Jakob Michael Reinhold Lenz
Zerbin oder die neuere Philosophie
Jakob Michael Reinhold Lenz

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Jakob Michael Reinhold Lenz

Zerbin oder die neuere Philosophie

        O let those cities, that of plenty's cup
And her prosperities so largely taste,
With their superfluous riots hear these tears –
Shakespeare

Wie mannigfaltig sind die Arten des menschlichen Elends! Wie unerschöpflich ist diese Fundgrube für den Dichter, der mehr durch sein Gewissen, als durch Eitelkeit und Eigennutz sich gedrungen fühlt, den vertaubten Nerven des Mitleids für hundert Elende, die unsere Modephilosophie mit grausamen Lächeln von sich weist, in seinen Mitbürgern wieder aufzureizen! Wir leben in einem Jahrhundert, wo Menschenliebe und Empfindsamkeit nichts Seltenes mehr sind: woher kommt es denn, daß man so viel Unglückliche unter uns antrifft? Sind das immer Unwürdige, die uns unsere durch hellere Aussichten in die Moral bereicherten Verstandesfähigkeiten als solche darstellen? Ach! ich fürchte, wir werden uns oft nicht Zeit zur Untersuchung lassen, und, weil wir unsere Ungerechtigkeiten desto schöner bemänteln gelernt haben, aus allzugroßer Menschenfreundschaft desto unbiegsamere Menschenfeinde werden, die zuletzt an keinem Dinge außer sich mehr die geringste moralische Schönheit werden entdecken können, und folglich auch sich berechtigt glauben, an dem menschlichen Geschlecht nur die Gattung, nie die Individuen zu lieben.

Folgende Erzählung, die aus dem Nachlaß eines Magisters der Philosophie in Leipzig gezogen ist, wird, hoffe ich, auf der großen Karte menschlicher Schicksale verschiedene neue Wege entdecken, für welche zu warnen noch keinem unserer Reisebeschreiber eingefallen ist, ob schon unser Held nicht der erste Schiffbrüchige darauf gewesen.

Zerbin war ein junger Berliner, mit einer kühnen, glühenden Einbildungskraft, und einem Herzen, das alles aus sich zu machen verspricht, einem Herzen, das seinem Besitzer zum voraus zusagt, sich durch kein Schicksal, sei es auch von welcher Art es wolle, erniedrigen zu lassen. Er hielt es des Menschen für unwürdig, den Umständen nachzugeben, und diese edle Gesinnung (ich kenne bei einem Neuling im Leben keine edlere) war die Quelle aller seiner nochmaligen Unglücksfälle. Er war der einzige Sohn eines Kaufmanns, der seine unermeßlichen Reichtümer durch die unwürdigsten Mittel zusammengescharrt hatte, und dessen ganze Sorge im Alter dahin ging, seinen Sohn zu eben diesem Gewerbe abzurichten. Sein Handel bestand aus Geld, welches er auf mehr als jüdische Zinsen auslieh, wodurch er der Wurm des Verderbens so vieler Familien geworden war, deren Söhne sich, durch ihn gereizt, aufs Spiel gelegt hatten, oder zu andern unwiederbringlichen Unordnungen gebracht worden waren. Umsonst, daß er itzt seinen Sohn in alle den Kunstgriffen unterrichtete, womit er die Unglücklichen in sein Netz zu ziehen gewohnt gewesen, umsonst, daß er ihm vorstellte, wie leicht und bequem diese Art zu gewinnen sei, umsonst, daß er, wegen seines offenen Kopfs, und der an ihm sich zeigenden Talente, alle mögliche Liebkosungen affenmäßig an ihn verschwendete: Zerbins Gradheit des Herzens (soll ich es lieber Stolz nennen?) drang durch, und weil er sahe, daß die Grundsätze seines Vaters allen möglichen Gegenvorstellungen des Kindes entwachsen waren, und er doch am Ende der Obermacht der väterlichen Gewalt nicht würde widerstehen können, so wagte er einen herzhaften Sprung aus all diesen Zweideutigkeiten und, ganz sich auf sich selbst verlassend, entlief er seinem Vater, ohne außer seinem Taschengelde einen Heller mitzunehmen.

Sich selbst alles zu danken zu haben, war nun sein Plan, sein großer Gedanke, das Luftschloß aller seiner Wünsche. Und weil er von jeher außerordentliche Handlungen in den Zeitungen mit einem Enthusiasmus gelesen, der alle andere Begierden in ihm zum Schweigen brachte, so war sein fester Gesichtspunkt, den ihm nichts auf der Welt verrücken konnte, nun, unter einem fremden Namen, sich bloß durch seine eignen Kräfte emporzubringen, sodann als ein gemachter Mann zu seinem Vater zurückzukehren, und ihn, zur Ersetzung des von ihm angerichteten Schadens, zu außerordentlichen Handlungen der Wohltätigkeit zu bewegen, oder wenigstens nach seinem Tode seine Erbschaft dazu zu verwenden, um auch von sich in den Zeitungen reden zu machen. Meine Leser sehen, daß wir unsern Helden im geringsten nicht verschönern. Die edelsten Gesinnungen unserer Seele zeigen sich oft mehr in der Art, unsere Entwürfe auszuführen, als in den Entwürfen selbst, die auch bei dem vorzüglichsten Menschen eigennützig sein müssen, wenn ich den Begriff dieses Worts so weit ausdehnen will, als er ausgedehnt werden kann. Vielleicht liegt die Ursache in der Natur der menschlichen Seele und ihrer Entschließungen, die, wenn sie entstehen, immer auf den Baum der Eigenliebe gepfropft werden, und erst durch die Zeit und Anwendung der Umstände ihre Uneigennützigkeit erhalten. Man lobpreise mir, was man wolle, von Tugend und Weisheit; Tugend ist nie Plan, sondern Ausführung schwieriger Plane gewesen, mögen sie auch von andern erfunden sein.

Er wandte sich in Leipzig zuerst an den Professor Gellert, den er, durch eine lebhafte Schilderung seiner dürftigen Umstände, und durch alle mögliche Zeichen eines guten Kopfs, leicht dahin bewegte, daß er ihn unentgeltlich in die Zahl seiner Zuhörer aufnahm, und ihm zugleich eine Menge Informationen in der Stadt verschaffte, mit denen er, so sparsam sie ihm auch bezahlt wurden, Kost und Wohnung bestreiten konnte. Gellerts Moral war, wie natürlich, sein Lieblingsstudium; er schrieb sie Wort für Wort nach, zeigte aber seine Hefte keinem Menschen, sondern, wenn er durch öftere Lesung recht vertraut mit ihnen worden war, verbrannte er sie, um sie desto besser im Gedächtnis zu behalten.

Er trieb nach und nach auch andere Wissenschaften, und es glückte ihm, durch seinen offenen Kopf, geheimen, ungezierten Fleiß, und beständigen Glauben an den guten Ausgang seiner Bemühungen, daß er von dem Professor Gellert zum Führer und Mentor eines reichen jungen Grafen aus Dänemark empfohlen werden konnte. Er disputierte auch über eine sehr wohl ausgearbeitete gelehrte Abhandlung von der Unmöglichkeit, die Quadratur des Zirkels zu finden, und erhielt dadurch die Erlaubnis, als Magister der Mathematik, ein Privatkollegium über die doppelte Baukunst, und ein anderes über die Algebra zu lesen, von der er ein großer Liebhaber war. Übrigens gewann er dem Grafen, durch seine ihm natürliche Anhänglichkeit an andere Leute, und Teilnehmen an ihre kleinsten Umstände, sein ganzes Vertrauen ab.

Wie schlüpfrig sind doch die Pfade durchs Leben! Wie nah sind wir oft, wenn wir den sichersten Gipfel unserer Wünsche erreicht zu haben meinen, unserm Untergange! O du, der du die Herzen der Menschen in Händen hast, und ihnen nach ihrem innern Wert auf die Schale legst: sollten die besten Menschen nicht oft im Fall sein, deine Waage anzuklagen? Aber du wägst in die Vergangenheit und in die Zukunft, wer darf rechten, wer kann bestehen vor dir? Glücklich das Herz, das, bei allen scheinbaren Ungerechtigkeiten seines Schicksals, noch immer die Hand segnen kann, die ihn schlägt!

Unser Held war bis hieher seinem großen Zweck immer näher gerückt, aber er hatte andere Wünsche, andere Begierden, die auch befriedigt sein wollten. Er hatte ein reizbares, für die Vorzüge der Schönheit äußerst empfindliches Herz. Mäßigkeit und Gesundheit des Körpers und Geistes hatten sein Gefühl fürs bessere Geschlecht noch in seiner ganzen Schnellkraft erhalten, und seine moralischen Grundsätze schienen Winde zu sein, dieses Feuer immer heftiger anzublasen. Er war oft ganz elend, so elend, daß er erschöpfte Wollustdiener, unter denen sein Graf auch war, um ihre Gleichgültigkeit, und den Geist freilassenden Kaltsinn beneidete; sah er aber das ungeheure Leere, das alle ihre Stunden, selbst ihre Vergnügen, belastete, sah er, wie jämmerlich sie sich winden und zerren mußten, um wieder einmal einen Tropfen Freude an ihren Herzen zu fühlen; so tröstete ihn das wieder über seine innerlichen Leiden, und machte sie ihm unendlich schätzbar.

Der Graf Altheim war, bei seiner Ankunft in Leipzig, an einen der reichsten Bankiers empfohlen worden, der aus einem gewissen Eigensinn sich nie verheiraten wollte, sondern, mit seiner einzigen jungen und sehr schönen Schwester, eine der glänzendsten Haushaltungen in ganz Leipzig führte. Die Bekanntschaft in dem Hause des Herrn Freundlach (so hieß der Bankier), vielleicht auch die öftern Vorstellungen Zerbins, hatten ihn von seinen vorigen Ausschweifungen mit Frauenzimmern von verdächtigem Rufe zurückgebracht; er war übrigens eine der wächsernen Seelen, die sich gar zu gern von andern lenken lassen, weil sie zu bequem, und am Ende zu unvermögend sind, ihren Verstand selber zu brauchen. Er wollte keinem Menschen Übels, außer wenn er gegen ihn durch andere war aufgebracht worden, alsdann aber war sein Zorn auch unversöhnlich, solange das Maschinenwerk des fremden Verstandes, der ihn in Bewegung setzte, fortwirkte. Er hatte Zerbinen auf zu viele Proben gesetzt, um ihm nicht uneingeschränkt zu trauen; solange der also das Regiment in seiner Seele führte, ging alles nach Wunsch, und er hatte so viel Achtung für ihn, daß er ihm allemal seine Pension von seinen Wechseln voraus bezahlte, aus Furcht, er möchte durch jugendliche Verschwendungen in die Notwendigkeit gesetzt werden, Zerbinens Finanzen in Verwirrung zu bringen.

Ganz anders ging es, als eine weibliche Gewalt sich des Zepters in diesem Herzen bemächtigte. Freundlach hatte eine Schwester; die Grazien schienen bei ihrer Geburt in Beratschlagungen gesessen zu sein. Alles war auf ihrem Gesicht, auf ihrem Körper vereinigt, was bezaubern konnte, große schwarze Augen, die mehr sagten, als sie fühlte, Mienen, welche ebensoviel Netze für die Freiheit der Herzen waren. Zu unserer Ritter Unglück fing das unfreundliche zweiundzwanzigste Jahr leis an ihre Tür zu klopfen an, zu dem sich die grauenvolle Idee einer alten Jungfer in scheußlicher Riesengestalt gesellte, und den ersten ruhigen Augenblick abzuwarten schien, um sie mit all ihren Schrecknissen zu überfallen. Sie hatte bis in ihr zwanzigstes Jahr kokettiert, das heißt, mit der sorgenfreiesten Seele von der Welt, nur an den Kützel gedacht, täglich einige zwanzig wohlfrisierte Anbeter mit den untertänigsten Reverenzen unten an ihrem Fenster vorbeikriechen zu sehen, jeder in Gedanken der Glückliche, jeder der Betrogene. Diese Arten von Wallfahrten waren das einzige Mittel, das ihre Reize, ihren guten Humor, ihre ganze Wohlhäbigkeit erhalten konnte, so daß jeder regnige Herbst- oder Wintertag ein wahrer Leidenstag für sie war. Sodann sanken all ihre schönen Gesichtszüge; sie kroch in einen Winkel; schlug einen Roman auf, der ihr nicht schmeckte, und in den sie kaum zwei Zeilen gelesen hatte, wo nicht gleich ihre Gedanken sich an andere Gegenstände hefteten, und so ineinander verwirrten, daß ihr das Buch aus der Hand fiel, und sie wie aus einem tiefen Traum erwachte. So schlich ihr Leben, vom vierzehnten, bis zum zwanzigsten Jahr, in einem ewigen Dakapo unbedeutender Eroberungen hin, die, wie die Seifenblasen womit Kinder spielen, oft aneinander zerplatzten. Sehr oft hatte ihr ihre kleine scheckige Phantasie ihre Liebhaber und deren Handlungen auch in einem falschen Licht vorgespiegelt, so daß sie bisweilen ganz irre an ihnen ward, und ihre ungereimtesten, zufälligsten Handlungen in einen Roman zu bringen sich zermarterte, über den sie sich oft zu ihrem größten Verdruß sehr spät die Augen mußte öffnen lassen.

Wie gesagt, dieser Zustand konnte nicht immer fortwähren; sie mußte auf eine Versorgung denken. Schönen, die Männer haben wollen, sind wie eine Flamme im Walde, die desto heftiger um sich frißt, je mehr Widerstand sie antrifft. Nichts, nichts wird verschont, alle mögliche Kunstgriffe werden angewandt, was sich ihnen in Weg stellt, muß brennen. Unser unerfahrne Zerbin war das erste Schlachtopfer dieses weiblichen Alexandergeistes. Nicht daß ihre Bemühungen auf ihn selbst abgerichtet waren, sondern er sollte das Instrument in ihrer Hand sein, auf ein andres Herz Jagd zu machen.

Hohendorf, ein sächsischer Offizier, der in Leipzig bei unserm Zerbin die Kriegsbaukunst erlernte, hatte gleichfalls ein Empfehlungsschreiben, und durch dasselbe einen freien Zutritt bei Freundlach. Er war ein junger wohlgewachsener Mensch; Mademoiselle Freundlach hatte ihn durch hundert kleine Streiche, die bei ihr freilich unbedeutend waren, an sich gezogen; ihr gefielen seine leidenschaftlichen Stellungen, seine oft bis zum Erhabnen beredte, oft bis zum Kindischen läppische Sprache, seine Aufmerksamkeiten, seine Serenaden, seine Ausgaben ohne Überlegung, die sich alle aus Fehlschlüssen herschrieben, und mit Fehlschlüssen endigten. Das einzige wunderte sie, konnte sie mit ihrem gesamten Verstande nicht klein kriegen, daß er ihr nie etwas vom Heiraten vorsagte, da er doch sonst hundert Albernheiten zu ihren Füßen beging. Die wahre Ursache davon aber war, daß er schon eine Frau hatte, zwar nur von der linken Seite, der er aber ein besiegeltes Versprechen, sie gleich nach seines Vaters Tode zu heiraten, in den Händen ihres königlichen Notars hinterlassen hatte, und die mit ihren zwei Kindern gewiß nicht ermangelt haben würde, sobald sie von einer neuen Verbindung gehört hätte, der Braut ihren untertänigen Glückwunsch abzustatten. Ob Mademoiselle Freundlach was davon gemerkt, weiß ich nicht, genug, sie fing an, seit einiger Zeit in alle Beteuerungen und Feierlichkeiten Hohendorfs Mißtrauen zu setzen.


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