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Zwischen den Festen

Seilertod
oder: Die Fahrt zu einem Sterbenden

 

Meiner Madermutter

 

Als ob der mächtige Donaufluß, einem hallend atmenden Tier gleich hingelagert in seinem beständig aufgewühlten Bett, sich durch den Anblick bereits gewöhnen sollte: so wurden die silbern leuchtenden Drahtseile zu den großen Donauseilfähren jedesmal – so recht augendeutlich! – hart längs seinem einen Ufer gesponnen. Man komme mir nicht mit solchen materiellen Einwendungen, daß der Seiler doch wohl deshalb am Flußufer entlang spann, weil da ja eine verhältnismäßig längste Strecke am geradesten und am ebensten zugleich zu verlaufen pflegt: zwei Bedingungen, die für das ehrsame Seilerhandwerk so unerläßlich sind wie für das nicht minder ehrsame Fasselbindergewerbe beispielsweise diese eine, daß der Meister mit seinen Gesellen schön (und wie die Flamme beschwörend) im Kreis herumzugehen vermag ... Nämlich ich, als eines Seilermeisters Pflegesohn, muß das denn doch besser wissen, und ich behaupte nun einmal: Durch den nahen und unmittelbaren Anblick, wie die Drahtseilfabrikation vor sich ging, sollte sich der schlecht bezähmbare Donaufluß bereits mit seinem zukünftigen Joch befreunden! Und da es längst von ihm bekannt war, daß er das nicht gerade gerne tat, so sollte es – mit einem einzigen Wort – wie eine Demonstration sein, die ihm immerhin schon allerhand zu denken gab, die ihn aufklärte und verwies, belehrte und einschüchterte!

Und als ich noch so ein richtiger Dreikäsehoch war – das eine, das weiß ich doch gewiß, daß da der Fluß und ich, ja – daß wir beide zusammen da gar große Augen machten, von welcher riesigen Länge eigentlich so ein Seil wurde: so lang – o so lang fast wie die ganze Stadt drüben am andern Ufer sich erstreckte. Am andern Ufer, wo längst ungewöhnlich viele Leute auf die »Lände« herausgekommen waren und von weit, weit da drüben nun alle übers Wasser zu uns herübersahen, die eine oder die andere Hand wie Schirme über die Brauen haltend vor blitzender Sonne und blendendem Widerschein der Sonne auf dem Wasser. Ich – als der Pflegesohn des Meisters, der da, von der halben Einwohnerschaft über den Fluß herüber bestaunt, ein gewaltiges Werk schuf! – ich nahm mich natürlich ungeheuer wichtig und benahm mich denn auch danach ... und aber immer schien's damals mir (vor begreiflicher Aufregung) fast Fieberndem, als ob der Fluß, nachdem er den mancherlei Vorbereitungen zuerst abwartend zugesehen, schließlich der Breitseite des Städtchens drüben den Rücken wandte, auf dem linken Arm aufliegend, bald nur noch zu uns herüber- und heraufschaute und ... und sich eben genau wie ich gleichfalls sehr geschmeichelt fühlte und allgemach als wahre Hauptperson vorkam!

Der Donaufluß, mein Pflegevater und – ich: das war mir in jenen gehobensten Augenblicken eine Dreiheit, eine hohe, mystische, der ich selber etwas aufopfern zu müssen wähnte ... Und wenn ich dann gar am jenseitigen Ufer – so recht neidvoll spähend, wie mich dünkte! – den zweiten Seilermeister des Städtchens mitten unter den Gaffern auf der Lände eräugte: dann konnte ich rennen, so lang hin die Litzen des Seils liefen, um nur ja schnell genug zu meinem Pflegevater zu gelangen und ihn – jede Sekunde eine köstliche Ewigkeit! – nur ja bald genug an diesem höchsten aller Triumphe teilnehmen zu lassen:

»Siehst, Madervater, siehst, wie der Seilermeister Wimpensinger wieder herüberschaut?!«

 

Der »zweite« Seilermeister des Städtchens – der war (unter uns gesagt) schon damals in Wirklichkeit längst der erste. Du lieber Himmel – er war doch auch die jüngere Kraft, besaß das größere Haus, hatte weniger (oder gar keine) Schulden und so eigentlich ganz selbstverständlich auch das bessere Geschäft. War übrigens auch Gemeindebevollmächtigter – man denke! –, was zumindest eine wirksame Folie abgibt. Aber ... aber von Drahtseilfabrikation hatte er keine Ahnung! keinen Schimmer und keinen Dunst. Ja, sogar nicht einmal davon, was auch nur so ein richtiges Glockenseil ist. Solche – im Grunde doch erst die wahren und echten – Meisterstücke, die hatte dieser, der wie gesagt der Jüngere war, »nicht mehr gelernt«. Nämlich da waren inzwischen schon die großen Seilfabriken gebaut worden, und da hatte das Seilerhandwerk denn (wie so viele andere Zünfte auch) resignieren müssen. Doch das verstand ich damals natürlich nicht, dazu war ich ja noch viel zu klein – und aber auch mein Pflegevater war voller Meisterstolz und glaubte – er als einzelner und einziger! – über sämtliche Drahtseilfabriken zu triumphieren. Ein paar Gemeinden hatten es wohl bereits mit »Fabrikware« versucht, mit dieser »neumodischen«, waren aber im wahrsten Sinn des Wortes nicht allzu gut dabei gefahren. Da waren die meisten andern donauauf und donauab und viele auch drüben vom Innviertel doch wieder auf meinen Pflegevater zurückgekommen, und als der ihnen seine (tatsächliche) Handarbeit – nach mancherlei Feilschen – auch noch zu Fabrikpreisen abließ, da hatte er sie bald sämtliche wieder und ... und da konnten selbstverständlich die großen Fabriken mit diesem kleinen Meister »nicht mehr mit« ... Konnten nicht mehr mit – – oder aber wollten sie nicht mehr mit?

 

Und so blieb's jedenfalls – bis in diese allerjüngste Zeit: mein Meister ließ nicht nach. Und wenn er zuletzt nur noch einen Pappenstiel an der mühevollen und wohl auch gefährlichen Errichtung einer solchen »Überfuhr« verdiente: schier wo immer in meiner engeren Heimat eine jener sehr flachen großen Zillen – sei's einen hochbeladenen schweren Erntewagen samt Bespannung, sei's eine ganze fromme und gläubige Kirchgängerschar – übersetzt, ist's meines lieben Pflegevaters Werk.

Und ich kann es übrigens sehr wohl verstehen, wie sein Herz den geliebten Fähren treu blieb – um jeden Preis. Es ist eben ein anderes, ob ich – sagen wir – ein Paar Schuhe unter meinen tätigen Händen werden sehe, deren Absätze dann ein anderer schief tritt, oder ob ich der »Erbauer« bin von einer solchen luftigen »Brücke« über den breit hinströmenden Fluß. Einen solchen Rest von Poesie spürt man heut immer noch allenthalben in unserer Flußlandschaft. Denn es hat unleugbar etwas Poetisches, wie es sich schweigend vom Ufer löst ... sicher wie im Traum bis ins schneller treibende Rinnsal hinausstrebt ... und – magisch! man kann es nicht gut anders sagen – sich dem jenseitigen Rande nähert ... Dazu das Singen der Rollen, anschwellend und auch nicht auf einem Ton verharrend, sondern höher steigend ... jener Rollen, die, hoch oben das Seil entlang gleitend, bald völlig hinterm Schiff zurückzubleiben drohen, bald ein ganzes Ende wieder vorauslaufen ...

 

Doch das hab' ich ja wohl noch gar nicht erzählt – nämlich –, daß es mit der bloßen Drahtseilherstellung bei weitem noch nicht getan war, sondern daß eben auch die Aufrichtung des Ganzen an Ort und Stelle sodann gleichfalls dem Seilermeister oblag. Aufrichtung der beiden Bäume, die schier so hoch wie Türme ragen; Spannen des Seils zwischen diesen beiden schwindelnd gelegenen Punkten recht wie eine Brücke von Ufer zu Ufer; und schließlich und endlich die Anbringung jenes gleitenden »Ankers« in der Luft, der so gut wie ein anderer auf den Grund des Flusses hinabgelassener das Schiff von der reißenden Strömung nicht forttragen lassen darf – jenes »Perpendikels«, wie man auch sagen möchte, das langsam von Ufer zu Ufer pendelt. Wenn irgendwie eine kleine Garnison oder auch nur ein winziges Bezirkskommando einigermaßen erreichbar in der Nähe lag (oder nun gar erst Pioniere nicht allzuweit oberhalb oder unterhalb gerade manövrierten!), dann durfte mein Pflegevater zum Einrammen der beiden riesigen Stämme – das mögliche Überschwemmungsgebiet genau berechnet und was derlei Kniffigkeiten mehr waren – sowie zum Spannen der stählernen Trosse oft Militär requirieren. Doch zum Schluß das Allerschwerste, das konnte immer nur einer allein vollbringen, und zu diesem Behufe mußte der (jenen schweren »Anker« oder »Perpendikel« dabei auch noch auf dem Rücken) den »Steigbaum« hinauf, all die vielen und hohen Sprossen, die du gewißlich schon einmal an den Masten bemerkt hast, bis zur obersten Spitze, und dort die »Seele«, wie man es nennt, dem sonst ja leblos bleibenden Leibe einsetzen ...

Und meine Pflegemutter und ich, die wir wohl wußten, wer dieser eine war, und die Stunde allemal genau kannten, wann er – ein ähnlicher wie Solneß! – da hinaufstieg, wir nahmen dann unsere Zuflucht zu Gebeten und beteten laut ... Er war ja auch, seit ich denken kann, schon immer grau an Haupthaar wie an seinem ums Kinn ausrasierten Bart, seinem Kaiser-Franz-Josephs-Bart ...

Und nie aber geschah ihm was ... Schützten ihn unsere Gebete? ... Oh, er selber auch unterschätzte die Kraft des Gebetes aus Weibes und Kindes Mund, derweil er da oben hing, schwebte, durchaus nicht ...

Im übrigen war er (was doch außer dem erhaltenden Gebet ebenfalls ein wenig dazugehört) ein letzter Meister Seiler von echtem alten Schlag – d. h. da oben in den Lüften zu Hause, in den Glockenstühlen zuhöchst sowohl als auch hoch auf den Spitzen der Seilfährmasten ...

 

Der Eilzug führt mich von Regensburg donauabwärts. Mir freilich lange nicht eilend genug: mein Plegevater liegt im Sterben. Wenn wir doch endlich schon so weit wären, daß wenigstens der Fluß nicht mehr in diesem meilenfernen Bogen da draußen um uns herumginge, ist mein einziger Wunsch, der mich nicht mehr auf meiner Bank sitzen läßt ... Da endlich, endlich donnert – unterhalb Plattling – der Train über die Isar: – und nun nähern wir uns bestimmt, bestimmt bald ganz der Donau und bleiben fortan dicht, dicht an ihrem rechten Ufer!

Ich habe – ein erwachsener Mensch, ein Mann von dreißig Jahren – diesen einzigen brennenden Wunsch, das mich verzehrende Begehren: daß sich unser Zug doch endlich an die Donau anschmiegen möchte! als wie an ein mitfühlendes Wesen! Das findet ihr seltsam, nicht wahr? – Aber ich reise ja nun schon eine Nacht hindurch, und frühmorgens in Regensburg angekommen, hatte ich mir schon nicht mehr zu helfen gewußt und einfach das »Amt« meiner Heimatstadt antelephoniert und die Leutchen dort beschworen, doch die Bestimmungen zu durchbrechen, und womöglich den ganzen Betrieb auf den Kopf gestellt ...

Doch da ist sie nun mit einemmal, die Donau: und zwar sogleich so nah, daß ich denke, sie müßte bis unters Trittbrett unseres Waggons heranreichen ... Und es ist nur die Freude, daß ich dich wiedersehe, mein Fluß, riesiger, wilder, und just hier von Pleinting abwärts die letzte Strecke erschrecklich breiter und dennoch mit einem jeden kleinsten Wellchen für meine Papierschiffchen einst so gutmütiger Spielkumpan aus meinen Knabenjahren? – Ist es wirklich nur die Freude des Wiedersehens, die mir plötzlich eine gänzlich unbestimmte und törichte Hoffnung im Herzen vortäuscht?

Aber nein, aber nein doch – die Hoffnung steht ja ragend aufgerichtet an den Ufern ... aus den gänzlich entlaubten Bäumen (zu dieser Spätherbstzeit) schießt plötzlich ein riesiger Mast auf, hüben einer und drüben einer, und der hüben ist meinem Fenster schnell vorbei, aber der drüben steht lange noch vor meinen Augen wie ein Bild im Rahmen des Coupéfensters, und die beiden zusammen tragen ein Seil, das sich nun so seltsam dreht vor meinen Blicken, als ob unser Zug vorhin unter ihm durchgefahren sein müßte ... Und da! da unten ist die Fähre und schwimmt eben mitten im Rinnsal des Flusses ... und fünf, sechs, sieben Menschen stehen darin ... alle aufrecht ...

Und dieses Bild da, es beruhigt mich – oh, wie beruhigt es mich und spricht sich friedvoll in mich hinein. Als eben seiner Hände Werk. Und ich beug' mich aus dem Fenster, das ich ja längst schon herabgelassen, und seh immer noch zurück und da hinauf, und es ist eine mit Worten nicht zu sagende Hoffnung in mir.

»Die Fähre ist noch immer nicht, noch lange nicht am andern Ufer«, das spreche ich mit dem Kopf im Wind draußen, ohne zu wissen, daß ich es spreche. Und dann tun Fluß und Bahngeleise eine Biegung, und ich setze mich ruhig wieder auf meine Bank und muß mit einmal denken, wie unnütz ich die guten Leute auf der ›Post‹ daheim von der Telephonzelle in Regensburg aus aufregte: Das Postgebäude liegt doch vom Seilerhaus zu weit ab, als daß man so schnell wen hätte herbeiholen können ...

Man muß das selbst erlebt haben: sich eine Nacht lang vom Norden Deutschlands her bis in den tiefen Süden auf eisernen Rädern über eiserne Schienen karren zu lassen ... während der, zu dem man will, in der Agonie liegt ... Wie? Aus dem D-Zug aussteigend, erwarten einen in Regensburg dann, bis der Eilzug weitergeht, drei Viertelstunden Aufenthalt: ja, ist das denn möglich?! – Die ganze Stadt kommt einem feindlich vor und verkörpert einem jedenfalls noch einmal – im bleiernen Morgenlicht – all die auf uns eingestürmten Gewalten der vergangenen durchwachten Nacht ...

Felder dann, über denen der Frühnebel liegt; und auch die Berge im Hintergrund von Schleiern umwallt: es könnte ebensogut eine Wandeldekoration aus nichts denn aus grauen feuchten Leinewanden sein, die da draußen an dir vorübergezogen wird und in die kaum Kohlestriche eingezeichnet sind: so ist das alles ...

Bis dann eben der Fluß kommt – wie ein erlösender Ruf. Auf dem, unter grauestem Wolkenhimmel selbst, die Wellen ein paar Glanzlichter werfen!

Und dann die erste Seilfähre – von IHM: das ist, als ob man schon völlig angelangt und nur noch zwei Schritt etwa von seinem Bett entfernt wäre! Und es ist einem, als brächte man ihm nun auch noch etwas anderes mit als nur sich selber, nämlich noch diese Botschaft: »ich bin da und da vorübergefahren (und wenn du selber auch nie mehr dahin kommst, so war doch ich eben noch da)« – und halt alles in allem etwas wie einen Gruß, daß das dort auch bleiben würde ...

O diese fliegenden Gedanken des Überwach- und Übernächtigtseins!

Ich stehe wieder von meiner Bank auf – sammle meine zwei, drei kleinen Gepäckstücke, die ich – aus einem vielleicht total unsinnigen Gefühl – einfach »nicht übers Herz brachte«, in Berlin als Freigepäck aufzugeben, sondern bei mir im Coupé behalten wollte ... und denke: nun wird erst noch eine Fähre sein und dann sind wir ja, Gott sei Dank, bald da ...

Und da ragen auch – hoch über entlaubten Bäumen wieder und selber in irgendeinem Sinn wie entblättert – schon die Masten her, die ich von fern bereits mit einem einzigen Blick beide umfassen will ... »Ja, was ist denn?!«

Es ist weiter nichts. Es ist weiter nichts, als daß die Fähre ruht ... ruht ...

Und was soll denn da auch eigentlich weiter dabei sein? ...

Liebe kleine Stadt. – Zwei Mönche nur sind mit mir ausgestiegen. »Die sind vom neuen großen Kloster auf dem Berg«, spricht der Lehrjunge, der mich abholte. An einer riesigen Stadeltür friert ein halbabgerissenes Wanderzirkusplakat. Und überhaupt alles so winterlich schon: die Rosenstöcke überall schon dicht vermummt. An der »Post« vorbei, vor der zwei gelbe Handkarren stehen. Ich hab' wahrlich was Schönes angerichtet. »Die Post hat zu uns g'schickt«, der Lehrjunge; »und da haben wir schon gedacht, daß Sie vielleicht 'n Zug versäumt hätten«.

Mit mir zugleich tritt ein Bäuerlein ins Haus. »Grüaß Go-od« – so laut wie unsere Hausglocke, daß es der Kranke bis in den ersten Stock hinauf hören muß. Meine alte Madermutter aber steht auf der halben Treppe. So gebückt. Schier einen Kopf kleiner geworden, dünkt mich.

Einen Augenblick noch erkannte mich der Sterbende. Nur daß er meinte, daß ich von München hergekommen wäre, wo ich viel früher einmal längere Zeit gewesen bin.

Und dann fesselte mich plötzlich etwas ganz anderes. Ach – so sehr Nebensächliches. Aber man ist ja so hilflos in solchen Momenten, so für andere nebensächlichste Dinge interessiert: wie ein Kind, dem nicht das leiseste von der eigentlichen Situation aufdämmert.

»Was sind denn das für Bilder?«

Und der Schwiegersohn meines Pflegevaters (so leise antwortend, als ich fragte): »Da ist vorigen Sommer ein Photograph dagewesen ... So ein herumreisender ... Na, und da hat dann der Großvater bei ihm drauflos bestellt ... Schier all seine Überführen! – Wir wollten gestern, ja vorgestern schon all die Bilder von hier herausnehmen ... Er phantasiert in einem fort von seinen Seilfähren ...«

»So laßt ihn doch!« – ich mit all der Bestimmtheit eines Neuangekommenen.

Da kommen leise Kommandi vom Sterbebett her. Und noch leiseres Ausschelten dazwischen. »Die Sakradi no amal!« Und dann ein paar Atemzüge – wie sehr voller Befriedigung. (Meine Augen vergleichen unwillkürlich, ob seine Züge ja auch übereinstimmen mit dem und dem Bild, darauf beide Masten aufgerichtet!)

Und dann vernehme ich ganz deutlich: »die – Seele – die – die Seele –«

Und da langt die alte Hand meiner Pflegemutter zu mir her. So wie einst. So wie einst allemal in der Stunde, die wir genau kannten, wann er – ein ähnlicher wie Ibsens Baumeister – da hinaufstieg ... und wir unsere Zuflucht zum Gebet nahmen ...

Und die alte Frau kniet hin und ich knie hin und wir beten laut ... Oh, er selber auch unterschätzte die Kraft des Gebets ja nie aus Weibes und Kindes Mund, derweil er oben hing, schwebte ...

»– die – Seele –«

Stille.

Ende.

Ich finde, daß man wohl daran getan hatte, die Bilder bei seinem Sterben nicht herauszunehmen. Sie zeigten ihm die Etappen seines Kampfes – und ob's auch nur Scheinsiege gewesen sein mögen: ihm waren's Siege schlechthin.

Fliegende Warenhäuser

 

Der Huber-Anna (vulgo Erath)

 

Jeder dritt-, höchstens viertfolgende Sonntag ist dem Bauern – Pardon: Herrn Bauersmann! – ein Tag, an dem er »Shopping« geht – und wobei er absolut nicht weniger Kaprice seinerseits entfaltet und andererseits Einhaltung von sehr viel Zeremonial erheischt wie in Paris, London, New York, Berlin nur die fashionabelste Lady oder mondänste Madame. – Davon wissen, wenn auch in einer etwas despektierlicheren Tonart vielleicht, die kleinen Handelsleute, die die Märkte der einzelnen Marktflecken ständig bereisen, ein Lied zu singen.

Marktflecken übrigens – ist das nicht an sich schon ein hübsches Wort? Ein farbiger Tupfen? So daß man unwillkürlich eine malerische Impression davon bekommt? – Nun aber gar eine Spezialkarte etwa vom ganzen Bayerischen Wald rein in bezug auf seine vielen, vielen Marktflecken (und die sich daranknüpfenden regelmäßigen Märkte) angelegt und ausgeführt: das ergab' leichtlich etwas so Überfarbiges wie eine ultraexpressionistische Leinwand.

Und um – öfters an jedem zweiten Sonntag sogar, wie es die Jahreszeit eben zuläßt – einen stattfindenden Markt, Jahr- oder Handelsmarkt geheißen, da oder dort zu besuchen, dazu scheut der Bauer keinen noch so weiten Weg. Steht – außer im tiefsten Winter natürlich – oft um halb drei Uhr in der Früh an einem Sonntag auf und läuft zu Fuß seine guten vier Stunden weit zum nächsten Markt. Absolviert, dort angelangt, die Reihen der längst aufgetanen unterschiedlichen Buden ein-, zweimal, noch eh' er zu Amt und Predigt in die Kirche muß. Verrichtet danach seine gläubige Andacht – und macht sich sodann auf ein neues und nun erst recht an viel Schauen und wenig Kaufen. Begrüßt zwischenein die und die Bekannten und läßt wohl auch durch ein paar fallengelassene Worte zu dem und dem Betreffenden, der gleichfalls von näher oder weiter hergekommen ist, einen lang schon schwebenden Tausch oder Handel nicht gar völlig einschlafen ...

Und das alles zusammen aber hübsch einsilbig – bis es das erstemal ins Wirtshaus gegangen ist: zu einem Glas Bier und einem Lüngerl, Kuttelfleck oder gar einem neuzeitlichen Gulasch. – Hübsch einsilbig, das will heißen: nicht wie gerade noch schläfrig vom So-sehr-früh-Aufstehn; aber auch nicht etwa immer noch stumm-bewegt und vor Bewegung stumm von der Poesie des abwechslungsreichen Vierstundenwegs von daheim vom Gehöft bis hierher zum Markt ... Sondern das diktiert ihm so sein Naturell im allgemeinen; und im besonderen verhält er sich so aus dem, was man spezielle Bauernschläue nennt – aus jenem Gemisch von Mißtrauen, ewig auf dem Quivive sein und zugleich aber auch listig darauf lauern, wie man den andern am gelungensten ein wenig einseifen und daraus nicht nur seinen eigenen Vorteil, sondern auch noch sein gut Teil hämische Schadenfreude gewinnen könnte ...

Eija: wenn nicht von bestimmteren Absichten getrieben, zieht es den Bauern zumindest schon deswegen unwiderstehlich hin bis zum entferntesten Markt, weil er fürchtet, daß ihm durch sein Fortbleiben vielleicht etwas »auskommen« könnte. – Und der Magnet ist eben bei Bauer und Jahrmarkt genau wie bei den Damen hinauf bis zu den allerhöchsten in bezug aufs weltstädtische Warenhaus: die »Okkasion«, die ewige, leidige ... zuweilen verwünschte, immer aber brennend herbeigesehnte ...

Es ist bekannt, daß so ein Jahrmarkt – viermal im Jahr zu jeder der vier Jahreszeiten ursprünglich angesetzt – ein Stück Mittelalter ist. Da strömten die Reichsten wie die Ärmsten herbei, sich mit allem Nötigen für daheim zu versorgen – und zur bloßen Kaufgelegenheit gesellte sich sehr bald alle mögliche Lustbarkeit. – Wie aber dann, zu meiner Knabenzeit, die Lokalbahnen angelegt wurden und – in den allerjüngsten Tagen – die Errichtung von Automobilpostlinien von den Städten aus weit über Land noch hinzukam, da prophezeiten beide Male, und nicht nur die immerfort unzufriedenen Kaufleute gern, nun sei es mit jenem Stück Mittelalter, das in den Jahrmärkten bis dato bestanden, bald endgültig aus und vorbei. Indes, das war falsche Prophetie. Zumindest für den besonderen Bayrischen Wald. Der Bauer ändert sich nicht von gestern auf morgen – justament der Bauersmann nicht! – und so hat der Bestand wie der Besuch der Märkte keineswegs nachgelassen. Recht im geraden Gegenteil: wer mit seinem Geh- oder auch Fuhrwerk irgendwie nicht gar gut beieinand war oder sonst einen Vierstundenweg scheute, der schwingt sich nunmehr ganz einfach aufs »Postschnauferl«! Die »Okkasion«, die bis in die mißtrauischsten Falten des bäuerischen Herzens hinein magische Macht hat und behält, konnte durch den seither leichter ermöglichten Verkehr naturgemäß doch nur profitieren – und andererseits und nicht zuletzt haben es die die Märkte bereisenden Handelsleute doch nun ebenfalls um vieles leichter, speziell in den Bayrischen Wald hinein immer noch weiter vorzudringen! Und wo gestern womöglich die Seiltänzer, Feuerfresser, Degenschlucker und Schnelläufer ein wenig ausblieben (und ausbleiben mußten, weil gerade sie selber sich denn doch ein wenig überlebt hatten!), da baut sich morgen etwa schon ein anderes, noch viel wunderbareres Wanderzelt auf (das andererseits auch wieder noch viel schneller abzubrechen und überhaupt zu transportieren geht!) – ein Wanderzelt, darinnen der Kinematograph an diesem Jahrmarktssonntag verwirrende und atemversetzende Films zeigt!

Man muß so sagen: die Jahrmärkte sind längst kein Stück Mittelalter mehr. Die sind mit der Zeit gegangen; die haben sich gewandelt. Beispiel: wo einst die Drehorgel grämlich leierte, schmettert in allen Dorfwirtshäusern heute längst der Phonograph ...

Und das weiß auch der Bauer wohl für sich zu schätzen und sagt sich: Wozu soll ich da lange in die Stadt hinein? Bahn- wie Automobilverbindungen sind vielmehr da, damit selbst die neuesten Errungenschaften bis zu mir herauskommen! – Und damit sind wir unversehens bei einem ganz andern Stück Mittelalter angelangt: beim Durchschnittsbauern selber in bezug auf die nächste auch nur einigermaßen größere Stadt. Nämlich die ganze Natur des Bauern verwehrt ihm selber das öftere Zusammenkommen sozusagen mit der Stadt: – sowie die Stadt sich auch nur ein wenig städtisch gehabt, ist's dem Bauern schon zu »fremd«, viel zu wenig »grüabi« (gemütlich), unbehaglich, ja »kalt« innerhalb ihrer Mauern. Der Bauer weiß nicht, wie sich eigentlich in der Stadt gehaben. Vor den Stadtleuten sich klein machen? Das tut der Bauer nicht gern. Falls er sich aber groß aufspielen will? – da spotten die ihn gar erst tüchtig aus. Sich dumm anstellen – so wie ein Käfer sich tot stellt –, siehst du, das freilich liebt er: aber für dieses etwas langwierige Manöver haben die eiligen Städter keine Zeit ... wie noch weniger für den Spaß, den er selber bis zur Neige auskosten will: wenn er dann plötzlich die Maske des Dummen fallen läßt und der andere seinerseits die Rolle des ziemlich Hereingelegten wenigstens markieren soll! – Ich deutete es weiter oben schon einmal an: außer dem eigenen Vorteil muß der Bauer aus einem Handel auch noch ein gut Teil hämische Schadenfreude ziehen können, anders ist's ihm nur eine halbe Sach', und das war's auch, was ich eingangs mit des Bauern Kaprice meinte, die er beim Kauf entfaltet, und mit dem vielen Zeremonial, das er von Seiten des Verkäufers peinlichst eingehalten wünscht.

Gradaus hingehen und wo was Gewisses kaufen: Guten Tag was kostet soviel? – Hier die Begleichung! – und somit adieu ... das achtet der Bauer für nichts Rechtes und nicht Gescheites. Vielmehr soll der Verkäufer den ganzen langen Sonntag über für ihn parat sein und vom frühen Morgen bis zum späten Abend von seiner Geneigtheit und Gnade existieren und wachsen: so wie der Schatten des Kirchturms, des Wirtshausschildes oder der elenden Krambude vom goldenen Sonnenstrahl existiert und wächst! – Und wenn der Bauer sich gegen Nachmittag zur fünften Wirtshaustür hineindreht, ist es zum fünfundzwanzigstenmal gewiß heut schon mit dieser herrischen Gebärde zum Verkäufer hin als wie zu einem Hund: Du hast hier heraußen zu bleiben, bis ich wiederzukommen geneigt bin – Kusch!!!

Und so ist so ein Markt in seiner Gesamtheit sowohl, indem es von billigster Roßwurst an alle nur möglichen Dinge bis hinauf zum teuersten schwerseidenen Kopftuch gibt, als auch in einer solchen Praktikabilität, daß gleich sechs verschiedene Schuster mit ihren Erzeugnissen aus allen Himmelsrichtungen herbeigekommen sind und man sich die dauerhaftesten Sohlen also genau aussuchen kann – und so ist ein Markt längst schon sozusagen ein fliegendes Warenhaus gewesen, eh' man in den großen und allergrößten Städten drinnen an ähnliche mehr immobile dachte – und das mit noch zahlreicheren »Erfrischungsräumen«, als selbst heute die riesigsten Kaufpaläste aufzuweisen haben!

 

Schnittwaren hält der eine »Stand« feil, Alpenkräutermagerbrot der andere; Galanteriewaren ein dritter, ein vierter Käse und Zigarren; und so geht das in bunter Reihe fort – bald Textilwaren, bald Lebensmittel; Spielwaren im Verein mit Heiligenbildern und Rosenkränzen, und daneben flammende Lebzelterherzen; Tonwaren, ein Seiler, der Messerklinger, zwei Schuhmacher, Mahd- und Dreschgeräte ... Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber ausgesprochene Zehnpfennigbasare so wie auf Messen und Dulten sind hierorts, für einen einzigen Tag bloß, unrentabel, und den Roßmetzger-Hiasl siehst du die ganze Zeit über mehr in Wirtshäusern alte, kranke, das heißt eben schlachtreife Rösser auskundschaften als bei seinen fertigen Würsten und prima Roßleberkäse ...

Doch an all diesen Gelegenheiten und Verführungen schiebt sich weitaus die Mehrzahl der Marktbesucher schier in einem fort vorbei und drängt – nach oben oder unten – nach einem viel, viel größeren Stand hin ... Nicht nur, weil man da das allermeiste hübsch auf einem Haufen zusammen hat: Stahl- und Leinenwaren, Wollsachen und Spiegel, Zwirn und Meterstäbe, Knöpfe und Mundharmonikas, Strohhüte und Gebetbücher, Stöcke, Schirme und Hosenträger, Fäustlinge, Hausschuhe, Barchentunterröcke und dito Beinkleider, Jägerhemden, Uhrketten, Bleistifte, Weckeruhren, Notizbücher, Rucksäcke, Ansichtskarten und – hilf der Himmel! – was noch alles. Nein also, gewiß nicht nur, weil da ein gar so ungeheures Potpourri ist, ein Potpourri von Waren zum Aussuchen, sondern und vielmehr, weil in diesem »billigen Jakob«, wie man ihn nennt, hier obenein noch etwas wie die »lustige Person« von diesem ganzen Jahrmarktspiel agiert! Ergo: ein aus dem Mittelalter herübergerettetes Stück »Hofnarr«, meint ihr, berge sich in diesem »Marktschreier«, wie ihn die gestrenge Behörde nennt (und verbietet)? Ein Stück »Hofnarr«, irgendwie ins Bäuerische übersetzt? Mit mehr Recht behaupte ich hingegen: der »billige Jakob« verkörpert ein allerneuzeitlichstes Stück satirisches Witzblatt! Ein Stück satirisches Witzblatt, das trotz aller amtlichen Erlasse – um 1900 zumal regelmäßig an einem jeden Sonntag in einer Neuauflage erscheint!

Der »billige Jakob« genießt Narrenfreiheit und -unverletzlichkeit in genau demselben Sinn wie ein Witzblatt. Der »billige Jakob« sagt den Bauern in satirischer Form die Wahrheit, »gibt's ihnen gründlich« – zugleich im Namen der Lebzelten- wie der Dreschflegelverkäufer, und daß die Witzsamenkörner sozusagen auf keinen steinigen Boden fallen, dafür sorgt (wieder einmal!) die mindestens faustdicke und stets empfangsbereite Schicht echt bäuerischer Schadenfreude! Das heißt, es meint ein jeder bei einem jeden guten oder schlechten Witz: der andere müsse sich sehr davon betroffen fühlen!

Oder aber, um es noch anders, noch zutreffender zu sagen: die billigen Jaköbe, die ich kenne (und ich kenne deren eine ganze Reihe), waren jedenfalls Zeit ihres »Schaffens« (so nennen sie dies ihr besonderes Gewerbe, welcher Ausdruck mich übrigens sehr bezeichnend dünkt!) – waren immer schon in Worten etwas, was uns neuerdings auf den ganzseitigen täglichen Inseraten der Weltstadtwarenhäuser mit Pinsel und Tusche amüsiert: nämlich die Karikatur in Verbindung mit der Annonce-Anpreisung. Siehe vor allem August Hajduk, siehe Deutsch, um von all den Berliner Karikaturisten nur diese zwei zu nennen ...

Diese billigen Jaköbe waren von jeher Karikaturisten, wie die heutigen Karikaturisten letzten Endes sozusagen nur wieder billige Jaköbe sind.

Und wie Hajduk heute zu einem Sonderangebot von orientalischen Teppichen einen unverkennbaren Berlin-W-Kapitalisten mit Fes, Wasserpfeife, krummschnäbeligen Bastschuhen und echt orientalisch übergeschlagenen Beinen auf einem Smyrnateppich hockend ulkig ausstaffiert – so taten die Jaköbe dasselbe, wenn sie, während sie etwa ein Dutzend Kragenknöpfe zu einem wahren Spottpreis ausboten, zu den Bauern sagten: »Ach, ihr habt wohl keine Knöpfe für Kragen nötig? Ihr schlagt euch da lieber einen Nagel ins Kreuz zum Befestigen?!« Oder wenn's grad um Patentgummihosenträger ging: »Pardon – gar manche Bauern wollen von der alten Mode nicht ab, die tragen die Hosen mit den Händen und lassen sich von den Flöhen die Fingernägel abbeißen!«

Das ist des schreierischen Jakobs Art ... und die andern, die stummen Händler um ihn herum, wissen gar wohl, was sie an ihm haben: ein guter Jakob mit dementsprechend vielem Zulauf nutzt den übrigen als allgemeiner Stimmungsmacher in eben dem Maß, als ihnen ein schlechter Jakob an ihrer eigenen geringeren Einnahme fühlbar wird ...

Und aber wo zwei Jaköbe zusammenkommen und sie am frühen Morgen schon merken, daß entweder das Wetter nicht aushalten wird oder umgekehrt vor irgendwie heute am Sonntag dringlicher Erntearbeit etwa der Besuch nicht ganz auf der sonstigen Höhe stehen dürfte, da »bilden« die beiden – ein Hauptspaß, wie man sich leicht denken kann! – »Kompanie«. Das will sagen: der eine von ihnen packt überhaupt nicht aus und sucht dem andern vielmehr brüderlich dabei zu helfen, wenigstens dessen Kisten – bis auf die letzte Neige auszuverkaufen ...

Doch ich will lieber keine derartigen Geschäftsgeheimnisse allzu offen preisgeben!

 

Daß gegen den glutrot hereinbrechenden Abend hin die »Erfrischungsräume« – Pardon: die Wirtshäuser – bis zum Ersticken angefüllt sind und als ob sie im nächsten Augenblick auffliegen würden: das ist – im weiteren Verfolg – von jeher ein zu leidiges Kapitel gewesen. Denn ob statt der Spieldosen, Drehorgeln und Orchestrions von einst nun Phonographen lärmen – diese letzteren sind höchstens nur noch aufreizender, bis schließlich ein Bierkrügel durch die Luft saust oder ein Messer blitzt.

Bleibt also letztlich nur noch zu konstatieren – schon um den einmal aufgenommenen Vergleich ja bis zu Ende durchzuhalten –, daß an etlichen Marktflecken eine Gelegenheitsdieberei oder gar auch Kleptomanie herrscht wie nur in den großstädtischen Warenhäusern ...

Der Garten der Armen

 

Meinem lieben Bruder Willi zu eigen

 

»In unsrer ganzen Stadt der allerschönst', weil nämlich der allerältst' Garten; aber ... aber ein anständiger Mensch, was einigermaßen auf sich hält, kann schier nicht hingehn ...« Das Wort hörst du hundert- und hundertmal, von dem und jenem, allgemein. Und allemal mit sehr viel Bedauern. Denn es ist unstreitig, daß dieser älteste Bräu, dieser Schröckingerbräu, dem eben jener Garten gehört, seit gut einem Jahr nun – noch obenein! – das beste Bier von der ganzen Stadt braut. Das beste Bier. Allen andern längst hochmodern eingerichteten, mit allen Finessen der Neuzeit ausstaffierten Brauereien dieser ganz altmodische, rückständigste ... Pemperlbräu weit, weit, weit, weit voran. – Ob das nun von wegen dem neuen Bräumeister ist oder aber ob's wirklich Tatsach' sein soll, daß der jung' Schröckinger unter alten Papieren ein uraltes Bierrezept, noch vom Urgroßvater her, gefunden, das ... das gehört auf ein andres Blatt.

»Früher hat man sich wenigstens noch immer damit trösten können, daß in diesem zwar allerschönsten, weil nämlich allerältsten Garten ein spottmiserabler Stoff verzapft worden ist, aber jetzt ... kreuzdividomine! Und ich mein', ich geh' doch bald mal hin, in diesem Schröckingerbräu seinen Garten! ... und Sie, Herr Schidlo, gehn dann eben freundlichst mit, und mein Spezi, der Wasizek, muß auch mit, und der Kieffer, und der Dafinger, und der Krennbauer, und der Götz. Dann ist uns lauter bestbürgerliche G'sellschaft beisammen ... und was all das schlimmverrufene Zeug angeht, das sich dort Stammpublikum nennt: da tun wir ganz einfach, meine Herrn, g'rad als ob wir sie überhaupt nicht sähn!«

Ei ja – heuer wollen die Bürger ernstlich dran, diese »Hochburg« der Armen und Verkommenen der Stadt zu stürmen, diese alle Jahr sechs Monate währende »Sommerfrisch'n« aller Strabanzer, Faulenzer, Tagediebe, Bettel- und Diebsleute so lange mit ungleich besseren Elementen zu besetzen und zu behaupten, bis daß der Schröckinger endlich ein Einsehen kriegt und in seinem wundervollen Garten »mal gründlich auskehrt«. – Erinnert sich doch die älteste und ältere Bürgerschaft, was das früher für ein Leben war in diesem Garten, und wie die besten Komiker- und Volkssängergesellschaften aus München in der mit Glas eingedeckten Halle einst auftraten: Seidenbusch, Neumaier, Lipp, Welsch, Geis und wie sie alle hießen – und erst der Wiener Koschat, ach ja, der Koschat mit seinem »Verla–assen, verla–assen, verla–asse–en bi–in i –«

Der Name der Stadt? – Tut nichts zur Sache. – Denn es ist in einer jeden altbayerischen Stadt so wie in dieser besonderen, die ich vor Augen habe. Und es ist fast allemal der allerschönst', weil nämlich der allerältst' Garten der altmodischsten, rückständigsten Brauerei der Stadt ... ja sogar, es ist in vielen, wenn nicht allen Städten so, daß gerade im heurigen Jahr oder im vergangenen der Brauereibesitzer sich endlich aufraffen mußte, einen neuen Bräumeister einzustellen, eine jüngere Kraft, und daß dieserhalb die Legende geht: der Brauereibesitzer hätt' unter uralten Papieren ein uraltes Bierrezept, noch vom seinigen Urgroßvater her, gefunden ...

Und alle Jahre, kaum daß der zweite oder dritte »wirklich warme« Tag sich begibt, kommen sie auf hinterhältigen Gassen, die die Hauptstraße meiden, heran, hervor, herbei, die Armen und Verkommenen der Stadt. Die Hände im Sack, aber nicht geballt – i wo! – vielmehr die Hände im Sack so wie zu einem Gebet verkrampft, vor lauter Dank, weil tief in der Taschenfutternaht unter viel Krümeln sehr unterschiedlich alten Brots vier Groschen vergraben liegen wie ein Schatz. Vier Groschen! Kommen sie herausgetaumelt über ihrer Häuser Schwellen ins Licht – die Armen und Verkommenen der Stadt. »Des Schröckingerbräu Garten ist aufgetan!« Ein Zauberwort. Bis in die Sofaecke hinter des Ärmsten Tisch kommt solch aufgeregte Kunde. Die Frühlingsmär: »Des Schröckingerbräu Garten ist aufgetan!«

Daß Bettlägerige mit einemmal aufstehn. Die Dienstmänner die Dienstmannsmützen fortwerfen. Von Faßziehern die Güterhalle leer wird. Die Sackträger des Morgens nicht mehr antreten. Die Pflasterer alle Pflasterung aufgerissen liegen lassen ...

Du mußt denken: die Stadt ist klein, und hier war nie noch ein Streik. Aber jeden Frühling streikt hier all jene Welt: »Des Schröckingerbräu Garten ist aufgetan!«

Und die einen mit dem noch unabgewaschenen Schweiß der Fron und die andern mit Winters angesetztem Schimmel des Elends – so zolldick wie des Rentiers angesetzter Speck, sie alle, alle kommen, voller Schimmel wie Schweiß schleppen sie sich zum Bräu ... und: woher haben die Ärmsten mit einem Male Geld zu Bier? Und haben alle jene Pflasterer a. D. und Sackträger a. D. und Dienstmänner a. D. denn jeder ein verschwiegenes Konto bei der Filialbank, daß sie, denen der Wochenlohn stets zu knapp und deren Tagelohn sonst kaum für Stunden reichte, nun einen lieben Tag um den andern unter den hohen Bäumen sitzen können?

Diese Bohemiens der Kleinstadt! – Zwischen zwei alten Armenhäuslern dort sitzt einer, so alt wie du. Du erkennst ihn wohl wieder. Er hat mit dir seinerzeit das Realschulabsolutorium gemacht. Und als du von der Hochschule zurückkamst, da brachten sie ihn gerade »kaft's Radi« (mit angelegten Handfesseln) in die Fronfeste. Und heute wissen all deine früheren Schulkameraden nicht mehr von ihm, als daß sie ihn letzten Winter beim großen Schneefall schneeräumen haben gesehn ...

Und du weißt nicht, warum – aber du meinst, du mußt ihn anrufen: »Demuth! He, Demuth!«

Und er kommt ans Gitter des Gartens und er steht vor dir wie in einem Käfig.

»Ah, du bist's Lautensack! Jetzt erst kenn' ich dich wieder! Aber so komm doch 'rein ... Geh, kauf dir eine Halbe! Es trinkt sich nirgends so schön wie da ... und es ist grad schön sitzen herauß'n!«

»Ja, sag' einmal, Demuth, wie ... wie ... wie geht's dir denn?«

Und er stößt wild mit dir an (du hast die Halbe für ihn bezahlt) und er jauchzt dionysisch:

» Aus–ge–zeich–net!!«

Das Blattwerk über dir ist wie aus Glas und blitzt so wie lichtdurchlässiges Glas, am Rand des Grüns in Regenbogenfarben spielend.

In deiner engsten Nachbarschaft sitzen leichtlich drei Schock Jahr Zuchthaus (wenn auch nicht alle richtig abgesessen, so doch wenigstens alle ordentlich verdient!). Und du weißt nicht mehr, wie du hereingeraten bist, aber die Wange will dir brennen vor Scham, daß du hier sitzt ... und da drängt's dich, den andern zu beschämen, den deinigen Schulkameraden, und ihm etwas wie Reue zu machen:

»Aber sag', Demuth, wie leidt's dir denn das, so Tag für Tag hier zu sitzen?«

Und da sagt Demuth:

»Frag gefälligst einen andern wie grad mich! Ich mein', es sitzen ihrer noch mehr da wie grad ich! Und ich sag' dir das eine –« und seine Arme fuhren aus wie die eines Verzückten – »solang der und der dasitzt, ohne daß es ihm eigentlich leidt, so lang leidt's mir 's Dasitzen noch allemal!«

Und wie die Uhr vom nahen Turm schon zweimal mahnend herübersang, daß man zu Haus dich erwartet, und du endlich aufstehst, um heimzugehen, da ist dir ein süßes Wunder im Blut, ein unsagbares: hier feiern die Armen Feste an der Sonne, daß sie den halben Winter davon zehren ... das Braunbier in der Sonne erglomm so rosig wie Blut und trank sich so ... und ein wenig »Börse« ist der Garten auch: für Vieh, das irgendwo zum Verkaufe steht, wie auch für Bauernverschlepperei und –fängerei ...

Gestern sogar ist Sekt getrunken worden unter den Bäumen (was sonst in ganz Passau nur alle heilige Zeit selbst in den besten Familien vorkommt!) ... und die Bürger dürften's schwer haben, den Garten sich zurückzuerobern.

Sankt Peterle

 

Der Fischergilde gewidmet

 

Zu Vilshofen.

Die Fischervorstadt ...

Sind ihrer zwölf Fischermeister. Sechs »Voran«-Fischer, denen als Fischwasser die Donau von Sandbach bis Pleinting, die Vils und die Wolfach zusteht; und sechs »Zu«- (das ist wohl: einmal hinzugekommene) Fischer, denen als Fischwasser nur das Stück Donau von Sandbach bis zur Vilshofener Mariahilfskirche und gar nichts von der Vils oder Wolfach gehört. Dazu sechs bis acht Fischerknechte ... das macht zusammen eine Zunft, die von der Gewerbefreiheit nicht zerstört wurde und so durch Jahrhunderte besteht bis auf den heutigen Tag. Wo die Vils in die Donau mündet – von der Stadt Vilshofen am linken Ufer der Vils heute noch merklich durch die Stadtmauer getrennt – liegen an den beiden Ufern der Vils nicht viel mehr als die zwölf Fischerhäuser: die »Fischerzeile«. Und links und rechts an den ebenen Ufern der Vils siehst du mächtige Netze zum Trocknen aufgehängt, Kähne und auch Fischbehälter halb ans Land gezogen, und auf dem dunklen, schwarzen, meist trägen, fischreichen und heilkräftigen Wasser der Vils einige Badehäuschen: das einzige Nebengewerbe der Fischer andeutend. Auf jedem dieser zwölf Fischerhäuser ruht ein Fischerrecht, unveräußerlich mit dem Haus verbunden – und so können ihrer nicht mehr und nicht weniger denn zwölf Fischermeister sein ... an Zahl gar fromm der Zahl der Apostel gleich ... und Sankt Peterle – das »Peterle« – ist ihr Patron ...

Alles Schriftliche – alles »Schreibats« – über Entstehung der Zunft und Entwicklung durch Jahrhunderte ist so ziemlich durch Brand oder durch nachlässige Hände verlorengegangen. Der einzige, beinahe lebendige Zeuge in Viertelsmenschengröße ist der Patron Sankt Peter. Ein hölzern Männlein mit einem äußerst einnehmenden – erst letzthin durch den wackeren Malermeister Scheibenzuber aufgefrischten Gesicht. Auffallende Spitznase. Blecherner Heiligenschein. In der Rechten – hart an den Leib gedrückt – ein Buch; in der Linken – in riesiger Ausdehnung das Zeichen der Pförtnergewalt. Zu seinen Füßen ein einziger Fisch ... ohne Leben, wie tot ans Land geschwemmt. Der Patron muß früher einmal – in einer Kirche oder Kapelle – ein Nischenheiliger gewesen sein; ein Eckendrücker. Denn seine ganze Rückseite ist unausgearbeitet und also wurmstichig, dermaßen angefressen – – – – nein, nein, gutes Peterle, betrachten wir dich lieber wieder von vorn! ... Das Gesicht ein wenig eingefallen. Beinahe allzu rote Bäcklein. Und dabei von fast jugendlichem Aussehen. Wohlgepflegter Greisenbart. Charakter: inhaltslos, gutmütig, freundlich. Nur die Augen sprechend gemalt. Eine blaue Seele. Wasserblau.

Im ganzen kunstlos.

Er trug ursprünglich – als Nischenheiliger – nur ein gemaltes Gewand. Darüber aber trägt er nun seit Jahrhunderten ein Hemdlein aus Goldstoff. Und dieses ist heute über und über mit Geldstücken behängt. Ich zählte deren vierundzwanzig. Von ältesten viereckigen Münzen angefangen bis zum heutigen Taler und Fünfmarkstück. Und das klingt und klirrt an ihm – und seine blauen Augen sehen hilflos – und seine Händchen umkrampfen Buch und Schlüssel – und die Nase scheint zusehends spitzer zu werden – – und der blecherne Heiligenschein wackelt.

Ein merkwürdiger Veteran – mit seinen vielen Talerorden.

Wie er die Orden erhielt –? Sankt Peter durchwandert jedesmal im Zeitraum von sechsunddreißig Jahren in bestimmter Reihenfolge die zwölf Fischerhäuser. Alle drei Jahre in ein andres Haus – bis zum zwölften –, um dann beim ersten von vorn anzufangen. Und der Fischermeister, von dem Peterle scheidet, muß ihm ein schweres Silberstück anhängen. Als Andenken – als Wegzehrung – als Steuer – oder Kontrolle ... man weiß es nicht zu sagen. Diese Sitte besteht – nach den vierundneunzig Geldstücken grob gerechnet – seit vierundneunzig mal drei Jahren. Kann aber auch länger oder kürzer sein. Vielleicht sind Geldstücke verlorengegangen – vielleicht aber auch hat ihm schon manches Mal ein großmütiger Herbergsvater oder eine überzärtliche Kellnerin »so nebenbei einen angehängt«, dem Peterle. Soll schon vorgekommen sein – das letztere vor einigen Jahren sogar ganz gewiß.

 

Alljährlich im September feiert das Fischervolk seinen Fischerjahrtag. Vormittags Hochamt und Festzug; abends Ball ... Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß die Fischermeister in Vilshofen angesehene Leute sind. Und so kommt's, daß ihr Ballfest eine der »vornehmsten« Ballfestlichkeiten eines jeden Winters ist ... Ihr Gewerbe bringt es mit sich, daß die Fischer auch ausnahmslos kräftige, gesunde Gestalten scheinen. Nicht so rosig, so fleischüberfüttert wie die Metzgerleute – aber auch nicht so gelb wie die Schneider oder so fett wie die Schuster, so speckig wie die meisten dieser »Pechhengste« – nicht so dick wie die Brauer und nicht so blaß wie die Bürstenbinder. Diese Charakteristiken treffen für Vilshofen wenigstens fast allgemein zu. Ich möchte damit aber nicht behaupten, daß es irgendwo anders – anders darum bestellt wäre ... Also: diese Fischer zeigen ausnahmslos etwas wie Naturburschentum im Vergleich zu den eigentlichen »Städtern«. Schweigsam bei der Arbeit – lärmend beim Fest. Lustig, überlustig, wie Rekruten, tun diese Fischer, wenn sie ihren Jahrtag begehen. Und – recht wie bei den Rekruten – kommt dabei allemal etwas wie Galgenhumor im wahrsten Sinn des Wortes auf. Denn: Schlimmes, gar Schlimmes ist da – tiefinnen – Bedrückendes, Nagendes! ... Und Peterle mag ein noch so unschuldiges Gesicht aufsetzen – Sankt Peterle ist eigentlich an allem schuld!

Zwar – die Fischerhäuser liegen hart am Wasser, sie sind häufigem Hochwasser ausgesetzt, und das Grundwasser ist wohl immer in ihren Kellern. Vielleicht, daß diese ewige Feuchtigkeit den Keim zum Tod ihrer Bewohner legt, daß es darum ist, daß die Fischer all – wenn gemeinhin auch nicht allzu früh – so doch immer noch früh genug hinsterben müssen – – – – aber es geht nun einmal die törichte Sage:

Das Haus, das nach drei Jahren Sankt Peter verläßt, ist ein Haus des Todes. Zum mindesten noch im selben Halbjahr »stirbt eines heraus aus dem Haus«. Und das wurzelt – leider – tief in diesen Leuten und scheint unausrottbar. Das macht sie zur rechten Zeit immer wohl noch schweigsamer bei der Arbeit – und bei ihren Festen noch lärmender. Sie reden zu andern nie davon. Aber die ganze Stadt beredt's, wenn der Peterle ein Haus verläßt. Und es ist, als warte die Stadt jedesmal auf den Tod, der nicht ausbleiben darf ...

Autosuggestion?

Und der Tod – bleibt nicht aus – – –

Der Fischerjahrtag, der jährlich gefeiert wird, fällt natürlich stets auf einen Sonntag. Alle drei Jahre aber – wenn Sankt Peter »umzieht« – ist ein zweitägiges Fest. Erster Festtag – sonntags: Fischerjahrtag wie alle Jahre, Hochamt, Festzug, abends Ball. Am zweiten Tag – montags – wird Sankt Peter mit Musik und unter Pistolendonner aus dem bisherigen – »alten« Hause abgeholt und feierlich und fröhlich nach der Herberge getragen. Dort findet alsdann ein festlich Mahl statt, dem die zwölf Fischermeister, die Meisterinnen und die Knechte beiwohnen. Die Kosten des Mahles hat stets derjenige Meister zu tragen, dessen Haus Sankt Peter aufzunehmen bestimmt ist. »Hundert Mark und mehr kost's«, erzählt der freundliche Fischermeister, der diese Kosten vor drei Jahren zu bestreiten hatte, und den Sankt Peter nächstens verläßt. (Er hat auch schon das Fünfmarkstück, das Sankt Peter von ihm heischt, dem Goldarbeiter zum »Aussieden« gegeben; denn das Geldstück muß blitzblank, »neu« sein – und ein Häkchen muß angelötet werden.) Nach dem Mahle, das bis gegen Abend währt, wird Sankt Peter mit Musik und unter erneutem Pistolendonner in seine neue Wohnung getragen. Die Feier des Tages beschließt eine intime Unterhaltung in diesem Hause. Nicht selten mit Tanz.

Ich erinnere mich des Tages noch genau (es mag vor zwölf oder fünfzehn Jahren gewesen sein), da ich Gelegenheit hatte, an dem Feste teilzunehmen. Die Mutter des Fischermeisters lag krank im ersten Stock; vor dem Hause Musik und Jubel. Die Kinder bedrückt – halb weinend im Flur: Großmutter muß sterben. Im Hause das laute Weinen der Schwiegertochter. Der Fischermeister – vollgetrunken vor Fest und Schmerz – stolpert durch die Haustür heraus mit dem klingenden, klirrenden Petrus, dessen Augen so hilflos schauen, dessen Händchen Buch und Schlüssel umkrampfen, und dessen Nase erschreckend spitz geworden scheint. Ein Taler löst sich und fällt klirrend zur Erde – der blecherne Heiligenschein ist verbogen – Musik und Jubel – hier draußen – Weinen von drinnen – der wankende Fischermeister übergibt soeben feierlich Sankt Peter – da läuft ein Kind aus dem Hause – schreiend: »Vater – Großmutter ist tot –«

 

Da ist weder mit Vernunft, noch mit Religion, noch mit Statistik etwa beizukommen: so ein »altes Leut« redet sich's ein und läßt es sich nimmer ausreden: Es muß sterben und – stirbt ... Und der ausgelassene, allzu ausgelassene Festzug schwankt unter Musikklängen weiter – nach der Herberge – zum Mahl ... und der, der soeben seine Mutter verlor, stolpert mit ... man bemüht sich, in lautem Jubel zu vergessen, daß das Festmahl ein Leichenmahl ist ... Und da sitzen sie beim Mahl ... auf dem Tisch unter Blumen Sankt Peter ... und der Festgeber denkt unwillkürlich daran, daß heute abend in sein Haus mit Sankt Peter der Tod einzieht ... und möchte es fortjubeln und – stößt an ein Glas.

Es zerbricht.

Einen Augenblick – Stille.

Da läutet – o unbarmherziger Zufall! – gegenüber die Sterbeglocke vom Turm.

Ein Musiker, Vater Nopper, gibt seinen sämtlichen Söhnen, die alle goldene Uhrplättchen in den Ohrlippen tragen, ein Zeichen ... die Musik setzt ebenso plötzlich wie laut ein ... ein wenig unbeholfen ... falsch ... aber sie übertönt das Sterbegeläute!

Altbayrisch Preiskegeln!

 

Herrn Urzinger am Sand und seinem Bruder auf der Ries mit dem Aussichtsturm

 

Nicht daß sie am Ende ganz und gar aufgehört hätten – sondern nur daß sie ziemlich im Abnehmen begriffen waren in den letzten Jahren: die Turniere auf der Kegelbahn! – Ihr früherer Glanz nur war um ein beträchtliches dahin. Und das machte: die alten berühmten Kämpen, die waren allmählich fortgestorben; und – wie in so vielen andern Dingen auch! – ein rechter Nachwuchs wollte nicht zeitigen. – Oder nein: nur zum einen Teil mochte es sein, daß die wahren Helden weggestorben waren. Zum andern Teil hatte so mancher aus deren Schar eine seiner Töchter »an etwas Besseres« verheiratet: an einen königlichen Eisenbahn- oder dito Postadjunkten, einen Gerichtssekretär oder gar Rechtsanwalt oder gar medizinischen Doktor – und da war's denn der Einfluß vom Herrn Schwiegersohn gewesen, der den Schwiegertata wie an Rockschößen davon zurückhielt, die so oft erprobte Handgelenkkunst gegen allzu niedrigstehende Leute: faulenzende Hausierer, die Arbeit derweil völlig einstellende Flickschneider, Flecklschuster, Knödelbrotbäcker, Sacklträger und dergleichen in heißem Wettkampf auszuspielen.

Der große Zarras (ei ja: Zarras der Große hatte der schier geheißen) –, der war gleichwohl auch nur ein Flickschneider gewesen. Aber mit welch einer ehrfurchtgebietenden Haltung war der spät abends nach so einem errungenen Endscheiben, die hohe, wehende Standarte – erschter Preis! – wie eine wahre Kirchenfahne vor sich hertragend, durch die staunenden Straßen gezogen gekommen, daß selbst ein Herr Oberamtsrichter stehenblieb oder der Herr Magistratsrat (ach Gott! solche Oberamtsrichter oder Magistratsräte gibt's heut rein gar nicht mehr!) und den von Alkohol und Ruhm verzückten Zarras huldvoll ansprach: »Wieviel Achtzehner warn's denn nun heute wieder, Herr Zarras?«

Was ich sagen wollte – nämlich – das ist ebenfalls eines von den Zeichen des deutlichen Verfalls: daß – wo der große Zarras ehedem die Achtzehner nur so aus den hochaufgekrempelten Hemdsärmeln schüttelte! – daß voriges Jahr zum Beispiel hintereinander bei vier gutdotierten Bestscheiben nicht ein einziger Achtzehner fiel! sondern daß ein paar notige, windige, mistige, lausige Siebzehner schon das Rennen machten.

(Ob sich der Zarras darob nicht schon ein paarmal im Grabe umgedreht?!) – Aber das kommt davon, wenn die geschniegelten Herren Söhne vor lauter ihrem Rudererverein und Tennis und Motorrad und Football sich auf einen der ältesten und ehrwürdigsten Sports so einer kleinen Stadt rein wie überhaupt gar nicht mehr zu besinnen vermögen! und – wenn sie ja einmal eine Kegelbahn betreten – dies nur »unter allgemeiner Mitwirkung der sehr verehrten Damen« tun! – Der – »Damen«! (Kruzitürken nochamal!) – Der »Damen«, denen es dann möglicherweise – aber nur weil es »vornehm« ist und überaus »gebildet« klingt! – denen es dann möglicherweise furchtbar »zieht« an diesem Ort, oh! die diese Stätte dann wirklich ganz schrecklich »zugig« finden! und was derlei neumodische Wahrnehmungen und Empfindlichkeiten mehr sind – I, da soll doch gleich –!!

... Ach ja: bei eingehenderer Betrachtung, das heißt bei so recht liebevoller und zärtlicher Erinnerung – wie so leichtlich doch käme man da aus dem Schimpfen und Fluchen schier überhaupt nicht mehr heraus! – Und der alte Passauer, der mich für wert genug erachtet, daß er vor mir sein beschwertes Herz ausschüttete, der bekam einen gar eignen Zug um den Mund, wie er jetzt schloß:

»Und wenn man unserm großen bayrischen Bierkrug letzthin beim besten Willen auch sonst nix Gutes nachsagen kann, das eine wenigstens wird man ihm lassen müssen: nämlich daß die schönen Preiskegelscheiben vielleicht doch wieder mehr und mehr in Mode kommen! – Oder leuchtet Ihnen das am End' nicht so recht ein?«

Ich mußte offen gestehen, daß mir der feinere, verschärftere Blick für diese tieferen Zusammenhänge vorläufig noch abginge.

»Ja, sehen Sie, Krieg bleibt Krieg. Oder? Und im Krieg, da wird keiner verschont – heißt's in demselbigen Lied. Ja, sogar im Krieg schießt oft der Freund auf den Freund. – So ähnlich war's in unserm Bierkrieg mit Gastwirt und Wirtsgast bestellt. Der Gastwirt stand recht in aller Mitten zwischen Bierkonsument und Bierproduzent. Und nun, nachdem der Donner verhallt und der Dampf der Geschütze verraucht ist, sieht der Gasthausbesucher ein, daß er oft, wenn er auf den schuldigen Bräu zielte, den unschuldigen Wirt getroffen hat. – So ist es in diesem schönen heurigen Herbst Ehrenmannspflicht, dem armen Teufel von Wirt eine kleine Genugtuung zu geben, eine stillschweigende Abbitte zu leisten – und zwar auf folgende echt diplomatische Art: der Wirt schreibt ein richtiges, tüchtiges Preiskegelscheiben aus – und der tiefverpflichtete Gast folgt diesem Ruf als wie zu einem leichten, fröhlichen Sühnetermin!«

Und er brachte seinen Mund dicht an mein Ohr, der alte Passauer: »Und wenn Sie's ganz genau wissen wollen, Herr Lautensack: die kostspieligen Preise – in Bargeld und seidenen Fahnen! – die gibt natürlich der Bräu!!«

›Und die kostspieligen Preise in Bargeld und seidenen Fahnen! – die gibt natürlich der – Bräu –??‹ Ich muß sagen: ich schwieg erschüttert. –

Wenn du dich so einer Kegelbahn näherst und sonst ein Ohr für derlei unterschiedliche Dinge mitbringst, dann hörst du's – am Rhythmus! – von weitem schon, ob da nur ein gewöhnliches Kegelscheiben statthat oder aber ein Preiskegeln! Denn da geht's aus einem andern Takt, wenn so ein Preiskegelscheiber Kugel um Kugel hineinfeuert: daß die Kegelmännchen blitzend und unter einem metallischen Schrei zur Seite springen – Hals über Kopf – ausschlagend als wie junge Füllen – und grad so klirrend als wie mit erstem Hufbeschlag. Oh, da geht's fein Schub um Schub, als wie nach Sekunden mit der Uhr gemessen – wenn so ein Preiskegelscheiber erst einmal warm geworden ist! – und grad wie bei einer flinken Uhr soll alle paar Minuten flink ein Schlag ertönen: der silbern tönende Juhuschrei vom Kegelbuam: Alle Neune! alle Neune! – Und als Unterton ein dumpfes Schnurren (das ist, wie eine Kugel um die andre wieder zum Scheiberstandort zurückgeschickt wird von draußen, wo die Kegel stehen!) – derselbige brummende Unterton darf überhaupt nimmermehr schweigen und muß den ununterbrochenen tiefen Baß zu der hellen Melodie abgeben – sonst ist das »kein Betrieb nicht«, wie er sich zu einem richtigen Preiskegeln gehört!

Na, und nun hab' keine Angst, lieber Leser, und komm dreist mit mir herein auf die Bahn – auf diesen Kampfplatz von Finessen, die alle ums rechte Handgelenk herum zu Hause sind – außer natürlich, es ist einer justament ein Linkser – wie der große Zarras selig! – dann will ich damit selbstverständlich das linke Handgelenk gemeint haben! – Ein gutes Augenmerk freilich ist gleichfalls sehr vonnöten; um so mehr, als viele behaupten, daß man den »Bogen«, den die Kugel da die Bahn hinaus beschreibt, quasi mit dem Blick »dirigieren« müsse. Daß aber sogar der Körper des betreffenden Scheibers, indem er getreu nach dem Lauf der Bogenkugel sich windet, sich krümmt, sich sperrt und spreizt und halb ausrenkt, sich dreht, sich drechselt und tänzelt und walzt (und also schier Isadora Duncansche Reformtanzschritte macht) – daß gar der Körper auf diese Weise noch eine »Fernhypnose« der enteilenden Kugel nachzusenden imstande sein soll: das, treuer Leser, möcht' ich denn doch lieber für eine liebliche Legende von der Kegelbahn ansehen! – Ach, aber sag, riechst du nicht, wie süß es riecht hier? Nach Holz, nach Holz riecht's süß – und riecht nach süßem Bier! – Und Herbstblatt bei Herbstblatt löst sich hoch von den Bäumen und schaukelt hernieder im Sonnenlicht und zu dieser offenen Halle herein – und scheint am Rande jedweden Blattes ein solches Feuer angezündet, so golden, wie nur die vergoldeten hölzernen Spitzen der frischlackierten Fahnenstangen, daran viel bunte seidene Tücher als Preise wehen!

Ja so! wer denn das Mannerl sei – grad hinterm Scheiber jeweils an dem einzelnen Tischchen – dasselbig Mannerl, was ein ums ander Mal seine Feder eintunke und zur rechten Zeit was hineinrede in die schweigende Menschheit ringsum? fragst du. – I du mein! das ist der Herr Protokollant, mußt du wissen – das ist der Chronist, der eine jede Phase dieses Kriegs, einen jeden Sieg und eine jede Schlappe einschreibt: Schub um Schub, Los um Los (1 Los = 2 Schüben je ins volle Haus), Stand um Stand (1 Stand =10 Losen = 20 Schüben), und welcher alle 10 Stände das »Freilos« ansagt, das auf einen gesonderten Preis, einen Trostpreis, Anspruch hat – Sieh! – wie jetzt der Scheiber unglücklicherweise bloß fünf geschoben hat, streicht der Protokollant in stummem Einverständnis mit dem Scheiber das betreffende Los sogleich als völlige Niete aus: denn nach solchen angeschobenen fünf ist doch eigentlich keine rechte Chance mehr, und selbst wenn man auf diese fünf hinauf gar neun schübe, dann täten die Konkurrenten höchstens hellauf lachen und man selber hätte nichts als einen sakrischen Ärger und Zorn. Also: unter sieben Kegel auf den ersten Schub werden gemeinhin überhaupt nicht aufgeschrieben, und erst wenn beispielsweise sieben fallen, dann sagt der Protokollant: »Siebene neu« (das heißt auf ein neues Los gehend) – und wie jetzt ein Stand aus ist, annonciert das Mannerl: »Vierter Stand aus! Haben wir Eins (1. Los) im fünften!« – Aber da! da! jetzt! »Neune neu!« ertönt's unter dem ohrenbetäubenden Geschrei der beiden Kegelbuam von demselbigen Tischchen her! Das ist ein Moment der Spannung: wenn der Scheiber jetzt sogleich darauf noch einmal die höchste Zahl scheibt, dann ist's ein Achtzehner!!

An die bekannte Diskuswerferstatue fühlst du dich erinnert, wie der Scheiber jetzt – mit gezücktem Nacken – dasteht! Da holt er zweimal aus zum Schwung – wobei die Zeige- und Mittelfinger der linken Hand am vordersten äußersten Ende der Perpendikelbahn des rechten Arms leis auf den Nordpol der Kugel tippen – da fliegt die Kugel ab – mußte aber im Moment des Starts von der Hand einen solchen »Dreh« erhalten und mitbekommen auf den Weg, daß der Scheiber mit sehr hoch erhobenen Armen nun dasteht: grad als ob er ein unsichtbares, weites, kostbares Gewand in feierlichem Wurf soeben ausgebreitet oder als er ein riesiges Netz weithin über eine spiegelnde Wasserfläche geschleudert! – Und da geht eine wahre Verzückung durch die Reihe der Umsitzenden – und du selber wirst mit hineingerissen in den Ring, der schwingt: einen jeden eiligst zurückgelegten Dezimeter der Kugel machst du fiebernd mit deinem Körper mit: die altbayrischen Grenzpfähle sind gefallen und es hat etwas Exotisches, Indisches, Mohammedanisches, Afrikanisches, so ganz Außerbayrisches auf jeden Fall, als ob es vielmehr einen Schwertertanz zu begleiten gälte oder einen Bauchtanz, es ist etwas Rhythmisch-Vexiertes, etwas von einem sakrosankten Humbug – und da! da löst sich alles jäh in einem heiseren Schrei – mit dem man hierzulande ein Stück Vieh anschreit und Flüche gellen dazwischenein:

»Fall um! Fall um! Fallst jetzt um?? Fallst jetzt net um???«

Und er fiel halt nicht um – und er fiel wie um keinen Preis der Welt um – dieser »linke Saunagel«! Ja, sogar er war schon bedenklich im Fallen und stürzte schon schier zu den acht andern Gefällten hin – da fand er sich doch wieder zurecht und steht nun recht mit an den Leib angezogenen Armen wie einer, der die Gefahr des Strauchelns auf einem Glatteis grade noch überwand! – Dieser verflixte linke Saunagel! ...

Und so ist's – wieder einmal! – nur ein »Siebzehner« geworden; und das ist schade! – Und aber noch viel mehr schade ist's, daß bisher nie noch einer mit kinematographischen Aufnahmeaugen dabeigestanden hat und zu gleicher Zeit etwa noch einen sonst so lärmhungrigen phonographischen Aufnahmeschlund hat schnappen lassen! Denn diese sonst so plumpen bäuerischen Gestalten fallen dabei Gesten an – beschwörende und adorante – als wär's – vor tausenden Jahren und mehr – noch um den alten heidnischen Opferstein!

Doch – was war das? – Ach, ganz und gar nicht im Bogen, sondern vielmehr schnur- und kerzengerade lief die Kugel ins volle Haus ... ein »Stier« ist geschoben worden, das ist der Erste, der König und der Letzte nur sind gefallen, und aber beide »Gassen«, die rechte wie die linke, stehen allesamt noch bocksteif aufrecht ... und unter Lachen der Zuschauer schallt's aus den mitleidlosen Kehlen der Kegelbuam bis zu uns hier herein:

»Hans, was tuast denn du da?
Nimm dein Stümperl,
Rauch dein Pfeiferl,
Steh net alleweil so da
Wie der Hans von Strohdach!!«

Ich habe den Sinn dieses Spottreims nie so recht ergründen können. Er ist nur sehr alt, dieser Reim, und will auch weiter nichts sein als nur Spott. – Aber eines Kegelbuam insbesondere erinnere ich mich, der diese Zeilen grad wie ein buckliger Hofnarr sprach. Bei den ersten drei Zeilen – schier platzend vor Hohn; zu den letzten beiden dann sich duckend als wie in Gewißheit der grausamsten Schläge. – So daß der Zarras selig – wann ihm grad das Malheur passierte, das ja einem jeden passieren kann – immer sprach: »Kannst ihm nicht gram sein, dem Hallodri, und wenn er dich noch so veracht't ... an dem Hundskrüppel ist ganz einfach ein gottbegnadeter Schauspieler verlorengegangen!«

Und dann heiser ausrief – der große Zarras selig: »He! Wirtshaus!«

Und der Wirt: »Was steht zu Diensten, Herr Zarras?«

Und der Zarras: »Für den miserabligen Kegelbuam eine Extramaß!«

Und nun geht's schon an die vierzehn Tage so – alle und alle Tag. Und vielhundert Stände sind schon hineingeschoben worden. Und übermorgen – Samstag – ist das Endscheiben. Mit Musik. Entweder ein kleines Trio: Zither, Ziehharmonika und Geige oder Klarinette, oder aber gar gleich die »Stadtkapelle II«.

Und das gibt dann erst einen Klang: zu den Juhschreien, die sich ebenso häufen wie die Spottstrophen, und zum Kegelhüpfen und zum Kugelrollen auch noch Musik! – In den letzten Tagen, da stieg nicht nur die Nervosität im allgemeinen – sondern da kamen im besonderen auch noch die »Rauber« angereist, die »Berufsscheiber« aus Vilshofen, Osterhofen, Neuhaus am Inn, Pfarrkirchen, Geiselhöring und so weiter, die »Fahnenmarder«, wie man sie nennt, die »Preisiltisse«, die »Hyänen der Kegelbahn«, mit einem Wort, die mit ein paar wenigen Ständen und aber desto mehr Fachkenntnis den wochenlangen ehrlichen Bewerbern die blutsauer erschobenen Siebzehner und Achtzehner durch ein paar verwerfliche Tricks streitig machen wollen!

Und endlich schlägt die Schlußstunde – schlägt die Stunde der Ausrechnung! Der Satz Kegel und Kugeln, der eigens zu diesem Preisscheiben neu angeschafft wurde und zu keinem profanen Spiel gebraucht werden darf, wird – in einer Schwinge oder einem Waschkorb – schier feierlich ins Haus getragen, bis – nach einer Pause von einer Stunde oder anderthalb – das »Rittern« beginnen soll. – Und während dieser Pause, da kannst du erst recht deine Studien machen. Da kannst du die bürgerlichen Scheiber erst noch einmal reinlich von denen hergekommenen Berufsscheibern unterscheiden. Denn in dieser Pause, da sind die letzteren allemal sogleich bei der Hand, die bürgerlichen zu einem kleinen »netten« Bankospiel einzuladen, das – »gemütlich« improvisiert und »nur damit die Zeit vergeht« – mit zwanzig und fünfzig Pfennigen Einsatz pro Schub anhebt, um nach kaum fünfundzwanzig Minuten bereits (denn die Zeit ist kostbar!) Wettsätze von harten Talern und Fünfmarkstücken aufzuweisen! –

Und immer wieder finden sich ein paar Dumme zu diesem Spiel. Oder – was dasselbe ist – ein paar, die sich für so siebengescheit halten, daß ihnen das nichts anhaben könnte. Zu diesem Teufelsspiel, darinnen die ohnehin berüchtigten Scheiber sich ungestraft als die berüchtigtesten »Schieber« aufspielen dürfen! Zu diesem verderblichsten aller Spiele, das so manchem Bäuerlein – so unglaublich das auch klingen mag – schon Haus und Hof gekostet hat! ...

Nun aber beginnt das »Rittern« um die Preise! (Das heißt: um soviel mehr oder um soviel weniger einer Achtzehner im Vergleich zu den andern hat, um soviel öfter oder um soviel weniger oft kommt er gegen jeden andern zum entscheidenden Schub.) Und so hebt denn noch einmal – gedrängter, aber verzweifelter – der Kampf an: des Aufwerfens der Kugel auf den mittleren Laden um Haaresbreiten und des am wirksamsten Hinausbugsierens ins volle Haus, das Turnier der Handgelenke und ihres feinsten »Drehs« – und unter rauschenden Tuschen verliest und verteilt zuletzt der Wirt und Festgeber die Preise:

»Bei dem mit dem Heutigen beendeten Preiskegelscheiben haben sich die folgenden Herren Preise erworben:

Erschter Preis – sechzig halbe Mark mit seidener Standarte Herr Schneidermeister Zarras aus Passau – (Tusch!)

Zweiter Preis – fünfzig halbe Mark mit seidener Fahne – Herr Schneidermeister Zarras aus Passau – (Tusch!!)

Dritter Preis – vierzig halbe Mark mit seidener Fahne – Herr Schneidermeister Zarras aus Passau –« (Tusch!!!)

Und erst den vierten Preis durfte sich der »Ober-Rauber« Herr Hermannseder aus Geiselhöring holen –

Etsch!!


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