Jakob Michael Reinhold Lenz
Zerbin oder die neuere Philosophie
Jakob Michael Reinhold Lenz

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Aber wie wenig wußte das gute Mädchen, was sie versprochen hatte! Als sie zu ihrer Freundin kam, fand sie sie eben im Ausräumen begriffen, weil sie ihre Miete aufgesagt hatte, und ein anderes Haus beziehen wollte. Mann und Frau hatten, wie es bei dergleichen Gelegenheit zu gehen pflegt, Händel zusammen bekommen, und maulten itzt miteinander. Sie ward mit einem bewölkten Gesicht empfangen; die Furcht, ihr zur ungelegenen Stunde zu kommen, verschloß ihr den Mund. Das Herz entfiel ihr; all ihre Anschläge verwirrten sich, sie wußte nicht aus noch ein. Sie sagte ihrer Freundin, daß ihr nicht wohl wäre; sie ward kaltsinnig bedauert. Ach, ein Ton der Stimme, eine trockene Miene ist, in dergleichen Gelegenheiten, schüchternen und zarten Seelen ein Donnerschlag! Sie kam halb ohnmächtig wieder nach Hause, und doch liebte sie Zerbinen zu sehr, um ihn durch Erzählung dieses ersten mißlungenen Versuchs in Bekümmernis zu setzen. Sie sah nun ihr Schicksal als eine Strafe Gottes für ihren Leichtsinn an, der höchste Grad der Melancholei, und fand ihren Trost, ihre Wollust in verborgenen Tränen. Sie wagte es dennoch, nach ein paar Tagen zum andernmal hinzugeben, nachdem sie Zerbinen eingebildet hatte, es sei alles schon in Richtigkeit: sie fand Ihre Freundin nicht zu Hause. Auch dies sah sie als etwas Übernatürliches an; ihr Herz entfiel ihr immer mehr; es war, als ob ihr jemand zuriefe: du sollst dich deiner Freundin nicht entdecken! – O Richter, Richter, habt ihr die Gefühle eines jungen Mädchens je zu Rat gezogen, wenn ihr über ihre Tat zu sprechen hattet! Ahndet ihr, was das heißt, seine Schande einer andern entdecken, was für Überwindung das kostet, was für ein Kampf zwischen Tod und Leben in einer weiblichen Seele, die noch nicht schamlos geworden ist, da entstehen muß? Sie faßte nun den Vorsatz, in die Hände Gottes, nicht in die Hände der Menschen zu fallen, wie sie nachher ihrem Beichtvater selber gestanden hat. Sie wollte sich ihrem Schicksal überlassen, und das Schlimmste abwarten, ohne Zerbin oder irgend einem Menschen ein Wort davon zu sagen. – Die Taschen, die damals auch Personen geringen Standes durchgängig trugen, verhehlten ihren Zustand; kurz, die Frucht ihrer verbotenen Vertraulichkeit kam, nach ihrem letzten Geständnis, tot auf die Welt.

Nach den Gesetzen ist eine verhehlte Schwangerschaft allein hinlänglich, einer Weibsperson das Leben abzusprechen, wenn man auch keine Spur einer Gewalttätigkeit an dem Kinde gewahr wird. Marie hatte das ihrige in der Geschwindigkeit ins Heu verbergen wollen, da eben das Haus, wegen eines Schmauses in der Vakantzeit, voller Gäste war, und sie alle Augenblicke gebraucht wurde. Der Kutscher war in ihrer Abwesenheit auf den Heuboden gestiegen, den Pferden etwas Futter zu langen, und er war der erste Angeber dieses unglücklichen Mädchens.

Sie ward gefänglich eingezogen: Zerbin ließ sich nichts merken. Man stelle sich die Entschlossenheit, die Großmut, die Liebe dieses unglücklichen Schlachtopfers vor: sie war durch keine Mittel dahin zu bringen, den Vater ihres Kindes herauszugeben. Alle Klugheit, alle Strenge der Obrigkeit war umsonst; nichts als unzusammenhängende Erdichtungen konnten sie aus ihr bringen. Das war eine Szene, als ihr Vater, der Schulz aus dem Reichsdorf, zu ihr ins Gefängnis trat.

»Du Alleweltsh—«, war sein Willkomm, »was machst du hier? Hab ich dich so gelehrt, Gottes Gebot aus den Augen setzen?«

Sie weinte.

»Durch Henkershand dich verlieren – Wer ist der Vater dazu gewesen, sag mir's! Gottes Gericht soll mich verfolgen, wo ich es nicht so weit bringe, daß der Kerl« – hier kniff er die Daumen ein, sah in die Höhe, biß die Zähne zusammen, und Schaum trat ihm vor den Mund.

Sie weinte immer fort.

»O du Gottsvergessene – – nenn mir den Kerl nur!« – Er setzte sich bei ihr auf eine zerbrochene Tonne nieder.

»Ich weiß ihn nicht, Vater, ich kenn ihn nicht.«

»Du kennst ihn nicht – so wird Gott ihn finden, Gottes Gericht ihn finden! Du kennst ihn nicht? Du wirst dir doch nicht im Schlaf so was haben anräsonieren lassen – Meine einzige Tochter auf dem Schafott – Nenn mir ihn, sag mir ihn, ich will ihm nichts zu leide tun!« – »Freilich war's so gut als im Schlaf, Vater, im Rausch, Vater! als wir von einer Hochzeit kamen. Es war ein Schuhmachersgesell, den Mainzer nennten sie ihn.«

»Gott wird ihn finden, den Schuhmachersgesellen – O mein Kind, mein Kind!« Hier umarmte er sie heulend, und drückte sie, unter erschrecklichem Schluchsen, zu wiederholten Malen an sein Herz. »Wenn ich mich hier in deine Stelle setzte, du bist jung; du kannst noch lange leben –«

»Ich überlebte es nicht – –«

»Ich hatte dir mein neues Haus zugedacht; es ist unter Dach; du sollst mir den Nagler Rein heiraten; es ist ein junges frisches Blut, und hat dich jederzeit so lieb gehabt. Alle Abend bin ich mit meinem alten Weibe hinspaziert, und haben nach dem Bau gesehen und von dir geredt, wie wir im Winter so vergnügt miteinander leben, und fleißig zueinander zu Licht gehen wollten. ›Ich habe noch fünf Pfund von dem schönen weißen Flachs; die soll sie mir abspinnen helfen‹, sagte sie. ›Sie wird doch itzt in der Stadt nicht so galant geworden sein, daß sie das Spinnrad nicht mehr in die Hand nehmen darf‹ – ach, du gottloses Kind! es war, als ob sie das im prophetischen Geist gesagt hätte.«

Sie, auf seine Hand weinend: »Könnt Ihr mir denn nicht verzeihen, Vater?«

»Er, der Nagler Rein, stund denn so dabei und lächelte, und die Tränen quollen ihm in die Augen. Sag ich doch, es war, als ob's uns allen geahndt hätte.«

»Grüßt den guten Rein, sagt, ich werde noch in der Ewigkeit für ihn beten, daß er eine bessere Frau bekomme, als ich ihm gewesen wäre. Sagt ihm, es soll ihm nicht leid sein um mich.«

»Wem sollt' es nicht leid sein um dich.« Hier heulte er wieder an ihrem Halse. »Darf deine Mutter auch kommen, dich zu sehen?«

»Meine Mutter – wo ist sie – wo ist meine gute Mutter? Geschwind laßt sie hereinkommen! Ich habe nicht lange mehr hier zu bleiben.«

Walter (so hieß der Alte) schlug in die Hände. »Ist denn keine Gnade, kein Pardon nicht möglich? Ich will mich dem Gerichtsherrn zu Füßen werfen –«

»Meine Mutter, Walter! – Ich schwör Euch, es stirbt kein Mensch so gern als ich« – sie flog an die Tür: »Meine Mutter! Laßt meine Mutter hereinkommen!«

Hier traten die Mutter und einige Verwandtinnen herein; es ging ein allgemeines Geheul an, das den Kerkermeister selber aus seiner Fassung brachte, daß er das Zimmer verlassen mußte. Die grausame Stunde rückte heran. Man sprach noch immer in der Stadt davon, sie würde Gnade bekommen; bis zum letzten Augenblick, noch da ihr die Augen verbunden wurden, stand das Volk in dieser Erwartung; man konnte es nicht begreifen, nicht fassen, daß eine so liebenswürdige Gestalt unter Henkershänden umkommen sollte; der Prediger war nicht imstande, ihr ein einziges Trostwort zuzusprechen – – vergeblich! Die Gesetze waren zu streng, der Fall zu deutlich; sie ward enthauptet.

Sie hat bis an den letzten Augenblick die liebenswürdige, milde Heiterkeit in ihren Mienen, sogar in ihrer ganzen Stellung, in dem nachlässigen Herabsinken ihrer Arme und des Haupts, noch beibehalten, die ihren Charakter so vorzüglich auszeichnete. Sie stand da, etwa wie eine von den ersten Bekennerinnen des Christentums, die für ihren Glauben Schmach und Martern getrost entgegensahen. Sie wandte sich noch oft sehnsuchtsvoll herum, gleich als ob ihre Augen unter dem gedrängten Haufen Volks jemanden mit Unruhe suchten. Jedermann sagte, sie suche ihren Liebhaber, und die nah bei ihr gestanden, versichern, sie haben sie noch in den letzten Augenblicken einen Namen sehr undeutlich aussprechen hören, der von einem heftigen Tränenausbruch begleitet wurde. Sie hielt sich sodann eine Minute die Hand vor die Augen, welche sie hierauf, wie außer sich, halb ohnmächtig dem Scharfrichter reichte, weil sie sich nicht mehr auf den Füßen erhalten konnte. Er band ihr die Augen zu – und die schöne Seele flog gen Himmel.

Zwei, drei Tage war alles in der Stadt in Bestürzung; man sprach in allen Gesellschaften von nichts, als der schönen Kindermörderin. Man schrieb Gedichte und Abhandlungen über diesen Vorfall: Zerbin ging bei alledem wie betäubt umher, das gewöhnliche Schicksal abgewürdigter Seelen, wenn sie in außerordentliche Umstände kommen. Wenn ich einen Roman schriebe, so würde ich es nimmer wagen, meine Geschichte mit einem Selbstmorde zu schließen, um den Verdacht der Nachahmung zu vermeiden, da diese Saite nun einmal von einer Meisterhand ist abgegriffen worden. So aber darf ich mich von meiner Urkunde nicht entfernen, und welch ein Unterschied ist es nicht mit alledem unter einem Selbstmorde, der, durch die Zaubereien einer raphaelischen Einbildungskraft, zu einer schönen Tat ward, und das höchste Glück des Liebhabers beförderte, und unter einem, der nichts, als die gerechte Folge einer schändlichen Tat, und mehr wie eine Strafe des Himmels, als wie ein Fehltritt einer verirrten Leidenschaft anzusehen war! Er kroch, unter der Last seiner Schuld, und der ihm allein empfindbaren Vorwürfe aller seiner Zeitverwandten, stumm und sinnenlos zu der ihn erwartenden Schlachtbank. Folgende Papiere, die man in seinem Schreibpult gefunden, können dennoch einiges Mitleiden für ihn rege machen. Wir wollen sie, unter den Zeichen A und B, nach Mutmaßung der Zeit, in der sie geschrieben sein können, hier einrücken.

»A. Ich komme zu dir, meine Marie – ich komme, mich mit dir vor denselben Richterstuhl zu stellen, und von dir mein Urteil zu erwarten. Die Welt verdammt mich, es ist mir gleichgültig, aber du – solltest du keine Verzeihung für mich haben, Heilige! – So soll es mir süß sein, wenigstens von dir meine Strafe zu erhalten. Du allein hast das Recht dazu.

B. Ich schreibe dieses, sie vor den Augen der ganzen Welt zu rechtfertigen. Unsere Ehe war kein Verbrechen; zwar war sie von keiner Priesterhand eingeweiht, aber durch unverstellt brennende Küsse versiegelt, durch fürchterliche Schwüre bestätigt. Dieser Lehnstuhl, an dem wir beide auf den Knieen gelegen, dieses Bette, auf dem ich mich noch heulend herumwälze, sind Zeugen davon. Ich war die einzige Ursache, daß unsere Verbindung nicht öffentlich bestätigt ward – meine eingebildete Gelehrsamkeit, mein Hochmut waren die einzigen Hindernisse. Ich schmeichelte ihr, ich würde sie nach Berlin bringen, und meinem Vater vorstellen, bloß um ihre Wünsche, ihre Bitten in die Länge zu ziehen. Ich kann nicht trauren über alles dieses; mein Herz ist zu hart. Aber daß sie mich nicht verraten hat, daß sie für mich gestorben ist, war zu großmütig; das verdiente ich nicht! Ich eile ihr das zu sagen – ich warne alles Frauenzimmer vor einer so grenzenlosen Liebe gegen unwürdige Gegenstände. Ich wollte ihr nichts aufopfern; sie opferte mir alles auf. Ich kann mich nicht hassen, aber ich verachte mich!«

Er schlich, ohne einem Menschen ein Wort zu sagen, in trübsinniger Schwermut einige Tage hin, sprach selbst von dieser Geschichte mit Hortensien und andern, wiewohl allemal sehr kurz. Am dritten Tage abends kam er nicht zu Hause; den vierten Tag ward am Morgen seine Leiche in dem zu der Zeit mit Wasser angefüllten Stadtgraben gefunden, in den er sich vom Wall herabgestürzt hatte. Jedermann erschrak; bis endlich, bei Durchsuchung seiner hinterlassenen Papiere, den Leuten die Augen aufgingen. Hortensia ward schwermütig, und Renatchen soll nach der Zeit die Religion verändert haben, und in ein Kloster gegangen sein.


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