Jakob Michael Reinhold Lenz
Zerbin oder die neuere Philosophie
Jakob Michael Reinhold Lenz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Altheim war ganz ein anderer Mensch; gerade zu, ohne Arges, nicht so hinterm Berge haltend, nicht so unerklärbar, als Hohendorf. Das war ein Mann für Renatchen (so hieß Mademoiselle Freundlach), der ihr wenigstens ihr kleines Köpfchen nicht zerbrach. Es kam nur darauf an, ihn in dem Grad verliebt zu machen, als Hohendorf war; das fand aber anfangs ein wenig Schwierigkeit. Er hatte zu viel Wasser in seinem Blut, zu dickhäutige Nerven; das Feuer ihrer Augen konnte den Thermometer so geschwind nicht steigen machen. Das erste, das ihr bei dieser Verlegenheit in den Wurf kam, war Zerbin; die Kälte des Grafen schien ihr nicht die Frucht einer ohnmächtigen Natur, sondern einer durch lange Verschanzungen bebollwerkten Überlegung. Sie machte also einen Plan, diese Festung zu unterminieren, den unser scharfsinnige Kriegsbaumeister einzusehen zu unwissend war, ein Triumph, der ihrer aufgebrachten Einbildung mehr schmeichelte, als Alexandern die Eroberung von Babylon; und ihr erster Angriff war auf Zerbinen gerichtet, den sie für den Kommendanten dieses Platzes hielt.

Zerbin! Dieser unerfahrne, ungewahrsame, mit allen Ränken weiblicher List so gänzlich unbekannte Hauptmann: wie hätte der einem Angriff von der Art lange widerstehen können? Es hatte sich noch nie ein Frauenzimmer die Mühe genommen, seine Unschuld zu erschüttern, da er nicht reich, und noch weniger angenehm war, obgleich seine äußere Gestalt ziemlich gut ins Auge fiel. Er wußte keine einzige, ich sage keine einzige von den Millionen artiger Kleinigkeiten, mit denen Frauenzimmer von gutem Ton heutzutage unterhalten werden; er stand wie Saul unter den Propheten, sobald er in eine Gesellschaft von Damen trat. Er sah lauter überirdische Wesen außer seiner Sphäre an ihnen, für die er, weil er kein einziges ihrer Worte und Handlungen begriff, noch einsah, eine so tiefe innerliche Ehrfurcht fühlte, daß er bei jeder Antwort, die er ihnen geben mußte, lieber auf sein Angesicht gefallen wäre, und angebetet hätte. Mit einem solchen Gegner war freilich der Sieg nicht halsbrechend; den ersten Abend, als er nach Hause kam, aß er keinen Bissen; die Nacht brachte er schlaflos auf stechenden Federn zu; den Morgen verunglückten alle seine algebraischen Rechnungen, und er sah sich genötigt, eine Kur vorzuschützen, und seine Zuhörer einen Monat lang zu entfernen, um sich vor ihnen nicht lächerlich zu machen. Hohendorf blieb demungeachtet sein vertrautester Freund, und er war so übermäßig treuherzig gegen ihn, ihm im geringsten nicht den Vorzug merken zu lassen, den er in Renatchens Herzen zu haben schien, sondern alles das mit seiner Schüchternheit so wohl zu bemänteln, daß er ihm sein ganzes Vertrauen abgewann. indessen betrog ihn diese Schüchternheit wohl zuweilen selber und es fing sich ein Gespenst in seinem Herzen an zu regen, das er vorher kaum dem Namen nach kannte, die unbändigste Eifersucht, die jemals an der Leber eines Sterblichen genagt hat. Diese, weil er sie des Tags über unterdrückte, machte sich in der Nacht Luft, und machte ihn bisweilen in ein lautes Stöhnen und Weinen ausbrechen, das Altheim, der in einem Zimmer mit ihm schlief, nicht unaufmerksam lassen konnte.

Eine der originellsten Szenen war es, Zerbin mit Renatchen, Hohendorfen und Altheim Triset spielen zu sehen. Jede Karte hatte in des armen Liebessiechen Ideen eine Bedeutung, deren geheimer mystischer Sinn nur ihm, und seinem Abgott anschaulich war, und sie dachte gerade bei jeder Karte nichts. Er spielte erbärmlich, und machte sie eine Partie nach der andern verlieren, und wenn sie im Ernst böse auf ihn ward, hielt er das für die feinste Einkleidung ihrer unendlichen Leidenschaft für ihn, die kein anderes Mittel wüßte, sich ihm, ohne von den andern bemerkt zu werden, verständlich zu machen. Sie, die außer dem Interesse ihrer großen Passion, kein anderes kannte als das elende Interesse des kleinen Kartenspiels, konnte, wenn er ihr mit allen zehn Karten in der Hand, das Herz-As anspielte, in Feuer und Flammen geraten, das er alles sehr wohl zurechtzulegen wußte, und in ihren heftigen, oft unbescheidenen Verweisen allemal verstohlne Winke der Zärtlichkeit, oder wohl gar das Signal zu einem Rendezvous zu entdecken glaubte, nach dem er sich den andern Tag die Beine ablief, ohne jemals ihr Angesicht zu sehen. Der würde ihm einen üblen Dienst geleistet haben, der ihn auch nur von fernher auf die Spur geholfen hätte, was der wahre Bewegungsgrund ihrer ganzen Maskerade gegen ihn sei. Er soll einmal wirklich die ganze Nacht unter ihrem Fenster gestanden haben, weil sie ihm auf seine Invite in Koeur das Neapolitain in Karo gebracht hat, das er, wegen seiner viereckigen Rautenfigur, für ein unfehlbares Zeichen eines Rendezvous unter dem Fenster hielt.

Es dauerte nicht lange, so drang Altheim in seinen Kummer; das heißt, Zerbin gestand ihm, daß die Reize Renatchens nicht die Reize eines Menschen, sondern der Gottheit selber wären, die sich unter ihrer Gestalt auf Erden sichtbar zeigen wollen. Altheim ward mitleidig mit seinen nächtlichen Seufzern, er ward neugierig – lüstern, verliebt. Der Stolz, Zerbinen selbst, und auch Hohendorfen, ihre vermeinte Eroberung streitig zu machen, beschleunigte seine verliebte Bekehrung. Zerbin merkte dies, denn was merkt das Auge eines Liebhabers nicht, er fing an, die Verzweiflung, die bisher auf seinem Gesicht gewütet hatte, in sich hineinzukehren, und unter einer lachenden Miene zu verbergen. Er ward gewitzigt, gescheut, erträglich in Frauenzimmergesellschaften, und darum nur desto unglücklicher, da er seinem Herzen nie Luft lassen durfte und der verborgene Gram desto giftiger mit Skorpionenklauen dran zwickte. Er sah nun deutlich aus der plötzlichen Verwandlung Renatchens gegen ihn, daß alle ihre Anlockungen nur ein blinder Angriff gewesen waren, der eigentlich seinem Herrn gegolten hatte. Die Wunde war geschlagen, er blutete – und niemand hatte Mitleiden mit ihm. Sie tat kalt, spröde, bisweilen gar verächtlich gegen ihn, um ihn völlig aus seinem Irrtum nüchtern zu machen, nur, wenn sie merkte, daß sein Stolz zu tief gekrümmt worden war, bekam er einen aufmerksamen Blick, um nicht, wie Petrarch sagt, die Demut, die zu tief hinabgedruckt wird, zur Wut zu entflammen. Wer war unglücklicher, wer war erleuchteter, als er itzt, über die große Triebfeder weiblicher Seelen? Er sah, daß kein andrer Weg für ihn übrig war, noch bei vollem Verstande zu bleiben, als das Haus auf immer zu meiden, und seinen Wohltäter in dem Besitz der schönen Beute zu lassen. Er setzte sich's fest vor, brach es ein paarmal, setzte sich's wieder vor, schwur sich's, bis er endlich Meister über sich ward, und nun von Altheimen im Namen seiner Geliebten große Vorwürfe darüber erwartete: aber leider! man vermißte ihn nicht einmal.

Itzt nahm sein Schicksal eine tragischere Wendung. Daß des Menschen Herz ein trotzig und verzagtes Ding sei, ist ein Gemeinspruch, der auch den Allereinfältigsten auf den Lippen schwebet, den aber, wenn er sich an uns selbst wahr macht, kein menschlicher Scharfsinn, wär' es auch des größtmöglichen universellsten Genies, daß ich so sagen mag, auf der Tat ertappen, und ihm mit gehörig zubereiteter Brust begegnen kann. Wir schwanken immer, müssen zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwanken; die am kühnsten beflügelte Seele schwankt desto fürchterlicher. Glücklich, wessen starkgewordene Vernunft in dieses Schwanken selbst ein gewisses Gleichgewicht zu bringen weiß!

Zerbin verzagte nun an sich und an der Möglichkeit geliebt zu werden, das gewöhnliche Schicksal der edelsten Seelen, die ihr Unglück nicht zufälligen Umständen, sondern ihrer eigenen Unwürdigkeit zuzuschreiben so geneigt sind. Der Geck weiß sich aus einer solchen Verschiebung sehr geschwind herauszufinden, bei dem edlen Mann aber frißt sie, wie ein Wurm, an der innern Harmonie seiner Kräfte. Alle seine langgehegten und gewarteten Vorstellungen, Empfindungen und Entwürfe liegen nun auf einmal, wie auf der Folter ausgespannt, verzerrt und zerrissen da; der ganze Mensch ist seiner Vernichtung im Angesicht. Er erholte sich zwar wieder, seine Seele nahm ihre vorige Schnellkraft wieder, aber nur um desto empfindlicher und untröstbarer zu leiden.

Unterdessen nahmen die Negoziationen zwischen Altheim und Renatchen ihren erwünschten Fortgang, und Hohendorf, der dieses nur zu bald inneward, verzweifelte darüber. Er kam oft zu Zerbinen, der, hinter zugezogenen Fenstergardinen, in mathematischen Büchern vergraben saß, in denen er leider! oft den ganzen Tag emsig las, ohne doch zwei Zeilen zu verstehen, auch an die erste Seite immer wie gebannet blieb, so sehr hatten seine Gedanken, wie ausgerissene unbändige Hengste, einen andern Weg genommen. Das Studium lag; alle seine Schüler verließen ihn; Hohendorf allein blieb ihm, doch mehr um ihm seine Not zu klagen, als Festungen erobern zu lernen. Zerbin hörte alle seine Klagen, Verwünschungen, Schmäh- und Lästerungen über Altheim und Renatchen mit großer Geduld an, und hatte nie das Herz, die seinigen dazuzufügen, sondern akkompagnierte ihn aufs höchste mit einigen halberstickten Seufzern, oder einem frostigen Lachen und einer so sokratischen Miene, daß er den Scharfsichtigsten selber betrogen haben würde, weil er fest entschlossen war, und einen gewissen Reiz drin fand, sich mit dieser erkünstelten Gleichgültigkeit das Herz abzustoßen. – Äußere Umstände kamen dazu; Altheim blieb der warme, sorgsame Freund nicht mehr für ihn; zwei Passionen können das Herz eines gewöhnlichen Menschen nie zu gleicher Zeit beschäftigen; dazu kam eine gewisse Art von Zurückhaltsamkeit gegen ihn, weil er ihn selbst in Renatchen verliebt gewußt hatte. Ihr Umgang war kalt, trocken, mürrisch; er ging des Morgens früh aus dem Hause, und kam des Nachts spät heim; sie wurden sich so fremd, daß sie sich füreinander zu fürchten anfingen. Der Tod der Freundschaft ist Mißtrauen: seine Wechsel kamen an; er vergaß Zerbinen die Pension auszuzahlen; Zerbin war zu stolz, ihn zu mahnen; er wollte sich im geringsten nicht bloß geben, daß er die Veränderung seines Herzens gegen ihn merkte. Das Gefühl der Freundschaft ist so zart, daß der geringste rauhe Wind es absterben macht, und oft in tödlichen Haß verwandelt; die Liebe zankt und söhnt sich wieder aus; die Freundschaft verbirgt ihren Verdruß, und stirbt auf ewig. Zwei Freunde sehen nur ein anders gestaltetes Selbst aneinander; sobald diese Täuschung aufhört, muß ein Freund vor dem andern erblassen und zittern.

Zerbin, der außer Wohnung und Tisch nichts frei hatte, fing an, die Notwendigkeit einzusehen, seinem Schmerz, dessen Gegenstand nicht edel genug war, ihn auf die Länge bei sich selbst zu rechtfertigen, einige Zerstreuung zu geben. Er wollte das Schauspielhaus, die Kaffeehäuser besuchen, um nicht von dem Alp Hypochonder erdrückt zu werden, der sich so gern zu einem Kummer gesellt, der durch keine Leidenschaft mehr veredelt wird. Alle seine Gelehrsamkeit hatte aus seinem Kopf Abschied genommen; er mußte wie ein Schulknabe wieder von vorn anfangen, und, was das schlimmste war, stellte sich ihm Renatchen, und alle mit ihr sich eingebildete Freuden, wie eine feindselige Muse, bei jedem Schritt im Wege, und riß, wie jenes Ungewitter vor Jerusalem, in der nächsten Stunde alles wieder ein, was er in der vorigen mit Mühe gebaut hatte. Meine Leserinnen werden vielleicht bei dem ersten wahren Gemälde einer Männerseele erstaunen, vielleicht aber auch bei ernsthafteren Nachdenken den Unglücklichen bedauren, der das Opfer einer so unredlichen Politik ward. Wie gesagt, seine Schüler verließen ihn; der Mangel nagte und preßte; er geriet in Schulden – und das – weil er zu verschämt, zu stolz – vielleicht auch zu träge war, jemand anders anzusprechen, bei seiner Aufwärterin, die er, sobald er sich das Herz genommen haben würde, Altheimen zu mahnen, mit Interessen zu bezahlen hoffte, sich also dadurch die Erniedrigung ersparte, andern Leuten Verbindlichkeiten zu haben.

Altheim wußte indessen allen Wendungen Renatchens zu einem förmlichen Heiratsverspruch so geschickt auszuweichen, daß sie es endlich müde ward, auf neue Kunstgriffe zu sinnen, und sich lieber der angenehmen Sicherheit überließ, die die größten Helden des Altertums so oft vor dem Ziel aller ihrer Unternehmungen übereilte. Sie suchte nun aus seiner Leidenschaft alle nur mögliche Vorteile für den gegenwärtigen Augenblick zu ziehen, und, da der Graf nichts weniger als geizig war, verschwendete er unermeßliche Summen, ihr tausend Abwechselungen von Vergnügen zu verschaffen. Beide dachten an Vermeidung des Argwohns und an die Zukunft nicht; böse Zungen sagten sogar schon in der Stadt sich ins Ohr, ihre Bekanntschaft sei von sichtbaren Folgen gewesen. Ein Teil dieser Nachreden mochte sich auch wohl von Hohendorf herschreiben; sie bekamen sie selber zu Ohren, ohne sich darüber sehr zu kränken, oder ihre Aufführungen behutsamer einzurichten, so daß man am Ende Renatchen überall nur die Gräfin nannte.

Zerbin hörte diese Benennung und viel ärgerliche Anekdötchen in allen Gesellschaften, die er noch besuchte; seine Göttin so von ihrer Würde herabsteigen, so tief erniedrigt zu sehen, konnte nicht anders, als den letzten Keim der Tugend in seinem Herzen vergiften. Er suchte sich eine bessere Meinung vom Frauenzimmer zu verschaffen, er suchte sein Herz anderswo anzuhängen; es war vergeblich. Der Herr des Hauses, das er und der Graf zusammen bewohnten, hatte eine Tochter, die dem Bücherlesen ungemein ergeben war, und sich zu dem Ende ganze Wochen lang in ihr Kabinett verschloß, ohne sich anders als beim Essen sehen zu lassen. Er beredete den Grafen, ihm bei seinem Hausherrn die Kost auszudingen, welches der mit Freuden tat, weil dieser Tisch wohlfeiler, als der im Gasthofe, war, und er zu seinen verliebten Verschwendungen jetzt mehr als gewöhnlich zu sparen anfing. Zerbin suchte bei Hortensien (so hieß die Tochter seines Wirts) wenigstens den Trost einer gesellschaftlichen Unterhaltung – aber leider! mußte er auch hier die gewöhnliche Leier wieder spielen sehen. Sie legte alles, was er redte und tat, als Anstalten zu einer nähern Verbindung mit ihr aus, zu der sie denn auch nach der gewöhnlichen Taktweise einen Schritt nach dem andern ihm entgegen tat. Es ist ein Mann, sagten alle ihre Blicke, alle ihre Mienen, alle ihre dahin abgerichteten, ausgesuchten, in ihrem Kabinett ausstudierten Reden; er will dich heiraten! Du wirst Brot bei ihm finden; es ist doch besser Frau Magistern heißen, als ledig bleiben, und er denkt honett. Er dachte aber nicht honett; er wollte diese steifen, abgezirkelten, ausgerechneten Schritte in den Stand der heiligen Ehe nicht tun, so sehr Algebraist er auch war – er wollte lieben. Er wollte Anheften, Anschließen eines Herzens an das andere ohne ökonomische Absichten – er wollte keine Haushälterin, er wollte ein Weib, die Freude, das Glück, die Gespielin seines Lebens; ihre Absichten gingen himmelweit auseinander; er steuerte nach Süden, sie steuerte nach Norden; sie verstunden sich kein einzig Wort. Doch glaubte sie ihn zu verstehen; alle seine Gefälligkeiten, alle seine Liebkosungen (denn was liebkost nicht ein Mensch in der Verzweiflung?) beantwortete sie mit einer stumpfen, kalten Sprödigkeit, die ihn immer entweder mit Blicken, oder wohl gar mit Worten, auf den Ehestand hinauswies, als ob bis dahin keine Verschwisterung der Herzen möglich, oder vielmehr, als ob sie von keiner andern, als die hinter den Gardinen geschieht, einige Begriffe hätte. Der arme Mensch ging drauf, verzehrte sich in sich selber. Er mußte etwas lieben – Hier fing das Schreckliche seiner Geschichte an.


 << zurück weiter >>