Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Universalbibliothek

(1904)

 

»Nun setze dich endlich einmal her, Max«, sagte der Professor Wallhausen, »es ist wirklich nichts für deine Zeitschrift unter meinen Papieren. Was darf ich dir eingießen, Wein oder Bier?«

Max Burkel trat an den Tisch und zog die Augenbrauen bedächtig in die Höhe. Dann ließ er seine kräftige Figur behäbig auf dem Lehnstuhl nieder und sprach:

»Eigentlich bin ich Temperenzler geworden. Aber auf Reisen – ich sehe, ihr habt da so ein prächtiges Kulmbacher – ach, ich danke sehr, liebes Fräulein – nicht so voll! Na, wohl bekomm's, alter Knabe, verehrte Freundin! Prosit, Fräulein Briggen! Das ist riesig gemütlich, daß ich wieder einmal bei dir sitze. Aber, da hilft nun nichts, schreiben mußt du mir doch etwas.«

»Weiß augenblicklich wirklich nichts. Es wird überhaupt schon so entsetzlich viel Überflüssiges geschrieben und leider auch gedruckt –«

»Das brauchst du einem geplagten Redakteur wahrhaftig nicht erst zu sagen. Es fragt sich nur, was davon das Überflüssige ist. Darüber sind Publikum und Autor sehr verschiedener Ansicht. Und unsereiner trifft immer gerade das, was die Kritik für überflüssig hält. Ha, ich freue mich« – und er rieb sich vergnügt die Hände –, »daß mein Vertreter noch drei Wochen für mich schwitzen muß.«

»Ich wundere mich«, begann die Hausfrau, »daß Sie überhaupt immer noch etwas Neues zu drucken haben. Ich dächte, es müßte nun so ziemlich alles durchprobiert sein, was Sie mit Ihren paar Lettern zusammenstellen können.«

»Das ist eigentlich wahr, Frau Professor – sollte man denken – aber, der menschliche Geist ist unerschöpflich –«

»In Wiederholungen – meinen Sie.«

»Gott sei Dank, ja!« lachte Burkel. »Aber doch auch an Neuem.«

»Und trotzdem«, bemerkte der Professor, »vermag man alles in Lettern darzustellen, was der Menschheit jemals gegeben werden kann an geschichtlichem Erlebnis, an wissenschaftlicher Erkenntnis, an poetischer Kraft, an Lehren der Weisheit. Wenigstens, soweit es sich in der Sprache ausdrücken läßt. Denn unsere Bücher vermitteln doch tatsächlich das Wissen der Menschheit und bewahren den Schatz, den die Arbeit des Denkens gehäuft hat. Die Zahl der möglichen Kombinationen gegebener Buchstaben ist aber begrenzt. Also muß alle überhaupt mögliche Literatur sich in einer endlichen Anzahl von Bänden niederlegen lassen.«

»Na, alter Freund, da redest du wohl wieder einmal mehr als Mathematiker denn als Philosoph. Wie soll das Unerschöpfliche endlich sein?«

»Erlaube, ich will dir gleich ausrechnen, wieviel Bände die Universalbibliothek haben wird.«

»Du, Onkel, wird's sehr gelehrt?« fragte Susanne Briggen.

»Aber Suse, für eine junge Dame, die eben aus der Pension kommt, ist doch nichts zu gelehrt?«

»Danke schön, Onkel, aber ich fragte eigentlich nur, um zu wissen, ob ich mir meine Handarbeit dazu holen soll, weil – ich dann besser nachdenken kann, weißt du.«

»Aha, Schlauköpfchen, du wolltest eigentlich wissen, ob ich eine sehr lange Rede halten werde. Ich denke gar nicht dran. Doch du könntest mir dort den Bogen Papier geben und den Bleistift.«

»Bringen Sie nur auch gleich die Logarithmentafel mit«, bemerkte Burkel trocken.

»Um Gottes willen«, wehrte die Hausfrau.

»Nein, nein, ist nicht nötig«, rief der Professor. »Und mit der Handarbeit brauchst du nicht zu protzen, Suse.«

»Hier hast du eine bequemere«, sagte die Hausfrau und schob ihr die Schale mit Äpfeln und Nüssen hin.

»Danke«, antwortete Susanne, und ergriff den Nußknacker. »Nun nehme ich's mit deinen härtesten Nüssen auf.«

»Jetzt kann erst einmal unser Freund reden«, begann der Professor. »Ich frage: Wenn man sich knapp einrichtet und auf besondere ästhetische Darstellung durch verschiedene Schriftgattungen verzichtet, auch mit einem Leser rechnet, der es nicht zu bequem haben will, dem es nur auf den Sinn ankommt –«

»Aber den gibt's ja gar nicht.«

»Nun, nehmen wir ihn an. Wieviel Lettern wird man für die gesamte schöne und Unterhaltungsliteratur brauchen?«

»Na«, sagte Burkel, »beschränken wir uns auf die großen und kleinen Buchstaben des lateinischen Alphabets, die gebräuchlichen Interpunktionszeichen, die Ziffern und – nicht zu vergessen – das Spatium –«

Susanne blickte fragend von ihren Nüssen auf.

»Das ist die Type für den Zwischenraum, wodurch der Setzer die einzelnen Worte auseinander hält und die leer bleibenden Stellen ausfüllt. Das wäre also nicht zu viel. – Aber für wissenschaftliche Bücher! Was habt ihr Mathematiker für eine Masse Symbole!«

»Da helfen wir uns durch Indizes, durch kleine Zahlen, die wir oben oder unten an die Buchstaben des Alphabets setzen, wie a0, a1, a2 usw. Dazu brauchen wir nur noch eine zweite und dritte Reihe der Ziffern von 0 bis 9. Ja dadurch könnte man sogar bei ausreichender Verabredung beliebige fremdsprachliche Laute darstellen.«

»Meinetwegen. Ich will auch das deinem Idealleser zutrauen. Dann schätze ich, daß wir allerdings nicht mehr als etwa hundert verschiedene Zeichen nötig haben, um alles Denkbare durch die Schrift ausdrücken zu können.«

»Nun, sieh mal an. Und wie stark wollen wir einen Band machen?«

»Ich meine, man kann schon recht erschöpfend über ein Thema schreiben, wenn man einen Band von fünfhundert Seiten damit anfüllt. Denken wir uns auf der Seite etwa 40 Zeilen mit 50 Buchstaben (wobei natürlich Spatien, Interpunktionen usw. stets mitgezählt sind), so bekämen 40 × 50 × 500 Buchstaben für einen solchen Band, das gibt – Ja, das kannst du lieber ausrechnen.«

»Eine Million«, sagte der Professor. »Wenn man also unsere 100 Zeichen, beliebig oft wiederholt, in irgendeiner Ordnung so oft zusammenstellt, daß sie einen Band von einer Million Buchstaben füllen, so wird man irgendein Schriftwerk bekommen. Und wenn man alle möglichen Zusammenstellungen sich denkt, die überhaupt in dieser Weise rein mechanisch gemacht werden können, so hat man genau sämtliche Werke, die jemals in der Literatur geschrieben worden sind oder in Zukunft geschrieben werden können.«

Burkel schlug den Freund kräftig auf die Schulter.

»Du, auf die Universalbibliothek abonniere ich. Dann habe ich ja sämtliche zukünftigen Bände der Zeitschrift schon fix und fertig in der Druckvorlage. Ich brauche mich um keine Beiträge zu kümmern. Das ist ja prachtvoll für den Verleger, das ist die Ausschaltung des Autors aus dem Geschäftsbetrieb! Ersatz des Schriftstellers durch die Kombinationsmaschine, Triumph der Technik!«

»Wie?« rief die Hausfrau. »Alles ist in der Bibliothek? Auch der ganze Goethe? Die Bibel? Die Gesamtausgaben der Werke aller Philosophen, die nur je gelebt haben?«

»Und sogar mit sämtlichen Lesearten, auf die noch kein Mensch gekommen ist. Du findest da auch sämtliche verlorenen Schriften des Platon oder des Tacitus und die Übersetzungen dazu. Ferner sämtliche zukünftigen Werke von uns beiden, alle vergessenen und noch zu haltenden Reichstagsreden, den allgemeinen Weltfriedensvertrag, die Geschichte der darauffolgenden Zukunftskriege –«

»Und das Reichskursbuch, Onkel!« rief Susanne. »Das ist doch dein Lieblingsbuch.«

»Gewiß, und deine sämtlichen deutschen Aufsätze bei Fräulein Grazelau.«

»Ach, hätte ich doch das Buch schon im Pensionat gehabt! Aber ich denke, es handelt sich immer um einen ganzen Band –«

»Erlauben Sie, Fräulein Briggen«, fiel Burkel ein, »vergessen Sie nicht die Spatien. – Jedes kleinste Verschen kann einen Band für sich bekommen, das übrige ist dann leer. Und wir können auch die längsten Werke darin haben, denn wenn sie in einem Bande nicht Platz finden, da suchen wir die Fortsetzung in einem andern.«

»Na, ich danke für das Heraussuchen«, sagte die Hausfrau.

»Damit hat es auch seinen Haken«, begann der Professor schmunzelnd, indem er sich in seinen Sessel zurücklehnte und den Rauch seiner Zigarre behaglich mit den Blicken verfolgte. »Es könnte zwar scheinen, als ob das Heraussuchen dadurch erleichtert würde, daß die Bibliothek auch ihren eigenen Katalog enthalten muß –«

»Nun also –«

»Ja, aber wie willst du den herausfinden? Und wenn du einen Band gefunden hättest, so wärest du auch nicht weiter, denn es sind ja nicht bloß die richtigen, sondern auch alle möglichen falschen Titel und Signaturen darin.«

»Teufel auch, das ist wahr!«

»Hm! Es gibt da so einige Schwierigkeiten. Nehmen wir z. B. den ersten Band unserer Bibliothek zur Hand. Die erste Seite ist leer, die zweite ebenfalls, und so fort, alle 500 Seiten. Es ist nämlich der Band, worin das Zeichen des Spatiums ein Millionenmal wiederholt ist –«

»Da kann wenigstens kein Unsinn darin stehen«, warf Frau Wallhausen ein.

»Ein Trost! Nun der zweite Band, auch leer, alles leer, bis auf der letzten Seite, ganz unten, an der millionsten Zeichenstelle ein schüchternes a steht. Im dritten Bande ist es wieder so, nur daß das a um eine Stelle vorgerückt ist, an letzter Stelle steht jetzt wieder das Spatium. Und so schiebt sich das a in jedem Bande um eine Stelle weiter nach vorn durch eine Million Bände, bis es im ersten Bande der zweiten Million glücklich die erste Stelle erreicht hat. Weiter steht nichts in diesem interessanten Bande. Und so geht es durch die ersten hundert Millionen unserer Bände, bis alle hundert Zeichen ihren einsamen Weg von hinten nach vorn durchlaufen haben. Ein Gleiches wiederholt sich dann mit aa oder mit irgend zwei anderen Zeichen in allen möglichen Stellungen. Ein Band bringt nur Punkte, einer nur Fragezeichen.«

»Na«, sagte Burkel, »diese inhaltlosen Bände würde man ja bald erkennen und ausscheiden –«

»Hm, ja – aber, das Schlimmste kommt erst, wenn man einen scheinbar vernünftigen Band gefunden hat. Du willst z. B. etwas im ›Faust‹ nachsehen und triffst auch wirklich den Band mit dem richtigen Anfang. Und wenn du ein Stückchen gelesen hast, geht es auf einem weiter: ›Papperle, happerle, nichts ist da!‹, oder einfach ›aaaaa‹ ... Oder es beginnt eine Logarithmentafel, aber auch von der weiß man nicht, ob sie richtig ist. Denn in unserer Bibliothek steht ja nicht nur alles Richtige, sondern auch alles Falsche. Durch die Überschriften darf man sich nicht irreführen lassen. Ein Band fängt vielleicht an: ›Geschichte des Dreißigjährigen Krieges‹ und geht weiter: ›Als Fürst Blücher die Königin von Dahomey bei den Thermopylen geheiratet hatte ...‹«

»Du, Onkel, das ist etwas für mich!« rief Susanne vergnügt. »Die Bände könnte ich schreiben, denn wenn es durcheinandergehen soll, da entwickle ich großes Talent. Da steht gewiß auch der Anfang drin, den ich einmal von der Iphigenie deklamiert habe:

›Heraus in eure Schatten, rege Wipfel,
Der Not gehorchend, nicht dem eigenen Trieb,
Auf diese Bank von Stein will ich mich setzen.‹

Wenn das da gedruckt stände, so wäre ich doch gerechtfertigt. Und da fände ich gewiß auch den langen Brief, den ich an euch geschrieben habe, und der dann auf einmal verschwunden war, als ich ihn abschicken wollte. Mika hatte ja ihre Schulbücher darauf gelegt. – O je!« unterbrach sie sich verlegen, indem sie die widerspenstigen braunen Haare aus der Stirn strich. »Fräulein Grazelau hat mir doch ausdrücklich gesagt, ich soll mich in acht nehmen, daß ich ja nicht ins Schwatzen komme!«

»Hier bist du ganz gerechtfertigt«, tröstete der Onkel. »Denn in unserer Bibliothek stehen nicht nur deine sämtlichen Briefe, sondern auch sämtliche Reden, die du je gehalten hast oder halten wirst –«

»Ach, da gib doch lieber die Bibliothek nicht heraus!«

»Sorge dich nicht, sie stehen ja nicht bloß mit deinem Namen, sondern auch mit dem von Goethe und überhaupt mit sämtlichen möglichen Namen der Welt unterzeichnet. Da findet z. B. auch unser Freund mit seiner Unterschrift verantwortlich gezeichnete Artikel, die alle denkbaren Preßvergehen enthalten, so daß sein ganzes Leben nicht ausreicht, die Strafen abzusitzen. Da findet sich ein Buch von ihm, wo hinter jedem Satze steht, daß er falsch ist, und ein Band, wo hinter genau denselben Sätzen die Wahrheit beschworen wird – –«

»Na, nun ist's gut«, rief Burkel lachend. »Ich wußte ja gleich, daß du uns etwas aufbinden würdest. Also, ich abonniere nicht auf die Universalbibliothek, denn es ist ja unmöglich, den Sinn aus dem Unsinn, das Richtige aus dem Falschen herauszusuchen. Wenn ich nun so und so viel Millionen Bände finde, die alle behaupten, die wahre Geschichte des Deutschen Reiches im 20. Jahrhundert zu enthalten, und die sich alle vollständig widersprechen, da kann ich ja gleich die Werke der Historiker selbst nehmen. Ich verzichte.«

»Das ist sehr schlau von dir. Denn du hättest dir eine hübsche Last aufgeladen. Übrigens flunkere ich nicht. Ich habe ja nicht behauptet, daß du dir das Brauchbare heraussuchen könntest, sondern nur, daß man genau die Zahl der Bände angeben kann, die unsere Universalbibliothek enthält und worin neben allem Sinnlosen auch alle sinnvolle Literatur stehen muß, die überhaupt möglich ist.«

»Da rechne es nur mal aus, wieviel Bände es sind«, sagte die Hausfrau. »Denn dieses weiße Papier läßt dir doch eher keine Ruhe.«

»Das ist ganz einfach, das kann ich im Kopfe machen. Wir überlegen uns nur, wie wir unsere Bibliothek herstellen. Wir setzen zunächst jedes unserer hundert Zeichen einmal hin. Dann fügen wir zu jedem wieder jedes der hundert Zeichen, so daß hundertmal hundert Gruppen zu je zwei Zeichen entstehen. Indem wir zum drittenmal jedes Zeichen hinzusetzen, bekommen wir 100 × 100 × 100 Gruppen von je drei Zeichen, und so fort. Und da wir eine Million Stellen im Bande zur Verfügung haben, so entstehen so viel Bände, als eine Zahl angibt, die man erhält, wenn man 100 ein Millionenmal als Faktor setzt. Da 100 gleich zehnmal zehn ist, so bekommt man dasselbe, wenn man die Zehn zweimillionenmal als Faktor schreibt. Das ist also einfach eine Eins mit zwei Millionen Nullen. Hier steht sie: Zehn hoch zwei Millionen: 10 2 000 000

Der Professor hielt das Papier in die Höhe.

»Ja«, rief seine Frau, »ihr macht euch die Sache leicht. Aber schreibe sie einmal aus.«

»Ich werde mich hüten. Da hätte ich mindestens zwei Wochen lang Tag und Nacht ohne Pause daran zu schreiben. Die Zahl würde im Druck etwa eine Länge von vier Kilometern erreichen.«

»Puh«, rief Susanne. »Wie spricht man denn die aus?«

»Dafür haben wir keinen Namen. Ja, es gibt überhaupt gar kein Mittel, sie uns auch nur einigermaßen zu veranschaulichen, so kolossal ist diese Menge, obwohl sie endlich angebbar ist. Was man auch sonst an gewaltigen Größen nennen mag, das verschwindet gegen dieses Zahlenmonstrum.«

»Wie wär' es denn«, fragte Burkel, »wenn man sie in Trillionen angäbe?«

»Eine Trillion ist ja eine ganz hübsche Zahl, eine Milliarde Milliarden, eine Eins mit 18 Nullen. Wenn du unsere Bändezahl damit dividierst, würdest du also von den zwei Millionen Nullen gerade 18 streichen. Du bekommst demnach eine Zahl mit 1999982 Nullen, womit du ebensowenig eine Anschauung verbinden kannst. Aber halt – einen Augenblick« – der Professor warf ein paar Zahlen auf das Papier.

»Dacht' ich's doch«, sagte seine Frau. »Nun wird doch noch gerechnet!«

»Ich bin schon fertig. Weißt du, was diese Zahl für unsre Bibliothek bedeutet? Nehmen wir einmal an, jeder unsrer Bände sei nur zwei Zentimeter dick und wir hätten sie alle in einer Reihe aufgestellt – was meint ihr, wie lang die Reihe wäre?«

Er sah sich triumphierend um, als alle schwiegen.

Da sagte Susanne plötzlich: »Ich weiß es! Darf ich's sagen?«

»Immer los, Suse!«

»Doppelt soviel Zentimeter, als die Bibliothek Bände hat.«

»Bravo, bravo!« riefen alle. »Das genügt vollständig.«

»Ja«, sagte der Professor, »aber wir wollen es uns doch noch etwas genauer ansehen. Ihr wißt, daß das Licht in einer Sekunde 300000 Kilometer durchläuft, also in einem Jahre ungefähr zehn Billionen Kilometer, was gleich einer Trillion Zentimeter ist. Wenn also der Bibliothekar mit der Geschwindigkeit des Lichtes an unserer Bändereihe entlang saust, so würde er doch zwei Jahre brauchen, um an einer einzigen Trillion Bände vorüber zu kommen. Und um an der ganzen Bibliothek entlang zu fahren, wären demnach doppelt soviel Jahre nötig, als eine Trillion in der Bändezahl enthalten ist, das gibt, wie vorhin gesagt, eine Eins mit 1999982 Nullen. Was ich damit nur verdeutlichen wollte: Man kann sich die Zahl der Jahre, die das Licht braucht, an der Bibliothek entlang zu laufen, ebensowenig vorstellen, wie die Zahl der Bände selbst. Und das zeigt wohl am klarsten, daß es vergebliche Mühe ist, sich von dieser Zahl eine Anschauung zu bilden, obwohl sie endlich ist.«

Der Professor wollte das Papier fortlegen, da sagte Burkel: »Wenn die Damen noch einen Augenblick gestatten, möchte ich bloß noch eine Frage stellen. Ich habe den Verdacht, daß du da eine Bibliothek ausgerechnet hast, für die es in der ganzen Welt keinen Platz gibt.«

»Das werden wir gleich haben«, bemerkte der Professor und fing wieder an zu rechnen. Dann begann er:

»Wenn wir die ganze Bibliothek zusammenpackten, so daß 1000 Bände auf ein Kubikmeter kommen, so würde, um sie zu fassen, der ganze Weltraum bis zu den fernsten uns sichtbaren Nebelflecken so oft genommen werden müssen, daß auch diese Zahl der vollgepackten Welträume nur einige 60 Nullen weniger hätte, als die 1 mit den zwei Millionen Nullen, die unsre Bändezahl angibt. Also, es bleibt dabei – wir kommen auf keine Weise dieser Riesenzahl näher.«

»Siehst du«, sagte Burkel, »ich hatte schon recht, daß sie unerschöpflich ist.«

»Doch nicht. Subtrahiere sie nur von sich selbst, so hast du ›Null‹. Sie ist endlich, sie ist als Begriff fest definiert. Das Überraschende ist nur dies. Wir schreiben mit weniger Ziffern die Zahl der Bände hin, in denen dieses scheinbar Unendliche aller möglichen Literatur verzeichnet steht. Versuchen wir aber, diesen Inhalt nun in unsre Erfahrung aufzunehmen, im einzelnen uns vorzustellen, z. B. wirklich einen solchen Band unsrer Universalbibliothek herauszusuchen, so stehen wir jenem klaren Gebilde unsres eigenen Verstandes wie einem Unendlichen und Unfaßbaren gegenüber.«

Burkel nickte ernsthaft und sprach: »Der Verstand ist unendlich viel größer als das Verständnis.«

»Was ist mit diesem Rätselwort gemeint?« fragte die Hausfrau.

»Ich meine nur, wir können unendlich mehr richtig denken, als wir in der Erfahrung wirklich zu erkennen vermögen. Das Logische ist unendlich mächtiger als das Sinnliche.«

»Die Gesetze geben uns das Vertrauen auf die Wahrheit. Aber nützen können wir sie erst, wenn wir ihre Form mit lebendigem Erfahrungsstoff gefüllt, d. h. wenn wir den Band gefunden haben, den wir aus der Bibliothek brauchen.«

Wallhausen stimmte zu, und seine Frau sprach leise:

»Denn mit den Göttern
Soll sich nicht messen
Irgendein Mensch.
Hebt er sich aufwärts,
Und berührt
Mit dem Scheitel die Sterne,
Nirgends haften dann
Die unsicheren Sohlen,
Und mit ihm spielen
Wolken und Winde.«

»Der große Meister trifft es«, sagte der Professor. »Doch ohne das logische Gesetz gäbe es nichts Sicheres, das uns zu den Sternen und über die Sterne hebt. Nur dürfen wir den festen Boden der Erfahrung nicht verlassen. Nicht in der Universalbibliothek müssen wir suchen, sondern den Band, dessen wir bedürfen, uns selbst herstellen in dauernder, ernster, ehrlicher Arbeit.«

»Der Zufall spielt, die Vernunft schafft«, rief Burkel. »Und deswegen wirst du morgen aufschreiben, was du heute gespielt hast, und ich werde doch meinen Artikel mitnehmen.«

»Den Gefallen kann ich dir tun«, lachte Wallhausen. »Aber das sage ich dir gleich, deine Leser werden meinen, das ist aus einem der überflüssigen Bände. – Was willst du denn, Suse?«

»Ich will etwas Vernünftiges schaffen«, sagte sie gravitätisch, »ich werde die Form mit Stoff erfüllen.«

Und sie füllte die Gläser aufs neue.


 << zurück weiter >>