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Ein tiefer Fall

 

Es war an einem heitern Wintertage, ganz Gent war auf den Beinen und feierte noch nach mehr als hundert Jahren das Geburtsfest des großen Kaisers, der in seinen Mauern zur Welt gekommen. Das Glockenspiel des Befroi klingelte lustig zu dem Jubel der durch die Straße wogenden Menge, während ein mit vier Pferden bespannter Wagen langsam zur Stadt hereinfuhr. Der Wagen verrieth den hohen Stand des Reisenden; denn er war prächtig gearbeitet und mit Venetianischen Scheiben versehen, die damals noch zu den größten Seltenheiten gehörten, aber die Wappen daran waren halb verwischt, das Gold an den Zierrathen war erloschen, die Pferde waren abgemagert und gedrückt. Wem auch die Equipage gehörte, waren sie reich, mußten sie ihr Vermögen, waren sie von Ansehen, mußten sie Rang und Stelle verloren haben. Es saßen aber zwei Damen darin, deren eine trotz ihrer fünfzig Jahre noch immer schön heißen konnte. Ihre schwarzen Augen, ihr Teint, die gebogene Nase verriethen den südlichen Karakter, und obgleich ihr Gesicht tiefe Trauer und Schwermuth verrieth, blitzte doch noch zuweilen aus ihren feurigen Blicken ein Anflug von Größe und Majestät. Die zweite Dame war bei Weitem jugendlicher, ihr ganzes Wesen hatte etwas Gratiöses und aus ihren blauen Augen sprach eben so viel Muthwille, als erlöschende Mattigkeit. Erst vor acht Tagen hatte der Henker diesen reizenden Kopf im Bilde abgeschlagen. Auf dem Vordersitze saßen zwei Dienerinnen und ein Greis mit weißen Haaren und in einem langen, etwas verschossenen Sammtrocke; den Zügen nach schien es ein Jude zu seyn. Er war in tiefes Nachdenken versunken. Zu jeder andern Zeit hätten die Reisenden geglaubt, all dieses Glockengeläute, diese Musik, der ganze Lärm sey ihnen zu Ehren veranstaltet worden, aber ach, die Zeiten waren vorüber; die ältere Dame hatte, durch das tobende Geräusch aus ihren Träumen geweckt, sich vorgebogen und einen Augenblick auf die Straße geblickt, aber schnell sich wieder zurückgelehnt. Thränen rannen über ihre bleichen Wangen, denn sie dachte an die längst vergangene Zeit, als sie hier, von Glück und Schönheit umschimmert, ihren Einzug gehalten hatte. An der Brücke, wo die Brüsseler Straße ausgeht, hielt der Wagen, ein Page sprang vom Bocke und fragte, nach welchem Hotel sich die Frau Herzogin begeben wolle.

»Wo Du willst, Paulo,« antwortete die Dame mit den schwarzen Augen und die Kutsche fuhr weiter über den Kauter bis zur Rue des Chambres nach einem Wirthshause zweiter Klasse, das ein Schild »Zu unserer hülfreichen Frau« hatte. Die Herzogin hatte es zufällig erblickt und sogleich halten lassen. Die blonde Dame sah sich bestürzt um und fragte:

»Wie, hier?«

»Warum nicht, liebe Gräfin, wir sind von Allen verlassen, so möge unsere liebe Frau mich vor der Rache unseres unversöhnlichen Feindes schützen und mir eine Stätte verleihen, wo ich mein Haupt in Ruhe niederlegen kann.«

Sieben Monate waren seitdem vergangen. In einem kleinen Hause der Kreuzstraße sah man eines Abends spät noch Licht durch das Fenster schimmern. In einer engen, kahlen Stube saßen vier in trübes Sinnen versunkene Personen um ein Bett. Die beiden ersten waren die Herzogin und der Greis im schwarzen Sammtkleide, die Andern eine Beguine und der geschickteste Arzt von Gent. Alle vier starrten nach dem Bette hin, auf dem eine Frau lag, die noch Spuren der Schönheit zeigte, deren Züge aber von Kummer und von Leiden zerstört waren.

»Mascali, Doktor,« sagte die Herzogin, indem sie die rothgeweinten Augen aufschlug, »so glaubt Ihr denn Beide, daß für unsere arme Gräfin keine Rettung mehr ist?«

»Es ist ein Licht, das erlischt,« antwortete der Arzt, »hier kann die Wissenschaft nichts mehr helfen.«

»So ist keine Hoffnung mehr?«

»Nur ein Wunder,« erwiederte der Greis, »könnte ihr helfen, und Wunder geschehen nicht mehr.«

»Veramente, ich hoffe auch nichts mehr. Mascali, Du hast mich lange genug auf diesen Tod vorbereitet, wie Du mir seit achtzehn Jahren alles Unglück vorher gesagt hast, das mich getroffen hat. Gerechter Gott, wann wirst Du endlich aufhören, mich zu prüfen und Dich meiner erbarmen?«

Es trat eine tiefe Stille ein. Nach einer Viertelstunde wurden sie vom Doktor unterbrochen.

»Nur ein heftiger Kummer,« sagte er, »kann diese junge Dame auf das Krankenlager geworfen haben.«

»Ach ja,« sagte die Herzogin, »wohl war es ein heftiger bitterer Kummer, meine arme gute Freundin, die Kind, Freunde, Vaterland verlassen mußte, um dem Henker zu entgehen, nachdem Schurken von Richtern sie auf das Schaffott schicken wollten, weil sie gegen König und Staat geschrieben haben sollte. Der Tiger in Menschengestalt, nicht genug, daß er mich verjagt, verbannt, mich in's Elend stürzt, tödtet er mir auch meine liebste Freundin. Arme Isabella, Du stirbst, weil Du eine Unglückliche nicht verlassen wolltest.«

Im selben Momente öffnete die Sterbende ihre Augen, ihr starrer Blick ruhte auf der Herzogin, ein leichtes Lächeln spielte um die bleichen Lippen. Die Kranke stieß einen leisen Seufzer aus und ihre Seele stieg zum Himmel auf. Die Herzogin erhob sich, küßte die Stirn der Verstorbenen und drückte ihr die Augen zu.

»Triumphiere, schändlicher Priester,« schluchzte sie. »Du kannst der Liste Deiner Opfer ein neues hinzufügen. O wie beneide ich Dich, meine theure, gute Freundin, Dir ist wohl jetzt, während ich von Allen verlassen bin.«

Der alte Mann warf sich ihr zu Füßen, küßte ihr das Kleid und sagte: »Von Allen, nur von mir nicht«.

»Mein guter Mascali,« erwiederte die Herzogin und hob ihn auf.

Es begann zu tagen, die beiden Männer entfernten sich, nachdem sie sich ehrerbietig vor der Herzogin verbeugt hatten, die auf einem Sessel Ruhe zu finden suchte. Die Beguine blieb neben dem Bette und betete leise.

Gegen Mittag wurde die Thür vorsichtig geöffnet und Mascali trat herein, da er die Herzogin wach sah.

»Gnädige Frau,« sagte er, »der König ist unten und will Ihnen seine Aufwartung machen.«

»Hat er seinen schändlichen Günstling bei sich?«

»Ja.«

»Er mag kommen, aber allein, verstehst Du?«

Einige Minuten später führte Mascali einen jungen, prächtig gekleideten Mann herein, der das Knie vor der Herzogin beugte.

»Mascali, bringe einen Stuhl für Seine Hoheit und laß uns allein.«

Mascali entfernte sich.

»Veramente! ich war nicht gefaßt auf diesen Besuch und hätte Euch Schamgefühl genug zugetraut, mich damit zu verschonen.«

»Man hat mich angeschwärzt.«

»Es wäre sehr unnöthig, wo die That so laut spricht. Eure letzte Handlung hat Euch so tief in meiner Achtung herabgesetzt, daß Ihr nichts mehr verlieren könnt.«

»Wenn Ihr wüßtet –«

»O ich weiß nur zu viel, ich weiß, daß, während unsere Freunde sich für Euch tödten ließen, Ihr wie ein Feigling entflohen seyd, ich weiß, daß Ihr einen Vertrag mit unserm unversöhnlichen Feinde geschlossen und mich darin verrathen, mein Wohl auf das Nichtswürdigste aufgegeben habt. Wenn ich nicht Eure Mutter wäre, so würde ich nicht glauben, daß Ihr der Sohn eines der größten Könige wäret, dessen edles Blut Ihr durch Eure Feigheit brandmarkt.«

»Das ist zu viel,« rief der König aufspringend.

»Veramente, wäret Ihr wirklich im Stande, in Zorn zu gerathen? Das wundert mich und verräth noch eine Spur von Muth.«

»O ich weiß, daß die Gräfin mich verabscheut, daß sie nicht aufhört, mich zu verläumden, aber bei Gott, sie soll es mir bezahlen.«

»Ich weiß, einer Frau gegenüber habt Ihr Muth genug.«

»So wahr ich selig zu werden hoffe, ich werde mich furchtbar rächen.«

Die Herzogin erhob sich, zog die Vorhänge des Bettes zurück und sagte mit einem verächtlichen Lächeln. »So rächt Euch an ihrer Leiche.«

Der Prinz wurde bleich, schwankte und hielt sich unwillkührlich an der Herzogin fest, die aber hastig zurückfuhr.

»Wie, ich Euch als Stütze dienen, nimmermehr! geht und verschont mich ferner mit Eurem Anblick.«

Der Monarch wankte wie betäubt nach der Thür und entfernte sich mit einer tiefen Verbeugung.

»Der Elende,« rief die Herzogin, »und muß ich Mutter eines solchen Menschen seyn.«

Am andern Morgen war eine Kapelle in der Kirche St. Bayon schwarz ausgeschlagen, in der Mitte stand ein Katafalk mit einer Grafenkrone darauf, zur Rechten die betende Herzogin, hinter ihr Mascali, ein Page und zwei Frauen, alle in tiefer Trauer. Vorn auf dem Katafalke las man die Worte: Betet zu Gott für das ewige Heil der erlauchten Frau Isabella, Gräfin von Fargis, Gesandtin bei Seiner Majestät dem Könige von Spanien und beider Indien.

 


 

Noch vor zwanzig Jahren sah man zu Köln ein altes kleines Haus, das unten und oben zusammen fünf schmale trübe Fenster hatte. Hier wurde am 29. Juni 1577 der erste Maler der Flamändischen Schule, der unsterbliche Rubens geboren. Mehr als sechszig Jahre später aber wohnten hier zur ebenen Erde zwei alte Leute, ein Schuhmacher und seine Frau. Das erste Stockwerk, das sie zu vermiethen pflegten, stand jetzt leer; nur das Bodenzimmer war von zwei Personen besetzt. An einem kalten und regnigen November-Abende saßen die beiden alten Leute allein zusammen.

»Sieh' Dich doch einmal oben um,« sagte der Schuhmacher, »was die Dame macht. Der alte Herr ist schon seit heute früh hinaus und noch nicht wieder zurück. Hat sie nichts gegessen?«

»Ich bin erst vor einer halben Stunde da gewesen, aber er war noch nicht da, gegen Mittag habe ich ihr etwas Suppe gebracht, aber sie hat fast nichts davon genommen, um drei Uhr bin ich wieder hinaufgegangen, aber da schlief sie, und um fünf Uhr sagte sie mir, sie brauche nichts mehr.«

»Arme Frau! in so einer Jahreszeit kein Feuer, keine Kleidung, kein ordentliches Bett zu haben, und doch bin ich überzeugt, daß sie etwas Vornehmes ist. Hast Du gesehen, mit welcher Ehrfurcht der alte Herr mit ihr spricht?«

»Wenn's ihr schlecht geht, ist's ihre eigene Schuld, sie hat einen Ring am Finger, für den sie sich das Beste anschaffen könnte.«

In demselben Augenblick wurde an die Thür geklopft. Die Frau ging hinaus und öffnete, und kam mit einem Greise zurück, dessen grauer Bart auf einen schmutzigen geflickten Sammetrock herabfiel. Die Frau wollte ein Gespräch mit ihm anknüpfen, er sagte ihr aber ein kurzes Gute Nacht und kletterte im Dunkeln die steile Treppe hinan. Als er in das kalte Bodenzimmer trat, frug ihn eine matte zitternde Stimme, warum er so lange geblieben sey.

»Es ist nicht meine Schuld,« antwortete er, »ich habe Manuscripte kopirt, und als ich zurückkam, begegnete mir ein Diener, dem ich früher prophezeit hatte, und der mich bat, auch zwei reisenden Damen das Horoscop zu stellen. Ich that es, um etwas Geld zu verdienen und dafür die nöthigen Kräuter für Ihre Fieber zu kaufen.«

»Mich friert.«

»Das ist der Fieberschauer, ich werde Ihnen einen Trank bereiten, den Sie sogleich nehmen müssen.«

Beim Schimmer einer kleinen Blechlampe bereitete der Greis seine Medizin und gab sie der Kranken, die er mit seinem eigenen Rocke zudeckte. Noch eine Zeitlang, als sie schon eingeschlafen war, wachte er bei ihr und zog sich dann hinter einen Verschlag zurück, wo er auf dem harten Boden Ruhe zu finden suchte.

Am andern Morgen befand sich die Kranke etwas besser. Der Alte schlug ihr einen Spaziergang vor und sie ging herab mit ihm auf den Cäcilienplatz, wo sie trotz ihrer schlechten Kleidung durch ihre würdevolle Haltung Aller Augen auf sich zog.

»Siehst Du den Herrn dort?« sagte sie plötzlich, nach der Kirche zeigend. »Aber wie, irre ich mich nicht, es ist der Herzog von Guise.«

Sie hatte den Namen so laut ausgesprochen, daß der Unbekannte den Kopf erhob und auf sie zukam.

» Parbleu,« sagte er, »das ist ja Mascali. Teufel, habt Ihr Euch verheirathet?«

»Er kennt mich nicht,« seufzte die alte Dame, »was muß ich mich verändert haben!«

Mascali hatte während dieses Ausrufs dem Herzog ein Wort in's Ohr geflüstert, daß er plötzlich erschrocken zurück fuhr. So wie er sich erholt hatte, zog er seinen Hut ab und verbeugte sich tief zur Erde.

»Ich bitte um Verzeihung,« sagte er, »aber meine Augen sind so schwach geworden, und ich vermuthete so wenig, daß ich hier die Ehre haben würde, Ihre Ma–«

»Um Gottes Willen,« unterbrach ihn die Dame lebhaft, »geben Sie uns keinen Titel, der gar zu sehr im Widerspruch mit unserer jetzigen Lage stände. Sind Sie lange in Köln?«

»Seit drei Tagen. Ich komme von Italien, wohin ich zuerst gereist war, als unser gemeinschaftlicher Feind mich verbannt und meine Güter mit Beschlag belegt hatte. Ich will jetzt nach Brüssel.«

»Haben Sie lange keine Nachricht aus Frankreich, regiert der Elende noch immer?«

»Er ist mächtiger, als je.«

»Wissen Sie wohl, mein Herr Herzog, daß Ihr Schicksal fast so sonderbar ist, als das meinige? Sie, der Sohn eines Mannes, der, wenn er die Gefahr nicht zu sehr verachtet, sich vielleicht die Krone auf's Haupt gesetzt hätte, und ich einstmals die Beherrscherin des mächtigsten Landes der Welt! Und jetzt – Auf Wiedersehen,« setzte sie plötzlich hinzu, indem sie stolz das Haupt erhob. »Dieser Anblick hat mir wohl gethan, Herr Herzog, möge das Schicksal sich bald wieder mit Ihnen versöhnen.«

»Erlauben Sie mir, Sie nach Ihrer Wohnung zu begleiten.«

Eine hohe Röthe überflog die bleichen Züge der alten Dame und sie antwortete mit einem gebieterischen Tone: »Verlassen Sie uns, Herr Herzog, wir wollen es.«

Guise machte eine tiefe Verbeugung, küßte der Dame ehrerbietig die Hand und entfernte sich. Kaum war er aber an der Ecke der Peterstraße, als er sich einem Menschen näherte, ihm etwas Geld in die Hand drückte, ihm die Dame bezeichnete und dann erst sich eiligst entfernte.

Am andern Morgen klopfte jemand an das Haus des Schuhmachers und fragte nach Herrn Mascali. Dieser kam herunter und erhielt von dem Boten einen Brief und eine Büchse. In dem Briefe stand: »ich habe noch zwei hundert Louisd'or, die Hälfte davon ist für Euch. Karl von Guise.« In der Büchse waren hundert Louisd'or.

Zwei Jahre hatte das unerwartete Geschenk die Bedürfnisse der beiden Fremden befriedigt. Aber der letzte Louis war ausgegeben und die Dame nebst ihrem Begleiter waren noch immer allein und verlassen. Selbst der Schuhmacher mit seiner Frau waren schon seit mehren Wochen fort, um in Aachen eine kleine Erbschaft zu erheben. Es war am 13. Februar 1642.

Auf dem Bodenzimmer vernahm man ein ersticktes Seufzen und Stöhnen. Eine alte, mehr einem Skelett, als einem menschlichen Wesen ähnliche Frau lag auf einem Strohbündel und rang mit dem Tode. Das Seufzen und Stöhnen wurde immer schwächer und bald trat das letzte Todesröcheln ein. Einige Stunden später kroch ein in Lumpen gehüllter Greis mühsam die Treppe herauf, nur ein einziges Wort kam über seine Lippen, aber die Verzweiflung sprach daraus. »Nichts,« rief er, »nichts!« Er näherte sich dem Lager und da er die unglückliche Frau ohne Bewegung sah, ergriff er schnell ihren Arm, ließ ihn aber bald wieder fallen. »Todt,« rief er, »todt vor Hunger, vor Kälte, vor Elend.«

Und diese Frau war Maria von Medicis, die Gemahlin Heinrich des Vierten, die Regentin von Frankreich, Mutter Ludwigs des Dreizehnten, Isabellas, Königin von Spanien, Henriettas, Königin von England, Christinas, Herzogin von Savoyen, Gastons, Herzogs von Orleans, und doch vor Hunger, Kälte und Elend gestorben, und doch heißt Ludwig der Dreizehnte, der feige Sklave Richelieu's, der Mörder seiner Mutter, doch heißt er Ludwig der Gerechte.

 


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