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5. Kapitel.
Frohe Jugend

Ferdi ersetzt den Hausherrn – Weshalb zu Ilse ein Märchenprinz kommen muß – Ännes schwache Seite – Ferdis geheimnisvolles Verschwinden.

 

Ilse Sternberg hatte die Freundinnen zum »Vorstellungskaffee,« wie sie scherzend sagte, eingeladen. Die kleine Wohnung befand sich im ersten Stockwerk eines einfachen, aber freundlichen Hauses außerhalb des Mittelpunktes der Stadt. Die einzige äußere Zierde war die zu der Wohnung gehörige Veranda, der Sternbergsche »Blumengarten,« von dem Ilse schon öfters erzählt hatte.

Frau Sternberg, eine große, schlanke Dame, begrüßte die jungen Mädchen mit gewinnender Herzlichkeit. Gerührt blickten diese in das durch Kummer und Sorge der letzten Jahre vorzeitig gealterte Antlitz, das eine unverkennbare Ähnlichkeit mit Ilses Zügen trug. Und ein froher Schimmer flog über die blassen Wangen, wenn Frau Sternbergs Blick auf ihre beiden Kinder fiel, ihre schöne, gute Ilse und ihren braven Jungen, den Ferdi.

Ja, Ferdi ließ es sich nicht nehmen, die jungen Damen mit zu begrüßen.

»Es muß doch schließlich der Herr des Hauses auch dabei sein!« hatte er vorher ganz ernsthaft zu Mutter und Schwester gemeint.

»Ach, schaut doch unseren Hausherrn an, den würdigen Primaner!« Ilse hatte den Jüngling gutmütig spottend am Ohre gezupft.

Aber jetzt war Ferdi wirklich ganz hausherrliche Würde. Er begrüßte die jungen Damen und nahm ihnen, in Ermangelung eines Dienstmädchens, Hüte und Sonnenschirme ab, um sie mit Geschick auf den einfachen kleinen Garderobenständer zu balancieren.

Ilse führte die Freundinnen unterdessen auf die Veranda, deren Anblick die Mädchen in lebhaftes Entzücken versetzte. Ja, ein wahrer Blumengarten lag vor ihnen. In hübschen weißen Kästen standen rings auf der Brüstung Blumenstöcke aller Art. Wunderhübsch hoben sich die verschiedenen Farben der Blumen von dem Weiß der Kästen ab. In jeder Ecke stand ein gleichfalls weiß lackiertes Tischchen mit einer großen Palme darauf. Durch die Luft war von einer Seite zur anderen ein von Kletterpflanzen umrankter Draht gespannt, in dessen Mitte – gerade über dem einladend gedeckten Kaffeetische – eine kleine rosa Ampel hing.

»Nicht wahr, das hat Ilse hübsch gemacht?« fragte Frau Sternberg. »Sie hat sich aber auch keine Mühe verdrießen lassen.«

»Ja, direkt märchenhaft sieht es aus!« stimmten die Mädchen bei.

»Nun, wir würden doch alle unseren großen Garten zu sehr vermißt haben,« warf Ilse ein. »Ein kleines Blumenfleckchen muß man eben haben, in dem man die frische Luft genießen kann. Es ist dies der einzige Luxus, den wir uns leisteten. Die weißen Tische sowie die Palmen stammen noch aus unserem früheren Garten. Die Kästen habe ich von einem Zimmermann arbeiten lassen und eigenhändig lackiert. Es ist erst kürzlich alles fertig geworden. – Doch jetzt wollen wir Kaffee trinken. Ich bitte die Damen, Platz zu nehmen«+… »Ferdi, du trinkst doch mit uns?« wandte sie sich an den Bruder, der etwas unschlüssig an der Verandatür stand.

»Wenn die Damen gestatten?«

»Wir wollen lieber sagen, wenn Sie sich nicht fürchten als einziger Kavalier unter soviel Weiblichkeit!« rief Änne vergnügt.

»Im Gegenteil, da bin ich ja Hahn im Korbe!« scherzte Ferdi.

Ilse drohte dem Bruder schelmisch. »Sieh da, mein Brüderchen entpuppt sich ja recht niedlich. So ein Schwerenöter!«

Die junge Gastgeberin schenkte den Kaffee in die hübschen Porzellantassen. »Ach Ferdi« – ein bittender Blick traf den Bruder – »würdest du gleich in der Küche noch einmal Milch nachfüllen und sie hereinbringen?«

Im ersten Augenblicke erschien es dem Herrn Primaner mit seiner Männerwürde nicht ganz vereinbar, daß er sogar Servierdienste verrichten sollte. Früher würde er über eine solche Zumutung gelacht haben; da waren aber auch genug Dienstboten vorhanden gewesen. Ein Blick auf Ilse, die aufopfernde, fleißige Ilse, die so unendlich viel mit lächelndem Munde tat, was ihr früher gleichfalls niemand zugemutet hätte, ließ Ferdi alle kleinlichen Erwägungen vergessen. Eifrig sprang er auf und kehrte nach wenigen Sekunden mit dem Milchkännchen zurück. Schon hatte er seine unverwüstliche gute Laune wiedergefunden.

Die Stimmung stieg, durch den allgemeinen Humor gewürzt, immer mehr. Man ließ sich den vorzüglichen Kuchen und die kleinen Makronen schmecken, alles von Ilse selbstgebacken.

»Woher kannst du das nur alles?« fragte Rola. »Ich habe mir immer eingebildet, einigermaßen kochen zu können; aber dagegen komme ich doch nicht auf!«

»Ach, das ist so nach und nach gekommen! Freude hatte ich immer daran. Wir haben ein gutes Kochbuch, und was mir sonst noch fehlte, hat mir Mutter gezeigt. Man soll überhaupt nicht meinen, wieviel das Wörtlein »Muß« erreicht.«

Ilse wollte sich erheben, um die geleerte Kaffeekanne frisch aufzufüllen. Aber schon sprang Ferdi auf. »Das mußt du mich jetzt schon machen lassen, Schwesterlein! Ich habe doch heute nun einmal meine Dienste als Servierfräulein angeboten.«

Ilse nickte dem Bruder dankbar zu. Sie kannte jeden Zug in seinem lieben, ehrlichen Gesicht. Sie wußte auch, daß er ihr vorhin ein kleines Opfer gebracht und sich jetzt wieder ihretwegen überwunden hatte.

Alsbald kehrte der Primaner mit der Kaffeekanne zurück. »Nicht mal was vergossen habe ich! Soll ich auch einschenken?«

»Nein, nein! Vielen Dank. Diese Arbeit sollst du mir nicht auch noch abnehmen!«

»Ich bewundere Ihr Geschick, wahrhaftig!« wandte sich Änne an den jungen Mann. Wenn meine Brüder das machen sollten! Ich glaube, die hätten die Kanne beim ersten Angreifen hingeworfen.«

»Ja, Ferdi greift immer einmal zu, wenn es nötig ist,« antwortete Ilse an Stelle des Bruders. »Er hilft mir bei der Pflege meiner Blumen und hat sich sogar nach einigen innerlichen Kämpfen neulich aufgeschwungen, beim Bäcker ein Brot zu besorgen, damit mir der Weg erspart bliebe. Wenn man wie wir nur einmal in der Woche eine Aufwartung hat, so reißt die Arbeit nicht ab.«

Herta rümpfte schon wieder ein wenig die Nase. Du liebe Zeit, noch nicht mal jeden Tag eine Hilfe im Haushalt! Das brauchte Ilse doch wahrhaftig nicht auch noch an die große Glocke zu hängen. Aber das Mädchen hatte dabei eine Manier an sich, daß man »platt« sein mußte, einfach platt! So ungefähr die Art einer entthronten Königin. Und wie eine Königin wirkte sie inmitten der einfachen Umgebung, bei der Verrichtung der untergeordnetsten Arbeiten. Herta fühlte das, wenn sie es auch niemals laut zugegeben hätte. Sie merkte ja schon an den anderen den Einfluß, den Ilse auf alle ausübte. Und daß es ein guter war, das mußte nicht nur Herta zugestehen, das empfanden sogar die Eltern der jungen Mädchen an hunderterlei Kleinigkeiten. Und alle, alle zollten sie dem schönen Mädchen, das seine Armut mit solcher Würde trug, bewundernde Hochachtung. –

Nachdem man mit Kaffeetrinken fertig war und noch eine Weile geplaudert hatte, begann Ilse den Tisch abzuräumen. Behend griffen die Freundinnen zu, trotzdem Ilse abwehrte.

»Laß uns nur helfen!« sagte Wilma von Rodenheim. »Wer essen will, muß auch arbeiten.«

»Und viele Hände machen der Arbeit bald ein Ende,« setzte Rola hinzu.

»Dann will ich euch gleich einmal unser kleines Reich zeigen,« sagte Ilse. »Ferdi hat mir versprochen, unterdessen für die Gesellschaftsspiele zu sorgen.«

Sternbergs Wohnung bestand aus dem Wohnzimmer, einem kleinen Salon, zwei Schlafzimmern und einer hübschen, großen Küche. Sämtliche Räume waren mit gutem Geschmack und sehr gemütlich, wenn auch einfach, ausgestattet. Von der früheren Einrichtung hatte man nur wenige Sachen behalten, an die sich besonders liebe Erinnerungen knüpften.

Die Freundinnen fanden natürlich alles, was ihre vergötterte Ilse ihnen zeigte, entzückend. »Ja, es ist nett hier,« äußerte auch Herta gönnerhaft. »Aber es ist Ihnen doch sicher schwer geworden, sich jetzt so schrecklich einschränken zu müssen, nachdem Sie viel bessere Tage gesehen haben?«

Änne, Rola und die Zwillingsschwestern erröteten unwillig. Diese Herta war doch zu taktlos! Aber Frau Sternberg antwortete ganz ruhig. »Das ist alles zu ertragen, und Not leiden wir ja, Gott sei Dank, nicht. Das, was an mir zehrt und worüber ich wohl nie ganz hinwegkomme, ist der Verlust meines Mannes. Wie gern wollten wir drei uns noch viel, viel mehr einschränken, wenn uns dafür der teure Entschlafene zurückgegeben würde.

Es lag soviel schlichte, ergreifende Trauer in diesen Worten, daß sie ihren Eindruck auch aus Herta nicht verfehlten.

Ilse hatte den Kopf zum Fenster gewandt und fuhr sich mit dem Taschentuche über die Augen. Zum erstenmale war sie auf Herta böse, weil sie ihrem Mütterlein weh getan. Solange sich Hertas Taktlosigkeiten gegen sie selbst richteten, prallten sie wirkungslos an Ilse ab. Jetzt aber stieg es für einen Moment heiß und bitter in ihrem Herzen empor. Aber nein! – Ilse schüttelte die bittere Regung ab – ihr kam es nicht zu, über Herta zu richten. Als sie jetzt ihren klaren Blick für eine winzige Sekunde auf die andere richtete, senkte diese schuldbewußt den Blick. Sie empfand nun doch das Verletzende ihrer Rede. Und außerdem hätte sich Herta dann auch mit den Kränzchenschwestern entzweien müssen, denn die hingen an Ilse wie die Kletten. –

Da Herta sich im weiteren Verlaufe sichtlich bemühte, freundlich und nett zu sein, verziehen ihr die anderen alle stillschweigend. Und man wurde wieder sehr vergnügt, so vergnügt, daß auch auf Frau Sternbergs Antlitz die Schatten schwanden.

Die Geschwister besaßen sehr hübsche Gesellschaftsspiele, denen man mit Eifer oblag: Wettrennen, Jagd, Lotto und andere. Als Preise waren Biskuitplätzchen ausgesetzt. Alles war einfach und doch urgemütlich. Später brachte Ferdi ein leeres Glas und erbat sich Ilses schmalen goldenen Ring, den er an einen Zwirnfaden band.

.

»Was soll denn das werden?« erkundigten sich die Mädchen neugierig.

»Jetzt wird euer Schicksal entschieden,« erklärte Ilse lachend. »Jede von euch möchte doch sicher gern wissen, wann sie in den Ehestand treten wird. Jetzt kommt's nur darauf an, ob ihr eine sichere, ruhige Hand habt – je ruhiger umso besser! Der Ring wird an dem Faden in die Mitte des Glases gehalten, so daß er frei schwebt. So viele Male er an das Glas schlägt, so viele Jahre müßt ihr noch warten.«

»Du mußt den Anfang machen, Ilse, du bist die älteste!«

»Ist mir recht!« Ilse nahm den Faden zwischen die schlanken Finger und hielt den Ring vorsichtig in die Mitte des Glases. Mit Spannung wurde sie von den Freundinnen beobachtet. Ilses Hand war so ruhig und sicher wie ihr ganzes Wesen. Ein feiner silberner Klang, jetzt – einmal – zweimal – und nicht wieder.

»Zwei Jahre noch! Oh, Ilse, du mußt uns aber unbedingt zur Verlobung und Hochzeit einladen. Sicher?« So schwirrten die Reden durcheinander.

»Natürlich, an diesen beiden Ehrentagen dürft ihr doch bei mir nicht fehlen!« Ilse lächelte über den Ungestüm der Freundinnen; aber Frau Sternberg, die ihre Tochter beinahe ängstlich beobachtet hatte, gewahrte doch die leise Wehmut, die sich hinter diesem Lächeln barg.

»Ilse, du mußt wie im Märchen einen Prinzen bekommen!« rief Änne begeistert. »Und ganz wunderbar schön muß dein Gemahl sein. Der Beste ist gerade recht für dich!«

»Kinder, ihr macht mich ja noch ganz eitel!« wehrte Ilse ab. »Ich heirate überhaupt nicht. Wer sollte denn ein armes Fräulein Habenichts heiraten? – Nun aber laßt das Schicksal weitersprechen!«

»Herta, du bist dran! So herum geht die Kaffeemühle!«

Die Aufgerufene bemühte sich ängstlich, den Faden gleichfalls ruhig zu halten, aber der tückische Zufall wollte ihr nicht wohl. Durch eine ungewollte winzige Handbewegung geriet der Ring in heftiges Schaukeln und klirrte unzählige Male an das Glas.

Jetzt kam Rola an die Reihe. Dreimal klirrte bei ihr der Ring. Bei der zappeligen Änne wollte das Schaukeln dagegen gar kein Ende nehmen.

Bei Wilma schlug der Ring fünfmal gegen das Glas, bei Grete gleichfalls, obwohl die Freundinnen einstimmig behaupteten, das letzte Mal habe Grete absichtlich herbeigeführt, was diese jedoch lebhaft bestritt. »Es muß ja bei uns gleich sein, denn Wilma und ich heiraten entweder zusammen oder gar nicht!« erklärte sie zur allgemeinen Belustigung der anderen.

»Na, warten Sie nur, bis der Richtige kommt, da ändern sich die Ansichten, ob man will oder nicht,« sagte Frau Sternberg lächelnd.

»Jedenfalls kommen Herta und ich immer als alte Kindertagen zu euch,« meinte Änne ernsthaft. »Denn wenn ich noch unzählige Jahre warten soll, wie mein Orakel liebenswürdig verheißt, dann lasse ich es mit dem Heiraten lieber ganz bleiben.«

»Ach, das ist ja doch alles Quatsch mit dem Ring!« fuhr Herta ärgerlich auf. »Wie kann man auch nur im leisesten an so etwas glauben. Ich wenigstens bin absolut nicht abergläubisch. Wer weiß, vielleicht heiraten wir noch am allerersten!«

»Na, aber ein bißchen Angst hast du doch gekriegt!« neckte Änne weiter. »Ich sehe es dir an der Nasenspitze an, Herta!«

Rola, die merkte, daß bei Herta ein Gewitter aufzog, sagte jetzt ablenkend: »Nun müssen Sie aber auch das Schicksal befragen, Herr Sternberg!«

»Ich? Ach du liebe Zeit, da könnte der Ring ja bis heute abend klopfen!«

»Nun, ein Hagestolz wirst du doch nicht werden wollen?« fragte Frau Sternberg.

»Wenn auch das nicht, aber bis ich mit Studieren fertig bin und eine gute Lebensstellung gefunden habe, komme ich doch in ein ganz respektables Junggesellenalter hinein.«

»Was wollen Sie denn studieren?« erkundigte sich Grete.

»Mathematik und Naturwissenschaft.«

»Oh Mathematik, wie entsetzlich!« Änne schüttelte sich. »Schon das einfache Rechnen war in der Schule meine schwache Seite. Wie kann der Mensch nur solch schlechten Geschmack haben!«

»Da muß ich schon um Verzeihung bitten – aber ich leide nun einmal an einer derartigen Geschmacksverirrung!« wandte sich Ferdi mit einer schelmischen Verbeugung zu Änne. Dann nahm er den Ring und hielt ihn in das Glas. Er gab sich keine sonderliche Mühe dabei, aber merkwürdig – nur zweimal klang der Ring gegen das Glas. Natürlich wollte das Gelächter kein Ende nehmen.

»Da mußt du nun schon langsam anfangen, dir eine Braut auszusuchen,« neckte Ilse.

»Selbstverständlich!« Ferdi bejahte ernsthaft. »Warum auch nicht? Bis dahin habe ich voraussichtlich schon zwei Semester studiert; daraufhin kann man doch heiraten!«

»Jetzt müssen wir aber auch noch das Kartenorakel befragen,« meinte Wilma.

Die übrigen stimmten ihr lebhaft bei, und Ferdi war schon aufgesprungen, um die Karten herbeizuholen. Während die jungen Mädchen unter Lachen und Scherzen sich von Wilma die Karten legen ließen und durch sie erfuhren, ob der Zukünftige blond oder schwarz, reich oder arm sei und welchen Beruf er habe, verschwand Ferdi unauffällig. Ilse, die zuerst vermutete, der Bruder wolle an seinen Ferienaufgaben arbeiten, wurde in dieser Annahme stutzig, als sie von der Küche her allerhand Geräusche zu vernehmen glaubte.

»Ich muß doch mal sehen, was der Ferdi draußen vor hat,« sagte sie und ging hinaus. Doch als sie ahnungslos in die Küche treten wollte, schlug der Primaner mit Nachdruck ihr die Tür vor der Nase zu. »Keinen Schritt weiter – bei Todesstrafe!« rief er mit Stentorstimme durch die trennende Wand der verdutzten Schwester zu.

Ilse, die jetzt merkte, daß der Bruder irgend eine Überraschung im Schilde führte, zog sich mit komischem Entsetzen von der feindlichen Festung zurück.

Was mochte er nur anstellen? Alle waren sehr neugierig; doch die Antwort wurde ihnen bald. Der Primaner erschien nämlich mit einem großen Servierbrett, auf dem eine Terrine und eine Anzahl Gläser standen. Über den Anzug hatte er zur Schonung eine von Ilses weißen Hausschürzen gebunden.

Ein langgezogenes Ah ertönte beim Anblick des beschürzten Jünglings von allen Seiten.

»Ferdi, Junge, was ist denn das?« Seine Mutter und Schwester riefen es wie aus einem Munde.

»Ach, bloß eine Pfirsichbowle!« Ferdi sagte es im selbstverständlichsten Tone von der Welt.

»Ja, aber woher?«

»Erst kosten, dann fragen!« Ferdi schenkte mit dem silbernen Schöpflöffel aus Mutters Brautschatz das köstliche Naß in die Gläser. Dann hob er das seinige empor. »Auf das Wohl der anwesenden Damen! Hoch!« Die fein abgestimmten Gläser klangen aneinander.

»Jetzt aber auf das Wohl der lieben Familie Sternberg!«

Die kleine, bewegliche Änne stieg zur Erhöhung der allgemeinen Heiterkeit auf den Stuhl. »Hoch unsere verehrte Frau Sternberg, es lebe unsere neue Bundesschwester Ilse und – nicht zu vergessen – ein Hoch für Herrn Ferdi Sternberg, den Spender der herrlichen Bowle!«

Wieder silberner Gläserklang, dann schlürfte man mit Behagen den feingebrauten Trank.

Ferdi, der zuerst nicht mit der Sprache herauswollte, erzählte endlich auf Drängen von Mutter und Schwester, daß er die Bowle von seinem ersparten Taschengelde gespendet habe. Alles dazu Nötige habe er heute vormittag eingekauft und unter der Fensterbank in seinem Zimmer verborgen gehalten. »Ich hatte nicht geringe Sorge, bis ich alles unbemerkt in meinem Zimmer hatte!« setzte der Primaner mit vergnügtem Schmunzeln hinzu.

»Ich habe ja gar nicht gewußt, daß du so gut Bowlen zu brauen verstehst,« sagte Ilse. »Das war eine Arbeit, die sich unser Vater früher bei feierlichen Anlässen nie nehmen ließ.«

»Oh, früher haben wir Schulfreunde uns bei Geburtstagsfeiern immer ein Böwlchen gebraut,« erzählte Ferdi mit männlicher Würde.

»Jedenfalls schmeckt sie ausgezeichnet.« Ilse hob lächelnd das Glas gegen den Bruder.

Bis nach sieben Uhr blieben die jungen Leute beisammen.

»Jetzt müssen wir aber wirklich gehen: wir haben den weitesten Weg!« sagten Wilma und Grete.

»Wir müssen auch aufbrechen,« fügten die anderen hinzu.

»Haben Sie denn nicht noch ein bißchen Zeit?« fragte Frau Sternberg. »Ich freue mich immer, wenn Ilse liebe, junge Gesellschaft hat. Sie können doch ein Butterbrot mit uns essen?«

Den Mädchen tat es leid, der freundlichen Aufforderung nicht folgen zu können, denn sie wurden zu Hause erwartet.

»Ich glaube, ich habe einen kleinen Schwips!« Änne lachte in einem fort und tänzelte um die Freundinnen herum. »Ich bin so schrecklich ausgelassen.«

»Na, kleines Ännchen, das ist doch dein Normalzustand!«

»Was, der Schwips? Erlaube!«

»Nein, nein; aber das Ausgelassensein, das mußt du doch selbst zugeben.«

Lachend, schwatzend und unter wiederholten Dankesworten nahmen die Freundinnen Abschied, und auf dem Heimweg wurde man nicht fertig mit Rühmen und Freuen.

Ilse, die den Freundinnen nachblickte, hatte ihren Arm in den des Bruders gelegt. Guter Ferdi! Anstatt dir mal ein paar Zigaretten zu kaufen oder sonst eine kleine Annehmlichkeit von deinem spärlichen Taschengelde zu verschaffen, hast du es für uns geopfert!«

»Ach Ilse, mach' kein Gerede davon. Ich habe meine Tonbüchse zerschlagen. Wenn auch nicht viel drin war, es hat doch mitgeholfen. Und weißt du – ernsthaft – an den Zigaretten ist mir gar nicht so viel gelegen; so herrlich schmeckt das Zeug nicht einmal. Mutter sieht's nicht mal gern, wenn ich schon rauche.«

»Ferdi, bist du ein goldener Kerl!« Ilse gab dem Bruder einen scherzhaften Kuß. Der wischte sich den Mund. »Ihr Mädels müßt doch immer gleich küssen.« Seine Stimme klang ein wenig rauh. Aber in Wirklichkeit wollte er sich bloß über seine rührselige Stimmung forthelfen. Die gute Ilse! Die unzähligen, bald kleinen, bald großen Opfer, die sie eigentlich immerwährend Mutter und Bruder brachte, rechnete sie nicht. Wie dankbar aber war sie für den geringsten Liebesdienst, der ihr erwiesen wurde.

Auf einmal – Ferdi wußte selbst nicht wie – hatte er Ilse umschlungen. Zart und leise drückte er sie an sich und sah in ihre feucht schimmernden Augen. »Ilse, du Liebes, Gutes, möchtest du doch glücklich werden! Denkst du, Mutter und ich wüßten nicht, daß ein innerer Kummer an dir zehrt? Denkst du, wir hätten nicht gesehen, wie traurig manchmal deine Augen blicken, wenn du dich unbeobachtet glaubst?«

Das junge Mädchen schüttelte leise den Kopf. »Ferdi, sprich nicht mehr davon, laß die Vergangenheit ruhen! Ich werde schon damit fertig werden, glaube mir. Und wie sollte ich nicht glücklich sein, daß ich in eurer Mitte leben und für euch beide sorgen kann?«

Ferdi schwieg. Er wollte nicht mehr an die Herzenswunde der geliebten Schwester rühren. Lange standen die Geschwister noch Arm in Arm auf der Veranda und blickten stumm in den weichen, linden Sommerabend hinaus.


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