kann ich'n Lied von singen; da laß ich mich von keinem Förster und keinem Witzblatt in schlagen. Mal, als ich noch Dschunggeselle war und auf'r Großenstraße wohnte, da hatte ich so'n braunen, der ungefähr wie'n Dschagdhund aussah, bloß so'n büschen kleiner und krummer; Dscholli hieß der. No, ich hatte denn dscha nich ümmer so recht was für ihn; morgens gab ich ihm denn ümmer zwei Pfennige, da ging er denn mit nach'n Bäcker hin und kaufte sich da alte Brötchen für. Die frühstückte er, und denn hatte er dscha eers mal 'ne Grundlage.

No, eines Morgens steht der Bäcker vor seiner Tür, wie ich da vorbeikomm, und sagt: »Herr Sengstake«, sagt er, »Ihr Dscholli is schon en paar Tage gar nich dagewesen für Brötschen. Vorichte Woche war das auch schon mal so.«

Das fiel mir dscha nu auf, und wie ich Dscholli am annern Morgen sein Geld gab, beobachtete ich heimlich, was er damit machte. Und was meinen Se? Er ging anne Matte und holte sich da das Geld von den letzten vier Tagen unter raus, weil daß er sich da 'ne Sparkasse angelegt hatte, und nu hatte er'n Groschen zusammen. Damit ging er zwei Häuser weiter, wo'n Schlachter wohnte, und legte dem das Geld vore Füße und kuckte ihn so vielsagend an, daß der ihm en Stück Wurst dafür gab.« 56

 

Der Verteidiger

Als die Marktbezieherin Rosine Osterloh am 9. Dezember 1913 im Verlauf einer Meinungsabweichung den Korb mit dem Rosenkohl über den Kopf der Marktbezieherin Albertine Viohl ausgeleert hatte und sich demzufolge wegen Körperverletzung verantworten mußte, wurde ein aus Preußen auf bremisches Gebiet übergetretener feudaler Referendar, Joachim mit Vornamen, Markomanne, zum Offizialverteidiger bestellt. Er gab sich redlich Mühe, die rasche Tat in ein vorteilhaftes Licht zu rücken, und wurde in diesem Bestreben wesentlich unterstützt, als sich durch Zeugenaussagen ergab, daß Rosine von Albertine eine »ole Sluurtje«, sodann eine »ole Slarrtje«, endlich eine »ole Slickumslacksche« genannt worden war – Bezeichnungen, die sich zwar etymologisch nicht völlig klären ließen, aber offenbar von Rosine als Ehrkränkungen gedeutet worden waren. Infolgedessen nahm das Gericht mildernde Umstände an und verurteilte Rosine zu einer gelinden Geldstrafe.

Joachim indessen, entschlossen, dem Fall seine ganze Kraft zu widmen, legte Berufung ein. Er wollte Rosine straflos hervorgehen sehen.

Zur Berufungsverhandlung erschien er wohlvorbereitet, aber ohne die Angeklagte. Auf die milden 57 Vorstellungen des Richters antwortete er unbefangen mit der Eröffnung, daß er seine eigene Anwesenheit als ausreichend erachte und die Angeklagte daher ihrer beruflichen Tätigkeit nicht entzogen habe. Unbeschadet der menschlichen Zuneigung, die Joachim sich beim Gericht erobert hatte, mußte man zu der von der seinen abweichenden Auffassung kommen, daß ein ordnungsgemäßes Berufungsverfahren in Abwesenheit der Angeklagten nicht möglich sei. Also eröffnete man ihm nach einer anderthalb Minuten währenden Beratung, daß man die Berufung habe verwerfen müssen.

Als Joachim nach der Verhandlung auf dem Flur stand, stumm und vergeblich bemüht, zwischen der Strafprozeßordnung und seinem Rechtsempfinden einen Ausgleich herzustellen, trat der Erste Staatsanwalt auf ihn zu, legte ihm väterlich die Hand auf die Schulter, sah ihm gütig in die Augen und sprach:

»Lieber junger Kollege, wollen Sie von einem alten erfahrenen Juristen einen guten Rat annehmen? Ja? Dann bedienen Sie sich doch künftig zur Führung Ihrer Prozesse der Hilfe eines guten Rechtsanwalts.« 58

 

Lucie

Die »dicke Lucie«, Bremens berühmtestes Mundwerk, die Königin der Fischfrauen (womit keine Nixen gemeint sind, sondern Frauen, die mit Fischen handeln) – Lucie hatte eine Unzahl von Kindern. Abends wurden sie von hilfreichen Händen im ganzen Stadtviertel aufgelesen und rudelweise herbeigeschafft; denn die Nachbarn fürchteten Lucie, aber sie liebten sie auch und bewunderten sie.

Eines Abends, als Lucie gerade am Waschfaß stand, brachte eine Nachbarin ein etwa dreijähriges markerschütternd brüllendes Kind herbei, das bis zur völligen Unkenntlichkeit am Ufer der Weser gespielt hatte.

»Gehört das auch bei deine?« fragte sie.

Lucie, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, deutete mit einer Kopfbewegung auf eine entfernte Ecke, in der es von ebenso unkenntlichen Erscheinungen wimmelte.

»Mal sehn«, sagte sie. »Schmeiß es man eers mal bei'n Bulten.«

*

Lucie hatte sich wegen Körperverletzung zu verantworten. Eine jähe Aufwallung, hervorgegangen aus gegenseitiger unüberwindlicher Abneigung, hatte dazu geführt, daß sie den Körper – genauer gesagt: den Kopf – einer Mit-Fischfrau mittels eines am Schwanze angefaßten Helgoländer Schellfisches entstellt und verletzt hatte.

»Aber Frau Strickmann!« sagte der Richter. »Sie mögen ja Grund zur Erregung gehabt haben – aber hätten es da nicht auch ein paar scharfe Worte getan?«

»Och, Herr Richter«, versetzte Lucie, »geradezu beleidigen wollte ich ihr dscha nu auch wieder nich!« 59

 

Grenzen der Verständigung

Frau Sägelken suchte Rat bei einem Anwalt.

»Gegen meinen Mann«, sagte sie, »da müssen wir wohl mal was gegen tun.«

»Nanu?« wunderte sich der Anwalt. »Was ist denn los? Verstehen Sie sich nicht mehr mit ihm?«

»Och doch«, antwortete Frau Sägelken. »Was das is – verstehen tun wir uns ganz gut; wir haben dscha sieben Kinner. Aber wenn mein Mann denn schläft, denn schnarcht er ganz gräsig, und wenn ich ihn denn wecken tu und sag da was gegen, denn schmeißt er mir ümmer aus'm Bett; und da kann und kann ich mir nich an gewöhnen.« 60

 

Welch Schauspiel –!

Der Primarius einer bremischen Kirche, ein ehrlicher, geradsinniger, von prachtvoll ursprünglicher Lebenskraft erfüllter Mann, dem viele Freunde nachtrauern, hatte als treuesten Zuhörer seiner Predigten einen alten Handwerker, der immer auf der vordersten Bank saß: Andächtig, hingebungsvoll, mit verklärtem Lächeln; das Vorbild eines Kirchenbesuchers.

Der treffliche Pastor freute sich darüber; aber die Freude war nicht ungetrübt. Denn er wußte, daß der alte Handwerker sehr schwerhörig – man konnte schon sagen: stocktaub war. So kam es, daß der Geistliche diesem treuen Hörer zuliebe immer mehr dazu überging, seine Predigten durch Hand-, Arm- und Körperbewegungen zu veranschaulichen – ein Bestreben, das durch sein starkes Temperament zu sehenswerten Darbietungen gesteigert wurde.

»Lieber Herr Köhnsen«, schrie er eines Tages, als er dem alten Meister auf der Straße begegnete, »ich bin herzlich froh darüber, daß Sie meine Gottesdienste so fleißig besuchen. Hoffentlich verstehen Sie auch, was ich sage?«

»Herr Pestohr«, versetzte der alte Mann, »mit das Verstehen is es dscha nu so, daß ich kein Wort versteh. Abers, Herr Pestohr« – und hier verschönte wieder das verklärte Lächeln seine Züge – »ich seh Sie dscha so gern zu!« 61

 

Kritik

Zwei gewichtige alte Heeren trudelten nach einem männermordenden Festessen (ach, es ist lange her), die Brasil behaglich im Mundwinkel, jene sachte Anhöhe am Stadttheater hinunter, die der Bremer mit überschwenglicher Selbstironie »Theaterberg« nennt. Die Fama verzeichnet folgende Kritik, die der eine von ihnen gemütlich wiederkäuend, aber mit erbarmungsloser Richtermiene von sich gab:

»Essen – war dscha gut; will ich nix gegen sagen. Weine – waren dscha tadellos. Aber daß er uns zu'n Käse den 78er Latour gibt, wo ich doch ganz genau weiß, daß er den 81er Lafitte in'n Keller hat – nu bitt ich Sie, was soll das?!« 62

Der Poet

Der Sohn einer an sich unbescholtenen, unverdächtigen und daher auf derartige Ereignisse natürlich keineswegs gefaßten bremischen Familie hatte das Dichten angefangen und war daran auf keine Weise zu hindern. Die Tätigkeit, zunächst als zwar unbegreifliche, aber harmlose Absonderlichkeit gewertet, dann als unheimliche geistige Wucherung kopfschüttelnd betrachtet, nahm schließlich einen Umfang an, der zur Güte und zum Erfolg der angefertigten Erzeugnisse in keinem noch irgendwie meßbaren Verhältnis stand.

Die Sache sprach sich natürlich herum.

»Was macht denn Ihr Sohn?« wurde der Vater des Poeten eines Tages von einem besorgten Freunde gefragt.

»Och«, versetzte der alte Heer mit heiterer Fassung, »der dichtet man ümmer so unter sich weg.« 63

 

Schneiderinnen-Anekdote

In den längst versunkenen Zeiten, als die Fest- und Alltagsgewänder unserer Damen noch grundsätzlich »angefertigt« und nicht »fertig gekauft« wurden, gab es eine ernst zu nehmende Zunft maßgeblicher »Hausschneiderinnen«: Sie kamen in die Häuser, beschlagnahmten das Wohnzimmer, füllten es mit Nähmaschinengeratter, bestreuten den sonst streng geheiligten Bezirk mit Zeugfetzen, schnitten, nähten, »änderten« und »probierten an«. Was sie »gern mochten«, wurde gekocht. Und was sie dann schließlich ablieferten, mußte eben getragen werden.

Die Schwester meines Vaters brachte einmal den Mut auf, sich gegen die Autorität einer solchen Schneiderin aufzulehnen. Das Kleid »beutelte« in der »Tallje« und kniff unterm linken Arm. Nach der Änderung kniff es unterm rechten Arm und war »beim Sitzen zu stramm«. Und so weiter. Die Schneiderin blieb höflich, aber sie sah aus wie ein Tiefdruckgebiet mit Randstörungen. Nach der fünften Anprobe jedoch, als ihr weitere Änderungen angesonnen wurden, nahm sie sich die Stecknadeln aus dem Gebiß, knallte die Schere auf den Tisch und sagte mit abschließender Entschiedenheit:

»Nee, Frollein. Was'r nu nich in is, das muß'r reingeplättet werden.« 64

 

Metta

Hager, knochig, mit kurzgeschorenem weißem Haar, scharfgekerbtem grauem Feldherrngesicht und gütigen blauen Augen: Das war die alte Lehrerin Metta Tietjen, die nach ihrer »Versetzung in den Ruhestand« noch fast zwei Jahrzehnte lang in rauhen Loden und derben Schuhen durch die Schweizer Straße und die umliegenden Gefilde stapfte.

»Metta«, fragte eine alte Nachbarin eines Tages beklommen, »hast du einklich gar keine Angst vorm Tode?«

»Nee«, sagte Metta nachdrücklich. »Da hab ich gar keine Angst vor.«

»Aber man weiß doch nich, was da drüben – ich mein': hinterher – denn so kömmt.«

»Da quäl ich mich dschetzt auch nich um«, sagte Metta gelassen. »Kuck mal, damit is das so: Als ich in die Welt reinsollte und da nix von kannte, da war das so vorgesehen, daß da 'ne Hebamme war; die half mir rein. Nu denk ich mir: Wenn ich'r nu mal wieder raus soll, denn wird da woll für gesorgt sein, daß auch so Dschemand is, der mir denn drüben reinhilft.« 65

 

Der Schritt

Wie hatten in der Familie eine Urgroßtante. Sie war neunzigjährig, weißhaarig, verrunzelt, halb blind und halb taub, aber bolzengerade und von bezwingender Würde: ehrfurchtgebietende Ahne von Generationen, Enkel überdauernd.

Wir saßen im lauen Helldunkel eines Juniabends in der Glasveranda meines elterlichen Hauses und plauderten gedämpft. Die Tante saß dabei, bolzengerade und von bezwingender Würde, ehrfurchtgebietende Ahne von Generationen, Urmutter, ragendes Symbol. Die Tante schwieg.

Da nahte auf der Straße ein rascher, trippelnder Schritt, ein grauer Schatten huschte eilig an den Häusern hin. Die Tante beugte sich ein wenig vor, ein seltsames Lächeln voll geheimnisreicher Weisheit blühte auf in ihrem faltigen Gesicht. Und sie sprach (es waren an diesem Abend ihre ersten Worte):

»Da geht eine Hebamme.«

Wir sprangen auf, sieben Hälse reckten sich neugierig über die Brüstung. Wozu viele Worte machen? Es war eine Hebamme. Wie kannten sie alle; sie wohnte in der Nachbarschaft.

Ehrfurchtsvoll, tief angerührt vom ewigen Geheimnis einer unbegreifbaren ahnenden Verbundenheit, sahen wir auf die Tante. Sie saß still, ihre hellen halbblinden Augen sahen in irgendeine Ferne. Sie sprach an diesem Abend kein Wort mehr. 66

 

Das Plüschsofa

Ihr ganzes Leben lang waren Tante Beta und Tante Meta befreundet, und allen Brandungswellen, wie sie das Schicksal zuweilen selbst in die ruhigsten Daseinsbezirke hinüberspült, hatte diese Freundschaft standgehalten. Kleine Unterschiede des Temperaments hatten die Jahrzehnte langsam eingeebnet; beide waren »gut sitewiert« (Tante Beta am besten), beide hatten nicht geheiratet. Tante Beta war genau ein Jahr älter als Tante Meta.

Als Tante Meta siebzig wurde, kam Tante Beta zu ihr und sagte in der Rührung, wie der festliche Tag sie mit sich brachte:

»Meta, ich werd dscha wohl eher sterben als du, weil daß ich dscha älter bün. Ich hab immer was von dir gehalten, und du kannst dir dscha auch manches nich so leisten; deshalb hab ich mir gedacht, mein rotes Plüschsofa, wo wir so oft auf gesessen haben, das sollst du erben. Wenn ich'r denn nich mehr bün, un du sitzt'r denn auf, denn denkst du an mich un stellst die vor, wie säßen'r noch beide.«

»Beta«, sagte Tante Meta unter Tränen, »so was mußt du nich sagen, un ich kann das dscha auch gar nich wieder gutmachen. Du bist dscha ümmer meine Beste gewesen, und ich meine, unter richtigen Freundinnen soll es keine Geheimnisse geben. Ich hab aber'n Geheimnis vor dir. All lange.«

»Zo?« sagte Tante Beta und hörte plötzlich ganz nippe zu. 67

»Dscha. Kannst du dich wohl noch auf unsern Tanzlehrer besinnen?«

»Besinnen –!?« antwortete Tante Beta traumverloren. »Da waren wir dscha alle in verliebt.«

»Verliebt – dscha«, bestätigte Tante Meta, und in ihrer Stimme schwang ein ganz leiser, ganz heimlicher Triumph. »Verliebt waren wirer alle in; aber ich hab'r was mit gehabt

Tante Beta fuhr steil auf.

»I Dschases!« schrie sie, stülpte ihren Kapotthut auf, sauste hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Es krachte wie ein Kanonenschuß auf dem Grabe einer sechsundsechzigjährigen Freundschaft.

Tante Beta starb genau ein Jahr vor Tante Meta. Das rote Plüschsofa hat der Verein zur Rettung Schiffbrüchiger geerbt. 68

 

Die Hand des Schicksals

Schwer und grausam lastete die Hand des Schicksals auf Otto Knigge, einem rundlichen, unbescholtenen Lebensmittelgroßhändler aus der Großen Allee in Bremen-Neustadt. Zur Zeit der (vorigen) Pariser Weltausstellung kam er auf den Gedanken, sich auf eine Woche der Überprüfung seines Tuns durch seine Frau Aline, geborene Katenkamp, zu entziehen und angeblich zu Geschäftszwecken nach Düsseldorf, in Wahrheit aber zu verabscheuungswürdigen Privatzwecken nach Paris zu fahren. Das Urteil darüber hätte – nicht aufgehoben, aber immerhin gemildert werden sollen durch die Erwägung, daß diese Reise unsres Wissens der einzige Schandfleck auf Knigges Leben war. Das Schicksal indessen war, wie gesagt, anderer Meinung; und es machte ganze Arbeit, indem es das Rächeramt in die harten Hände Alines, der geborenen Katenkamp, legte.

Otto Knigge nämlich schrieb acht höfliche Postkarten an seine Frau, für jeden Tag der kommenden Ferienwoche eine, und gab sie seinem Freunde Johann Schnaars, der, wie schon der Name sagt, aus Bremen gebürtig war, aber in Düsseldorf lebte.

»Jan«, sagte er, »da steckst du dscheden Tag eine von innen Kasten. Aber krieg sie bloß nich durchenanner!« Und fuhr ab. 69

Hier begann das Schicksal zu walten und verfügte, daß Schnaars noch am gleichen Tage an einer Grippe (»Infulentscha«) erkrankte, der er nach rauher Vätersitte mit einer für sie tödlichen Dosis Grog entgegentrat. Als er am anderen Tage geheilt erwachte, sagte er:

»Och du liebe Zeit, daß man bloß Knigge seine Post wegkömmt!«

»Die is all weg«, sagte seine Frau. »Ich hab die Karten in deinem Rock gefunnen un gleich eers mal alle innen Kasten gesteckt.«

Während sein Freund in den Armen einer gnädigen Ohnmacht lag, widmete Knigge, in vermeintlicher Sicherheit, sich in Paris einer Reihe von Erlebnissen, über die wie erfreulicherweise im einzelnen nicht unterrichtet sind.

Dagegen wissen wir, daß das ärgste dieser Erlebnisse sich in einem nur bedingt öffentlichen Lokal hinter einem malvenfarbenen Samtvorhang abspielte. Dieser Vorhang nämlich wurde entgegen seiner Bestimmung von der Hand eines Mannes gehoben, der Ahrens (oder Behrens) hieß, in Bremen als Makler wirkte, als »Suitier« galt und, da an seinem eigenen Ruf nichts mehr zu verderben war, sich über den Lebenswandel anderer mit behaglicher Schadenfreude weit und breit zu äußern pflegte. Er weidete sich erst mit Verblüffung, dann mit hellem Vergnügen an dem ihm gebotenen Anblick und sagte:

»Nu kuck mal einer an: Knigges Umgang mit Menschen.« 70

 

Onkel Schröder

»In diesem Hause«, sagte mein Vater, »wohnt der Mann, der augenblicklich der unglücklichste Mensch in Bremen ist.« Es war zur Zeit des Jahrmarkts, den wir in Bremen Freimarkt nennen, und der Oktoberregen klatschte in den üblichen Güssen vom Himmel; aber wir blieben doch vor dem Hause stehen, zu nachdenklicher Betrachtung. Ich wunderte mich: Denn da drinnen wohnte Onkel Schröder, der alte Musikdirektor, der immer in sanfter und milder Zufriedenheit durch die Straßen wandelte und jedem von uns Kindern einen liebkosenden Dreivierteltakt auf den Kopf tätschelte.

»Nämlich«, erklärte mein Vater, »die Orgeldreher, die für die Freimarktstage den Gewerbeschein haben wollen, müssen ihre Instrumente vorher vorführen, und der arme Onkel Schröder muß sie abhören, alle nacheinander. Höllenqualen müssen das für den Mann sein. Um einen von diesen armen Teufeln abzulehnen, dazu ist er viel zu gutmütig. Manche leihen sich auch für das Probekonzert neue Orgeln und ziehen nachher mit fürchterlichen alten Heulkommoden durch die Stadt. Zehn Tage lang muß Onkel Schröder dann für seine Gutmütigkeit schrecklich büßen, von früh um acht bis abends um zehn. Ich kann gar nicht sagen, wie leid mir der Mann tut.« 71

Mit scheuem Blick betrachtete ich das Haus: Stumm und grau stand es da, vom Regen überronnen, mit geschlossenen Vorhängen. Da drinnen, dachte ich, hockt Onkel Schröder in einer dunklen Ecke, hat beide Zeigefinger in den Ohren und stöhnt. Ein Orgeldreher kam durch die Straßen heran; er spielte »Letzte Rose«, und nach jedem Takt stieß sein Marterkasten einen schrillen Ton aus, der wie der höhnische Freudenpfiff eines triumphierenden Teufels klang. 72

 

Unsagbar peinliche Begebenheit

Ein gebildetes, angemessen begütertes, noch jugendliches, nettes, wenn auch etwas »steifes« bremisches Ehepaar, aus der Sphäre jener oberen Fünfhundert, die man einstmals mit Hochachtung als die »guten Kreise« zu bezeichnen pflegte, hatte einmal – zweieinhalb Jahrzehnte wird's her sein – an einer Festlichkeit teilgenommen. Als die Herrschaften nun mitten in der Nacht vor ihrem Hause anlangten, mußten sie feststellen, daß sie nicht hineinkonnten. Sie hatten den Schlüssel vergessen.

Nun, guter Rat war nicht eben teuer, und Hillmanns Hotel war nicht weit. Das Peinliche war nur der gänzliche Mangel an Gepäck. Der Zwischenfall durfte also anscheinend als verhältnismäßig bedeutungslos angesehen werden.

Das war indessen ein Trugschluß. Der Herr hatte nicht bedacht, daß ein Mitglied der bremischen Gesellschaft normalerweise mit den Nachtportiers der Hotels nicht in Berührung kam und ihnen daher unbekannt war. Er hatte ferner nicht bedacht, daß er an einem nervösen Übel litt, das ihn oft zu einem Augenzwinkern nötigte und seinen Worten das Gepräge einer ganz unbeabsichtigten Vertraulichkeit verlieh – und daß ihn dieses 73 Übel ausgerechnet in dem Augenblick befallen könnte, als er dem zurückhaltend und abwartend höflichen Portier ins strenge Antlitz sah und ein Zimmer für sich und seine Frau verlangte.

Der Portier sah das Zwinkern. Sein Blick wanderte zu der Stelle, wo anständige Gäste bei der Ankunft ihr Gepäck abzusetzen pflegen: Sie war leer. Man kann es verstehen, wenn auch nicht verzeihen, daß ein entsetzliches Mißverständnis bei ihm Platz griff. Er erstarrte zu eisig erhabener Abwehr und wandte dem Ehepaar die Seite – man konnte schon beinahe sagen: den Rücken zu.

»Bedaure«, sagte er. »So etwas gibt es bei uns nicht.« 74

 

Der Intendant und die Statisten

Ein Intendant des Bremer Staatstheaters, ein heiterer, rühriger und geistvoller Mann, hatte einmal, als er während einer Opernprobe auf einen Stuhl gestiegen war, das Unglück, fehlzutreten und auf die Rampe zu stürzen, so daß er, nur noch durch ein klammerndes Bein auf den Brettern, die seine Welt bedeuteten, festgehalten, über dem Orchester schwebte, gerade über der Stelle, wo die Harfenistin, in fließende Gewänder gehüllt, schwermütig ihre Weisen zupfte. Zwei in der Nähe aufgebaute Chorherren eilten herzu, zogen den bedrohten Intendanten wieder auf die Bühne und richteten ihn mit fachgerechten Griffen und tröstendem Zuspruch rasch wieder auf, so daß die Probe fortgesetzt werden konnte.

Am Nachmittag fand der Intendant auf seinem Schreibtisch zwei Zettel, aus denen hervorging, daß die beiden Chorherren, kommerzielle Gedankengänge aufs Bühnenleben übertragend, ein Sonderhonorar von je zwanzig Mark berechneten. Es war ein erklärender Brief beigefügt, in dem sie ihre Freude darüber ausdrückten, daß ihnen Gelegenheit geboten worden sei, ihren verehrten Intendanten aus einer gefährlichen Lage zu retten; doch seien sie, wenn man die Sache vom 75 Standpunkt des Dienstvertrages betrachte, zur Rettung des Intendanten oder sonstwelcher zum Theaterbetriebe gehörenden Personen nicht verpflichtet, und die rechnerische Einbeziehung einer solchen Tat in die kontraktgemäß zu leistende Arbeit sei ihnen daher nicht zuzumuten.

Am anderen Morgen hielten sie die briefliche Antwort in Händen. Es sei, schrieb der Intendant, anzuerkennen, daß die menschlich lobenswerte Tat nicht unter die vertraglich ohne Sondervergütung zu leistende Arbeit falle; doch müsse er die Berechtigung des Anspruchs auf ein Sonderhonorar trotzdem als fraglich ansehen, da er eine Errettung aus seiner gefährlichen Lage keineswegs gefordert habe, die Arbeit also vollkommen freiwillig und obendrein während einer eigenmächtigen Unterbrechung der Probentätigkeit geleistet worden sei. Abgesehen davon, sei es auch strittig, ob die Rettung des Intendanten aus Leibes- und Lebensgefahr unmittelbar zum Theaterbetriebe gehöre und zu seiner ungestörten Weiterführung unbedingt erforderlich sei; so daß er sich nicht ohne weiteres für berechtigt halte, die geforderte geldliche Aufwendung für eine solche Leistung aus den Betriebsmitteln zu nehmen. Bei einem Antrag an die verwaltende Behörde aber erscheine ihm die Bewilligung aus den dargelegten Gründen zweifelhaft, zumindest in der geforderten Höhe, die unter Umständen als eine übermäßig hohe Bewertung angesehen werden könne.

Doch fühle er sich, schloß der Intendant, verpflichtet, die Angelegenheit auf dem Wege privater Erledigung 76 auszugleichen; und obzwar, bei solcher Betrachtung, die Einsetzung einer höheren Wertziffer ihn nicht unangenehm überrascht haben würde, so verbiete ihm doch die Bescheidenheit einen Widerspruch gegen die Einschätzung; weshalb er aus eigenen Mitteln das gewünschte Honorar bereitstelle und zur Abtragung seiner Dankesschuld beifüge. 77

 

Unangenehme Geschichte

Wenn Konsul Schellmüller, in Fa. E. A. Schellmüllers Witwe & Sohn, bei seinen Fahrten durch die Straßen der – damals noch nicht großen – Stadt bemerkt werden wollte beziehungsweise ohne für ihn nachteilige Folgen bemerkt werden durfte, benutzte er einen »Zweispänner«. Es war ein herrliches und von der ganzen Stadt bewundertes Fahrzeug. Auf dem Bock thronte der Kutscher Hermann Dierks, im blauen Frack und mit weißer Binde, einen mattglänzenden »Schappoklack« auf dem Kopfe, in den wohlrasierten Mundwinkeln hochmütige Falten; seine weißbehandschuhten Hände klingelten nachlässig und diskret mit den silbernen Glöckchen der blanken Zügel.

Wenn Konsul Schellmüller dagegen bei seinen Fahrten durch die Stadt nicht bemerkt werden wollte, benutzte er eine jener schlichten Mietsdroschken, die der Bremer nach ihrem Besitzer »Papendieker« nannte. Dieser Benutzungsfall ergab sich, als Konsul Schellmüller, obzwar »Engros« mit Kaffee handelnd, dann und wann bei einem jungen weiblichen Wesen, das im Ballett des Stadttheaters künstlerisch unbeträchtlich, aber sonst durchaus betrachtenswert tanzte, Tee zu trinken pflegte. Vielleicht befürchtete er, daß diese 78 Vorliebe für Tee dem Rufe eines Kaffeegrossisten schaden könnte.

Frau Konsul Clementine Schellmüller, geborene Kämena, erfuhr dessen ungeachtet von dieser Vorliebe. Sie sagte nichts – sie handelte; und zwar rasch und vernichtend.

Als Konsul Schellmüller eines Spätnachmittags, Tee getrunken habend, die Wohnung der Tänzerin verließ, erwartete ihn zu seinem Entsetzen vorm Hause nicht die bestellte schlichte Mietsdroschke, sondern, von erwartungsvollen Zuschauern umgeben, der prächtige Zweispänner. Auf dem Bock thronte der Kutscher Hermann Dierks, im blauen Frack und mit weißer Binde, den mattglänzenden »Schappoklack« auf dem Kopfe, in den wohlrasierten Mundwinkeln angewiderte Falten; seine weiß behandschuhten Hände klingelten schicksalhaft und merklich lauter als sonst mit den silbernen Glöckchen der blanken Zügel. 79

 

Die Ansprache

Zu einer Zeit, da bei uns in Bremen die Kenntnis der spanischen Sprache eigentlich auf wenige Kaufleute und Reeder mit entsprechenden Geschäfts- oder Eheverbindungen beschränkt war, kam einmal ein hoher südamerikanischer Würdenträger mit Uniform, Orden und Gefolge angereist. Über den amtlichen Empfang zerbrach sich niemand groß den Kopf – dergleichen regelt sich immer irgendwie; als aber der Würdenträger den Wunsch äußerte, eine der großen Industrieunternehmungen zu besichtigen, geriet der betreffende Generaldirektor, deutlich ausgedrückt, ins Schwitzen. Ehre und Überlieferung forderten gebieterisch eine einwandfreie Begrüßungsrede in spanischer Sprache. Wer sollte sie halten?

In seiner Not fiel ihm ein, daß in seinem Aufsichtsrat ein Mann saß, der mit Recht in dem Rufe stand, noch nie in seinem Leben vor irgendwelchen Schwierigkeiten versagt zu haben. Es gibt solche Leute: Alle Probleme verflüchtigen sich geradezu beschämt vor ihrer heiteren Selbstsicherheit. Diesen Mann rief der Generaldirektor an: Ob er –?

»Mach ich«, sagte das Mitglied des Aufsichtsrats. »Moin.« 80

Als der Würdenträger mit den Herren seiner Umgebung das Werkgelände betrat, empfingen ihn, in zünftiges Schwarz gehüllt, die Verantwortlichen. Der rettende Herr aus dem Aufsichtsrat aber trat vor, in der Rechten ein Blatt, auf das er keinen einzigen Blick warf, und startete eine spanische Ansprache, die an musikalischem Wohllaut, rollenden Zungen-R's, vorschriftsmäßigen Lispellauten und leisem Gurgelgekrach alles enthielt, was kühnste Träume wünschen konnten. Wie angewurzelt standen die Verantwortlichen, in strahlender Beglücktheit die Gäste.

Als der Sprecher geendet hatte, trat der südamerikanische Würdenträger auf ihn zu, packte seine Hand, mühte sich angestrengt, sie aus den natürlichen Bindungen zu reißen und überflutete ihn mit einem Katarakt spanischer Begeisterungs- und Freundschaftsbeteuerungen.

Der Herr aus dem Aufsichtsrat trat vom linken auf den rechten und wieder auf den linken Fuß, betrachtete den mit schwarzen, roten und blauen Zeichen bedeckten Zettel in seiner Hand, sah mit wahnwitziger, aber natürlich vergeblicher Hoffnung dorthin, wo sonst in allen schwierigen Lebenslagen sein unfehlbarer und jetzt mehr denn je erforderlicher Privatsekretär zu stehen pflegte; zuckte die Achseln, lächelte und sagte auf Bremisch:

»Dscha, das dürfen Sie mir nu nich für ungut nehmen, wenn ich da nich richtig auf antworte, meine Herren – aber ich kann dscha kein Wort Spanisch.« 81

 

Der Patrizier

Zu einer Zeit, als in Bremen der Brauch, an Sonntagen zwischen zwölf und zwei Uhr mittags unter den Familien der maßgeblichen Gesellschaft Besuche auszutauschen, noch ein entscheidender Bestandteil vornehmer Lebensform war, sagte ein alter Großkaufmann, der schwerkrank darniederlag, zu seiner Frau:

»Anna, hilf mir denken, daß wir bei Kösters Besuch machen müssen, wenn ich wieder auf bin. Das sind wir ihnen schon lange schuldig.«

»Daniel«, versetzte seine Frau, »werd du man erst mal wieder gesund, denn will sich das wohl finden.«

Der alte Herr schüttelte den Kopf.

»Ich bin da garnich ruhig bei«, sagte er. »Es gehört sich nich.«

Drei Wochen danach machte ein mit Schwarz und Silber geschmückter, von vier schwarzverhüllten Pferden gezogener Wagen, der einen unter Kränzen und Blumen begrabenen Sarg zum Riensberger Friedhof fuhr, an der Schwachhauser Chaussee vor der Kösterschen Villa halt. Einer der schwarzgekleideten betrübten Lohndiener, die ihm gemessenen Schrittes folgten, trat aus der Reihe, begab sich, in jeder feierlich bedeutsamen Bewegung Träger einer letztwilligen Verfügung, zur Haustür, klingelte und überreichte dem Hausmädchen 82 eine Karte; lüftete flüchtig seinen Vierspitz und begab sich wieder auf seinen Posten.

Das Mädchen überbrachte seiner Herrschaft die Besuchskarte des alten Großkaufmannes, der nun schon wieder langsam seinem letzten irdischen Aufenthalt entgegenfuhr. Unter dem feingestochenen Namen standen, von seiner Hand ein wenig zittrig gemalt, die drei Buchstaben, mit denen man sich nach alter Gesellschaftssitte von befreundeten Häusern bei einem Aufenthaltswechsel zu verabschieden pflegte:

»p. p. c.« 83

 

Kleines Fräulein aus Groß-Hamburg

Meine Nichte aus Hamburg, eine sehr fertige und selbstsichere junge Dame, kam zum ersten Male nach Bremen und besah sich alles mit der freundlichen und ein wenig wohlwollenden Aufmerksamkeit, mit der sich unsere großen Mithanseaten Bremen zu betrachten pflegen – ich wollte natürlich sagen: früher zu betrachten pflegten.

Als wir zwischen Schauspielhaus und Kunsthalle an dem idyllischen grünen Stadtgrabenwinkel vorüberkamen, deutete meine Nichte aus Hamburg mit einer Kopfbewegung auf das mit Seerosen bedeckte verträumte Gewässer und fragte beiläufig:

»Ist das die Weser?«

 


 


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