Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Pfingsten

Die Holzkirchener kommen mit dem Kreuz ...

Ein Pfingstsamstagsbild

 

Meiner Mutter Eva

 

Allemal, wenn es – so ganz und gar ›zwischen den Zeiten‹, wie man sagt – vom Turm der Stadtpfarrkirche grad als wie sonst bloß an einem Festtag zum feierlichen Hochamt mit mehreren Glocken anhebt zu läuten, dann ist es wegen eines ›Kreuzes‹, welches kommt oder geht, dann ist es, daß ein solcher frommer Dank- oder Bittgang auszieht oder heimkehrt, je nachdem, oder aber – was es natürlich gleichfalls sein kann – wie daß eine ähnliche Wallfahrt auch nur laut betend hindurchgezogen kommt durch deine kleine Stadt: fernher von der Landstraße durch die Vils- oder Fischervorstadt etwa herein und zur andern Seite durch den altehrwürdigen Stadtturm wieder hinaus ... und diese mehreren läutenden Glocken aber, die sind jedenfalls der sonore Salut dazu! Einer oder meist einige der ›Pfarrersbuben‹, mit welchem Spitznamen die Ministranten wie die Läutejungen von den weltlichen Knaben gern belegt werden, die sind dann immer lang vorher schon oben auf ihrem Posten, hoch, hoch oben im Turm, durch eines der hohen Spitzbogenfenster getreulich auszuschauen, damit sie das Zeichen zum Einsetzen für das Geläute geben – pünktlich dann; wenn die Wallerschar die verabredete Stundensäule erreicht hat. Und es ist alles in allem wie beim Empfang eines Kaisers oder Königs hienieden ... nur daß es beim Einzug des Herrschers des Himmels und der Erde noch ungleich schöner ist! Denn welche gewebten Fahnen, gewundenen Girlanden, gezimmerten und geschmückten Ehrenpforten und hingestreuten Blumen und Sträuße auf dem Weg, welch immer von sterblichen Menschenhänden hervorgebrachte (und gerade bei solchen Gelegenheiten oft wie eilig zusammengeraffte!) Zier käme den Verzückungen und Visionen gleich, die das Zauberwort aus dem Munde der Glocken in die blaue Luft als wie auf eine unsichtbare ausgespannte Leinwand bannt! Da schaut der Gläubige hohe Balkone und Altane von allen Häusern, an denen niemals noch welche waren, und alle die Balkone und Altane sind gar festlich überfüllt, und über ihre Brüstungen sind die kostbarsten Teppiche gebreitet und hängen prunkend herab, und zudem sind da gewaltige Tribünen, und aber die sind für alle die Himmlischen reserviert ... und inzwischen kommt's lauter und immer lauter her, von Menschenstimmen, von Knabenstimmen, von Stimmen von Priestern und Männern und Frauen, und das Geläute der Glocken ist ein immerwährendes Tor, darunter der Chor der Stimmen einhergewandelt kommt, von dem großen Torbogen widergehallt, so wie wenn du gegen den Resonanzboden einer Zither hineinsprichst ... und wie's immer noch näher kommt, ist das kein Beten mehr, sondern eitel Rufen und Schreien, ein wahres Ausrufen und ein Hinausschreien:

Heilig,
Heilig
Ist der Herr, Gott der Heerscharen,
Himmel und Erde sind seiner Herrlichkeit voll –

Und das rollt wie eine Welle auf dich her und hüllt dich bis über die Brust ein und hebt dich hoch, von deinen Füßen und von der Erde fort ... hoch ... und ist in dieser einzigen Welle alle Wucht des riesigen Meeres ... Und dann tastet's an dir hernieder – mit Wellenhänden – und sinkt und fällt herab bis auf deine Schuhe und ebbt zurück:

Ehre sei Gott dem Vater,
Dem Sohn
Und dem Heiligen Geist,
Wie es war im Anfang,
Jetzt – zu jeder Zeit
Und in alle Ewigkeit. Amen.

Und es ist in Wahrheit wie das Spiel des Meeres gegen den Strand. Nämlich die Täuschung wird noch vermehrt dadurch, daß die Verkünder der Gegenstrophe am Ende regelmäßig aus dem Takt geraten: bei diesem: »Jetzt – zu jeder Zeit und in alle Ewigkeit, Amen« ... und es ist dann eben ganz so, als ob die Welle verstrudelte und zu Schaum zerbrechend und zersplitternd verliefe!

Voran der Kruzifixus. – Der Priester dann, dessen Tenor zusammen mit den zwei Sopranen der Ministranten als Obertöne aus dem Schusterbaß der Männer wie eine C-Trompete herausblitzt, in der Sonne glitzernd: »Heilig, heilig ist der Herr, Gott der Heerscharen!« – Und dann die Reihen der barhäuptigen Männer, junger, alter. Und dies allein wieder macht ein groß Seltsames und Verwirrendes aus, wie da keiner mit dem andern Schritt hält, sondern einer dem andern gleichsam ruckweis nachläuft, und doch alles zusammen wie das Fließen einer Schleppe ist. Und wie schier jeder sein zusammengerolltes Regendach verschieden trägt: der eine vor sich her, der andre neben sich her, dieser hart an den Leib gepreßt, jener spaziergängerisch unter der Achsel, und doch alle zusammen anders wie zu einem weltlicher gesinnten Festzug ... In eben dem Augenblick fallen sie, deren Gesichter unbewegt wie kunstlose Holzschnitzereien wirken, so wenig rühren sich selbst die Lippen zu dem hellklirrenden Gebet, auf ein neues aus allem Rhythmus: »Jetzt – zu jeder Zeit und in alle Ewigkeit.« – Und dann zuletzt die Frauen, alte Weiblein, junge Mädchen, blühende Frauen, den Rosenkranz drehend, mit den fünf glorreichen Geheimnissen: »Du bist gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus – der dich, o Jungfrau, in den Himmel aufgenommen hat –« Und all der Zug der Frauen, er hat etwas so mystisch Verwandeltes trotz Kapottehüten und Schleifenbinden und künstlichen Blumen, die niemals Mode gewesen sind und es höchstens bald werden! – hat etwas so mystisch Verwandeltes: ein Hauch von einem weißen Kloster geht her, und es scheinen dir allzumal himmlische Bräute.

Wer wohl erschuf diese gigantische Symphonie, die da im Schreiten aufgeführt wird?! Und sicherlich sind Musik, Text und Choreographie alle drei gleichzeitig entstanden – ein Wunder – eine göttliche Eingebung! – Richard Strauß, Hugo von Hofmannsthal und Max Reinhardt müßten sich das einmal miteinander anschauen, wie so eine kleine Stadt ganz Gold wird, ganz goldener Kelch, überfließend von süßestem Wein ...

Alle Jahre aber – am Pfingstsamstag – kommen die Holzkirchener mit ihrem Kreuz – und das ist noch ein ganz besonderer Aufzug! Ziel ihrer Wallfahrt ist der Gnadenort auf dem Bogenberg – bei Bogen –, und sie haben, immer die Donau aufwärts und wobei sie eben bald auch unsre Stadt durchpassieren müssen, ziemlich einen Tagesmarsch zu gehen. – Wer hat, von Straubing herreisend, auf Plattling hinzu, linker Hand mitten aus der Ebene heraus diesen durchaus »einspännigen« Berg, diesen lichtgrünen wunderlichen Kegel nicht gesehen? Da ist das silberne Band des Stromes in einem weiten Bogen herumgelegt – und da steht nun derselbige Bogenberg: ein grünes Räucherkerzchen, ein grüner »Halma«-Stein. – Oder wer kennt nicht das schöne Studentenlied:

Der Oasiedel vo Bog'n
Hat Holzscheitl klob'n
Und hat si an Schiefling
In d' Nasen ei'zog'n ...

Nun, auf dieses Bogen und seinen Berg zu eilen Straßen durch die Felder von allerwärts, denn da ist, wie schon gesagt, ein äußerst gnadenreicher Ort.

Und dieses ist, glaube ich, nicht die geringste unter Bogens Berühmtheiten, daß die Holzkirchener mit ihrem Kreuz nun schon länger als dreihundert Jahre an einem jeden Pfingstsamstag dahin wallen! Dreihundert Jahre: was eine Zeit! Dreihundert Pfingsten! Dreihundert Pfingsten nun schon denselben Bittweg um ein Wunder: ist das nicht selber ein Wunder?!

Diese Holzkirchener, die, seit man um 1600 schrieb, all die von ewigem Wandel, von nimmermüder Erneuerung durchschüttelten, wie in rasendem Fieber hin und her geworfenen Jahrhunderte bis auf diesen heutigen Tag – um den jährlich drohenden »Schauer« auf ihre paar armseligen Fluren abzuwenden! – mit dem Kreuz hinauf gen Bogen ziehen und beten. – Was da etwa »hundertjähriger Kalender«! – Ja selbst, obgleich es soeben durch die hohen Telegraphendrähte die Landstraße längs hallt von nichts anderm just als vom heutigen »Bericht der öffentlichen Wetterdienststelle« – das melodiöse Hallen der Telegraphendrähte wird sieghaft übertönt von jener andern Melodie aus den Kehlen der Priester und der Gläubigen:

Heilig,
Heilig –

und so helltönend vermag's kein Wind in tausend Telegraphendrähten und auch in tausend Jahren nicht:

Wie es war im Anfang,
Jetzt – zu jeder Zeit
Und in alle Ewigkeit. Amen!

Um ein Wunder ziehen sie aus und sind selber ein Wunder! Wie ein wandelnder Holzschnitt, wie ein sehr primitiver, kommen sie her ... und du meinst schier, auch die Rostflecke am Rande des alten Blatts seien mit lebendig geworden! – Du wirst im ersten Augenblick, fürcht' ich, viel weniger ergriffen und um so mehr belustigt sein (und es wird dich in der Tat eher an jene sieben Schwaben gemahnen): wie da gleich voran im Zuge zwei Männer eine lange, lange Stange tragen. Und später erst werden dir die Augen darüber aufgehen: daß diese Stange selber einen nur ganz untergeordneten Behelf darstellt, von keiner höheren Funktion, als was eine lange Stange in bezug auf den Hopfen zu erfüllen hat ... und du wirst sehen: es ist eine schier unendlich lange, kinderarmdicke Kerze um dieselbige Stange gewickelt – recht in der Art, wie eine Bohne sich rankt oder ein Hopfen klettert – von einer Länge von achtzehn bis zwanzig Metern!

Und das ist ein rechtes bayrisch-bäuerisches Symbol: um Abwendung des Wetterschadens eine Kerze zu opfern, die kraft ihrer Riesenlänge allein schon schier bis in den Himmel reicht! – Der Wachszieher – der allemal zugleich auch Lebzelter ist – hätte aus ebensoviel Wachs (und unter Ersparnis von Docht obendrein) ja ebensogut eine ziemlich ›untersetzte‹ Kerze herstellen können, ein Licht von der Statur eines schlanken Fasses etwa ... aber nichts da! Von eines Geometers Stahlmeßbandes Länge muß sie zumindest sein, an zwanzig Meter hin, von einer beabsichtigten Unpraktischkeit, wie um allen heiligen Fürsprechern da droben nicht nur die Türen, sondern auch noch die Augen einzurennen!

Und so wächst alle Jahre mit Bohnenschnelle aus den von der Angst beschleunigten Herzen der frommen Holzkirchener diese eine steile weiße Ranke und entfaltet am lichten Pfingstsonntag hoch oben auf dem Bogenberg die eine feurige Blüte ... Klingt's nicht wie eine Pfingstlegende? Doch! Und ist doch eine alljährlich mit unsern sehenden Augen zu schauende und in deiner Kamera mitfortzunehmende wahrhaftige Tat aus Einfalt und Glauben!

Wie der Zug unter dem Salute der Glocken in unsre kleine Stadt einzieht, hält er – da, wo's zur Stadt wieder hinausgeht – dicht vorm Stadtturm plötzlich an. Und das Gebet sowohl ist aus, als auch die Glocken schweigen. Eine vereinzelte taube Alte nur hebt ein neues Ave Maria an und aber stockt dann auch, und das angefangene Gesetzlein reißt ab – und das ist genau so hoch wie im Turm, wo die vor Alter schwerhörige ›Stürmerin‹ gleichfalls noch ein wenig nachläutet. Und aller Zug löst sich auf, so wie ein Blütenkranz aufgeht; und das ist just vor dem Hause des Wachsziehers und Lebzelters Mitterwallner – des alljährlichen Lieferanten jener Riesenkerze! Da findet dann eine kleine Stärkung statt, und die lieben Mitterwallners, aus deren Hause es allzeit nach Honig riecht und Met, haben gewißlich alle Hände voll zu tun. Derweilen aber kannst du dir noch einmal die Kerze recht genau anschauen, die da, an ihrer langen Stange hochaufgerichtet und gerade wie sich messend mit dem hohen Tor, an die Mauer unsers Stadtturms angelehnt steht.

Dann ordnet sich's neu zum Zug ... und unter erneuten Gebeten zieht's hinaus durchs Tor ... und die Glocken ziehen ein Stück Wegs noch mit ... Und all den Weg tragen die zwei Männer zusammen die Stange über ihren Achseln. Den steilen Bogenberg selber aber hinauf zum Gnadenort muß sie aufrecht getragen werden – kein kleines Stück Arbeit das! –, wobei die beiden starken Männer einander ablösen. Und viel hohe Geistlichkeit und die übrigen Leute von Bogenberg kommen den Holzkirchenern schon weit über den Berg herunter festlich entgegen.

Und Glocken wieder und Glocken ... Und erst am Pfingstmontag kehren die Holzkirchener vom Bogenberg wieder heim.

Zu früheren Zeiten sind sie dann immer in einer der großen Donauzillen auf dem Wasser heimgefahren und haben auch herunterzu all die Zeit noch gebetet – und das drang weit von des Stromes Rinnsal her bis an die weidenbestandenen Ufer seltsam getragen ... Aber das ist, seit die Eisenbahn fährt, nun nicht mehr, und sie benutzen die Eisenbahn, und da beten sie natürlich auch nicht mehr.

Der Herr Göd und die Frau Godel

 

Meinem Paten

 

Der dritte Pfingstfeiertag in unserer altbayerischen Bischofstadt! – Das ist vom frühesten Morgen an ein ›Zufahren‹ mit den unterschiedlichsten Vehikeln, die vollsten Ackergäule vor die wackligsten Laufwägelchen gespannt ... über alle Brücken der kirchtürmereichen Stadt, die an drei Flüssen liegt ... und auf jedem Wägelchen sich spreizend ein biederer Ökonom mit einem, zwei, drei, vier Buben oder thronend eine stattliche Landwirtin mit einem oder mehreren weißgekleideten Dirndeln: der allgemeine Firmeltag ist heut! Und sollte ihnen die Eisenbahn oder seit neuerer Zeit die Schnauferlpost – Bayer. Automobilpostlinie – gleich vor ihrem Haus grad vor ihrer Tür vorbeigehen bis hinein in die Stadt: heut will der Herr Göd oder die Frau Godel dartun, »daß wir auch ein Zeug'l hab'n« – ein Fuhrwerk – und daß man weiß, es gehört sich so und schickt sich nicht anders, wie daß man seine Firmlinge mit eigenem Roß und Wagen zum Herrn Bischof fährt.

Den dritten Pfingstfeiertag firmelt der hochwürdige Herr Bischof die in diesem Jahre feiertagsschulpflichtig werdenden Buben und Mädeln aus der nächsten Umgebung der bischöflichen Residenz und die im letzten Jahr zur Werktagsschul' gehenden Kinder der Stadt selber. Klöster- und Töchterschulen, Real-, Präparandenschule und Gymnasium – alle mittleren und höheren eben sind auf einen andern Tag bestimmt. Und zu den entfernteren Pfarreien (ein paar möglichst immer zusammengenommen) muß der Bischof ›reisen‹ (sein bischöfliches Reich ist ja so groß wie der ganze politische Kreis Niederbayern) – und bei solchen Reisen geht's ohne Übernachten natürlich nicht ab, und da ist Sonnabend allemal großer Empfang und feierliche Einholung unter Glocken, Böllern und Musik mit Gesellen-, Turnverein und freiwilliger Feuerwehr und Sonnabend abend Serenade, veranstaltet von der Ortsliedertafel, und der Sonntag dann gar ist ein großes Fest. – Aber wie schon gesagt: die nächste Umgebung der Stadt und wer von ferner her etwa sonst noch eigens möchte oder muß – für all die ist der dritte Pfingstfeiertag.

Und das sind Jahr um Jahr nicht wenig Kinder, die da zusammenkommen. Und so leer und ausgestorben die Stadt den ersten und zweiten Pfingstfeiertag selbst von Städtern war, so sehr dröhnt es den dritten Tag über alle Brücken und rattert es in allen Straßen und durch alle Gassen: und wie wenn der Rattenfänger von Hameln, neu aufgestanden, seinen Einzug in unserer Stadt gehalten hätte, so sehr trippelt und trappelt es wispernd hinter dem Unsichtbaren her, der seine verzaubernde Flöte heut (hörst du's?) fein zu dem melodischen Geläut der Glocken vom Dom gestimmt hat.

Und gerade wie wenn derselbige Rattenfänger wirklich dem Zug der Kinder nach dem Dom zum Herrn Bischof vorausschritte ... vorbei an etwas improvisierten Ansichtskartenverkäufern – Dienstmännern usw. –, die heut nichts als das Bild des hochwürdigen Herrn Bischof feilhalten ... so sehr malt sich etwas erregt auf all den jungen und sonst etwas stumpfen Firmlingsgesichtern:

»Es soll ein gar strenger Herr sein, der neu Bischof!«

»Und gar stark!«

»Der letzte, der ist gar schon alt g'wes'n ... Bei dem hat's gar nicht so weh 'tan ... hat mir wenigstens Nachbars Franz'l erzählt, der wo vor zwei Jahr'n g'firmt wor'n is' –«

»Ja, aber mir hat der Girgel erzählt, der wo vor einem Jahr g'firmt wor'n is': der neu Bischof, der unserige, der soll gar herzhafte Watsch'n austeil'n – – – – der Girgel wenigstens, dem wo sonst so leicht nix weh tut, der hat noch vier Woch'n danach eine gar schandbar g'schwoll'ne Back'n g'habt –«

Und die Prozession stockt sichtlich vor einem jeden neuen Ansichtskartenverkäufer, der so recht zwinkerig tut und seine kolorierte Ware (das leibhaftige Porträt von jenem, von dem man knapp eine halbe Stunde später den so sehr gefürchteten ›Backenstreich‹ erhalten soll!) anpreist, als ob die Firmelungs- und Pfingstmäre zum mindesten ein wenig übertrieben wäre; und wie der gewaltige Dom näherrückt und ganz nah, und man durch dessen hohes nieerschautes Portal eingehen soll, da strömt einem aller Lichterglanz und aller Orgelklang so verwirrend entgegen, als ob man in der Tat ganz vorne jenen Flötenspieler aus der Sage gar bunt erschaue und gar deutlich vernehmbar höre ...

Der Herr Göd und die Frau Godel aber, die gehen schmunzelnd neben ihren verzagten Kleinen her: »Genau so haben wir uns selbiges Mal gefürchtet, wie wir gefirmelt worden sind!« – – –

Und dann schließt sich das hohe Domportal, furchtbarlich herausdröhnend aus allem Glocken- und Orgelsang ... und den Kindern vergehen die Sinne schier ... und mit einemmal erlebst du's dann: in blendender Kerzenhelle und wehendem Weihrauch stehst du vor dem Bischof, und der prangt in schwerstem Brokat ... und heiliges Öl netzt dir die Kinderstirn, und der wundervolle, schier heilige Greis rührt dir mit ringgeschmücktem Finger gegen die Wange ... schmeichelnd fast, so sehr streichelnd ... wie abbittend, ja, wie extra lieb ... und alle deine Ängste sind ein böser Alp gewesen ...

Wenn ich, Schreiber dieses, einmal in meinem Leben eine Angst ausgestanden habe, die einigermaßen der Todesangst eines Delinquenten gleichkam (mein Abitur hat mir lang' keine solchen Qualen gekostet, denn da war ich ja mit etwas Wissen wenigstens gegen all die Gefahr gefeit!) –, dann war's vor meiner Firmelung. Aber die Freude, die du unmittelbar nach dieser deiner Firmelung erfährst, die kommt dafür fast dem Glück deiner endlichen Verlobung gleich: dein Herr Göd schenkt dir eine Uhr samt Kette, ein Taschenmesser und einen Firmtaler. Was willst du noch mehr? ...

Man mag aus irgendwelchen Gründen dagegen sein, daß dem Kinde erst eine solche Angst eingejagt wird ... aber wär' dein Himmel danach so weit, so leuchtend gespannt und so selig, wenn du nicht erst die Pforten der Hölle gestreift hättest?! Die Freude deines Firmelungstages kann keiner wiedergeben, der nicht erst die vorangegangene Folter durchgemacht hat!

Es liegt ein tiefer Sinn in diesem klobigen »Spiel« ... der Altbayer geht da brutal-symbolisierend vor: wer den Schmerz nicht erkannt hat, ermißt die Lust nicht. Und der Herr Göd wie die Frau Godel weiß: die Freude gleichermaßen wie die ihr vorangegangene kindlich-kindische Qual, diese beiden vereint lassen diesen »schönsten« Tag nicht vergessen werden. – – – – – –

Der Herr Pfarrer im fernsten Pfarrdorf hat dich in vielen »Firmstunden« belehrt: zur Firmelung soll der Heilige Geist über dich kommen – du Bub sollst zum Manne werden und du Mädel zum Weibe. Und was ist für unser aller ferneres Leben das Nötigste, als daß du einmal recht an dir selber erfährst: es ist kein Licht ohne Schatten, kein Tag ohne Nacht ... und die Uhr, die du bekommst, ist die Zeit, das Messer, das du erhältst, die Arbeit, und der Taler, der dir wird, ist der Lohn!

Und der Herr Göd und die Frau Godel, die dir bis dahin nur ein biederer Ökonom und eine stattliche Landwirtin waren, sie werden mit einemmal zu groß feenhaften Gestalten an deiner geistigen Wiege, die Pfingsten heißt – beschenken dich reich und sagen den weisen Spruch dir her: »Pfingsten heißt erwachen zum Leben, Pfingsten heißt aufsteh'n zur Tat! – Messe deine Zeit immerdar, brauch' deine Kraft alltag, ernt' deinen Lohn!« – – – – – –

Und wie auf die alte Tragödie das Satirspiel folgte, folgt auf die geistige Belehrung die praktische Anwendung:

Beim Weißbräu in der Großen Klingergass'n geht's hoch her – der Herr Göd und die Frau Godel wollen was aufgeh'n lassen für ihre Firmlinge: Weißbier gibt's, und Würstel mit Laugenbretzen, und der dicke Weißbräu macht mit seinem gewaltigen Orchestrion brausende Musik: und da hat der Hansel seine Uhr ›überrieben‹, daß sie nicht mehr gehen mag, der Michel die halbe Klinge seines Messers in der Tischkante sitzen lassen müssen, so sehr schnitzelte er, und der Päuli gar hat das ›ewig' Angedenken‹, seinen Firmtaler, vis-à-vis beim Krämer in einer schwachen Sekunde gewechselt ...

Der Firmling

Eine Geschichte von Pfingsten bis Fronleichnam

 

Für Uhrmann Rudi

 

»Der Maler des katholischen Kirchenjahres«, wie er in seinen meist nicht minder berühmten Bekannten- und Kollegenkreisen getauft war – er porträtierte aber auch wirklich nicht so sehr und gerne etwa die höchsten geistlichen Würdenträger als er vielmehr Fronleichnamsprozessionen, Priesterweihen, Pontifikalämter, erste heilige Kommunionen und heilige Firmungen mit kühnster Meisterschaft auf riesige Leinwand bannte –, der solche königliche Professor übrigens und selbstverständlich vor einigen Jahren in den Adelsstand erhobene, erzählte um die vorjährigen Pfingsten einem seiner besten Freunde:

»Mein Vater hatte schon ein rechtes Kreuz mit mir, seinem – gottlob – einzigen Sohne. Stark ins fünfzehnte Jahr ging ich und war immer noch nicht gefirmt, wie ich auch sonst erst Schüler des zweiten Kurses der Kreisrealschule war – das heißt, ich war sowohl gegenwärtig Repetent im zweiten Kurs als vorher im ersten. – Aber es ist wohl nötig, daß ich dir den normalen Schulgang hier flüchtig skizziere, damit du ermessen kannst, wie weit ich eigentlich davon abwich: Andre kommen nach vier Kursen Volksschule mit zehn Jahren in die Realschule – ich war bei diesem meinem Übertritt bereits elf. Sodann im ersten Kurs ein Jahr lang hübsch sitzengeblieben, machte bei mir demnach schon dreizehn, im zweiten dito, näherte sich – drei Bauern, sechs Stiefel – unweigerlich dem fünfzehnten. Also daß weitaus die meisten mit mir gleichaltrigen jungen Herren, als ich immer noch die giftgrünen Wände der zweiten Klasse anglotzte, soeben die Osterzeugnisse in der fünften Klasse erhielten, eine Froschverbindung gründeten und übers Jahr bereits mit dem Einjährig-Freiwilligen-Befähigungsnachweis zu absolvieren gedachten!

Übrigens bei der Konstituierungskneipe der ›Danubia‹ war ich nichtsdestoweniger dabeigewesen – als einziger ›Fuchs‹, wohingegen sich die sämtlichen andern als ›Burschen‹ aufspielten – und inkommentmäßig genug wurde ich auch da sogleich wegen meiner Immer-noch-Ungefirmtheit sehr gehänselt. Denn – wenn man's rein zahlenmäßig bedenkt: die Gymnasiasten wie die Realschüler werden bereits mit zehn Jahren des heiligen Sakraments der Firmung teilhaftig, und selbst die gemeinen Volksschüler mit dreizehn ... was Wunder, daß unter anderm da von zwei Seiten zugleich der Witz hagelte, ob an mir, dem bald Fünfzehnjährigen, nicht – à la Nottaufe – endlich die Notfirmelung vorgenommen werden müßte!

Aber ... Krankheit war stets und alle Jahre um Pfingsten die Verhinderung gewesen, daß just die Firmung an mir nicht vollzogen werden konnte – die Firmung, die außer dem ›Chrisam des Heiles‹ insbesondere aus einem (von den Buben natürlich in den schwärzesten Farben gemalten) Backenstreich von der hirtenringgeschmückten Hand des hochwürdigsten Herrn Bischofs besteht. Und zwar Krankheit meinerseits ausgerechnet in Gestalt einer entsetzlich geschwollenen Backe, wobei es selbstverständlich ohne diese geistreiche Bemerkung von vier, ja fünf Seiten zugleich alljährlich nicht abging: ich Schlemihl könnte heuer wieder nicht gefirmt werden, weil ich an der betreffenden Gesichtsstelle schon im voraus einfach fürchterlich aufgeschwollen wäre!

Doch nicht immer eben nur zu Pfingsten trieb meine ein oder andre Backe auf wie guter Hefeteig. Diese tückischen Anschwellungen, deren perpetuierliches Schmerzgefühl noch dazu ich meinem ärgsten Feind nicht hätte wünschen mögen, traten auch sonst drei-, vier-, fünfmal des Jahres ein (schon seit ich überhaupt denken konnte), so daß ich natürlich ebensooft von meinem nicht wenig besorgten Vater aus der Schule genommen werden und meist gleich ein Vierteljahr und länger pausieren mußte, bis – bis in eben dieses mein fünfzehntes Jahr! – Da nämlich blieb die sonst schier periodisch auftretende unheimlich dicke Backe mit all ihren Schmerzen im Gefolge mit einem Male aus! Wahr und wahrhaftig, blieb aus!! Und meiner endlichen, endlichen Firmelung stand soweit nichts mehr im Wege. – Ja, sogar der mich behandelnde Arzt meinte, die Anschwellung würde womöglich nicht wiederkommen!«

»Na, und kam sie dann in der Tat nie wieder?«

»In der Tat – nie wieder!«

 

»Wobei du nun aber nicht denken sollst, daß ich im allgemeinen etwa von der blitzdummen Sorte einer war oder am Ende gar schwachsinnig. Jenes nun schon dreimal in meinem jungen Leben Ein-Jahr-lang-nachsitzen-Müssen war doch immer nur die einfache und brutale Rechnung daraus gewesen, daß ich alles in allem jeweils mehr als ein halbes Jahr in der Schule gefehlt hatte. – Und im geraden Gegenteil – hatte ich auf die Art die nicht zu unterschätzende (wenn auch sehr seltene) Erfahrung eines gewonnen, der die Fenster des Schulzimmers nicht nur immer von innen besah – sondern tatsächlich einmal auch von außen kennen lernte: winters sowohl die von Gaslicht glühenden Scheiben, und wie deren Abbild, weißt du, magisch am Boden im Schnee heraußen glühte und sich einbrannte – als sommers die weit aufgetanen Fensterflügel, so daß ich zu ihnen heraus bald die in stumpfsinnigem Chor nachsprechenden Stimmen meiner Mitschüler vernehmen konnte, bald das ewig raunzende Organ meines Herrn Lehrers unterschied. – Dazu war mein lieber Vater selber auch nicht gerade der Beschränktesten einer in dieser kleinen Stadt. Das will sagen: so wie er seinen geliebten Jungen sogleich und ohne Zaudern immer aus der Schule nahm, wenn die Backe wieder anfing, genau so sperrte er ohne Jammern und Vorwürfe und vielmehr sehr resolut alle meine Lehrbücher weg und ließ mir alle und jede Freiheit. Schickte mich spazierengehen vor die Stadt und hieß mich namentlich hoch vom Oberhauserberg auf sämtliche zu dieser Stunde oft heiß unterrichtenden Schulen herabsehen: auf Lyzeum wie Gymnasium, Real-, Präparanden- und Baugewerkschule, Höheres Töchterinstitut und so weiter.

Damit, daß ich so recht mit bübischer Schadenfreude auf das alles heruntergrinste? – Dazu war ich, wenn auch erst Zweitklassist, denn doch allzubald bereits meine volle fünfzehn Jahre! – Nein also, in solchen Stunden, wie ich sie erlebte, stand ich nicht bloß außerhalb der geöffneten Fenster der Schule, die für mich nie ›engend‹ und ›knechtend‹ gewesen war, denn ich saß ja die halbe Zeit überhaupt nicht drinnen – sondern befand mich ... traumhaft ... wie außerhalb meines eignen Ichs! Und vollends auf dem Oberhauserberge stand ich, und war mir, als könnte ich mit allmächtigen Engelsarmen hinüberlangen über den Fluß und die Dächer der Schulen abheben und hineinschauen wie in das Räderwerk einer Uhr –«

»Na, und dann wurdest du also endlich gefirmt?« unterbrach ein wenig ungeduldig der Freund. Und verbesserte sich: »Ich meine, ich versteh ganz genau, was du mit alldem sagen willst – du warst reif für die Firmung?«

»Sehr richtig! – Ich erzählte dir das so im Detail, um dir zu zeigen, mit welchen Gefühlen ich dann zur Firmung ging. Mit welch andern Gefühlen, heißt das, als all meine Gleichaltrigen einstens mit ihren kaum zehn Jährchen. – Die Zehnjährigen – das ist schon einmal so – taumeln und stolpern an der Seite ihrer Herren Firmpaten schlechterdings mit keiner andern Sensation durchs hohe Domportal und knien vor den Bischof hin als: ›Ich hab' außer einem Taschenmesser, einer Geldbörse, einem Firmtaler eine richtiggehende Uhr von meinem Herrn Firmpaten zum Firmgeschenk!‹ Ich hatte zwar genau dasselbe Gefühl, das mein junges Herz wie mit noch einmal soviel Wärme plötzlich ausfüllte und überschüttete: ›Ich trage ein silbernes Tierchen bei mir, das gar beweglich tickt, tickt, tickt‹ – aber ich kämpfte wenigstens an gegen dies Gefühl und suchte mir, selbst bereits vor dem Bischof kniend, noch einmal auf die Seele zu prägen: deine endliche Firmung bedeutet fürwahr, daß nun ein großer neuer Lebensabschnitt für dich beginnt –«

»Verzeih, aber da profitiertest du eigentlich gar nichts von der ungeheuren Pracht, die du doch seither auf deinen wahren halben Quadratmeilen von Schinken immer und immer wieder festhältst? Von all dem Weihrauch, dem Kerzenschein, Orgelklang, Gold, Silber, Brokat – oder?«

»Einen Augenblick – ich will nur eine zweite Auflage der Waldmeisterbowle anschaffen ... Dann erzähl' ich dir gleich weiter, wie diese späte Firmung mir äußerlich zu einem unbarmherzigen Fallstrick wurde und mich doch zugleich wieder aus dieser gefährlichsten Schlinge rettete ...«

»... Du kennst Fronleichnam?«

»Nur durch deine Bilder; aber durch eben deine Malerei bin ich sogar so gut unterrichtet, daß bei der unerhört schönen Münchner Prozession zum Beispiel der greise Prinzregent persönlich mitgeht!«

»... da sind die ganzen Straßen, durch die das Allerheiligste getragen wird, durch lichte Birkenbäume in einen förmlichen Wald verwandelt ... Und die Häuserwände noch sonst bis hoch oben hinaus voller Tannenkränze und -girlanden ... Und auf dem Straßenpflaster ein reicher duftender Teppich von frisch gemähtem Gras und gepflückten Wiesenblumen ... Dazu rückt Militär aus und steht allenthalben Spalier – und mit aufgepflanztem Bajonett und herabgetaner Schuppenkette eskortiert eine besondere Ehrenkompagnie die einherziehende goldene Monstranz, in meiner Heimatstadt von Bischofshänden selber gehalten ... Den endlos langen Zug bilden Vertreter der Behörden, alle Schulkinder, Klöster, Laienorden, Innungen, Vereine ... Viele hohe Herren im Schiffshut und Degen ... Und bei jedem der vier Evangelien richtiggehende Kanonenschüsse herab vom Wall vom hohen Oberhaus, der einstigen Festung ...

Da, am Vorabend von Fronleichnam – in demselbigen Jahr, in dem ich, und zwar vor noch nicht ganz vierzehn Tagen, endlich gefirmt worden war – an einem Mittwoch, wie immer – die und die und die Fünftklassisten mit einemmal spät am schulfreien Nachmittag zum Herrn Rektor zitiert ... Und vorläufig – da an diesem Vorabend keine große Lehrerkonferenz mehr sein kann – vorläufig wenigstens die und die und die Fünftklassisten sämtlich von der morgigen Teilnahme bei der feierlichen Prozession suspendiert!

Weswegen aber? Und: was denn die jungen Herren gar so Schlimmes ausgefressen haben mögen? fragt mein Vater vor unserm Haus den betreffenden Bürger mitsamt seiner großen Neuigkeit.

Na, von wegen Gründung und Teilnahme halt bei einer Froschverbindung ›Danubia‹. – Mein Gott, mein Gott – derselbigen Froschverbindung ›Danubia‹, bei der ich, wenn auch nach der Gründung nur noch ein einziges Mal, so doch immerhin – auch ich! auch ich!! – zweimal dabeigewesen war –

Darauf fragt mich mein Vater, während er die Birkenbäume weiter eigenhändig aufstellt vor unserm Haus, ob ich inzwischen nicht die Kränze und Girlanden von den Fenstern in allen drei Stockwerken heraus an der Fassade anmachen möchte –

Doch auf diese Frage hab' ich ihm schon keine Antwort mehr gegeben. Da bin ich bereits auf und davon – all die Straßen hinab in die untere Stadt – durch Birkenbäum' und Birkenbäum' – ja: grad wie ein angeschossenes Wild durch den Wald bricht –

Hinunter zu dem und dem Fünftklassisten: zum Erstchargierten, sodann zum meinigen Leibburschen –

Aber ich traf keinen einzigen an –

Und am andern Morgen bei der Aufstellung zur Prozession natürlich erst recht keinen! Indem einfach alle ›Burschen‹ der ›Danubia‹ wahr und wahrhaftig suspendiert – vierzehn Mann von der fünften Klass'! – Und der Rektor im Schiffshut und Degen mustert seine ganze Realschul' heut früh überhaupt nur mit seinen Geierblicken darauf hin, ob sich nicht doch einer der Suspendierten heimlich herzugeschlichen hat. – Und die ganze Stadt dann während des ganzen feierlichen Umzugs scheint ebenfalls nur Augen zu haben, um all die Fehlenden zu zählen heut von der fünften Klass'. Und aber ich – als der einzig Nichtsuspendierte! – rag' dabei wie eine Bohnenstange heraus aus all dem Zwerggemüse meiner schier ausnahmslos noch nicht zwölfjährigen Mitschüler –

Ahnungslose! Fällt's euch noch immer nicht auf, daß ich nicht Umgang geh' wie die andern, sondern unter euern Augen wahre Spießruten laufen muß?! – Drei Evangelien hab' ich's nun schon ausgehalten und bin unter dem dreimaligen Kanonendonner noch immer nicht wahnsinnig geworden und hab's in einer der Totenstillen jedesmal während eines Evangeliums nicht laut hinausgeschrien: ›Bajonette – her auf mich!! Und ihr Kanonen droben – ladet lieber endlich für mich scharf!!!‹

Da kommt das vierte Evangelium ... just vorm Büchsenmacher-Uhrmann-Haus ...Und meine Augen heften sich zwischen blutrotem Altar vor mir und unschuldig blauem Himmel über mir beim Niederknien an das eine weit offenstehende und mit Kruzifix und zwei brennenden Lichtern schön dekorierte Fenster da droben, an das mir, ach, so wohlbekannte, dahinter ich im nächsten Augenblick das wachsbleiche Gesicht meines ›Fuchsmajor‹ Uhrmann-Rudi zu erblicken vermeine ...

Und da schießt's einmal vom Oberhaus – und die ganze Stadt auf Knien bekreuzigt sich ... zweimal ... und aber eh's zum drittenmal donnert – klappt's da oben wie mit dem Deckel eines Bierkrügels hell nach ... und dann schlägt auch gleich ein wenig Rauch zum Fenster heraus ... und das eine weiß ich noch, als ob's gestern erst gewesen wäre: das eine brennende Licht neben dem Kruzifixus fiel um ...

Ich aber steh danach auf – nicht anders wie die andern auch aufstehn. Zupf mir – genau wie alle andern – ein bisserl angeklebtes Gras und kleine Wiesenblumen von den Knien meines Firmungsanzuges. Und alle Angst ist weg und alle Bedrängnis denn ich halt' mich ganz einfach so wie mit Märtyrerüberzeugung an die kaum eben erst empfangenen sieben Gaben des heiligen Geistes im Sakrament der Firmung: An den Geist der Weisheit und des Verstandes; den Geist des Rates und der Stärke; der Wissenschaft und Frömmigkeit und der Furcht Gottes –

Und seh in eben dem Moment meinen Vater in der Menge wo stehen, mit seinem ungewöhnlichen Körpermaß wie ein Denkmal überragend –

Und breche einfach aus aus dem Schülerkreis und hindurch durch die Soldaten (mein Lehrer meinte, mir sei schlecht geworden) und bin im nächsten Augenblick bei meinem Vater (der anfänglich nicht anders dachte als mein Lehrer).

Und sag' ihm, daß da droben im zweiten Stock ein blühend junges Leben erschossen lag' – und daß hingegen er – mein Vater – wohl auf mich bauen könnte –

Und: all was ich aus Knabendummheit ihm Schweres angetan – vor diesem Schwersten wie da droben im zweiten Stock mit dem umgefallenen Licht würde ich ihn bewahren –

Und es muß wahrlich ›Weisheit und Verstand, Rat und Stärke‹ von mir ausgegangen sein und zu meinem Erzeuger wie von mir zurückgeströmt – denn wir drückten uns in wortlosem Einverständnis zuletzt die Hand ...«

Ein Schweigen.

»Der Maler des katholischen Kirchenjahres« nimmt einen herzhaften Schluck Bowle.

»Na – und?«

»... was ist da noch viel zu sagen? – Die überlebenden dreizehn ›Burschen‹ wurden dimittiert –«

»Und du?«

»Ich? – Ich wurde sogar exkludiert!!!«

»Exkludiert?«

»Ja. – Dimittierte können immerhin noch an einer andern Schule desselben Staates Aufnahme finden – ich jedoch wurde exkludiert, das heißt von allen Schulen ausgeschlossen. Indem ich als Zweitklassist (während die andern doch wenigstens bereits Fünftklassisten waren) und ja sogar als Noch-gar-nicht-Gefirmter schon bei einer Schülerkneiperei mitgetan hätte!! ...

Was blieb da meinem Vater schließlich noch viel andres übrig? – Er gab mich beim Kirchenmaler Kroiß in die Lehre ...«


 << zurück weiter >>