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9. Kapitel

Die Gäste der Marsbewohner

Als Saltner zum zweiten Mal auf der Insel erwachte, war er nicht wenig erstaunt, sich wieder in einer völlig veränderten Situation zu finden. Das Zimmer war verdunkelt, doch schimmerte die Decke desselben in einem matten Grau, so daß er einigermaßen seine Umgebung erkennen konnte. Er sah sofort, daß er in einen anderen Raum gebracht worden war. Fenster waren nicht vorhanden, und das Rauschen des Meeres vermochte er nicht zu hören. Dagegen sah er in der Nähe seines Bettes mehrere Körbe und Pakete aufgestapelt, in denen er einen Teil aus dem Inhalt der Gondel des untergegangenen Ballons zu erkennen glaubte. Wenn es nur etwas heller gewesen wäre! Aber wie konnte man Licht erhalten?

Er erhob erst vorsichtig seinen Arm, um nicht etwa wieder einen unfreiwilligen Luftsprung zu machen, und als er merkte, daß er sich unter den gewöhnlichen Umständen der Erdschwere befand, setzte er sich mit einem lebhaften Schwung auf den Rand seines Lagers. Und siehe da, in dem Augenblick, in welchem seine Füße den Boden berührten, wurde es hell im Zimmer. An der Decke hatte sich eine weite Oberlichtöffnung gebildet, und die Sonne, nur durch einen leichten Schirm gedämpft, schien fröhlich herein. Er erkannte nun, daß er in der Tat das Eigentum der Expedition vor sich hatte, auch seine sorgfältig gereinigte und getrocknete Kleidung fand er dabei. Und am Boden lag sogar sein Eispickel, den er zu etwaigen Gletscherbesteigungen am Nordpol mitgenommen hatte. Schnell erhob er sich, und schon bei den ersten Schritten, die er auf dem weichen Teppich des Zimmers probierte, fühlte er, daß er sich wieder völlig wohl und bei Kräften befand. Er schob einen Vorhang zu seiner Linken beiseite und sah dahinter verschiedene Geräte, die ihm höchst fremdartig vorkamen, aber doch soviel erraten ließen, daß sie einen Bade-Apparat vorstellten und was sonst zur Toilette eines Martiers gehören mochte. Ehe er sich jedoch getraute, von diesen ihm unbekannten Gegenständen Gebrauch zu machen, untersuchte er erst die übrigen Teile des geräumigen Schlafgemachs. In der Mitte der dem Bett gegenüberliegenden Wand befand sich eine große Tür, die er indessen vorläufig nicht zu öffnen wagte. Er wandte sich nun nach rechts und bemerkte, daß die Täfelung dieser Seitenwand ebenfalls eine Tür enthielt, die aber nicht ganz geschlossen war. Sie führte in ein verdunkeltes Gemach. Als Saltner an dem ihm unbekannten Mechanismus herumtastete, rollte sich die Tür auf und ließ dadurch mehr Licht in das Zimmer. Da erblickte er an der gegenüberliegenden Wand ein Bett genau wie das seinige und erkannte zu seiner unaussprechlichen Freude – Grunthe, der in ruhigem Schlummer lag.

»Guten Morgen, Doktor«, rief Saltner ohne weiteres. »Wie geht's?«

Grunthe schlug verwundert die Augen auf.

»Saltner?« sagte er.

»Hier sind wir, munter und gesund, wer hätte das gedacht! Aber der arme Torm – niemand weiß etwas von ihm!«

»Und wissen Sie denn«, fragte Grunthe, sogleich ermuntert, »wo wir uns befinden?«

»Ich weiß es, aber Sie werden's freilich nicht glauben wollen. Oder haben Sie etwa schon mit dem biedern Hil oder der schönen Se gesprochen?«

»Wir sind in der Gewalt der Nume«, antwortete Grunthe finster. »Sind wir allein?«

»Soviel ich weiß, aber der Teufel traue diesen Maschinerien – wer kann wissen, ob man nicht von irgendwo alles hört und sieht, was hier vorgeht, oder ob nicht irgendein geheimer Phonograph jedes Wort protokolliert. Na, deutsch verstehen sie vorläufig noch nicht.«

»Welche Zeit haben wir? Wie lange war ich bewußtlos?«

»Ja, wenn Sie das nicht wissen! Ich denke, hier gibt es überhaupt keine Zeit.«

»Nun, das wird sich alles bestimmen lassen, wenn wir erst einmal den freien Himmel wiedersehen«, sagte Grunthe. »Aber wie kann man hier Licht machen?«

»Treten Sie gefälligst mit Ihren Füßen auf den Boden vor Ihrem Bett, dann wird es Tag. Wir sind hier im Lande der automatischen Bedienung.«

»Das kann ich nicht, bester Saltner, mein Fuß ist verwundet –«

»I – das wäre – lassen Sie sehen –«

»Es ist nichts, ich bin schon verbunden, aber ich muß vorläufig noch liegen bleiben.«

Saltner war inzwischen an Grunthes Bett geeilt, und in dem Moment, in welchem er den Teppich vor demselben betrat, öffnete sich das Oberlicht.

»Sehen Sie«, rief Saltner, »allmählich lernt man diese Marskniffe. Ich kann übrigens schon etwas martisch und werde Ihnen gleich ein Frühstück bestellen. Erlauben Sie nur, daß ich vorher ein wenig Toilette mache.«

Er eilte nach dem Alkoven, der offenbar als Toilettenzimmer dienen sollte, und stellte sich überlegend vor die Apparate.

»Das da scheint mir eine Badewanne«, sagte er, während Grunthe durch die Tür sein halblautes Selbstgespräch vernahm, »aber Wasser ist nicht darin. Und dies dürfte wohl einen Waschtisch vorstellen. Aber hier sind drei verschiedene Griffe, und jeder hat eine Aufschrift – nur daß ich sie nicht lesen kann. Ich kenn mich halt nicht aus. Na, ich werde mal ein bissel drehen. Vielleicht kommt ein Wasser heraus.«

Er drehte vorsichtig an dem einen Wirbel, in der Meinung, das darunter befindliche flache Becken werde sich auf irgendeine Weise mit Wasser füllen. Aber ehe er sich's versah, sprang das Becken, sich fächerförmig zu einem Tisch ausbreitend, hervor und versetzte ihm einen unhöflichen Schlag gegen den Magen. Mit Hallo sprang er zurück, fand sich aber sofort wieder stolpernd nach vorn geschnellt, denn gleichzeitig hatte sich in seinem Rücken ein Sessel aus dem Fußboden erhoben. Nachdem er sich von seinem ersten Schreck erholt, betrachtete er sich die Sache eingehend, probierte an dem Tisch und Sessel, und da er sie standfest fand, ließ er sich gemütlich auf dem Sessel nieder.

»Was gibt's denn?« fragte Grunthe von seinem Bett aus.

»Ein Wasser war's nicht«, sagte Saltner, »aber es sitzt sich ganz gut hier. Nun wollen wir einmal den zweiten Wirbel probieren.« Doch schnell sprang er wieder auf, er dachte, der zweite Handgriff könne vielleicht dazu dienen Tisch und Sessel wieder verschwinden zu lassen, und bei dieser Gelegenheit wollte er sich erst in Sicherheit bringen. Aber es kam anders. Er erhielt nur von einer aufspringenden Schublade einen Stoß an die Hand. Die Schublade enthielt eine Anzahl jener Mundstücke, deren sich die Martier, wie Saltner wußte, zum Trinken bedienten, und nun bemerkte er auch, daß oberhalb des Tisches drei Öffnungen freigeworden waren, in welche die Mundstücke hineinpaßten.

»Halt«, sagte Saltner, »hier gibt's was zu trinken. Aber damit wollen wir doch noch warten.«

Er drehte an dem dritten Griff. Eine muldenförmige Schale wurde sichtbar, und in dieselbe fielen aus einer darüber befindlichen Öffnung fingerdicke, hellbraune Gegenstände, welche etwa die Gestalt von kleinen Würsten hatten.

»Das ist also ein Frühstück und keine Toilette«, rief Saltner lachend und probierte die sehr einladend aussehenden und würzig duftenden Stangen. Sie schmeckten vorzüglich und erwiesen sich als ein knuspriges Gebäck, das mit einer kräftigen Fleischfarce gefüllt war. Wenigstens hielt Saltner sie dafür. Aber während er die erste Stange verzehrte, setzte der Apparat seine Tätigkeit fort, und Gebäck auf Gebäck fiel in die Schale, die bald bis zum Rand gefüllt war. Das ist zuviel des Segens, dachte Saltner und suchte umher, wie sich wohl der geheimnisvolle Speisequell abstellen ließe. Doch vergebens, der Wirbel selbst ließ sich nicht zurückdrehen – Saltner wußte nicht, daß man zu diesem Zweck erst durch Drehen der Schale den automatischen Spender des Gebäcks abstellen mußte. Einen weiteren Handgriff aber verstand er nicht zu finden, und so quoll ein unstillbarer Strom von Fleischrollen auf die Schale, fiel von dort auf Tisch und Fußboden und begann sich zu einem stattlichen Haufen aufzutürmen. Saltner lief in Verzweiflung hin und her, aber er fand kein Mittel – er wollte die Öffnung nicht mit Gewalt verstopfen. – Schließlich dachte er, der Vorrat muß ja doch einmal ein Ende nehmen, und wollte der Sache ihren Lauf lassen. Er wollte nun die auf der Schale liegenden Stücke fortnehmen, um Grunthe eine Portion zu bringen, dabei merkte er, daß die Schale sich drehen ließ, und auf einmal hörte die weitere Spedition des Gebäcks auf.

Er sammelte die umherliegenden Massen der Delikatesse bis auf einen kleinen Rest und trug sie in Grunthes Zimmer, der bei diesem Anblick und Saltners tragikomischer Miene sich eines Lächelns nicht erwehren konnte. Dort verbarg er sie in einem der leeren Körbe der Expedition, denn auch in Grunthes Gemach hatte man einen Teil der aus der Gondel geretteten Gegenstände geschafft.

»Warum lassen Sie das Zeug nicht einfach liegen?« fragte Grunthe.

»Das geht nicht, ich bin ja sonst unsterblich vor den Damen als dummer Bat blamiert. Übrigens sehne ich mich nach dem Frühstück; aber erst muß ich doch sehen, wo ich ein Waschwasser finde.«

Er drehte der Reihe nach an verschiedenen Griffen, ohne daß er das Gewünschte antraf. Bald sprang ein Schrank auf, der ihm unverständliche Geräte enthielt, bald entzündeten sich Lampen an verschiedenen Stellen des Zimmers. Dann zeigte sich eine Schüssel, und schon hoffte er am Ziel zu sein, aber erschrocken fuhr er zurück, denn die Schüssel begann sich zu erhitzen. Endlich erweiterte sich in der Ecke des Zimmers der Fußboden zu einem flachen Bassin, und ein Springbrunnen sprühte einen Strahl hervor. Vorsichtig überzeugte sich Saltner, ob er es auch wirklich mit Wasser zu tun habe, und war sehr erfreut, als sich seine Vermutung bestätigte. Nun vervollständigte er mit Hilfe seiner wiedergefundenen Reiseeffekten seine Toilette und setzte sich mit Behagen an den Frühstückstisch.

Es war ihm ungewohnt und seltsam, daß das Tischchen so leer war und weder Gläser noch Tassen oder Löffel und Messer enthielt. Das Gebäck wenigstens wollte er auf einen Teller legen und sah sich deshalb nochmals im Zimmer um. Er bemerkte jetzt, daß sich auch ein großer Spiegel im Zimmer befand, neben welchem ein Gestell mit mehreren glänzenden runden Scheiben stand, die er für silberne Teller hielt. Er holte sich einen solchen Teller und legte sein Frühstücksgebäck darauf. Dann ließ er sich das Getränk munden, das die Öffnungen über dem Tischchen bereitwillig spendeten, nachdem er die Mundstücke daran befestigt hatte. Es war eine warme und zwei kalte Flüssigkeiten, die er erhielt und als Schokolade, Wein und Selterswasser bezeichnete, da sie mit diesen Getränken am meisten Ähnlichkeit hatten, obwohl er sich sagte, daß sie sich doch in vieler Hinsicht von den auf der Erde üblichen Genüssen dieser Art unterschieden. Insbesondere die Schokolade war sehr fettreich.

Neu gestärkt trat er in seinem kleidsamen Reiseanzug zu Grunthe ins Zimmer und sagte:

»Ich bin nun bereit, unsere Polarforschung fortzusetzen. Hoffentlich können Sie auch bald mitkommen. Aber ehe wir uns beraten, was wir zu tun haben, will ich doch sehen, ob ich Ihnen nicht ein Getränk verschaffen kann. Sie müssen ja einen grausigen Durst haben.«

»Danke schön«, erwiderte Grunthe lachend, »sehen Sie, was ich habe.« Und er wies auf das Mundstück eines Schlauches hin, das neben seinem Kopf über dem Bett herabhing. »Und hier«, fuhr er fort, »kosten Sie einmal diese Pastete oder was es sonst ist. Ich habe zwar keine Ahnung, wie es eigentlich schmeckt, aber ich fühle mich dadurch wunderbar gestärkt. Wenn mich mein Fuß nicht hinderte, stünde ich sogleich auf.«

»Sakra auch, das lasse ich mir gefallen! Wie haben Sie das entdeckt? Ich habe mich inzwischen abgeschunden, verschiedene Stöße bekommen und das Zimmer in ziemliche Unordnung gebracht. Wie fanden Sie das, es war doch vorhin nicht hier?«

»Einfach durch Nachdenken. Ich sagte mir, die Martier sind viel klüger als wir und jedenfalls viel umsichtiger. Wenn wir nun einen Patienten haben, der nicht gehen kann, so werden wir ihm doch ein Frühstück ans Bett bringen, und wenn wir selbst aus irgendeinem Grund nicht kommen wollen, so werden wir es ihm hinstellen. Ich sah mich also um. Nun betrachten Sie einmal diese beiden kleinen Zettel an diesen Ringen.«

»Das sind ja lateinische Buchstaben!«

»Allerdings. Es sind zwei Wörter der Eskimosprache. ›Misalukpok‹ und ›Imerpok‹. Das eine bezeichnet ›Essen‹ und das andere ›Trinken‹.«

»Warum hat man mir aber nicht auch solche Aufschrift angeklebt? Bei mir sind alle Schilder in einer Zeichenschrift, die jedenfalls martisch ist.«

»Sie verstehen ja nicht Grönländisch.«

»Woher wissen aber die Nume, daß Sie es verstehen?«

»Weil ich mich gestern mit einer – mit jemand darin unterhalten habe.«

»Potztausend, Grunthe, Sie sind mir über! Aber eins begreif ich nicht, wie können die Leute, die Herren Martier, wissen, wie man diese Worte in unsern Buchstaben schreibt?«

»Darüber bin ich mir auch noch nicht klar. Sie sehen, es ist Antiqua, der lateinischen Druckschrift genau nachgemalt. Und mein kleines Wörterbuch ist nicht mehr da, daraus haben sie die Zeichen entnommen. Aber wie sie die richtigen Worte in dem Buch aufgefunden haben, das ist mir ein völliges Rätsel. Denn sie kennen doch nur den Laut der Eskimoworte, aber nicht die gedruckten Zeichen.«

»Es ist eine unheimliche Geschichte«, sagte Saltner. »Aber ein gutes Weiberl ist sie doch, die Se, ich bin halt ganz hin! Wenn ich nur wüßt, warum sich kein Mensch bei uns sehen läßt, kein Nume, wollt ich sagen, denn darauf scheinen sie sich was Großes einzubilden, daß sie keine Menschen sind.«

»Das kann ich Ihnen auch sagen, Saltner. Würden Sie ihren Gästen nachts zwischen drei und vier Uhr einen Besuch machen?«

»Ist das die Uhr? Aber vorhin wußten Sie's ja nicht, und ich denke, am Pol gibt's überhaupt keine Zeit.«

»Eine konventionelle Zeit muß es doch geben. Die Leute müssen doch festsetzen, wann sie schlafen und wann sie zu Mittag essen sollen. Wir also haben zum Beispiel unsere mitteleuropäische Einheitszeit auf unseren Taschenuhren mitgebracht, und danach hätten wir jetzt neun Uhr 55 Minuten vormittags. Als der Ballon scheiterte, war es nach mitteleuropäischer Zeit gegen sechs Uhr abends. Nun weiß ich bloß nicht, ob seitdem ein oder zwei Nächte vergangen sind, denn das hängt von der Länge unserer Ohnmacht und unseres Schlafes ab.«

»Das weiß ich allerdings auch nicht. Ich weiß auch nicht, wann unser erstes Erwachen stattgefunden hat; das Ihrige vermutlich bald nach dem meinigen.«

»Nun, das läßt sich nachher aus der Deklination der Sonne feststellen, welches Datum wir haben. Ich habe meine Uhr auch jetzt erst wieder entdeckt – beide Uhren, und da sie übereinstimmen, sind sie auch nicht stehengeblieben –«

»Nein, ich habe dieselbe Zeit –«

»Ja, aber welche Zeit rechnen die Martier hier? Sehen Sie, das haben sie mir auch mitgeteilt, und daher weiß ich, daß es für sie jetzt Schlafenszeit ist und daß sie erst in vielleicht zwei Stunden aufstehen werden. Deswegen sagte ich, es sei zwischen drei und vier bei unsern Wirten; wie sie die Stunden zählen und benennen, weiß ich allerdings auch nicht.«

»Aber Doktor, woher wissen Sie denn, was bei den Martiern für eine Tageseinteilung Mode ist und was die Glocke bei ihnen geschlagen hat?«

»Glauben Sie wohl, Saltner, in einem Schlafzimmer, das mit allem Komfort der Martier ausgestattet ist, werde eine Uhr fehlen?«

»Ich habe keine gesehen und Sie vorhin auch nicht.«

»Seitdem aber habe ich sie entdeckt. Sehen Sie die Malerei, welche die kreisförmige Öffnung des Oberlichts einschließt? Sie ist in zwölf mal zwölf gleiche Abschnitte geteilt. Und jene schmalen hellen Streifen, die Sie dazwischen sehen, liegen nicht fest, sondern bewegen sich auf dem Ring. Das ist mir erst allmählich klar geworden, als ich während ihrer Toilette hier ruhig lag und in die Höhe starrte. Hier haben Sie die Uhr der Martier.«

»Ich schau sie wohl an, aber klug werd ich nimmer draus.«

»Entziffern kann ich sie auch nicht. Aber sehen Sie, es sind zwei Zettel angesteckt, die offenbar nicht zur Uhr gehören, sondern nur für heute, für uns, eine Nachricht geben. Der eine zeigt ein geschlossenes, der andere ein offenes Auge. Die Deutung ist klar: Schlafen und Wachen.«

»Es ist richtig, und dieser helle Strich –«

»Das ist der Stundenzeiger –«

»Dachte ich mir. Er steht noch ungefähr um ein Zwölftel des ganzen Kreises von dem geöffneten Auge ab.«

»Daher eben schließe ich, daß noch zwei Stunden zirka bis zum Beginn des Erwachens der Martier sind.«

»Aber finden Sie es nicht seltsam, daß die Martier den Tag ebenfalls in zwölf Stunden teilen?«

»Ebenfalls? Wir teilen ihn ja in vierundzwanzig –«

»Nun, das sind zweimal zwölf.«

»Daß die Zwölf wiederkehrt, wundere ich mich gar nicht – ich würde mich wundern, wenn es anders wäre. Es liegt das im Wesen der Zahl, das heißt im Wesen des Bewußtseins überhaupt. Die Gesetze der Mathematik sind die Gesetze der Welt. 12 ist 3 mal 4, die kleinste aller Zahlen, welche die drei ersten Zahlen 2, 3 und 4 zu Teilern besitzt. Alle intelligenten Wesen, welche Mathematik treiben, werden die 12, nächstdem die 60 zur Grundlage ihrer Einteilungen machen.«

»Aber wir haben ja doch die Zehn –«

»Die alte Astronomie wählte die Zwölf – zwölf Zeichen bilden den Tierkreis – die Zehn ist nur ein unwissenschaftlicher Rückfall in die sinnliche Anschauung der zehn Finger – Krämerpolitik –, doch lassen wir das.«

»Meinetwegen«, sagte Saltner. »Aber was tun wir nun? Erst müssen Sie natürlich Ihren Fuß auskurieren.«

»Ich fürchte«, erwiderte Grunthe, »wir werden auch dann nichts anderes tun können, als was die Martier über uns beschließen. Mit der Expedition wird es wohl so ziemlich aus sein. Suchen wir uns inzwischen möglichst mit den Verhältnissen vertraut zu machen. Rekognoszieren Sie ein wenig!«

»Im Zimmer habe ich mich schon umgesehen, und ich möchte nicht noch mehr von den rätselhaften Instrumenten probieren – man kann sich zu leicht blamieren. Ich komme mir vor wie ein Wilder in einem physikalischen Institut, bloß daß unsereiner nicht die nötige Naivität besitzt.«

»Was haben wir denn für Ausgänge?«

»Nur einen aus jedem unserer Zimmer. Ich weiß die Tür nicht zu öffnen. ich glaube, es ist auch schicklicher, wir warten hier, bis man uns aufsucht, als daß ich aufs Ungewisse herumstöbere.«

»Sie haben recht! Vielleicht haben Sie die Güte, unsere Sachen ein wenig zu ordnen, und wenn Sie mein Tagebuch finden, so bitte ich Sie darum. Zunächst müssen wir sehen, daß wir sowohl Torms Eigentum als die offiziellen Aktenstücke der Expedition in Sicherheit bringen.«

»Ich habe schon einiges hier beiseite gelegt«, sagte Saltner, indem er unter den Gegenständen aufräumte, welche die Martier aus der Gondel gerettet hatten. Sie waren zum Teil durch den Sturz und das Meerwasser beschädigt.

»Es wäre mir übrigens gar nicht unangenehm«, fuhr Saltner fort, »wenn noch einiges von unserm Proviant brauchbar wäre. Denn ich traue nicht recht, wie einem dieser Würstchen-Automat hier bekommen wird. Sehen Sie einmal, was die Herrn Nume alles aufgehoben haben! Da haben sie uns ja das Futteral mit den beiden Flaschen Champagner hergelegt, das Sie in der Not als Ballast auf die Insel warfen. ich hab halt gedacht, das würde ihnen die Köpfe zerschlagen und dabei in tausend Trümmer gehen. Aber es scheint ganz unversehrt. Nun, ich will die beiden Monopol nur aus dem Kasten nehmen. Die können wir doch nimmer mit Freude ansehn. Arme Frau Isma!« Er nahm die Flaschen heraus.

»Halt«, sagte er, »da in dem Futter steckt noch ein Paketchen. – Was haben wir denn da?«

Der Verschluß hatte sich gelöst. Ein Buch in der Größe eines Notizkalenders kam zum Vorschein.

»Na«, sagte Saltner, »Frau Isma wird uns doch nicht noch ein Album mitgegeben haben. Sehen Sie doch einmal, Grunthe, was das ist.«

»Was geht das mich an?« sagte Grunthe unwirsch.

Saltner schlug das Buch auf. Er stutzte sichtlich, blätterte darin und sah lange hinein.

»Das ist –«, sagte er dann kopfschüttelnd, »das ist ja – Aber wie ist das möglich?«

Das kleine Buch enthielt ein Wörterverzeichnis der Sprache der Martier; die Worte waren mit Hilfe der Lautzeichen des lateinischen Alphabets transkribiert, daneben befand sich eine deutsche Übersetzung und zugleich das Zeichen des Wortes in der stenographischen Schrift der Martier. Saltner hatte an den wenigen ihm bekannten Worten die Bedeutung des Inhalts erkannt.

»Sagen Sie mir das eine«, fuhr er fort, »mir steht der Verstand still – wie kann ein deutsch-martisches Wörterbuch hierherkommen – wie kann es überhaupt existieren?«

Grunthe streckte sprachlos die Hand aus und ergriff das Buch.

Er warf nur einen Blick hinein. Dann sagte er leise: »Das ist die Handschrift von Ell.«

Grübelnd schloß er die Augen. Das unlösbare Rätsel trat ihm wieder entgegen – wie kam Ell zur Kenntnis der Sprache der Marsbewohner? Und wenn er sie kannte, warum hatte er sich nicht offen ausgesprochen? Warum hatte er nicht ihm oder Torm die Sprachanleitung mitgegeben? Wie kam sie versteckt in das Futteral, unter die Flaschen?

Er wußte keine Antwort.

Saltner hatte inzwischen das Buch ergriffen und suchte sich daraus einige Worte zusammen.

Da hörte er im Nebenzimmer leises Lachen und Stimmen der Martier. Der Arzt Hil war in Saltners Zimmer eingetreten. Se hatte ihn bis an die Tür begleitet und amüsierte sich köstlich über die Unordnung, welche Saltner angestiftet hatte, am meisten aber darüber, daß er bei seinem Frühstück als Teller die – Kämme benutzt hatte. Die flachen Scheiben, welche Saltner für Teller gehalten hatten, dienten den Martiern dazu, das Haar zu ordnen; sie wurden elektrisch geladen und streckten dann die Haare geradlinig vom Kopf ab. »Es ist zu lustig«, lachte Se. »Aber wir wollen ihm jetzt nichts sagen, dem armen ›deutsch Saltner‹.« Darauf zog sie sich wieder zurück. Denn es war ihr zu ›schwer‹ in den Zimmern der Bate.

Hil trat bei Grunthe und Saltner ein.


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