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Der Keim des Planes aber, der längst schon heimlich in ihm trieb und wuchs, war durch die Schilderung des Kolportageromans in ihn gesenkt worden, an jenem Abend der Heimkehr von der Hochzeitsreise, als er Loni seine Lage gestanden hatte. Dort war von der Fälschung eines Sparkassenbuches die Rede gewesen. Und von nun an ließ ihn dieser Gedanke nicht wieder los.

Zwar konnte er das Heft nicht mehr finden; es mußte beim Umzug abhanden gekommen oder zu Frau Roller zurückgewandert sein. Er traute sich auch nicht, danach zu fragen oder genauer zu suchen, denn Loni konnte es durchaus nicht leiden, daß er in ihren Sachen kramte. Aber er entsann sich doch der Darstellung, die er an jenem Abend immer wieder gelesen hatte. Zug um Zug, wie ein mathematisches Problem, baute er seinen Plan auf.

Es war Mitte Februar. Sein Bankkonto war auf vierhundert Mark zusammengeschmolzen. Er durfte keine Stunde mehr verlieren.

*

Am 18. Februar stand in den gelesensten Zeitungen Berlins ein Inserat, in dem eine auswärtige optische Anstalt einen jungen Mechaniker unter günstigen Bedingungen verlangte. Gesuche mit Zeugnissen und sonstigen Ausweisen postlagernd unter angegebener Chiffre.

Als Rolf die ihm am Schalter eingehändigten Briefe in Empfang nahm und öffnete, schlug ihm das Herz vor Freude. Seine Spekulation auf den Leichtsinn derer, die im Kampfe um das Dasein jede, auch noch so oft gepredigte Vorsicht in den Wind schlagen, war nicht umsonst gewesen. Er hielt eine ganze Reihe von Originaldokumenten in der Hand.

Er wählte einen Geburtsschein aus, dessen Datum ungefähr auf ihn paßte; er gehörte einem Wilhelm Große, der Mittenwalder Straße 67 wohnte.

Am selben Mittag erschien Rolf in einer im Norden Berlins, Dalldorfer Straße gelegenen Sparkasse, wies den Geburtsschein vor, bat um Ausstellung eines Sparkassenbuches und zahlte fünf Mark ein. Das Buch wurde anstandslos auf den Namen Wilhelm Große ausgefertigt und ihm eingehändigt.

Auf dem Heimweg kaufte er sich ein Mustersortiment Federn und zwei Fläschchen verschiedener Tinten.

Am Nachmittag desselben Tages saß Rolf, während Loni nebenan schlief, und malte stundenlang die Handschrift der Eintragung und die beiden Namenszüge in der Quittungsspalte nach. Immer wieder wechselte er die Feder, bis er endlich zufrieden war.

Nun griff er zu dem Buch und änderte zunächst auf dem Titelblatt und im Text die flüchtig geschriebene Jahreszahl 1911 in 1910. Es war nichts von der Fälschung zu sehen.

Dann trug er in der Schrift der Buchung, auf die er sich so sorgfältig eingeübt hatte, über den Rest des Jahres 1910 mit den verschiedenen Tinten vier neue Einzahlungen ein, immer mit den beiden Namen als Quittung; abwechselnd löschte er die eine Zeile mit dem Löschblatt und ließ die folgende trocknen. Das Guthaben belief sich jetzt auf 953 Mark.

Lange saß er grübelnd vor seinem Werk. Endlich klappte er das Buch mit einem Aufatmen der Erleichterung zu, verbrannte die Schriftproben sorgfältig in der leeren Küche, nahm die Zeitung zur Hand und schrieb sich eine Anzahl Adressen heraus.

In dieser Nacht, der letzten seines Lebens, in der er nicht der Schuld verfallen war, schlief Rolf von Roem seit langer Zeit zum erstenmal tief und fest bis in den Morgen hinein.

*

In der Oranienstraße stand ein altes, vom Ruß der Großstadt schwarzgefärbtes Haus. Von dem schmalen Hausflur, in dem noch dazu eine Frau ihren Gemüsekram aufgebaut hatte, ging die altmodische Treppe in steilem Anstieg hinauf. An einer Tür des dritten Stocks mit kleinem Guckloch war Salomon Loob zu lesen; darunter: Grundstücke, Hypotheken, Lombard.

Gegen zwölf Uhr mittags des 20. Februars läutete Rolf an dieser Tür. Ob die drei Treppen, ob etwas anderes der Grund war, – in jedem Falle rang er nach Luft.

Durch das ganze Treppenhaus ging ein fauliger, säuerlicher Geruch, der Rolf fast übel werden ließ. Die Wintersonne ließ das bunte Randmuster des Flurfensters aufleuchten.

Lange regte sich nichts. Dann hörte er schlürfende Tritte, eine innere Tür ging auf, ein Auge spähte durch die talergroße, runde Scheibe. Rolf hatte sich mit Absicht abgewandt, er blickte scheinbar gleichgültig zum Hinterflügel hinüber, wo eine Frau keifend ein Kind in einem Waschfaß abseifte.

Vom Hofe herauf klang der Gesang einer weiblichen Stimme:

»Dein blondes Haar ist so weich und lind,
Wie an Sommertagen der Abendwind ...«

Die Stimme schwoll an, in schmerzenden Dissonanzen:

»Deine Augen sind blau, deine Lippen so rot,
Und wer dich küßt, der trinkt sich den Tod ...«

Über Rolf, im vierten Stock, hämmerte ein kleines Mädchen mit beiden Fäusten gegen die Tür und jammerte heulend: »Mutter! Mutter!«

Die Sicherheitskette fiel, zögernd wurde geöffnet. Vor ihm stand ein sechzigjähriger jüdischer Mann, unrasiert, den Schlafrock über dem Nachthemd, um den Hals ein grauwollenes Tuch; an den Füßen trug er perlgestickte, schreiend bunte Pantoffeln, auf der mächtigen, etwas rötlichen Nase funkelte eine Stahlbrille. Mißtrauisch, wie ein Hund schnüffelnd, musterte er den Fremden, ohne die Klinke loszulassen. Erst vor acht Tagen war einer seiner Konkurrenten von einem Unbekannten mit einem Gasschlüssel niedergeschlagen worden, und Salomon Loob war durchaus kein Held in Israel.

Beim Anblick des schwächlichen Rolf schien er seinen Verdacht aufzugeben. Schweigend trat er zurück und ließ ihn ein.

Das Zimmer bescheidener Leute, einer jener Räume, die den Eintretenden mit einem Schlage um fünfzig Jahre zurückversetzen. Die Fenster mit kleinen, gebogenen Spiegelscheiben; alte, schwere Mahagonimöbel, aus der Zeit, als der Großvater die Großmutter nahm, das Sofa und die gepolsterten Stühle mit gehäkelten Schutzdecken. Hinter der Tür ein kleiner Geldschrank, der zugleich als Stehpult diente. An den Wänden unzählige schwarzeingerahmte, teilweise schon unkenntliche Photographien, die die abgeblaßte Tapete fast ganz bedeckten.

»Sie wünschen?« fragte Loob in knappem Geschäftston, ohne Rolf zum Sitzen einzuladen. Dann rief er mit unverkennbarer Absichtlichkeit, als wollte er prinzipiell jedem verbrecherischen Anschlag vorbeugen, laut in das Nebenzimmer: »Rosa!«

»Ja, Vater«, klang es gleichmütig zurück, ohne daß jemand kam.

Rolf war seit dem Augenblick, in dem er dem Alten gegenüberstand, vollständig ruhig geworden. Es kam ihm vor, als sei das, was er sah und hörte, selbstverständlich, als habe er es alles schon einmal erlebt; nur den kleinen Finger der linken Hand fühlte er leicht vibrieren, rasch und unsichtbar, wie die Flügel eines gespießten Insekts. Und sein Beginnen machte ihm jetzt fast Freude, eine heimliche Lust an der Gefahr erfüllte ihn.

»Sie wünschen?« fragte Salomon Loob noch einmal.

Rolf zog umständlich sein Sparkassenbuch aus der Tasche. Er hatte es sauber eingewickelt und einen Bindfaden umgelegt. Langsam löste er ihn, ohne ihn zu zerschneiden oder zu zerreißen, und steckte ihn mit dem Einschlagbogen sorgfältig in die Tasche. Ihm schien, als müsse ihn diese Sparsamkeit in vorteilhaftem Lichte erscheinen lassen; und blitzähnlich stand ihm Raskolnikow vor Augen, wie er genau so vor der alten Pfandleiherin stand, das Mordbeil in der Schlinge unter dem Rock.

»Ich bin Feinmechaniker«, sagte er dabei, »und habe eine gute Stellung nach Jena bekommen, zu Zeiß, die ich am 1. März antreten soll. Ich wohne hier bei meiner Mutter. Wir müssen sofort die Wirtschaft hinüberschicken, dazu brauche ich Geld. Fünfhundert Mark.«

Salomon Loob hatte das Buch aufgeschlagen und musterte durch seine scharfen Gläser die Eintragungen.

»Die alberne Sparkasse zahlt mir das erst nach dreiwöchentlicher Kündigung aus«, setzte Rolf ärgerlich hinzu. »Ich habe es nicht gewußt; wer liest denn den Quatsch, der da vorne steht!«

Es klang einen Hauch zu stark. Der Alte blickte plötzlich hoch.

Langsam stützte er sich mit den dürren Fingern der Linken auf die Tischplatte. »Ich selbst besitze nichts«, antwortete er, durch die Nase schnüffelnd. »Ich will aber mit meinen Leuten sprechen. Lassen Sie das Buch hier. Ich gebe Ihnen Quittung.«

Rolf war grenzenlos enttäuscht. Er fühlte, daß er blaß geworden war. »Wie lange kann das denn dauern?« fragte er mühsam. »Ich muß morgen, spätestens übermorgen hinüber und Wohnung suchen.«

»Bis dahin ist die Sache erledigt«, antwortete Salomon Loob gemessen.

»Um welche Zeit morgen?« fragte Rolf zurück.

»Kommen Sie um ein Uhr heran,« erwiderte Loob, »dann kann ich Ihnen wohl bestimmten Bescheid geben.« Er schien vor Rolfs Drängen von Minute zu Minute zurückhaltender zu werden, in dem Gefühl, den Kunden fest in der Hand zu haben.

»Eine Abschlagszahlung, etwa zweihundert Mark, können Sie nicht machen?« fragte Rolf etwas nervös.

»Bedaure.«

Rolf wandte sich verstimmt zum Gehen.

»Einen Augenblick,« sagte Salomon Loob, »Sie müssen mir ein Akzept geben, für alle Fälle. Außerdem bekomme ich fünfzehn Prozent.«

Rolf hielt es für klug, den unangenehm überraschten zu spielen.

»Fünfzehn Prozent?« erwiderte er, scheinbar sehr entrüstet.

Loob zuckte die Achseln. »Offiziersdamno«, antwortete er nachlässig. Und er schob Rolf ein schon bereitliegendes Wechselformular zu.

Rolf mußte sich genau zeigen lassen, wie er den Sichtwechsel auszufüllen und wohin er seinen Namen zu setzen habe; er hatte noch nie mit Akzepten zu tun gehabt. Auf ein Haar hätte er bei dem Hinundherreden seine richtige Unterschrift gegeben; aber in dem Augenblick, in dem er die Feder ansetzte, besann er sich und schrieb mit ungeübter Hand den Namen Wilhelm Große quer. Er merkte, daß Salomon Loob genau darauf achtete, wie er die Unterschrift gab, und daß er beruhigt war.

»Noch eins«, sagte Loob dann, in immer mehr befehlendem Tone. »Sie müssen mir eine Legitimation bringen.«

Rolf holte den Geburtsschein heraus, den Loob ebenfalls genau studierte. Dann sagte er:

»Das genügt nicht. Papiere werden verloren und gefunden.«

Wieder sank Rolf das Herz. Sollte alles umsonst gewesen sein?

»Was wünschen Sie denn noch?« fragte er, sich mühsam beherrschend.

»Mietsvertrag und Steuerzettel«, erwiderte der Alte bestimmt. »Sonst ist das Geschäft nicht zu machen.«

»Wenn's weiter nichts ist«, antwortete Rolf möglichst unbekümmert. »Die bring' ich Ihnen morgen gern mit. Also um eins?«

»Um eins«, wiederholte Salomon Loob, ihn fast hinausschiebend.

Die Tür schloß sich hinter ihm, klirrend schob sich die Kette vor.

Von dem Schneelicht und Lärm des Verkehrs benommen, stand Rolf draußen auf der Straße, mitten unter den eilenden Fußgängern.

Was nun?

Einen Moment dachte er daran, die Flinte ins Korn zu werfen und alles aufzugeben. Aber im gleichen Augenblick sah er Loni vor sich, mit ihrer rührend schwerfälligen Gestalt. Und er gab sich einen Ruck. War er ein Schwächling, der vor der ersten Schwierigkeit zurückschreckte?

Der Mietskontrakt ...

Haus für Haus musternd, ging er die Straße hinab, in der Richtung auf den Oranienplatz zu. Drüben sah er einen Zigarrenladen mit der Aufschrift: Kgl. Preuß. Stempel-Distribution. Wenige Häuser weiter fand er einen Papierladen.

Er trat hinein und kaufte, um nicht aufzufallen, gleich zehn Normalverträge. Dann ging er am Moritzplatz in eines der dort gelegenen großen Lokale, das jetzt, am Vormittag, einen verödeten Anblick bot, bestellte sich ein Glas Bier und ließ Tinte und Feder bringen. Nochmals prüfte er die Papiere des Mechanikers; »Wilhelm Große, bei Frau Marianne Große, Hinterhaus, vier Treppen«, stand unter dem Bewerbungsbrief. Mit verstellter Handschrift, die die verrostete Feder ihm erleichterte, füllte er sorgsam, Zeile für Zeile den Vertrag aus und setzte neben den Namen Marianne Große einen zweiten, den er einem Likörplakat an der Wand entnahm.

Aber dann stutzte er wieder; es war nicht ausgeschlossen, daß Loob nach dem Eigentümer des Hauses Mittenwalder Straße 67 sah und so den Schwindel merkte. Er forderte das Adreßbuch, stellte den Namen des Wirtes fest und füllte einen zweiten Vertrag mit den richtigen Unterschriften aus.

In dem Zigarrenladen ließ er den Mietskontrakt stempeln; der junge Gehilfe, der während der Tischzeit seinen Chef vertrat, achtete nicht auf das schon ein Jahr zurückliegende, absichtlich undeutlich geschriebene Datum unter dem Vertrag.

Als Rolf den Laden verließ, atmete er auf. Zur Hälfte war seine Aufgabe gelöst. Sein Mut wuchs, er kam sich wie ein Held vor.

Aber das Schwerste lag doch noch vor ihm, der Steuerzettel des Wilhelm Große.

Während er die Oranienstraße wieder hinaufging, dachte er angestrengt nach.

Wie in aller Welt bekam er diesen Steuerzettel in seine Hände?

Sollte er als Beauftragter der optischen Firma zu Wilhelm Große gehen, sich nach seinen Gehaltsansprüchen erkundigen und den Steuerzettel als Beleg für Großes bisherigen Verdienst einfordern? Ganz unmöglich erschien der Weg nicht, obwohl es vielleicht auffallen mußte, daß Rolf den Steuerzettel nach Einsicht einbehalten wollte. Aber nein, – der Mann schrieb ja, daß er im Herbst vom Militär entlassen und seitdem stellenlos sei; er konnte also gar keinen Steuerzettel haben, der seinen bisherigen Lohn auswies. Sollte er auf irgendeinem anderen Wege die Bekanntschaft des Mannes suchen, um ihm den Zettel zu stehlen? Vielleicht war eine Stube bei Großes zu vermieten? Doch zu alledem war die Zeit viel zu knapp; morgen mittag um eins mußte das Papier vorgelegt werden.

Oder war es möglich, sich irgendwie ein Blankoformular zu verschaffen, und es ebenso wie den Mietskontrakt selbst auszufüllen? Etwa durch einen Steuerbeamten? Beamten ...? Das Wort ging Rolf nicht aus dem Kopf ... Ja, wenn er solchen Beamten an der Hand hätte, dann brauchte er gar nicht zu der immerhin bedenklichen Fälschung zu greifen; einer von der Steuer würde ohne Schwierigkeit von Amts wegen den Steuerzettel einfordern können ... Aber traten denn nicht genug falsche Beamte auf, die die Furcht des einfachen Mannes vor der Behörde ausnutzten? ... Wenn er in eigener Person diesen Beamten spielte?

Wohl eine Stunde ging er mechanisch, ohne auch nur eine Spur von dem grimmigen Frost zu empfinden, wie losgelöst von seinem körperlichen Ich durch Straßen und über Plätze, mit aller Kraft seines Geistes grübelnd, planend, verwerfend und wieder anknüpfend.

Und plötzlich blieb er stehen.

Ein Arbeiter rannte gegen ihn, schimpfend, fluchend. Er achtete nicht darauf.

Er war vor Kälte völlig erstarrt, aber er sah seinen Weg vor sich.

Er blickte hoch. Er stand am Halleschen Tor.

In einem Geschäft am Torgebäude kaufte er eine dunkelblaue Dienstmütze mit schwarzsilberner Kokarde, wie Beamte der Steuer sie zu tragen pflegen, in einem anderen einen starken blauen Aktendeckel, den er noch einmal der Länge nach kniffte und in den er die auf sein Inserat eingegangenen Gesuche mit Ausnahme des Großeschen legte. Dann fuhr er bis zur Mittenwalder Straße und stieg in Nummer 67, einem Hause, das dem Salomon Loobs in der Oranienstraße wie ein Ei dem anderen glich, die vier Stockwerke des Hintergebäudes hoch. Unterwegs nahm er aus der großen weißen Papiertüte die Mütze und setzte sie auf; dann steckte er den Hut in die Tüte und legte sie auf das Fensterbrett des halben vierten Stocks.

Oben öffnete ihm eine Frau, offenbar die Mutter. Er fragte nach Große; seine Hoffnung hatte ihn nicht betrogen, der stellenlose Mechaniker war daheim.

Auf den Ruf der Frau kam ein kräftiger Mann von etwa dreiundzwanzig Jahren an die Tür.

Rolf nahm das Aktenstück, das er unter dem Arm hielt, hervor und blätterte darin herum.

»Ich komme von der Steuer«, sagte er dabei, indem er nach Möglichkeit den Beamtenton festzuhalten suchte. »Mit Ihnen stimmt etwas nicht. Ihre Heimatbehörde hat reklamiert. Wie lange sind Sie in Berlin?«

»Ende September bin ich vom Militär los und zu Muttern hergemacht«, antwortete der Mann unruhig, während die Frau von weitem den Verhandlungen mit gespannter Neugier folgte. »Mecklenburger Dragoner, Ludwigslust. Als Unteroffizier zur Reserve entlassen. Ich dachte, ein ordentlicher Mensch, wie ich, kriegt in Berlin jeden Tag Stellung, sonst hätt' ich mich schon vom Kommiß aus umgetan. Aber so einfach ist das nicht.«

Rolf blickte wieder in seine Papiere. »Sie sollen die Steuer vom Oktober ab noch nicht bezahlt haben«, sagte er möglichst bestimmt.

»Das hab' ich doch«, fuhr Große entrüstet hoch. »Ganze sechs Mark, ein Sündengeld, wenn man ohne Brot ist. Da sehen Sie gefälligst noch mal gründlich nach, Herr Inspektor.«

»Wenn das der Fall ist,« erwiderte Rolf herablassender, »so wird es sich schon herausstellen. Irren ist menschlich, auch im staatlichen Dienst. Aber auf eine Unmenge Schreibereien und Laufereien müssen Sie sich doch gefaßt machen. Wenn Sie wenigstens die Steuerquittung oder die Veranlagung hätten, da könnten Sie sich einen Haufen Ärger ersparen.«

»Ich will mal nachsehen«, antwortete Große unsicher. »Ich meine, das müßte alles zusammen in meinem Kasten liegen. Möglich, daß ich es finde.«

Rolf wartete lange, bange Minuten. Als er den Mann mit zwei Blättern in der Hand zurückkommen sah, atmete er auf.

»Hat ihm schon«, sagte Große hochbefriedigt. »Ordnung regiert die Welt. Da sehen Sie, Herr Steuerrat, hier die Veranlagung, und hier die Quittung, Oktober bis Dezember.« Und im Gefühl seines Triumphes blickte er stolz auf den kleinen Rolf herab.

»Da kannst du Gott danken, Willichen«, mischte sich die alte Frau, jetzt mutig geworden, mit gleicher Befriedigung hinein, während Rolf die Papiere sorgfältig prüfte. »Sonst hätten wir am Ende noch einmal berappen können. Der Staat, der nimmt's vom Lebendigen, der denkt auch, doppelt reißt nicht.«

Rolf blickte von den Papieren hoch. »Lassen Sie mir die Belege für einige Tage,« sagte er wohlwollend, »und ich erledige Ihnen die ganze Geschichte. Ich verstehe selbst nicht, wie so etwas vorkommen kann. Aber natürlich, – da oben in Mecklenburg ...«

»Das stimmt, da wachsen die dicksten Kartoffeln«, antwortete Große vergnügt, indem er aus Freude, daß sich die Angelegenheit zu seinen Gunsten aufgeklärt, die Heimat schmählich preisgab. »Aber nun wollen wir erst mal abwarten, ob die Berliner auch schlauer sind.«

»Sie haben die Papiere übermorgen zurück«, erwiderte Rolf, während er sie zwischen die anderen legte und sich zum Gehen wandte. Er tippte mit einem Finger an den Mützenschirm. »'n Morgen!«

»'n Morgen, Herr Rat«, echoten zwei devote Stimmen.

Und Rolf stieg die Treppe hinab.

Im Vorübergehen faßte er die Tüte mit seinem Hut, setzte ihn auf und steckte die Mütze wieder hinein. Er wußte nicht, wie er sie loswerden sollte. Schließlich fuhr er zum Anhalter Bahnhof und gab sie dort als Handgepäck zur Aufbewahrung auf, mit der Absicht, sie niemals abzuholen.

Als er den Bahnhof verlassen hatte, schwankte er fast vor Freude. Das Unmögliche war geglückt.

Mehr Schwierigkeiten als dieses Mal konnten künftig wohl nicht mehr entstehn. Wenn ihm diese »Transaktion«, wie er seine Tat innerlich nannte, in den nächsten zehn Tagen nur fünfmal glückte, konnte er am Ende des Monats dreitausend Mark haben. Ein unerschütterliches Selbstvertrauen erfüllte ihn; es galt, in rascher Folge die Ernte hereinzubringen und sich dann für einige Zeit möglichst wenig in der Öffentlichkeit sehen zu lassen.

In seiner frohen Stimmung, seit langen Monaten wieder einmal aufatmend, kaufte er auf dem Heimweg seiner Loni zu einem Märchenpreise wunderbare Rosen.

*

Am nächsten Tage, Punkt ein Uhr, stand Rolf wieder vor Salomon Loobs Tür in der Oranienstraße, die Steuerbelege und den Mietsvertrag, auf dessen Stempelmarke er ebenfalls die Jahreszahl geändert hatte, in der Tasche.

Er hatte soeben daheim eine böse Viertelstunde durchlebt. Der Schlächter hatte ohne sein Wissen schon wiederholt wegen einer Forderung von über zweihundert Mark gemahnt, dann eine gerichtliche Zahlungsaufforderung erwirkt, die von den beiden Frauen einfach beiseitegelegt worden war. Und heute in aller Frühe erschien der Gerichtsvollzieher. Rolf konnte die Summe nicht mehr entbehren, und nur mit Mühe und Not bewog er den Beamten durch eine Spende, die Pfändung bis zum nächsten Tage zu verschieben.

Aber Loni, die in kürzester Frist ihrer Stunde entgegensehen mußte, war außer sich. Sie tat, als käme eine Pfändung gleich hinter dem Zuchthaus. Warum zahlte denn Rolf die Lumpensumme nicht? Er hatte kein Geld im Hause? Dann gab's doch noch Schecks. Wie, Schecks nahm der Mann nicht, und auf der Bank war auch kein Bargeld? Weshalb sorgte er denn nicht dafür und ließ Papiere verkaufen? Sie mußten doch leben, sie konnten doch keine Kupons futtern! Immer derselbe Schlendrian, dieselbe Rücksichtslosigkeit! Und nur mühsam rettete sich Rolf vor ihren Vorwürfen, indem er versprach, sofort auf der Bank das Nötige zu veranlassen.

Wieder dauerte es eine Ewigkeit, bis ihm bei Salomon Loob geöffnet wurde. Zu seinem Erstaunen sah Rolf den alten Mann heute gänzlich verändert; tadelloser Überrock und weiße Weste, seidener Binder, goldener Kneifer und lackbesetzte Stiefel, – vom Kopf bis zu den Füßen das Urbild des jüdischen Kommerzienrats.

Er ließ Rolf eintreten, nahm die Papiere und sah sie sich mit sichtlicher Genugtuung an. Dann aber sagte er:

»Ich habe meine Geschäftsfreunde gestern verfehlt. Heut um halb zwei treff' ich sie. Kommen Sie nach zwei wieder.«

Es war Rolf ohne weiteres klar, daß Salomon Loob bisher noch gar keinen Schritt in seiner Angelegenheit getan hatte und erst jetzt, wo die gewünschten Unterlagen zur Stelle waren, die Sache in die Hand nahm.

Loob rief: »Rosa!«, seine Tochter, ein dreißigjähriges, verblühtes Mädchen, kam herein, musterte Rolf, als wollte sie einen Steckbrief aufnehmen und empfing vom Vater die strenge Weisung, die Sicherheitskette nicht abzunehmen, ganz gleich, wer komme.

Dann ging er mit Rolf auf die Straße hinab, winkte einem Auto, stieg ein – »Nach der Behrenstraße zu!« – und verschwand im Gewirr der Wagen und elektrischen Bahnen.

Rolf beschloß, die Stunde zu warten. Er würde Loni gegenüber schon eine Ausrede für sein Ausbleiben finden, irgendeine Komplikation beim Verkauf der Papiere auf der Bank.

Langsam ging er die Straße hinauf, jedes Ladenfenster genau studierend, als wollte er sich die Fassons und Preise der Zigarren, Korsetts, Teppiche und hundert anderer Dinge für Lebenszeit einprägen.

Und plötzlich, während er zerstreut vor einem Schuhmacherladen ein Paar blanke Reitstiefel auf gelbpolierten Blöcken betrachtete, überfiel ihn ohne jeden Grund eine sinnlose Angst. War das wahrscheinlich, daß Loob um fünfhundert Mark erst zu verschiedenen Leuten durch ganz Berlin fuhr? Wozu war denn der Geldschrank dicht hinter seiner Tür? Und warum hatte ihn die Tochter so genau gemustert? Lag hier nicht eine Falle?

Doch er beruhigte sich wieder. Wenn er Loob verdächtig gewesen wäre, hätte dieser sich heute nicht so fein gemacht, hätte er ihn einfach an die Luft gesetzt oder glatt verhaften lassen.

Aber ein Rest von Mißtrauen blieb dennoch in ihm; und Rolf beschloß, das Haus in der Oranienstraße im Auge zu behalten.

Er machte kehrt und postierte sich in einem zugigen Hausflur, der Loobschen Wohnung schräg gegenüber.

Allmählich begann ihn der Frost zu schütteln. Es schlug drei Viertel, dann zwei Uhr, von Loob war nichts zu sehn. Ein Viertel, halb, drei Viertel drei. Immer wieder sah Rolf erwartungsvoll die Straßenbahnen und Autos von der Stadt her heransausen, hoffte er Loob drüben vor dem Hause aussteigen zu sehn.

Fünf Minuten vor drei tauchte von der Lindenstraße her ein geschlossenes, gelbes Auto auf. Und mit einer Art Instinkt sagte sich Rolf sofort, daß Loob dort endlich zurückkam.

Das Auto hielt, Salomon Loobs Zylinder blinkte auf. Und schon wollte Rolf den Damm überschreiten und sich ihm anschließen, als er jäh zurückprallte.

Hinter Loob war ein Schutzmann ausgestiegen. Und mit einem Schlage wußte Rolf, daß alles verloren war.

Drüben verschwanden die beiden im Hausflur. Aber einige Frauen, die dort mit kleinen, schmutzigen Kindern auf dem Arm umherstanden, und denen natürlich die Geschäfte ihres Hausgenossen Loob kein Geheimnis waren, erörterten bereits eifrig das Erscheinen der Polizei; andere Frauen kamen hinzu, die Leute blieben auf der Straße stehn, vor dem Tore bildete sich ein Auflauf.

Noch immer stand Rolf auf der anderen Seite der Straße hinter dem geschlossenen Flügel der Haustür. Er wagte sich nicht hinaus. Tausend Möglichkeiten kreuzten sich in seinem Hirn; aber er konnte sich nicht darüber klarwerden, was eigentlich geschehen war.

Endlich sah er zwei Frauen, die sich vor wenigen Minuten der Gruppe drüben angeschlossen hatten, in eifrigem Gespräch die Straße hinuntergehn.

Er mischte sich unter die Fußgänger, wagte sich an der nächsten Kreuzung auf die andere Seite und folgte den Frauen.

Er hörte abgerissene Worte, aus denen er nicht klug wurde. Plötzlich trafen die beiden auf eine dritte, und stehenbleibend, fingen sie an ihr die Neuigkeit zu berichten. Rolf stand wenige Schritte von ihnen, als warte er auf die Straßenbahn. Und aus den tausend Vermutungen und Erinnerungen an frühere Ereignisse, die die Frauen austauschten, und dem, was er selbst wußte, setzte er sich ein Bild der Vorgänge zusammen, das annähernd der Wirklichkeit entsprach.

Salomon Loob hatte wirklich keinen Verdacht geschöpft. Aber Geschäft ist Geschäft! Er war gewohnt, sicher zu gehen. Und so war er denn nach alter Usance, sobald ihm der Wilhelm Große die gewünschten Legitimationen gebracht habe, zur Sparkasse in der Dalldorfer Straße gefahren, um hundert Mark – die höchste Summe, die ohne Kündigung gezahlt wurde – abzuheben und so festzustellen, ob das Buch in Ordnung war.

Auf der Sparkasse erkannte der Beamte mit dem ersten Blick die Fälschung. Ohne mit der Wimper zu zucken, nur mit einem leisen Worte gab er das Buch weiter; dem Salomon Loob erklärte er, daß vor der Zahlung erst die Zinsen berechnet und gutgeschrieben würden.

Und Salomon Loob wartete vor dem Schalter, wartete solange geduldig, bis ihn ein Schutzmann von hinten am Arm faßte und für verhaftet erklärte.

Als er auf der Wache verhört wurde und unter verzweifelter Anrufung des Gottes Zebaoth immer wieder seine Unschuld beteuerte, telephonierte der Wachtmeister an Loobs Revier; die Auskunft, die zurückkam, ließ die Aussage des Verhafteten glaubwürdig erscheinen. Und da man als sicher annahm, daß der vorgebliche Große jetzt, nach halb drei, der Verabredung gemäß sich schon längst wieder bei Loob in der Wohnung eingefunden hatte, gab man diesem den Schutzmann mit, um nunmehr den Richtigen festzunehmen.

Noch immer stand Rolf regungslos an der Haltestelle neben den Frauen. Und jetzt hörte er deutlich die Worte:

»'n frecher Kerl muß das aber sein!«

Langsam, ohne sich umzusehen, entfernte er sich, als ob ihm das Warten auf die Elektrische zu langweilig geworden sei.

Jeden Augenblick glaubte er eine Faust im Nacken zu spüren.

Immer weiter ging er, wie unter einem Alp, ohne zu wissen, wohin ihn seine Füße trugen. Es dämmerte, es wurde Nacht, er merkte es nicht. Endlich blieb er erschöpft stehen. Vor sich erkannte er das Krankenhaus Bethanien. Er sah nach der Uhr, es ging auf sechs.

Völlig abgehetzt, fiel er fast auf eine Bank. Lange saß er so. Und zum erstenmal sah er seiner Tat fest in das Auge.

Er war zum Verbrecher geworden. Eine wahnsinnige Furcht vor der unabwendbaren Vergeltung befiel ihn. Bald lief es wie eisiger Frost, bald wie kochendes Wasser über seinen Rücken; das Herz schien ihm stillzustehn, dann wieder begann es in schweren, schmerzenden Schlägen zu arbeiten. Sein stundenlang vom Winde gepeitschtes Gesicht war wie unter eiserner Maske erstarrt; das linke Knie zitterte ihm in rasender Schnelle, bis er den Absatz fest auf den hartgefrorenen Boden stemmte.

Nicht weit von ihm, auf einer anderen Bank, lachte ein Mädchen an der Seite ihres Schatzes hellauf; und er begriff es nicht, wie es noch Menschen gab, die mit fröhlichen Augen, mit sorglosem Herzen in die Welt blickten.

Er grübelte ... Würden sie ihn finden? Und wenn es geschah, was würde das Nächste sein? Eine Vorladung auf die Polizei, eine Vernehmung auf dem Gericht, oder sofortige Verhaftung? Und würden sie ihn dann wieder nach Hause lassen, zu seiner Loni? Er malte sich das Gefängnis aus, die barschen Beamten, die kalte Brause bei der Aufnahme, die Sträflingskleidung, die kahle, düstere Zelle. Er sah die Gefängniskost vor sich, schauderte in seinem Übelsein vor ihr. Und er begann, sich seine Verteidigung zurechtzulegen, suchte fieberhaft nach Entlastungsgründen, hörte sich dem Staatsanwalt mit dem Brustton der Überzeugung begegnen. Wen sollte er sich als Verteidiger nehmen? Und tat er gut, diesem alles zu gestehen? Oder raubte er ihm hierdurch nicht etwa die Sicherheit, die Suggestion von der Unschuld seines Klienten? Aber andererseits, wenn er schwieg, – durfte er seinen Rechtsbeistand allen Zufällen und Überraschungen der Beweisaufnahme ungewappnet gegenüberlassen? Konnte dann nicht gerade eine Frage dieses ahnungslosen Verteidigers an einen Zeugen das ganze Lügengebäude ins Wanken bringen? War es denn überhaupt denkbar, daß irgendeiner an seiner Schuld zweifelte, die Mär von dem großen Unbekannten, von dem er das Buch erworben haben wollte, glaubte?

Und dann die Schande, die Schande! Sein adliger, untadliger Name, den seine Vorfahren in Ehren, mit Stolz durch das Leben getragen! Der Großvater im schlohweißen Haar! Rolf dachte an Selbstmord, er wollte sich eine Waffe kaufen, jetzt, sofort, ehe das Unheil über ihn hereinbrach ... Nicht durch den Kopf, mit der Gefahr, sich blind zu schießen, nein, mitten ins Herz ... Aber würde er treffen, würde seine Hand nicht zittern bei dem Gedanken an seine Loni, an das Kind?

Es war längst Nacht geworden. Und wieder irrte er stundenlang umher, mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen, immer in dem Gefühl, im nächsten Moment hinzuschlagen. Und nach und nach begann auch sein Geist nachzugeben. Er hörte sich laut vor sich hin sprechen, mit gleitender Zunge, dann wieder in quälenden Pausen nach einem einzigen Worte suchen. Lange Zeit konnte er sich nicht auf den Vornamen seines Großvaters besinnen, dann redete er sich ein, Salomon sei richtig. Schattenhaft, trotz der flimmernden Lichter wie in Nebel gehüllt, tauchte ab und zu das Bild einer Straße vor ihm auf; er wußte, er war tausendmal hier entlang gegangen, und doch glaubte er durch eine ganz fremde Stadt zu wandern, er konnte nicht darauf kommen, wo er denn eigentlich war.

Als es von den Türmen acht schlug, stutzte er mitten im Gehen; Wasser blinkte vor ihm auf, er war am Hafenplatz. Er wandte sich zur Augustabrücke und nahm die elektrische Bahn, die dicht an der Spichernstraße vorbeiführte. Ihm war entsetzlich elend zumute, acht Stunden in der bitteren Kälte, seit frühem Morgen ohne einen Bissen.

Kaum konnte er sich auf dem Perron des Wagens halten; in das Innere wagte er sich nicht, aus Furcht vor der Polizei. Als er bei einer Biegung fast hinuntergeschleudert worden wäre, hörte er die anderen Fahrgäste derbe Bemerkungen über die Jugend von heute austauschen, die sich am liebsten schon am hellen Tage die Nase begoß.

Schweren Herzens schlich er nach Hause. Der Fahrstuhl war nicht in Ordnung; Stufe um Stufe mußte er sich am Geländer die vier Treppen hochziehen. Wie eine schwere Krankheit lag es ihm in den Gliedern. Hastig, als seien die Häscher ihm schon auf den Fersen, öffnete er mit dem Drücker die Tür zur Wohnung.

Überrascht blieb er stehn. Ein Toben, als sei die Hölle los, schlug ihm entgegen. Die Diele war dunkel; aber durch die halboffene Tür des Wohnzimmers sah er Loni, dieselbe Loni, die sich seit Wochen mit ihres Leibes Bürde nur vom Bett zum Stuhl, vom Stuhl zum Diwan schleppte, wie eine Unsinnige um den Tisch herumstürmen, während Frau Roller mit gerötetem Gesicht und glänzenden Augen auf sie einsprach. Ein Stuhl war umgekippt, ein Glas umgeworfen, Karten lagen auf dem Teppich.

Kaum hatte Loni ihn erblickt, als sie eine Zeitung vom Tisch riß, zu ihm stürzte und ihm das Blatt unter die Augen hielt. Aber vor Aufregung zitterten ihr die Hände so, daß er nichts entziffern konnte.

Er nahm ihr die Zeitung aus der Hand und trat an das Licht, während Loni sich erschöpft in einen Sessel warf und nach Luft rang.

Und Rolf von Roem las unter den aus anderen Blättern kurz zusammengestellten Todesfällen: Major a. D. Herbert von Roem, 75 Jahre alt.

Zuerst faßte er die Bedeutung dieser wenigen Worte nicht. Herbert, – richtig, Herbert hieß der Großvater, nicht Salomon; Salomon, das war ja der Jude, der ihn mit Schutzleuten fangen wollte. Warum denn nur? Rolf hatte doch gar kein Geld von ihm bekommen!

Dann, allmählich, wurde es klarer in ihm. Und wieder empfand er, wie schlecht die Not macht; das erste, einzige, was ihn jetzt erfüllte, war das Gefühl unendlicher Erleichterung, überwältigenden Jubels. Gerettet! Gerettet aus Not und Schmach! Er und Loni mit ihm! Weit, weit fort würde er mit ihr gehen, ins Ausland, über See, bis Gras über die Ereignisse dieses unseligen und doch so glücklichen Tages gewachsen war.

Tot! Der Großvater tot! Er konnte sich das in seiner ganzen Tragweite gar nicht vorstellen. Dieser Greis, dessen Wille seine Jugend beherrscht, dessen »Lausbub!« ihm noch in den Ohren klang, für Ewigkeit stumm? Die mächtigen Augen, die ihn so oft in Grund und Boden geblitzt hatten, für immer geschlossen? Er, Rolf von Roem, frei, ohne die Faust des Riesen auf sich, ohne noch einem Menschen auf der Welt Rechenschaft zu schulden, – er der Erbe, im Besitz von Hunderttausenden, aller Sorgen ledig? Wo der Gerichtsvollzieher noch heute morgen in dieser selben Stube stand, wo er mit seiner Forderung von zweihundert und einigen Mark, diesem Trinkgeld, diesem Bettel, sie alle ins äußerste Entsetzen jagte? Nicht zweihundert, – fünfhundert Mark sollte der Mann haben ... Alle Welt wollte er glücklich sehen, ebenso glücklich wie er selbst war! Und er eilte zu Loni, schlang die Arme um sie, vorsichtig, um ihr keinen Schaden zu tun; und unter Tränen des Glücks küßte er ihr blondes Haar.

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