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I

»Jalmeida« der große Diamant – Flüchtling der Zivilisation – Giftpfeile

 

In vielen Windungen, von Gebüsch und rauhen, verkrüppelten Bäumen umrahmt, zieht sich die brasilianische Landstraße zu dem Diamantengebiet Rio das Garças. Viele wandern sie entlang, zu Pferde oder zu Fuß, aus aller Herren Länder kommen sie, das Glück zu suchen. Viele Hoffnungen zerschellen hier, selten nur gelingt es, Reichtum und neues Leben dieser spröden, rötlich-grauen Erde zu entreißen, die eifersüchtig über ihren kostbaren Schatz, den Diamanten, wacht.

Die mit einer dicken Staubschicht bedeckte Straße wechselt beständig ihren Platz. Erst kaum sichtbar, später durch die großen Räder der Ochsenkarren breit gefahren, zieht sie sich dahin, bis Regengüsse sie verwaschen und die sengenden Sonnenstrahlen sie unfahrbar machen. Dann bahnen die Wagen sich einen neuen Weg, und die Straße rückt nach links oder nach rechts auf der Suche nach ebenen Stellen. In tiefer Einsamkeit ruht sie tage-, oft wochenlang, bis der von zehn oder mehr Ochsen gezogene Karren über sie wandert. Weit schallt das eigentümliche Geheul seiner Achsen durch den heißen Tag, aufreizend, schrill, monoton …: Die schweren Holzräder fressen sich tief in den sandigen Boden, Staub wirbelt auf, und die Reihe der Ochsen, diese vielfarbige, lange Reihe, schreitet langsam und schwerfällig, stumpf, gleichgültig und müde …: Die Stöcke der Treiber klatschen auf die geduldigen Rücken – rotes Blut fließt –, und laute Zurufe gellen.

Wenn man die Straße entlang wandert, so wird einem allenthalben an den Lagerfeuern die Geschichte von »Jalmeida«, dem großen Diamanten, erzählt.

*

…: Es waren ein Mann und zwei Knaben.

Sie saßen am Feuer und schauten in die zuckenden Flammen, die die Dunkelheit noch tiefer und undurchdringlicher machten.

Emilio, der Mann, redete. Etwas Unverständliches zwang ihn dazu, immer wieder und wieder mußte er sprechen …: Wie er jetzt gedankenlos das lebhaft brennende Feuer schürte, genau so gedankenlos sprach er. Hundert Male schon erzählte er die Geschichte seines Lebens, die so einfach und unkompliziert war, wie er selbst. Und als aus der Ferne der Schrei eines Jaguars durch die Nacht scholl, sprach er von der großen Katze, die vor Jahren, als er, Emilio, noch bei einem Fazendeiro in Stellung war, sich jede Nacht eine Kuh holte, bis einmal …:

Er lag im Schuppen auf seinem Lager, der Rinderhaut, als in unmittelbarer Nähe der Hütte laut und drohend der Schrei des blutgierigen Raubtieres erschallte. Zitternd duckte er sich, angstvoll in die Dunkelheit lauschend. Es war Tod in der Nähe …: Da draußen ging etwas vor sich. Unerklärliche, dumpfe Laute, ein Treten, Ächzen, Stampfen, ein erbitterter Kampf, ein Kampf auf Leben und Tod – und Stille. Nichts als dunkle Nacht und in ihr das Grauen …:

Am Morgen fand er den Jaguar, von einem riesigen Ameisenbär umklammert, und beide waren tot.

So erzählte Emilio, der Ochsentreiber.

Zehn Jahre schritt er nun schon die brasilianische Landstraße entlang, hinter dem Karren mit Proviant, Bohnen und Reis, Kaffee, Zucker, Salz, Speck und Cachaça Zuckerrohrschnaps, für die, die am Rio das Garças das Glück suchten. Zehn Jahre lang, jahraus, jahrein …:

Die Nacht verging gleich den vielen anderen. Die Sonne kam. Die Ochsen wurden von der Weide getrieben, und wieder schrillte das Geheul der Achsen, wieder schrien die Knaben, dröhnten dumpf ihre Schläge auf den Rücken der langsam dahintrottenden Rinder.

Gedankenlos, stumpf, die Augen auf die Spur geheftet, die die Räder in den Sand gruben, ging Emilio hinter dem Wagen her. Sein Blick glitt über die Steine, die die rötliche, sandige Straße bedeckten. Er hatte seinen Feuerstein verloren. Sollte sich da nicht Ersatz finden lassen? In die gleichgültig dreinschauenden Augen kam ein lebendiger Funke. Glitzerte es soeben nicht in der Rinne, die das Rad verließ, und die sich zu Dreivierteln sogleich wieder schloß, so locker war hier der heiße, trockene Boden.

Ein Stein, doppelt so groß wie eine Walnuß!

Emilio bückte sich faul und schwer. Träge versuchte er, ihm im Weiterschreiten Funken zu entlocken. Es ist nicht gut, auf dem langen Marsch ohne Feuer zu sein! Alle Mühe war jedoch vergeblich. Ärgerlich wollte er das »dumme Ding« zurückschleudern in den Staub der Straße. Aber der Stein hatte einen so schönen Glanz, und er steckte ihn zu sich, wie man eine Blume am Wegrande mitnimmt, eine Strecke weit.

Endlich, nach vielen mühevollen Abhängen und steinigen Schluchten war die Siedlung erreicht. Ein eigenartiges Leben herrschte hier: die Suche nach den Diamanten, Essen und Trinken, und im Rausche das Weib, und über allem die vielhundertfachen Gefahren dieses heißen, tropischen Landes, angefangen vom Giftzahn der Schlange bis zum treffsicheren Dolchmesser des Garimpeiro Diamantsucher.

Die Tiere wurden vor der Venda, dem Verkaufsladen, der zugleich, wie an solchen Orten üblich, die Kneipe darstellt, abgeschirrt und sich selbst überlassen, und Emilio machte sich daran, die paar Groschen, die er ersparte, zu vertrinken wie es auch die anderen taten.

Auf Kisten, Kasten und Schemeln hockten sie, wetterharte Gesellen, die manche Gefahr bestanden, manche Hoffnung begraben hatten. Der Becher mit Cachaça kreiste, und derbe Rede flog hin und wider. Gedankenlos zog Emilio den Stein aus der Tasche. Er erzählte, daß er sein Feuerzeug verloren hatte und drehte das glitzernde Spielzeug in den schmutzigen Händen.

Die finsteren Gestalten blickten auf.

»Wo hast du ihn her, den Diamanten?«

»Diamant!« Emilio lachte. »Wenn er nicht so groß wäre, hätte ich beinahe selbst geglaubt, daß es einer ist.« Er schaute auf das schimmernde Ding.

Und doch – es war einer!

Sie drängten sich jetzt alle um ihn. Hier war endlich einmal der Traum vom Glück, der Traum vom »großen Stein« in Erfüllung gegangen. Warum sollte es nicht auch eines Tages sie treffen …? Das Mögliche war hier Wirklichkeit geworden, neue Hoffnungen bewegten alle.

Bald wußte es jeder in den Hütten. Immer mehr braune Gesellen kamen, immer enger wurde es in Senhor Ramiras Venda, die rauhen Stimmen schallten und erfüllten den kleinen Raum mit lautem, drängendem Leben.

Und dann kam Joaquim Almeida, der Aufkäufer.

»Diabão! 50 Contos ein Conto = 1000 Milreis gebe ich dir!« Er streckte die braune Hand aus.

50 000 Milreis! Ein Vermögen! Emilio schwindelte es. Nun wird er sich eine Fazenda kaufen, wird Rinderherden haben, wie der reiche Galega, und niemals mehr von früh bis spät, in Sonne und Regen, hinter dem Ochsenkarren schreiten …:

Und er tauschte den Stein gegen die Scheine.

»Jalmeida«, wie sie ihn nannten, der große Diamant, ging aus einem Besitz in den anderen. Sein Wert steigerte sich fast stündlich, bis er für 150 000 Milreis nach Rio de Janeiro verkauft wurde. Man sagt jedoch, daß er durch die wahnsinnige Gier der Spekulanten erheblich überzahlt worden sei.

Emilio aber, der ihn auf der Landstraße fand, versteht es nicht, das Glück zu halten. Es zerrinnt ihm unter den Händen. Er, der nie große Geldscheine gesehen hatte, gibt in seiner Einfalt eine 50-Milreis-Note für einen 5-Milreis-Schein, und die Zeit ist nicht mehr fern, wo er wieder auf der Landstraße hinter dem Karren schreiten wird, den Blick auf die Spur des Rades geheftet, auf der Suche nach neuem Glück. Ob er es findet …:?

*

Weit dehnte sich der brasilianische Urwald, ein stumpfes Grüngelb, von der Sonne verbrannt. Papageien kreischten in den Zweigen der Bäume, und neugierige Äffchen schauten aus runden, blanken Augen verwundert auf den einsamen Reiter.

Seit Tagen schon ritt Hans Mahr, hingegeben an diese fremde Welt, die ihn umgab. Er wußte den Jaguar im Dickicht auf die Nacht mit ihrem Dunkel warten und den Gifttod lauern in Gestalt von Schlangen und anderem Getier, von dem man in den Wäldern Europas keine Kunde hat. Er wußte, es war ein Wagnis, den tagelangen Ritt durch diese Wildnis allein und ohne andere Waffen als Dolchmesser und Revolver zu unternehmen. Und doch ritt er …:

Was hatte ihn aus der Heimat jenseits des Ozeans mit ihrer jahrhundertealten Tradition in diese neue Welt getrieben, die nur dem Wechsel von Tag zu Nacht, von Sonne zu Regen, zu leben schien?

Europa war ihm zu eng geworden, Europa mit seiner Technik, seinen Maschinen und Menschen gleich diesen. Überall begrenzen »Verbote« die Wege, und wenn man eine Straße wandert, glaubt man lange vor dem Ziel dasselbe schon zu kennen.

Nicht so hier in der Wildnis; überall birgt sie Geheimnisse. Ein steter Kampf, nicht mit den kleinlichen Sorgen des Alltäglichen eines Lebens der Zivilisation, nein, hier, wo jeder sein eigener Herr und sein eigener Knecht ist, gelten andere Gesetze. Hier ist alles ursprünglicher, einfach und ohne Komplikation, und nur der Starke hat Daseinsberechtigung.

An einem Abend war es, am Lagerfeuer, das er mit zwei Diamantaufkäufern teilte, deren Weg für etliche Tagemärsche mit dem seinen zusammenlief. Da hatte er sie gehört, die Geschichte von »Jalmeida«, dem großen Diamanten. Und nun ließ sie ihn nicht mehr.

Aus dem von den glühenden Sonnenstrahlen verbrannten Erdreich ringsum, von den trügerischen Sümpfen stieg es, lag in der Luft und umtanzte ihn mit dem nimmermüden Heer der Moskitos und Fliegen: das Diamantfieber, der Wunsch zu Glück und Glanz durch den schimmernden Stein.

Weiter, immer weiter, den Diamantfeldern am Rio das Garças entgegen …:

*

Er hatte sich längst daran gewöhnt, die Nacht nicht mehr zu fürchten. Wo er von ihr überrascht wurde, blieb er, in der Erwartung des Morgens. Er hatte sich an das Heulen des Jaguars gewöhnt und an das Zischen der Schlangen. Das Waldmesser leistete ganz andere Dienste als anfangs; von den Blättern mancher Pflanzen konnte man erfrischenden Tee bereiten, auch verstand er wilden Honig und eßbare Früchte zu finden. Das Pferd hatte sich so an ihn geschlossen, daß es sich nicht mehr weit vom Lagerplatz entfernte und auf den Zuruf herbeikam. Der Regen störte nicht mehr, trocknete die Kleidung doch bald wieder. Selbst das Sammeln von Feuerholz in der Dunkelheit hatte er gelernt.

Wenn die Ansprüche an die Bequemlichkeiten des Lebens auf ein Minimum gesunken sind, fühlt man sich in dieser wilden Freiheit heimisch. Jeder Fluß, den man trifft, dient zur Erfrischung, und ist die Gegend zusagend und genügend Wild vorhanden, schlägt man an seinem Ufer das Lager auf, trinkt das kalte Wasser, das in seiner Reinheit den höchsten Genuß birgt, und spürt man Hunger, jagt man eines der Tiere des Waldes, wählt die schönsten Fleischstücke und brät sie am flackernden Lagerfeuer. Oder man sitzt still beim Fischfang am Wasser, fühlt den Wald atmen und sieht die Sonnenflecken im Laubwerk tanzen. Dann brodelt im Kessel die schmackhafte Fischsuppe, und wenn einmal das Salz fehlt, so wird sie mit Asche gewürzt. Das Zelt, ein langes Stück wasserdichten Stoffes, schützt vor Regen und Sonnenbrand, und nachts, wenn Hans Mahr auf dem Leder seines Sattelzeuges lag, starrte er wohl stundenlang empor, wo hoch in weiten Fernen unbekannte Welten als kleine, bläulich-gelbe Sternchen lebten. War genügend Mondschein vorhanden, konnte es auch sein, daß er seinen »Braunen« sattelte und ziellos, nur des Reitens wegen, langsam in die silberumsponnene Nacht hinaustrabte.

So ritt er auch heute. Die schwarzen Schatten der Bäume lagen hart und scharf begrenzt auf der Erde. Die Hitze des Tages ließ die frische Kühle doppelt angenehm erscheinen. Seinen Gedanken und dem gleichmäßigen Dahintraben ergeben, in dem Bewußtsein, das einzige menschliche Wesen in meilenweitem Umkreis zu sein, fühlte Hans Mahr sich losgelöst von allem Wollen, allen Trieben, die die Menschen fesseln und ihre Leidenschaften wecken, in einem einzigartigen, wunschlosen und darum glückerfüllten Zustand, als das Pferd plötzlich von der geraden Richtung abwich und scharf nach rechts bog. Er ließ es gewähren, trug nur die Richtung ins Merkbuch ein, um sich später wieder zurechtfinden zu können.

Eine Stunde trabte das Tier im wechselvollen Schattenspiel der Mondnacht, bis in der Ferne die dunklen Umrisse einer Hütte auftauchten und Hundegebell erscholl.

In hundert Schritte Entfernung haltmachend, klatschte er, der Landessitte gemäß, in die Hände. Ein Schatten löste sich von der dunklen Türfüllung, eine ruhige, melodische Stimme lud ihn ein, näherzutreten, und er schaute in ein Paar kluge Augen, die aus einem mit langem, grauem Wuschelbart bedeckten Gesicht den späten Gast aufmerksam betrachteten.

»Wanderer, du kommst aus weiter Ferne. Sei willkommen in meinem einfachen Heim!«

Sie traten in die durch einen Kienspan nur spärlich erleuchtete Hütte. Tee und etwas Speise, die von einer anderen Hand und auf andere Art, wie er es gewohnt war, zubereitet waren, mundeten vortrefflich. –

Er schlief in dieser Nacht ruhig und traumlos, ohne auf das Geheul des Jaguars zu lauschen oder auf das Schreiten des Pferdes in der Dunkelheit, brauchte er doch nicht für die Erhaltung des Lagerfeuers bedacht zu sein, seit langem wieder unter dem schützenden Dach einer wenn auch noch so einfachen, menschlichen Behausung.

Als er am nächsten Morgen erwachte, es mochte die achte Stunde sein, war der Alte nicht in der Hütte. Nach einem Bad in dem Wasser, das in der Nähe rieselte, schaute er sich in der fremden Umgebung um.

Die Hütte war luftig und hoch; das Dach und die Wände aus Palmblättern errichtet. Überall lagen und hingen Felle, die davon zeugten, daß ihr Eigentümer schon lange hier verweilen und die Gegend reich an Wild sein mußte.

Wer aber war dieser Fremde, der hier einsam in der Wildnis hauste, fern den Menschen, ihrem Leid und ihrer Freude?

Ein fröhlicher Zuruf ließ ihn sich umwenden. Da stand der Unbekannte, ein Reh auf den Schultern.

»Es glückte mir, dieses frische, junge Wild zu erlegen, für Sie, meinen ersten Gast seit drei Jahren«, sagte er heiter.

Auch er schien eben ein Morgenbad genommen zu haben. Bart und Haar waren von der Sonne noch nicht ganz getrocknet, der sehnige Körper atmete Gesundheit und Frische. Er mochte wohl nicht so alt sein, wie Hans Mahr, nach seinem ergrauten Haar urteilend, gewähnt hatte. Gern hätte er gewußt, wer er sei und was ihn in diese Wildnis flüchten ließ.

Die Zubereitung des Mahles ging flink von der Hand, und bald saßen sie und drehten den Spieß mit der saftigen Rehkeule über dem Feuer.

Auf die Frage nach seinem Namen antwortete der Fremde kurz: »Jules«. Hans Mahr nannte ihm den seinen, und sie starrten ins Feuer und warteten, daß das Essen fertig werde.

Der Morgen war noch nicht weit in den Tag geschritten, noch war die Macht der Sonnenstrahlen nicht voll zur Entfaltung gekommen, und das hundertfache Leben des Waldes atmete stark und leicht.

Hans Mahr erzählte von sich und seinen Fahrten. Er glaubte hierdurch dem Einsamen die Zunge lösen zu können. Und wirklich, so geschah es auch.

Er begann zu sprechen.

»Der Krieg war beendet. Dort, wo unser kleines, weinumsponnenes Haus gestanden hatte, gähnte das schwarze, klaffende Loch eines Granattrichters. Der Garten mit den bunten, lustigen Sommerblumen, nach denen die Händchen meiner jauchzenden Kleinen so oft gegriffen hatten, war nicht mehr. Das ganze Städtchen glich einem Trümmerhaufen. Niemand konnte mir über den Verbleib der Meinen Auskunft geben, als ich nach endlosen, langen, grausamen Jahren, vom Militär entlassen, wieder in der Heimat stand. Ich mußte sie tot wähnen, zerrissen durch die Gewalt eines Schicksals, das in seiner unverstandenen Grausamkeit mich aufheulen ließ wie ein gepeinigtes Tier.

So wanderte ich wieder fort, dort Arbeit nehmend, wo sie sich mir bot, bis ich eines Abends in Antwerpen mein Weib als alte, kranke Dirne in einer Kneipe wiederfand …:«

siehe Bildunterschrift

Der Verfasser (Mitte) vor dem Ritt in die Wildnis

Er beschattete die Augen mit der von harter Arbeit schwieligen Hand.

»… Für ein Kommißbrot hatte sie sich verkauft, weil die Kinder um Brot weinten …: Sie starben jedoch beide in wenigen Tagen …: Da ging es rasch abwärts mit ihr …:

Ich brachte sie ins Spital. Aber es war schon zu spät.

Nun litt es mich nicht länger in der Heimat. Ich verließ Belgien, mein Vaterland, verließ Europa, das mir durch seinen blutigen Wahnsinnstaumel alles geraubt hatte und zog hinaus in die Welt. So gelangte ich nach Brasilien. Hier versuchte ich vieles, aber was ich auch begann, es zerrann mir unter den Händen, zerfiel …: Das Schicksal hatte mir alles genommen und wollte nichts dafür geben. Da floh ich vor den Menschen, die sich höher als die Tiere dünken, und dabei grausamer sind als diese, floh hierher in die Wildnis. In ihr gelten weder Reichtum, noch Gesetze, niemand fragt nach ›woher‹ und ›wohin‹, nach Standesunterschieden, Beruf, nach Zweck und Ziel. Allein das Leben hat Wert. Und hier habe ich meinen Frieden gefunden.

Gib mir deine Hand, Wanderer. Auch dich haben nicht Überfluß und Glück in diese, alle Wunden heilende, Einsamkeit getrieben …«

Er schwieg, und sie saßen still, verstummt vor der unbegreiflichen Größe des Lebens.

Einige Tage verbrachte Hans Mahr in der Hütte des Einsiedlers. Dann sattelte er wieder sein Pferd und ritt weiter, seinem Ziel, den Diamantfeldern Matto Grossos entgegen.

*

Schüsse …:

Einer nach dem anderen …: Sie wiederholten sich als Echo und rissen fast schmerzhaft an den Nerven. Man fühlte: jemand war in Todesnot.

Pfeilschnell jagte das Pferd vorwärts, daran gewöhnt, seine ganze Kraft anzuspannen, wenn es Schüsse hörte.

Noch einer …: und noch …:

Donnernd rollte das Echo über den Kamp.

Was geschah dort in der Ferne?

Das Tier flog dahin, kaum berührten die Hufe den Boden. Buschwerk, Gras und Bäume glitten vorüber.

Da – ein verzweifelter Ruf, halb verweht …:

Hans Mahr antwortete laut und ritt, was die Kräfte erlaubten.

Ein Gebüsch und dahinter ein gesatteltes Pferd, schweißgebadet, ohne Reiter, und auf der Erde ein Mann in einer Blutlache.

Im Nu war er aus dem Sattel und versuchte, den roten Strom, der aus einer tiefen Wunde in der Brust des Fremden quoll, zu hemmen. In Ermanglung von Verbandstoff zerriß er sein Hemd, aber der Verwundete wehrte ihm matt: »… Laß es fließen …: Es ist vergiftetes Blut. Mich trafen die Giftpfeile der Indianer. Ich bin dem Tode geweiht …:« Und plötzlich, den Arm des anderen umklammernd, weiteten sich seine Augen, wurden groß und starr, und er flüsterte: »Siehst du, dort im Busch, da kommen sie …: Sie fürchten sich nicht. Sie wissen, daß ich sterben muß …:«

Über die Ebene strich ein leichter Wind, Gräser und Blätter schluchzten auf und verstummten. Weit und einsam lag der brasilianische Kamp.

»… Ich sterbe …: ich weiß es. Aber der Tod ist zehnfach bezahlt. Das, was mir ward, ist mehr als das Leben selbst, ist der Zweck des Lebens …:«

Die Stimme des Todwunden war kaum hörbar.

»Wo sind sie …:? Verschwunden …:«

In den weitoffenen Augen lag namenlose Angst. Er bäumte sich wild auf, um doch gleich wieder zurückzusinken.

»Höre, du Unbekannter. Ich rief dich durch meine Schüsse, weil ich nicht allein sterben wollte …:

Schönheit paart sich mit Häßlichkeit, das ist Gesetz …«

Tief mußte Hans Mahr sich neigen, damit er ihn verstehe.

»… Ich ritt durch den Kamp. Mein Herz sehnte sich nach einem unerreichbaren Glück. Das Blut fieberte in meinen Adern, erhitzt von den Gluten dieser schwülen Tage und der langen Einsamkeit müde.

Es war Abend.

Langsam trabte der Gaul dahin, als ich plötzlich im Schilfrohr, das den Bach zu meiner Rechten umgab, ein Rascheln hörte.

Die langen Blätter, die drohenden Schwertern gleich ein Geheimnis zu behüten schienen, bewegten sich, glitten auseinander, und mein schönheitstrunkenes Auge gewahrte zwei wunderbare Mädchengestalten.

siehe Bildunterschrift

Ihre entblößten, durch keine Kleidung beschwerten Körper leuchteten in den Strahlen der Abendsonne wie kostbare Bronzen, von der Hand des größten Künstlers, der Natur, ohne Fehl gemeißelt; ihr Haar, schwarz wie die Nächte des Südens, fiel auf die sanft gerundeten Schultern, und etwas tierhaft Starkes, das sie eins sein ließ mit dem unbezähmbaren Lebensdrang der Wildnis ringsum, sprang mich Einsamen jäh an wie der Jaguar das Wild.

Keines Wortes mächtig, wagte ich nicht, mich zu bewegen, aus Angst, die holde Erscheinung könne in Nichts zerrinnen.

Lächelnd schauten sie zu mir herüber, und ihre Augen lockten. Mußte da nicht das kühlste Herz warm werden? Ich schwang mich aus dem Sattel und näherte mich ihnen, die in ihrer königlichen Nacktheit regungslos verharrten. Dann wandten sie sich und schritten hinein in das grüne Dämmern des Schilfrohres.

Ich folgte ihnen.

Schuhe und Gamaschen schützten mich vor Insekten- und Schlangenbissen, die schönen, märchenhaften Geschöpfe aber gingen barfuß und ohne jede Furcht. Sie lachten und plauderten, und ihre melodischen Stimmen ließen die harten Laute ihrer Sprache fast weich erscheinen.

Leichtfüßig schritten sie vor mir her, bis wir auf eine Lichtung traten, auf der einige nackte Frauengestalten, gleich der meiner Begleiterinnen, sich fröhlich tummelten. Als sie mich erblickten, liefen sie alle herbei, mich und meine Kleider neugierig betastend. Ich verstand ihre Sprache nicht, und ihnen war die meinige fremd. Aber wozu Worte? Sie hätten die Herrlichkeit der Stunde nur schmälern können.

Als die Sonne dem Untergang nahe war, führten sie mich denselben Weg zurück zu meinem Pferde. Dabei deuteten sie auf den Himmel, in der Richtung gen Osten, und ich verstand, daß sie am nächsten Morgen wiederkommen wollten.

Nachts machte ich kein Feuer. Was galten mir im Augenblick alle anderen Gefahren der Wildnis! Nur an die Indianer dachte ich, deren Nähe mir die Anwesenheit der Frauen verraten hatte. Ihr Stamm war mir unbekannt, und ich wußte nicht, wie er den Weißen gegenüber gesinnt war. Das Leben aber, das ich noch vor Stunden gering schätzte, hatte mit einem Male wieder einen Wert erhalten. Nur einmal noch dieses Märchen der Wirklichkeit durchkosten!

Ich konnte lange nicht einschlafen. Die Erwartung des kommenden Tages spannte alle Nerven und ließ mich die Minuten bis zum Sonnenaufgang zählen. Erst gegen Morgen übermannte mich die Müdigkeit, und ich verfiel in einen tiefen, traumlosen Zustand.

Dunkel …: Grau …:, Schatten huschten im Geiste, etwas Warmes streifte meine Wange, ein Hauch, dann Helligkeit.

Ich erwachte vollends. Ein Antlitz mit Augen, tief und geheimnisvoll wie die Ströme dieses Landes zur Regenzeit, mit lieblich lächelndem Munde, nahe dem meinen. Neben mir, über mich gebeugt, kniete eine nackte Mädchengestalt.

Verlangend streckte ich die Arme aus …: Wohlige Wärme eines kraftvollen und lieblichen Körpers durchströmte mich. Das Gesicht über mir lächelte und lockte …:

Da fanden sich unsere Lippen, und ich vergaß, daß ich nur ein Mensch bin, war Gott, Schöpfer alles Lebendigen …:

 …: Aus dem Taumel erwachend, schaute ich um mich.

Wir waren nicht allein. Um uns jauchzten und sprangen im göttlichen Bacchanal alle die anderen, Geister der Schönheit, weibgewordene Träume.

Sie alle küßte ich.

Unerschöpflich schien ich geworden zu sein, ein nie versiegender Born heiliger Kräfte.

Wieder und wieder kamen sie, daß ich sie liebkose. Von keiner Sorge noch Scham beschwert, tanzten sie, kletterten auf die Bäume und schwangen sich wie kleine, behende Äffchen fröhlich von Ast zu Ast. Oh, ihr Kinder der Wildnis in der malerischen Herrlichkeit eurer Schönheit, das Märchen der ewigen Jugend verkörpernd! Daß ich euch sehen und besitzen durfte!

Glücklich schlief ich endlich nach Stunden ein und erwachte erst, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Niemand war zu sehen. Nur zwei badende Mädchengestalten schmückten den Fluß. Sie wähnten mich schlafend, und ich schaute lange ihrem Treiben zu, dem Schöpfer für seine Schöpfungen dankend. Später nahm auch ich ein Bad. Wohl wunderten sie sich, mich plötzlich ohne Kleidung zu sehen. Meine Nacktheit aber brachte mich ihnen nur näher.

Und dann kamen wieder all die anderen, und wieder begann ein Taumel der Schönheit und Lust …:

Als die Sonne sank, führten sie mich zurück zu meinem Lager, wie am Abend zuvor.

Am nächsten Morgen aber kamen sie nicht wieder. Ich wartete Stunde um Stunde vergebens, und eine Angst ergriff mich, eine entsetzliche Angst, ich könnte sie nie wiedersehen. Wie wahnsinnig streifte ich die Gegend ab. Nirgends eine Spur. Oder war es am Ende gar nur ein Traum gewesen? Fast mußte ich es glauben …: Zu meinem Lager zurückgekehrt, fand ich jedoch einige der Perlen der von mir den Frauen geschenkten Glasketten. Sie lagen zerstreut im Sande …: Sonst nichts.

Ich sammelte sie wie eine Kostbarkeit, glaubte ich doch das Fluidum ihrer Trägerinnen noch in ihnen zu spüren, als plötzlich aus dem mich umgebenden Buschwerk einige Männer traten. Auch sie waren nackt, jedoch mit Pfeil und Bogen bewaffnet.

Aufschauend, gewahrte ich zwanzig Pfeile auf mich gerichtet.

Da schrie ich laut in wildem Haß, warf mich zu Boden, riß meine Waffe hoch und feuerte. Feuerte wild, ohne zu sehen, wohin …: Pfeile schwirrten. Ich wußte, daß ich getroffen war, aber ich fühlte keinen Schmerz. Die Erregung war zu groß.

Von dem Dröhnen der Schüsse erschreckt, flohen die Indianer, nur die Verwundeten blieben liegen und stöhnten laut. Aber bald kehrten auch die anderen wieder zurück, kauerten sich in einiger Entfernung nieder und starrten mich voll Staunen an.

Meine Wunde blutete stark. Ich versuchte, mir einen notdürftigen Verband anzulegen.

Langsam kamen die Wilden näher. Sie betrachteten mich wie ein Wunder, beschauten ihre Pfeile und sahen einander erstaunt an. Was machte sie so bestürzt? Es konnte doch nicht sein, daß sie noch nie Schüsse gehört hatten? …: Mit einem Male begriff ich es: Die Pfeile waren vergiftet und ich dem Tode geweiht. Sie wunderten sich, daß ich noch nicht ihrer mörderischen Wirkung erlegen war. Ich konnte sowieso nicht länger am Leben bleiben, das Märchen war ja zu Ende.

Eine unverständliche Wut überfiel mich. Mit der Reitpeitsche wild um mich schlagend, schwang ich mich aufs Pferd und jagte davon, gleichgültig wohin …:, nur fort. Aus den vergifteten Wunden strömte das Blut …:, die Kräfte ließen nach …:, es wurde schwarz vor den Augen, und eine entsetzliche Angst, ich könnte allein, von allen verlassen, in der unbarmherzigen, grausamen Wildnis sterben, überfiel mich; der Wunsch, einen Menschen zu sehen, einen meinesgleichen, wurde übermächtig …:, und ich schoß.

 …: Siehst du sie? Dort kommen sie wieder, die schönen Gestalten. Vorsichtig treten sie aus den Büschen, sich scheu eine hinter die andere verbergend …: Heb mir den Kopf, Fremder, damit ich sie besser sehe …«

Über die Ebene strich ein leichter Wind. Gräser und Blätter schluchzten auf und verstummten. Weit und einsam lag der brasilianische Kamp.

»… Ganz wie ehedem …: Nur bei der einen fehlt das Kettchen …: Sag, warum kommen sie nicht näher? …: Ach, nun wird es dunkel vor den Augen …:«

Der Sterbende atmete schwer, von Schmerz geschüttelt. Dann streckte sich der Körper, und die Qual, die seine Züge verzerrt hatte, schwand …:

Behutsam ließ Hans Mahr den Toten zur Erde gleiten, erschüttert von dieser neuen Überraschung der fremden Welt des Urwaldes.

*


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