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Berlin ...

Nacht und Sturm. Ein neu einsetzender, lauwarmer Märzregen peitschte den aufgeweichten Boden des Lützowufers und strömte in schmalen Rinnen die Böschung des dunklen, melancholischen Kanals hinab.

Von der Matthäikirche hallten elf lange Schläge; dazwischen, wie fernes Reitersignal, der herrisch ungeduldige Ruf eines vorwärts drängenden Autos. Sonst kein Laut, nur das stoßweise Heulen des Windes, das Rieseln des Regens.

Aber von drüben, aus dem Herzen Berlins, keuchte es trotz der späten Stunde noch immer wie eine riesenhafte, unter Volldampf zitternde Maschine herüber. Endlos reihten sich dort über der hastenden Menge die weißglühenden Kugeln wie schimmernde Perlen im dunklen Haar eines Weibes, warfen unzählige Flammen ihre Lichtflut auf den naßblanken Asphalt; von den Dächern herab blinkten in ruhelos buntem Wechsel grelle, sich in die Augen bohrende Feuerräder auf, kreisten und erloschen wieder; und über allem der rotglühende Himmel, als habe Nero die Brandfackel in das verkommene Rom geschleudert, als würden Sodom und Gomorrha unter Jehovas Zorn in ihren Sünden erstickt.

Am einsam träumenden Kanal eilte, den Kragen des Regenmantels hochgeschlagen, ein kleiner, schmächtiger junger Mann dem Lützowplatz zu.

Plötzlich hörte er leichte, flinke Schritte hinter sich, die sich näherten, ihn erreichten. Auch jetzt hielt er in dem Unwetter die Augen auf den Boden geheftet, um möglichst den Wasserlachen zu entgehen.

Die leichten, flinken Schritte wollten ihn eben überholen, als sie plötzlich stutzten.

»Guten Abend«, sagte eine fröhliche Stimme neben ihm.

Erstaunt blickte er hoch.

Was er zu sehen vermochte, war nicht allzuviel: Ein hochgewachsenes, anscheinend junges Mädchen im langen Regenmantel; Gesicht und Haar verdeckte der breite Hut.

»Nun«, fragte sie mit ihrer klaren, etwas tiefen Stimme. »Du kennst mich wohl nicht mehr?«

Er sah sie mißtrauisch von der Seite an. Er argwöhnte den üblichen Trick eines Mädchens, das Anknüpfung sucht, und wußte nicht recht, wie er sie abweisen sollte.

Sie schritt ruhig neben ihm her, als ob das selbstverständlich wäre. »Nein, bist du aber schwerfällig«, sagte sie endlich in ehrlicher Überzeugung.

»Mein Fräulein,« erwiderte er höflich, »Sie irren sich zweifellos. Ich kenne Sie nicht.«

Noch einige Schritte begleitete sie ihn stumm; dann, unter dem trüben Licht der Laterne, machte sie halt und sah ihm lächelnd in das Gesicht.

Der junge Mann zögerte. »Einen Augenblick, bitte«, sagte er, während er aufmerksam in ihren Zügen forschte. »Blond, schlank, und diese unverkennbaren Augen ... Wahrhaftig, – die Lene!«

»Na also, Rolf«, sagte sie befriedigt. »Ich habe nicht halb so lange gebraucht.«

»Kunststück«, erwiderte er ohne Empfindlichkeit. »Wenn einer noch heute beinah so aussieht, wie vor zehn Jahren.«

Sie warf einen Seitenblick auf ihn. Jetzt erst fiel es ihr auf, wie klein er geblieben war und wie dürftig sich seine Figur trotz des weiten Gummimantels ausnahm. »Herrgott,« sagte sie gutmütig, »das will doch weiter nichts sagen.«

»Nein,« antwortete er, nun doch mit einem leisen Ton der Bitternis, »besonders im Dunkeln nicht. Aber wie groß und schlank bist du geworden«, setzte er langsam wie neidisch hinzu.

Sie reckte sich möglichst hoch. »Ja,« sagte sie vergnügt, im Egoismus des gesunden Menschen, »mir fehlt auch nichts, bis auf das Große Los. Aber macht es dir denn gar keinen Spaß, daß wir uns so durch Zufall treffen?«

»Gewiß, Lene«, erwiderte er, mit ehrlichem Klang in der Stimme. »Nur bin ich einer von denen, die sich im stillen freuen ... ganz vorsichtig, um keine Enttäuschung zu erleben.«

»Enttäuschung!« wiederholte sie entrüstet. »Torheit! Wir alten Freunde und uns enttäuschen! Wir wollen doch nichts voneinander.«

»Nein, das wollen wir nicht«, bestätigte er, ein wenig unsicher.

Schweigend gingen sie einige Schritte nebeneinander her. Wieder rüttelte der Wind an ihren Mänteln, von oben herab begann es noch stärker zu gießen.

»Weißt du was«, sagte Lene plötzlich entschlossen. »Hier auf der Straße, oben und unten klatschnaß, da verliert ja das geduldigste Schaf seine Laune. Hast du Zeit, so komm zu mir; ich koche Kaffee, und wir schwatzen uns aus. Einverstanden?«

Er zögerte einen Moment.

»Hab' keine Angst,« setzte sie spöttisch hinzu, »ich tu' dir nichts.«

»Einverstanden«, sagte er jetzt, mit gutem Humor sich in die Situation findend. »Kochen wir also Kaffee! Halb zwölf, – gerade die richtige Zeit.«

Sie bog mit ihm in die Genthiner Straße ein und machte vor einem der Häuser am Magdeburger Platz halt. Sie schloß auf, ging ihm über den Hausflur und Hof voran und stieg auf einer steilen Treppe des Hinterhauses endlose Stufen hoch, wobei sie ihm mit einem Fünfminutenbrenner leuchtete.

»Leise«, mahnte sie flüsternd.

Aber je vorsichtiger er auftrat, desto widerwilliger krachte jede Stufe.

Als eben das Licht erlosch, machte sie vor einer blechbeschlagenen, braungestrichenen Tür halt, öffnete, schloß wieder hinter ihm zu und ließ ihn im Dunkeln stehn.

»Einen Augenblick«, sagte sie. »Gleich wird's gemütlich.«

Rolf hörte im Zimmer vor ihm etwas rascheln, dann brannte die Lampe. Er trat aus der dumpfen, mit Steinen belegten Küche, in der er stand, zu Lene hinein.

Es war die typische, geschmacklose Mansardenstube des alleinstehenden Mädchens, das sich schlecht und recht durchschlägt; die unvermeidliche rote Plüschgarnitur mit ihren zwei Sesseln und dem unbequemen Sofa, der abgetretene Teppich, wenig größer als der runde Tisch, unter dem er lag, die wollene Tischdecke mit dem Läufer. An der Wand über dem Sofa eine durch rote Bändchen zusammengehaltene Etagere aus Laubsägeholz, auf der sich verstaubte Nippes drängten; rechts und links davon zwei Öldrucke in abgeblättertem Goldrahmen, eine Neapolitanerin und eine Odaliske, beide mit demselben gefrorenen Lächeln auf dem hübschen, dummen Gesicht. In der Ecke, links von der Tür, stand das Bett; über ihm hing, schwarz eingerahmt, ein Holzschnitt, Maria Stuart, Abschied nehmend von ihren Getreuen, darunter eine große Photographie, das Brustbild eines eleganten, bartlosen Herrn mit scharfgeschnittenen Zügen und Monokel im Auge.

Alles war so eng, so ineinandergeschachtelt, daß Lene sich nur mit aller Vorsicht bewegen konnte und Rolf vorsichtshalber an der Tür stehnblieb.

Auch hier war die Luft dumpf, von einem faden, süßlichen Geruch von Wäsche, Seife und Puder durchzogen, der ihm den Kopf benahm. Einen Augenblick blieben seine Augen an dem Eckfenster hängen, das, durch Store und Vorhang hermetisch abgeschlossen, keinen Lichtstrahl der Lampe nach außen durchließ.

Er wollte schon mit einer Frage sein Erstaunen äußern, daß sie ihn so einfach mitten in der Nacht zu sich hinaufschleifen durfte. Aber ihr klarer, froher Blick schloß ihm den Mund. Und plötzlich vergaß er alles über dem seltsamen Zauber, den sie auf ihn auszuüben begann.

Sie hatte im Handumdrehen den Schleier gelöst, den Hut abgelegt, den Regenmantel abgeworfen und alles zum Trocknen in die Küche gebracht. Er sah sie zurückkommen, schlank und doch nicht mager, in weißer Waschbluse und kurzem, grauem Rock mit gleichfarbigem Ledergürtel, das üppige Haar wie von stumpfem Gold, ein wenig in das Aschblonde hinüberspielend, in jener Nuance, die keines Färbers Kunst erreicht. Und schon hatte sie auch ihm Hut, Mantel und Stock abgenommen und hinausgetragen.

Kurz darauf brodelte das Wasser in der Kaffeemaschine, und zwei Tassen standen auf dem Tisch; die eine schwer vergoldet, in geschweiften Formen, aus der Zeit, da der Großvater die Großmutter nahm, mit der Aufschrift: Herzlichen Glückwunsch!, die andere schlicht und glatt, mit dem Vermerk: Bahnhof Stendal. Auf jeder Untertasse lag ein Zinnlöffel.

»Fein, was?« fragte sie stolz. »Und nun laß dich einmal besehn ...« Sie musterte ihn zum erstenmal genau. Freilich, er war kümmerlich genug und glich einem siebzehn-, höchstens achtzehnjährigen Schüler; aber er hatte ein offenes, feines Gesicht, zierliche Hände mit weichen, frauenhaften Bewegungen. Und dann die großen, samtschwarzen, melancholischen Augen ... »Himmel, was hast du für wundervolle Guckerchen, Rolf!« fuhr sie bewundernd fort. »Und du willst noch klagen?«

Er hob die Hand wagerecht, um seine geringe Größe anzudeuten. Es war das der Schmerz seines Lebens; neben so vielem andern, was ihm seine Jugend getrübt, hatte auch dieser Mangel ihn unsicher und ängstlich werden lassen.

»Herrje, was ist denn los?« tröstete sie ihn. »Klein, aber hoho, – was? Auf die Länge kommt es doch schließlich nicht an, wenn nur das Herz warm ist. Du mußt dir mal eine lange Latte als Frau nehmen, sonst stippen deine Jungen mit dem Rockschoß auf den Boden ... Aber du bist gewiß patschenaß?« unterbrach sie sich.

Er sah an seinem hellgrauen Anzug bis zu den Stiefeln hinab. »Nein, danke«, sagte er dann. »Ich vermeide sorgfältig jede Pfütze, um nicht zu ertrinken.«

Sie überhörte die Selbstironie, bückte sich, suchte etwas und kroch schließlich auf allen vieren fast unter das Bett, bis sie zwei schmale Lackschuhchen gefunden hatte.

»Rolf, mach' mal die Augen zu«, sagte sie heiter, in ihrer ihn verblüffenden, unbekümmerten Art. »Wenn ich die Zehen bewege, quietscht es bei mir. Ich kann dir aber nicht helfen, die Küche ist mir zu dunkel und kalt; wenn ich erst eine Beletage habe, klingl' ich der Kammerjungfer und zieh mich in meinem Boudoir um.« Und schon saß sie auf dem Bett, streifte mit raschen Griffen Stiefel und Strümpfe herunter und blickte verliebt auf ihre weißen Füße. »Du sollst doch nicht«, rief sie dann, halb böse, halb geschmeichelt, als sie seinen Blick verstohlen auf sich gerichtet sah. »Aber hübsch, nicht wahr, wie eine Puppe? Sieh nur mal«, setzte sie triumphierend hinzu und hob einen von den kleinen nassen Stiefeln hoch.

Er warf aus seinem Plüschsessel, in dem er fast versank, von neuem einen unruhigen Blick zu ihr hinüber. War das Berechnung oder Harmlosigkeit? Aber auch jetzt zeigte ihr Gesicht so ungeheuchelt freudigen Stolz, daß sein Verdacht sofort wieder verschwand. Alles an ihr atmete gesunde Sinnlichkeit, die Unbefangenheit des Kindes aus dem Volke, das seine eigene, herzhafte Moral hat.

»Soll ich dir helfen?« fragte er plötzlich kühn und beugte sich ungeschickt hinab, um ihre Schuhe zu erhaschen, während sie die nassen Strümpfe zusammenrollte.

»Du, Rolf,« antwortete sie ernst, »das laß gefälligst ein für allemal sein. Gute Freunde, und damit basta. Dummheiten gibt es zwischen uns nicht. Abgemacht?«

Er zögerte, während er ihr Bild in sich hineintrank, wie sie mit ihren straffen, geschmeidigen Gliedern, den schmalen Hüften, der gespannten Brust vor ihm saß. Zwei graubraune, merkwürdig durchsichtige, weitgeschnittene Augen, wie leuchtende Topase, von dunklen Wimpern umrahmt, – Augen, die wohl niemand wieder vergaß, der sie ein einziges Mal gesehn; unter der geraden, schmalen, ein wenig gestutzten Nase ein blutroter Mund, mit ein wenig zu sehr aufgeworfenen Lippen; der Hals, weiß wie Marmor, bog sich in wundervoller Linie zur Brust hinab.

Aber das alles sah Rolf nur wie ein flüchtiges Traumbild. Immer wieder kehrte sein Blick zu dem märchenhaften blonden Haar zurück, glitt darüber hin, sog sich an ihm fest, verlor sich willenlos in ihm ...

»Abgemacht?« wiederholte Lene.

Er fuhr hoch. Wie ein leichtes Bedauern, ein leiser Schmerz durchzog es ihn, als er notgedrungen antwortete:

»Abgemacht.«

Und während sie die trockenen Strümpfe anzog und in die Schuhe schlüpfte, blickte er angestrengt zu der rauchigen Decke mit ihren verblaßten Rosengirlanden auf.

Das Wasser kochte über. Sie eilte hinzu, stürzte die Maschine und goß den Kaffee ein; dann schüttete sie eine braune Tüte auf ihre Untertasse aus und bot ihm den Streuzucker an. »Servietten habe ich allerdings nicht,« plauderte sie dabei, »aber sonst, – Wäsche, das ist mein ganzer Schwarm. Was meinst du wohl, unter zwei, drei Garnituren die Woche tu' ich es nicht; da bin ich stolz darauf, von mir kann jeder essen! Mag's Unsinn sein, ich bilde mir nun mal ein, daß die Leute einem durch die Kleider hindurchsehn können, und da will ich mir nicht die Augen aus dem Kopf schämen. Aber nun mach' doch auch einmal den Mund auf! Wie ist es dir denn ergangen?«

»Darf ich?« fragte er zurück und holte ein silbernes Zigarettenetui heraus, das er ihr anbot.

Sie überlegte einen Augenblick. »Na, gib schon her«, sagte sie. »Ich paffe ganz gern, nur den Rauch kann ich an den Augen nicht vertragen.«

Und schon saß sie wieder wie eine Prinzessin in ihrem Sessel und pustete ab und zu mit ungeheurer Lungenkraft eine riesige Wolke zur Decke empor. »So,« sagte sie zufrieden, »jetzt kannst du loslegen.«

Er machte eine ausweichende Handbewegung, als sei es nicht der Rede wert, von sich zu berichten, und nippte vorsichtig an dem kochenden Kaffee. Er war wütend auf sich, daß er Lene gegenüber den gleichen unbefangenen Ton nicht finden konnte. Dann aber entschloß er sich doch zum Sprechen. »Also,« sagte er, »das weißt du ja ... die Zeit in Schöneberg ...«

»Und du meine erste Liebe«, lachte sie ihn unbefangen an.

Wie ein Blitz stand seine Kindheit vor ihm. Der Großvater, Major a. D. von Roem, im buschigen Schnurrbart, der so silberweiß im roten, wie gegerbten Gesicht des alten Veteranen stand; der alte Recke im Fahrstuhl, seit langen Jahren durch den Rheumatismus gelähmt, zu dem die Regenmonate vor Metz den Keim gelegt, der den Enkel zu sich genommen hatte, als seine Geburt der Mutter das Leben gekostet und der Vater an ihrem Sarge sich erschossen.

Er mochte den Knaben auf seine Art geliebt haben. Aber war es der Gedanke, daß dieser seinen Eltern Unheil gebracht, rief ihm das junge, aufsprießende Menschenkind sein Alter, seine Leiden doppelt ins Gedächtnis. oder wollte er den Knaben mit seiner Weichheit und Unsicherheit, dem Erbteil der Mutter, in rücksichtsloser Energie zum Manne, zu einem echten Roem erziehen, – in jedem Falle erzog er ihn von Jugend an mit eiserner Hand, ohne Aufmunterung, ohne ein freundliches Wort der Anerkennung, ein karges Zeichen der Liebe.

Seine Kindheit stand vor Rolf, und mit ihr das Schreckgespenst seiner Knabenjahre, Fräulein Scholtz, die »Hausdame«, – sie, die in Gegenwart des hilflosen alten Herrn so lieb und süß mit dem Enkel tat, nie über ihn klagte, nie gegen ihn hetzte, und die doch hinten im Knabenzimmer, bei festverschlossenen Türen, ihn für jedes kleine Versehen, jeden harmlosen Knabenstreich so grausam züchtigen konnte, sie selbst schon im Nachtgewand, mit offenem Haar, als ob nichts sie am Zuschlagen hindern sollte. Tief hatte sich dieses offene, flatternde Haar in seine Kindesseele eingeprägt.

Seine Jugend stand vor ihm, und mit ihr ein zehnjähriges Mädel, ein Ziehkind der Waschfrau unten im Keller, das er schon damals, als Elfjähriger, um ihres blonden Haares willen liebte. Wie ein Magnet zog sie ihn an und stieß ihn wieder ab. In ihren graubraunen Kinderaugen glimmte bereits ein leiser Schein des wissenden Weibes, etwas Fremdes, Verbotenes und doch Lockendes, das er in seiner Knabenunschuld mehr ahnte als empfand. Oft flüchtete er sich erschreckt vor ihr, wenn sie ein keckes Wort ihm ins Gesicht schleuderte, das ihm unsäglich frech erschien und das ihr doch wie selbstverständlich über die roten Lippen glitt, oder wenn sie mit den unsauberen Händen prüfend ihre dünnen Waden maß, ihr mageres, nacktes Knie mit Andacht betrachtete. Sie wartete ruhig, ihrer Macht bewußt, bis er sich wieder scheu zu ihr heranschlich; dann stand er doppelt unter ihrem Bann, folgte er ihr stumm durch den Zaun, auf das Feld hinaus, in das Gestrüpp, ließ sich wie toll von ihr küssen und mußte mit heiligen Eiden schwören, daß er sie einstmals heiraten würde. Stundenlang spielte sie so mit ihm, bis die Hunde des Nachbars, die jeden Abend losgelassen wurden, sie beide heimscheuchten.

Ein Sommerabend stand vor ihm, der nie aus seinem Gedächtnis geschwunden war.

Eine neue Familie war zugezogen, mit ihr ein dreizehnjähriger starker Junge, der morgens schon mit Milchaustragen sein Geld verdiente und sich deshalb als ausgewachsenen Mann betrachtete.

Der kam ganz einfach an jenem Abend zu Rolf, stellte ihm hinterlistig ein Bein, so daß er lang in die Nesseln schlug, und sagte kühl: »Die Kleine da, die ist jetzt meine Braut. Und wenn ich dich noch einmal mit ihr seh', dann kannst du dir deine Knochen einzeln zusammensuchen!« Und als Rolf hochfuhr, um seine älteren Rechte tapfer zu verfechten, warf ein kunstgerechter Schlag den schwächlichen Knaben wieder in das Gras.

Aber da war Lene für ihn eingetreten: wie eine Furie ging sie auf den Gegner los. Der ließ sich ruhig puffen und kratzen, gleichmütig pfeifend, die Hände in den Taschen, als ob eine Mücke um ihn herumsumme, bis er sich endlich verächtlich mit den Worten: »Du bist genau so 'n Schaf, wie der da!« abwandte und für immer davontrollte.

Weit vorgebeugt, um seinen Anzug nicht zu beschmutzen, stand der besiegte, beschämte Rolf zur Seite und ließ das Blut aus seiner mißhandelten Nase zu Boden tropfen. Mit einem grenzenlos schmutzigen Taschentuch suchte die kleine Lene ihm zu helfen, zog sie ihm schwarze und rote Streifen durch das Gesicht, bis er wie ein Indianer aussah. »Tut's weh, sehr weh?« fragte sie immer von neuem, und ein merkwürdiges Leuchten stand dabei in ihren Augen.

Dann, als das Blut zu sickern aufhörte, nahm sie ihn mit sich auf das Feld; nie war sie so zärtlich-wild zu ihm gewesen, als an diesem lauen Abend, stundenlang, tief im Schlehdorn versteckt.

Aber ihm war gar wenig nach Liebkosungen zumute; zu tief fühlte er sich durch seine Niederlage gedemütigt. Er wußte auch, er wurde von Fräulein Scholtz erwartet; er hatte sich den ganzen Nachmittag noch nicht sehn lassen, noch keine Schularbeiten gemacht, noch nicht Klavier geübt. Denn er hatte so große Angst gehabt, mit der geschwollenen Nase heimzukehren, daß er bei Lene blieb, bis das Bellen der beiden losgeketteten Doggen nebenan ihn zusammenschauern ließ.

Er sagte ihr, was ihn erwartete.

»Bist du bange?« fragte Lene, neugierig in sein blasses, verängstigtes Gesicht spähend.

Er schwieg.

»Sie schlägt tüchtig?« fragte sie weiter.

Er nickte stumm, mit gepreßtem Herzen.

»Furchtbar toll?«

»Ja«, antwortete er leise, die schmalen Schultern wie fröstelnd zusammenziehend.

»In deiner Stube?«

Wieder nickte er, mit weiten Augen vor sich hin starrend.

Sie schwieg eine Weile. Dann hastig, dringend, sagte sie:

»Du, ich höre von draußen zu, – ja?«

»Warum denn?« fragte er mechanisch zurück.

Sie schmiegte sich mit ihren hageren Gliedern eng an ihn, im Schatten des sinkenden Abends. »Wenn ich dich schreien höre, dann hab' ich dich lieb«, sagte sie mit heißer Stimme.

Schritt für Schritt näherten sie sich dem Hause, sie vorwärts hastend, er immer zögernder.

Plötzlich wandte sie sich wieder zu ihm zurück.

»Brüllst du sehr?« fragte sie gierig.

Sein Heldentum erwachte in ihm. »Nein«, antwortete er fest.

Einen Augenblick stand sie überlegend vor ihm. Und plötzlich flüsterte sie ihm mit brennenden Augen in das Ohr: »Du, Rolf, meine Mutter hat einer totgeschlagen, – ich weiß auch wer!«

Er blickte sie ungläubig an.

Wie ein Schleier lag es jetzt über ihren starren, weitgeöffneten Augen, langsam schob sich der spitze Unterkiefer vor. »Wahrhaftig,« beteuerte sie, »du kannst es mir glauben. Aber ich darf es keinem erzählen.« Sie schlang den dünnen Arm um seinen Hals. »Schrei doch,« bat sie noch einmal, »dann freue ich mich und grusele mich, und das ist so schön, – recht laut, ja?«

Aber er hatte doch nicht geschrien, nachdem das lange, bange Abendbrot vorbei war, bei dem die Scholtz ihn doppelt herzlich behandelt, keinen Laut von seinen Sünden verraten hatte, und nur ab und zu ein glitzernder Blick aus ihren boshaften Augen ihm die letzte Hoffnung auf Verzeihung geraubt.

Nein, er hatte nicht geschrien, hatte das Gesicht trotz der wehen Nase tief in das Sofapolster gedrückt, denn er wußte nur zu gut, daß jeder Laut die Zahl der Hiebe verdoppelte.

Und jetzt, nach zehn Jahren, saß er dieser kleinen Lene von einst wieder gegenüber.

Er richtete sich auf. »Wie ist es dir denn ergangen. Lene?« fragte er.

Sie stutzte einen Moment. Dann zuckte sie gleichmütig die Achseln. »Zwanzig Jahre, gesund, noch immer ledig. Das ist alles.«

»Und –« Er wagte erst nicht zu fragen, aber er zwang sich in einem ihm selbst unbewußten Gefühl der Eifersucht mutig dazu: »Und manchen Sturm erlebt?«

Sie blickte ihn ohne eine Spur von Verlegenheit an. »Nichts zu machen«, antwortete sie dann gelassen. »Einen guten Freund hab' ich mal gehabt, einen Studenten der Chemie. Jetzt ist er in seiner Heimat angestellt, in Königsberg. Aber was das betrifft, da hätte er schon ein Haus weitergehn müssen.«

Ein Mißtrauen stieg in Rolf auf, in dieser kleinen, abgeschlossenen, wie von dem Duft ihres jungen Leibes erfüllten Dachstube. Aber wieder zwang er vor ihrer sicheren Haltung seinen Zweifel nieder. Er wollte an sie glauben, er wußte selbst nicht, warum. Nachdenklich sah er sie an; wie eine goldgesponnene Krone schimmerte ihr Blondhaar im Schein der Lampe.

Es war, als ob sie seine Gedanken erriet. »Ich bin ein anständiges Mädel«, fuhr sie mit Nachdruck fort. »Ich hab' zu viel in meiner Kindheit gesehn. Nicht einen Pfennig hab' ich je von einem genommen, nicht mal von meinem Freunde. Ein lieber Kerl das, – Herrgott, was haben wir manchmal gelacht! So oft er einen Brummschädel hatte, schrie er nach ???H2O; schließlich habe ich ihn nur noch H2O genannt.

Ihre klangvolle, liefe, immer gleichförmig plaudernde Stimme lullte ihn förmlich ein. Es tat ihm so wohl, ihm, der seit seinem zwölften Jahr in der Fremde herumgestoßen, von den Kameraden geneckt, von den Mädchen verachtet worden war, endlich einmal um seiner selbst willen freundlich aufgenommen zu werden. Ihm war, als sei er nie von Lene getrennt gewesen, als lebe er schon seit Jahren in dieser Mansardenkammer, in die kein Laut der Außenwelt drang, in der niemand ihn verspottete und zurückstieß, die ihm wie ein Hafen nach langer, beschwerlicher Seefahrt erschien.

Tiefer schmiegte er sich in seinen Sessel. Zum erstenmal seit langer Zeit fühlte er sich restlos glücklich. Und zugleich durchrieselte ihn der Wunsch, immer so hindämmern zu dürfen, ohne Willen, ohne Schmerz, wie im Haschischrausch.

Er erwachte von ihrem Schweigen. Er hatte kaum gehört, was sie gesagt, und den Faden ganz verloren. »Wie ist das damals eigentlich mit deiner Mutter gekommen?« fragte er, mehr um zu sprechen, als aus Interesse.

Sie zögerte. »Soll ich dir das erzählen?« fragte sie. »Aber das ist eine furchtbar lange Geschichte.«

»Das tut nichts«, antwortete er. »Je länger, desto lieber. Aber du bist gewiß müde.«

»Gott bewahre«, erwiderte sie. »Ich schlafe nachmittags meine vollen vier Stunden. Ich bin doch am Mascotte-Theater, im Ballett.«

Er sah erschreckt auf. »Im Ballett?« wiederholte er mit enttäuschter Stimme.

»Na ja«, antwortete sie etwas gekränkt. »Unsereins muß doch auch leben, und wozu bin ich denn so gewachsen? Meine Pflegemutter wollte mich als Jungfer ausbilden, aber da hab' ich schön gedankt. Bei uns, da kann man im Handumdrehen sein Glück machen. Und du brauchst nicht etwa zu denken, daß es da nur liederliche Mädel gibt. Keine Spur, sag' ich dir, – die sind nicht so dumm, die fallen zuallerletzt auf euch Männer 'rein ...«

Sie brach jäh ab, als sie seine großen, dunklen Augen noch immer vorwurfsvoll an ihr haften sah. In dieser einen Sekunde glitt auch ihr ganzes, junges Leben schattenhaft an ihr vorüber. Und zornig schloß sie:

»Du kannst mich ja das nächste Mal schneiden, wenn ich dir nicht gut genug bin.«

Er schüttelte stumm den Kopf. Im Ballett ...! Ihm war so weh, daß er mit beiden Händen sich an den Sessel klammerte, um sich aufrecht zu halten. Am liebsten hätte er sich vor ihr hingeworfen, den Kopf in ihren Schoß vergraben, sich bei ihr ausgeweint; aber zugleich zitterte er bei dem Gedanken, daß sie ihn an die Luft setzen könnte. Was war denn nur mit ihm los? Wie kam er denn überhaupt dazu, sich ein Urteil über ihr Tun und Lassen anzumaßen? Sie mußte ihn ja für verrückt halten. Er verstand sich selbst nicht; er hatte sich sicher heute bei dem Wetter erkältet, ein Fieber saß ihm in den Knochen. Und zu alledem zürnte sie nun noch mit ihm ...

Er blickte angstvoll zu ihr hinüber, in ihr Gesicht, das keinen Unmut mehr zeigte. Und wie ein Stein fiel es ihm vom Herzen. Er atmete auf.

»Nun, und du, Rolf?« hörte er sie wie aus der Ferne fragen.

Er raffte sich zusammen. Er schwieg einen Moment, die Augen wie traumverloren auf die häßliche Tapete geheftet. Und plötzlich stieg es in ihm auf, brach es aus ihm heraus, unaufhaltsam, das ganze Weh des Menschen, dem keine Sonne das Leben erhellt, der stets nach Liebe gehungert und doch zu stolz zum Betteln gewesen war.

»Ich?« fragte er erregt zurück. »Du lieber Gott, – die alte Tragödie des elternlosen Kindes! Als diese Bestie, diese Scholtz, es satt hatte, mich bei jeder Gelegenheit wie einen Hund zu prügeln, gaben sie mich fort. Von einer Pension in die andere, vom Oberlehrer zum Pfarrer, vom Pfarrer zum Oberlehrer. Dann, als sie mich auf dem Gymnasium nicht mehr haben wollten, das Alumnat, endlich das Abiturium vor der Kommission, – vorigen Herbst vergeblich, dann, vor drei Wochen ist's mir geglückt, wie, weiß ich selbst nicht. Seitdem bin ich hier in Berlin und will Jura studieren.«

»Lebt denn der Major noch?« fragte Lene.

»Aber gewiß doch«, antwortete Rolf. »Vierundsiebzig Jahre ist er jetzt alt.«

»Und du stehst dich mit ihm?«

»Mein Großvater ist nicht schlecht,« antwortete er zögernd, »wenn auch ein Sonderling, durch seine Lähmung verbittert. Aber die Scholtz, die noch immer bei ihm ist, mit der kann ich nicht fünf Minuten zusammen sein, ohne daß wir uns beinah prügeln. Die gönnt mir auch heute noch nicht das trockene Brot. Gott sei Dank, daß ich wenigstens von niemand abhängig bin.«

»Wieso?« fragte Lene.

»Ich habe Geld«, erwiderte er stolz.

Lene wurde aufmerksam. »Viel?« fragte sie neugierig.

»Ziemlich«, antwortete er, plötzlich ausweichend.

»Sag' doch«, drängte sie ihn. »Mich interessiert das ja, wie es dir geht. Fünf-, zehntausend?«

»So ungefähr«, entgegnete er in gleichem Tone. Er wußte selbst nicht, warum er mit der Wahrheit zurückhielt.

Sie schlug die Hände zusammen. »Da werden dich aber die Mädel liebhaben«, sagte sie.

Er schüttelte den Kopf, ohne etwas zu sagen.

Ihre Augen weiteten sich in jähem Verständnis.

Sein Blick blieb fest in die vor ihm stehende Tasse geheftet, als lese er aus dem Kaffeesatz allerlei Geheimnisvolles heraus. Dann sah er scheu zu ihr hinüber.

»Guck' mich doch an«, sagte er mit tonloser Stimme. »Ich bin kein Narr. Wer soll mich Jammerkerl denn lieben? Und für Geld –« Er brach kurz ab.

»Niemals?« fragte sie mit ungläubiger Stimme.

Seine Hand machte eine Bewegung, als schiebe er etwas unsäglich Peinliches von sich fort. Er fühlte sich wie zerschlagen von dem Wiederaufleben alles dessen, was er so lange fest in sich verschlossen.

»Herrgott«, sagte sie in grenzenlosem Erstaunen. »Gibt's denn so etwas wirklich?«

Noch immer sah er sie nicht an. Stärker als zuvor hatte ihn das Weh gepackt, jetzt, wo er wider seinen Willen dem blühenden Geschöpf dort drüben das ganze Leid seiner einsamen Jugend verraten hatte. Ein Druck lastete auf ihm, als habe er dem Liebsten auf der Welt seine Schande offenbart.

Sie stand neben ihm, die Hand in sein dichtes braunes Haar vergraben. »Du armer Kerl«, sagte sie halb gerührt, halb überlegen. »Pass' auf, du wirst schon wieder lustig werden. Wenn ich zehntausend Mark hätte, ich stellte die ganze Welt auf den Kopf.«

Er sah in ihre graubraunen, fröhlichen Augen hinein. Und ein Gefühl unendlicher Dankbarkeit ließ die Tränen in ihm aufsteigen. Alle die Jahre, die ihn zum ängstlichen, verschlossenen, verbitterten Menschen gemacht, schwanden in diesem Augenblick wie ausgelöscht aus seinem Herzen. In dem elenden Stübchen dieses Mädchens, vor ihrem lebensprühenden Reiz blühte mit einem Schlage der Frühling in ihm auf, sprang unter dem Sonnenstrahl ihres Mitleids die Eisesrinde, die seine Brust so lange umklammert hatte. Ganz still saß er da, als fürchtete er das Märchenglück durch eine Bewegung zu verscheuchen; dann aber warf er plötzlich die Arme auf den Tisch, senkte die Stirn und schluchzte, schluchzte so haltlos, so schmerzdurchwühlt, wie noch nie in seinem ganzen Leben. Und aus der Tiefe des Wehs rang sich der glühende Wunsch in ihm auf, sich an dieses erste, einzige Herz zu halten, das ihm Freundschaft geboten, ihm wieder Mut und Vertrauen gegeben ...

Während er so in heißen Tränen seine arme, zermarterte Seele vor ihr bloßlegte, blieb sie stumm neben ihm stehen. In ihren Augen lag jetzt ein stahlharter Glanz; und hinter der klaren, offenen Stirn summte es unablässig:

Zehntausend Mark ...

Sie konnte die Riesensumme nicht fassen.

Er hob den Kopf, unwillig über sich selbst. »Verzeih mir«, sagte er, mit verschleierten Augen zu ihr aufsehend. »Diese entsetzlichen Nerven! Also auf gute Freundschaft, Lene?«

Sie schlug fest und kräftig in seine kleine, schmale Hand. Einen Augenblick blieben sie so vereint, sah er mit demütig-dankbarem Blick ihr in das hübsche Gesicht ... Mit dankbarem Blick, der nicht in die Zukunft drang, nichts sah von dem langen, dunklen Wege vor ihm, auf dem er in dieser Stunde des Glücks den ersten Schritt tat, der Not, der Schande entgegen.

»Hör' einmal, Rolf,« sagte Lene hastig, als wollte sie so rasch als möglich die feierliche Stimmung abschütteln, »ich heiße ja nun mal Lene. Gott sei's geklagt, – ausgerechnet Helene. Aber tu mir den einzigen Gefallen, – ich höre es gern, wenn man mich Loni nennt. Loni, das klingt so apart, so vornehm, findest du nicht? Ich hab' nämlich mal einen Roman gelesen, mindestens hundert Hefte, in dem kam eine Gräfin Loni vor, eine richtige Reichsgräfin, und die hat mich immerzu an mich erinnert.«

»Wieso denn?« fragte er zurück; er hatte seine Freude daran, sie reden zu hören und still zu betrachten.

»Die war nämlich katholisch und furchtbar fromm und ist Nonne geworden. Später aber nahm sie sich doch einen Geliebten, einen edlen Ritter, von Falkenburg hieß er. Der ist dann in der Türkei gefallen, und dann hat sie ein Kind bekommen und wurde lebendig eingemauert.«

»Und das hat dich an dich erinnert?« fragte Rolf lächelnd.

»Ja, weißt du,« antwortete sie eifrig, »die hatte auch solches schönes Haar und eine so feine Haut. Sieh nur mal!« Und sie hielt ihm ihren Arm unters Gesicht.

Er sah auf den weißen, mit goldenen Flimmerhärchen besetzten Arm herab, den der kurze Ärmel frei ließ. Und seinen ganzen Mut zusammenraffend, küßte er ihn mit bebenden Lippen.

Sie wich zurück. »Hübsch hingesetzt und artig geblieben«, sagte sie. »Wort ist Wort!«

Er schwieg verlegen. Dann zog er die Uhr. »Halb drei«, sagte er erschreckt. »Das ist ja unglaublich. Nun mache ich aber, Lene, – pardon, Loni, daß ich fortkomme. Und tausend Dank für den wunderschönen Abend.«

Sie war gerade dabei, den letzten Rest des kalten Kaffees behutsam, um nicht den Satz in den Mund zu bekommen, auszutrinken. Jetzt setzte sie die Tasse ab und trat an das Fenster, dessen Vorhang sie etwas zur Seite schob.

»Puh,« sagte sie bedauernd, »das gießt noch wie mit Mollen. Keinen Hund würde man bei solchem Wetter hinausjagen.« Sie wandte sich zu ihm zurück. »Ja, Rolf, da gibt es nur eins. Alte Freunde brauchen sich nicht zu genieren. Also geh du nur hübsch artig da ins Bett, ich lege mich auf das Sofa.«

Überrascht machte er eine Bewegung der Abwehr. Wieder kroch ein leises Mißtrauen in ihm hoch.

Sie hatte sein Erstaunen bemerkt. »Findest du etwas dabei?« fragte sie naiv.

»Was würde wohl deine Wirtin dazu sagen?« erwiderte er.

»Die?« lachte sie auf, »das ist ja noch immer die gute Seele, – meine Pflegemutter, die Roller. Wenn ich der morgen sage, daß du hier warst, schlägt sie die Hände überm Kopf zusammen.«

»Ja, aber –«, wandte er noch einmal ein. »Schließlich sind wir doch beide zehn Jahre älter geworden.«

Loni richtete sich auf. »Keine Sorge,« antwortete sie bestimmt, »die alte Roller weiß schon, was sie an mir hat. ›Loni‹, sagt die immer, ›so was, wie du, das gibt es einfach nicht wieder.‹ Vor der brauchst du keine Manschetten zu haben. Oder denkst du vielleicht, ich beiße dich?«

Er fügte sich, er mußte sich fügen; er fühlte, wie diesem frischen, energisch zugreifenden Mädchen gegenüber sein Wille versagte. Und er versuchte nur, ihr das gewohnte Lager zu überlassen.

»Du kommst hierhin«, entschied sie und trug die rote Steppdecke und ein Kopfkissen zum Sofa hinüber. »Auf dem Dings da kannst du nicht schlafen. Das muß man verstehen, sonst wird man seekrank und kullert alle fünf Minuten 'runter.«

Er gab endgültig nach; und während sie das Sofa zurechtmachte, legte er hastig die Oberkleidung ab und glitt in das Bett. Behaglich sich in den Kissen dehnend, blickte er zu ihr hinüber, um ihr gute Nacht zu wünschen.

Mit einemmal blieb ihm das Herz fast stehen.

Sie hatte ihr Haar gelöst und kämmte es sorgsam durch. Wie rieselnder Goldregen umschleierte es sie, weich und glänzend, tief auf die Hüften hinab.

»Loni, dein Haar!« stammelte er, mit weit aufgerissenen Augen.

»Ja,« antwortete sie, ohne Koketterie, »dafür hat die Mutter gesorgt. Die kennt allerlei Mittel. Sie ließ mich immer die Sehnen vom Rindfleisch essen, davon soll es so schön werden.«

Sie hatte ihr Haar geflochten und löschte das Licht. »Fertig?« fragte sie. »Gute Nacht, kleiner Rolf.«

»Gute Nacht, Loni«, antwortete er befangen durch die Dunkelheit.

Er hörte Röcke rascheln, das Sofa krachen, dann war es still.

»Schnarchst du?« fragte sie plötzlich.

»Ich glaube ja«, antwortete er ehrlich.

»Dann warte noch einen Moment. Ich bin gleich weg. Und dann kannst du meinetwegen Bretter sägen.«

Und schon mit verschlafener Stimme setzte sie hinzu:

»Der schnarchte auch, der H2O.«

Kurz darauf hörte er ihre tiefen Atemzüge.

Schlaflos lag er in den Kissen. Zum erstenmal hatte das Lächeln eines Weibes ihm in das Herz geschienen. In dunkler Nacht malte er sich aus, wie er als Fürst ihr alle Schätze der Welt zu Füßen legte, wie er als Krieger sein Leben wagte ... Immer wieder schuf seine Phantasie neue, kühnere Bilder. Wenn er aufstände, unhörbar, wenn er lautlos über den Boden kröche, den Duft ihres Haares zu atmen? Wie ein Rätsel stand sie ihm vor Augen. War sie wirklich rein und keusch geblieben, sie, das Kind der Weltstadt, in der gewaltigen Symphonie der Liebe, die Nacht für Nacht unter rotflammendem Himmel in verwirrenden Klängen aufjubelte? Rein geblieben im Sumpfe der Bühne, wo jeden Abend Hunderte von Augen sich auf sie hefteten, Hunderte sich an ihr weideten, sie zur Beute zu gewinnen suchten? Oder spottete sie seiner, lachte sie dort drüben im Traume über den Narren, der das vor ihm schwebende Glück nicht zu fassen wagte, über den Knaben, der noch nicht zum Manne erwacht war? Warum hatte sie ihn festgehalten? Wollte sie ihn in Versuchung führen, in dieser engen, verschwiegenen, von ihrem Atem erfüllten Kammer, beide fast Leib an Leib? Würde sie ihn nicht verachten, ihm für immer die Tür verschließen, wenn er jetzt, wie ein geprügelter Hund, sich ihrem Wunsche fügte, der gar nicht ernst gemeint war, nicht ernst gemeint sein konnte? Was würde sie tun, wenn sie ihn an ihrem Lager ertappte? Ihn lachend abwehren, mit der Kraft ihrer weißen, starken Arme? Ihn niederschlagen und im grauenden Morgen hinausjagen? Oder würde sie ihn, vom Schlafe heiß, an sich ziehen, mit willigen Gliedern, mit leisem Spott auf den roten Lippen?

Aber er scheuchte die Versuchung gewaltsam von sich fort. Er hatte sein Wort gegeben, ihr ein Freund, nichts weiter zu sein, – er wollte es halten. Und doch warf er sich ruhelos hin und her, wie gepeinigt von dem Duft der Kissen, in denen sie geruht, malte er sich Zoll für Zoll den samtenen Mädchenleib aus, der ihm versagt blieb. Und vor seinen geschlossenen Augen wogte es in goldflimmernder Flut gegen ihn heran, blonde Flechten, blonde Wellen, blonde Schlingen ...

Erst spät schlief er ein.

Als er aufwachte, schlug die Uhr neun. Die Sonne lachte hell durch das jetzt freie Fenster in das kleine Zimmer hinein. Loni stand, schon fix und fertig angekleidet, vor einem Stuhl.

»Gut geschlafen?« fragte sie vergnügt, als er sich aufrichtete.

Er dankte. In der Ernüchterung des Morgens wurmte es ihn, daß sie ihm zuvorgekommen war und er sich vor ihren Augen anziehen sollte; er wünschte schon in seinem Stübchen zu sein, das er sich am Bahnhof Tiergarten gemietet hatte, und gründlich Toilette machen zu können.

»Du, Rolf, viel Zeit haben wir nicht«, mahnte Loni, während der Spiritusdampf der Kaffeemaschine wieder durch das Zimmer zog. »Ich muß um zehn zur Probe sein. Die neue Komödie steigt nächste Woche. Ein furchtbarer Quatsch, sag' ich dir, aber zweihundert hübsche Beine, die reißen den größten Blödsinn heraus. Dalli, dalli, – ich seh' dir schon nichts ab.«

Es gab ihm einen Stich ins Herz, – wieder das alte Lied. Sie nahmen ihn nie für voll, die Frauen, hatten im besten Falle nur Mitleid mit ihm. Und auch Loni machte keine Ausnahme. Freundschaft hatte sie ihm geboten ... Er mochte keine blasse Freundschaft, wo anderen rot die Liebe blühte, wollte nicht Steine statt Brot ...

Hastig zog er sich an, während sie ihm den Rücken zukehrte, in ihren Kaffee blies und kräftig in eine trockene Schrippe biß.

»Waschen mußt du dich zu Hause«, sagte sie mitten im Kauen. »›Wenn zwei sich an demselben Handtuch abtrocknen,‹ sagt die Mutter, ›dann gibt das Streit.‹«

Er war fertig. Er zog ein Notizbuch. »Genthiner Straße Nummer ...?« fragte er.

»Vierundvierzig«, antwortete sie.

»Vierundvierzig,« notierte er, »fünf Treppen ...«

»Fünf?« gab sie entrüstet zurück. »Mein Lieber, du bist wohl aus Krojanke? Erdgeschoß und Hochparterre rechnen hierzulande nicht, – drei Treppen, wenn ich bitten darf. Mehr gibt es in Berlin überhaupt nicht mehr. Je höher die Häuser, desto weniger Etagen.«

»Gut,« fügte er sich, »drei Treppen über dem Hochparterre. Bei Frau Roller. Wo steckt die denn eigentlich?«

»Die Mutter?« fragte Loni zurück. »Die wäscht doch. Die zittert schon jeden Morgen vor sieben los.«

Er wollte das Buch einstecken, hielt jedoch ein und fragte unsicher: »Und ... sei mir nicht böse, aber wie heißt du eigentlich?«

»Na, du bist gut«, antwortete sie, leicht pikiert. »Noch immer Reiß.«

»Richtig«, sagte Rolf. »Ich wußte, es war etwas, das in die Suppe kommt. Aber es konnten doch auch Graupen oder Nudeln sein.«

»Selbst 'ne Nudel«, erwiderte sie, sichtlich noch immer gekränkt. »Nun aber rasch den Kaffee 'runter und fort, Rolf, hörst du? Sonst muß ich blechen; Zuspätkommen kostet eine Tagesgage. Und auf der Treppe brauchen sie uns auch nicht zusammen zu sehen.«

Er zögerte.

»Und ich darf wiederkommen?«

Sie sah ihm mit prüfenden Augen in das Gesicht, ihre Hand strich ihm leicht durch das volle, dunkelbraune Haar.

»Ob du darfst«, antwortete sie dann entschieden. »So oft du willst und so lange du magst. Dich Knirps merkt man ja kaum in der Stube ...«

* * *

 


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