Selma Lagerlöf
Der Fuhrmann des Todes
Selma Lagerlöf

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XI

Zwei Frauen sitzen in eine ernste Unterhaltung vertieft, die schon stundenlang gedauert hat, beisammen. Das Gespräch war gegen Abend eine Weile unterbrochen worden, weil beide in einem Saal der Heilsarmee dem Gottesdienst anwohnten, aber danach ist es wieder aufgenommen worden. Die ganze Zeit über hat die eine der Frauen sich angestrengt, bei der anderen Mut und Vertrauen zu erwecken; aber es sieht aus, als sei sie noch weit von ihrem Ziel entfernt.

»Wissen Sie, Frau Holm,« sagt die, die es versucht, die andere zu trösten und aufzumuntern, »so sonderbar es auch lauten mag, so glaube ich doch, daß Sie es von jetzt an besser bekommen werden. Ich glaube, jetzt hat er sein Schlimmstes getan. Er hatte sich es wohl vorgenommen, um die Rache zu befriedigen, mit der er Ihnen seit Ihrer Wiedervereinigung immerfort gedroht hatte. Aber sehen Sie, Frau Holm, es ist eine Sache für sich, sich an einem Tag hart zu machen und zu sagen, die Kinder dürfen nicht fortgenommen werden; aber etwas anderes ist es, mit so einem Mordgedanken im Herzen umherzugehen und ihn Tag für Tag durchzuführen, und ich glaube nicht, daß das jemand auf die Dauer aushalten könnte.«

»Es ist sehr gut von Ihnen, Hauptmännin, daß Sie mich zu trösten versuchen,« sagt Frau Holm.

Aber die Hauptmännin merkt wohl, was die arme Frau dabei denkt. Sie denkt: ›Wenn die Hauptmännin der Heilsarmee auch niemand kennt, der so etwas aushalten könnte, so kenne ich einen, der es kann.‹

Die Hauptmännin sieht aus, als sei sie nun fast an der Grenze ihrer Überredungskunst angekommen, aber rasch beschließt sie, noch einen Versuch zu machen.

»Und nun will ich Ihnen noch etwas sagen, Frau Holm,« sagt sie. »Ich weiß nicht, ob es eine so große Sünde gewesen ist, als sie Ihren Mann vor ein paar Jahren verlassen haben, aber ich erkenne, es war eine Versäumnis. Damals haben Sie ihn preisgegeben, und die bösen Folgen zeigten sich rasch. Aber jetzt haben Sie es wieder gut zu machen versucht; da haben Sie getan, was Gottes Willen von Ihnen forderte, und deshalb glaube ich, daß nun eine Wendung zum Bessern eintreten wird. Ein starker Sturm war erregt worden, und der konnte nicht mit einem Schlag wieder beruhigt werden; aber was Sie, Frau Holm, und Schwester Edith angefangen haben, ist trotz allem ein Werk von guter Art, das die Früchte der guten Werke tragen wird.«

Als die Hauptmännin dies gesagt hat, ist sie nicht mehr allein mit David Holms Frau. David Holm und sein Kamerad Georg, oder, besser gesagt, die Schemen dieser beiden sind in das Zimmer eingedrungen und an der Tür stehen geblieben.

David Holm ist jetzt weder an den Füßen noch an den Händen gefesselt. Er folgt dem Fuhrmann, ohne gezwungen werden zu müssen; aber als er jetzt sieht, wohin er geführt worden ist, steigt heftige Entrüstung in ihm auf. Hier soll doch wohl niemand sterben! Warum ihn also zwingen, seine Wohnung und seine Frau wiederzusehen?

Er will sich eben mit einer heftigen Frage an Georg wenden, als dieser ihm durch ein Zeichen bedeutet, sich still und ruhig zu verhalten.

Jetzt hebt David Holms Frau den Kopf, wie von der festen Überzeugung der anderen etwas gestärkt.

»Ach, wer doch glauben könnte, daß es wahr wäre!« seufzt sie.

»Es ist wahr,« bekräftigt die Hauptmännin, indem sie Frau Holm ermutigend zulächelt. »Von dem morgigen Tag an tritt eine Wendung ein, und Sie werden sehen, die Hilfe kommt mit dem neuen Jahre.«

»Mit dem neuen Jahre – – –« versetzt Frau Holm. »Ei freilich, es ist ja Neujahrsnacht, das hatte ich fast vergessen. Wie spät mag es denn sein, Hauptmännin Andersson?«

»Wir sind schon ein gutes Stück im neuen Jahr drinnen,« antwortete die Gefragte, indem sie auf ihre Uhr sieht. »Es ist jetzt ein Viertel vor zwei Uhr.«

»Aber dann dürfen Sie nicht noch länger bei mir sitzen,« sagt Frau Holm, »sondern müssen nach Hause gehen und sich zu Bett legen. Sie sehen ja, ich bin jetzt ganz ruhig.«

Die Hauptmännin sieht die Frau prüfend an.

»Mit der Ruhe ist es wohl noch nicht weit her,« sagt sie dann.

»Sie können meinethalben ganz beruhigt sein, Hauptmännin,« versichert Frau Holm. »Ich weiß wohl, daß ich heute nacht schreckliche Reden geführt habe, aber nun ist das mit Gottes Hilfe vorüber.«

»Glauben Sie, daß Sie jetzt alles in Gottes Hand legen und ihm vertrauen können, daß er alles zum besten lenkt?« fragt die Hauptmännin.

»Ja, ja, ich kann es,« antwortet Frau Holm.

»Ich wäre gern noch bis zum Morgen bei Ihnen geblieben, aber ich sehe Ihnen an, daß es Ihnen lieber ist, wenn ich jetzt gehe.«

»Es war mir eine große Hilfe, daß Sie bei mir gewesen sind, Hauptmännin; aber jetzt kommt er bald nach Hause, und dann ist es besser, ich bin allein.«

Nach einigen weiteren Worten verlassen beide Frauen das Zimmer, und David Holm errät, daß seine Frau die Hauptmännin hinausbegleitet, um die Tür für sie aufzuschließen.

»David, hast du alles gehört?« fragt der Fuhrmann. »Erkennst du nun, daß die Leute schon alles wissen, was ihnen zu wissen nötig ist? Sie müssen nur noch in dem Verlangen, gesund und lange zu leben, gestärkt werden.«

Der Fuhrmann hat seine Worte kaum ausgesprochen, als Frau Holm wieder eintritt. Man sieht, daß sie im Sinne hat, ihr Wort zu halten und zu Bett zu gehen. Sie setzt sich auf einen Stuhl, bückt sich vor und fängt an, einen Stiefel aufzuschnüren.

Während sie so vorgebeugt dasitzt, fährt die Haustür mit einem heftigen Schlag zu; da richtet sie sich auf und lauscht.

»Kommt er?« fragt sie. »Ja, er wird es wohl sein.«

Sie läuft ans Fenster und versucht in den dunklen Hof hinunterzusehen. Ein paar Minuten steht sie so, atemlos hinausspähend. Als sie sich dem Zimmer wieder zuwendet, ist ihr Gesicht seltsam verändert. Es ist aschgrau geworden, die Augen, die Lippen, alles miteinander ist wie mit Asche überschüttet. Ihre Bewegungen sind jetzt steif und schleppend, und ein schwaches Stöhnen dringt über ihre Lippen.

»Ich kann es nicht aushalten,« flüstert sie. »Ich kann es nicht aushalten.« –

»Ich soll an Gott glauben,« stößt sie nach einer kleinen Pause hervor und bleibt mitten im Zimmer stehen. »Sie sagen, ich soll an Gott glauben. Sie meinen vielleicht, ich hätte nicht zu ihm gebetet und nicht um Hilfe geschrien. Was soll ich tun, wie soll ich es anfangen, um Hilfe von ihm zu erlangen?«

Sie weint nicht, aber ihre Worte sind ein fortgesetztes Wimmern. Sie ist von einer solchen Verzweiflung beherrscht, daß sie offenbar nicht mehr für ihr Tun verantwortlich gemacht werden kann.

David Holm beugt sich vor, sieht sie scharf an, und ein Gedanke steigt plötzlich in ihm auf, vor dem ihm graust.

Die Frau geht nicht zu Bett, sie schleppt sich langsam bis zu dem Lager in der Ecke hin, wo ihre beiden Kinder schlafen.

»Es ist schade um sie,« sagt sie, indem sie sich zu ihnen niederbeugt. »Sie sind so schön.«

Sie setzt sich neben dem Lager auf den Boden und sieht die Kinder, eins nach dem anderen, lange an.

»Aber ich muß fort, und ich kann sie nicht hinter mir zurücklassen.«

Sie streicht ihnen unbeholfen und ungelenk übers Haar.

»Ihr dürft mir für das, was ich tue, nicht böse sein,« sagt sie. »Ich bin nicht schuld daran.«

Während sie noch auf dem Boden sitzt und die Kinder liebkost, schlägt unten die Tür aufs neue. Sie zuckt wieder zusammen, bleibt aber unbeweglich sitzen, bis so viel Zeit vergangen ist, daß ihr Mann hereingekommen sein müßte, wenn er es drunten gewesen wäre. Dann steht sie rasch auf.

»Ich muß mich beeilen,« sagt sie geheimnisvoll flüsternd zu den Kindern. »Es wird bald geschehen sein, wenn er nur nicht kommt und mich daran verhindert.«

Sie richtet sich auf, tut aber nichts, sondern wandert ruhelos im Zimmer hin und her.

»Irgend etwas sagt mir, ich solle bis morgen warten,« murmelt sie halblaut. »Aber was hätte das für einen Wert? Der morgige Tag ist ein Tag wie alle anderen. Warum sollte er da milder gestimmt sein als heute?«

David Holm denkt an seinen Körper, der als Leichnam drüben in den Kirchenanlagen liegt und nun bald in die Erde vergraben wird, da er zu nichts zu gebrauchen war. Fast steigt das Verlangen in ihm auf, seine Frau doch auf irgendeine Weise wissen zu lassen, daß sie keine Angst mehr vor ihm zu haben brauche.

Wieder hört man ein schwaches Getöse. Im Haus wird eine Tür geöffnet und wieder zugemacht, und aufs neue zittert die arme Frau und erinnert sich daran, welches Vorhaben sie auszuführen im Begriff steht. Schleppend und stöhnend geht sie an den Herd hin und schichtet Holz hinein, um Feuer anzumachen.

»Es tut nichts, wenn er auch kommt und sieht, daß ich Feuer mache,« sagt sie, gleichsam als Antwort auf eine stumme Einwendung. »Ich muß doch wohl am Neujahrsmorgen Kaffee kochen dürfen, um etwas zu haben, das mich wach hält, während ich aufsitze und auf ihn warte.«

David Holm fühlt sich außerordentlich erleichtert, als sie dies sagt. Und nun fragt er sich wieder, ob Georg am Ende eine besondere Absicht gehabt habe, als er ihn hierherführte? Hier soll ja niemand sterben. Hier ist ja niemand krank.

Die Kapuze tief hereingezogen, ganz verschlossen und wie in tiefe Gedanken versunken, steht der Fuhrmann da. David Holm merkt wohl, daß es gar keinen Wert hätte, wenn er jetzt das Wort an ihn richten würde.

›Er will, ich soll die Meinigen noch ein letztes Mal sehen,‹ denkt er. ›Vielleicht komme ich nie wieder in ihre Nähe.‹ –

»Das macht mir gerade keinen Kummer,« sagt er im nächsten Augenblick, und es ist ihm, als sei in seinem Herzen nur noch Raum für eine einzige; aber er geht doch nach der Ecke hin, wo die beiden Kinder schlafen. Während er vor ihnen steht und sie betrachtet, fällt ihm der Junge ein, den sein Bruder so innig lieb gehabt hat, daß er seinetwegen freiwillig ins Gefängnis zurückgekehrt ist, und nun empfindet er es als eine Art Vermissen, daß er seine Kinder nicht auf diese Weise lieb haben kann.

›Möchte es ihnen jedenfalls gut gehen!‹ denkt er überaus freundlich. ›Sie werden morgen froh sein, wenn sie hören, daß sie keine Angst mehr vor mir zu haben brauchen.‹

›Ich möchte wohl wissen, was später aus ihnen wird?‹ denkt er dann mit lebhafterer Teilnahme, als er bisher je für sie gefühlt hatte, und zugleich durchzuckt ihn eine plötzlich aufsteigende Angst, sie könnten gerade so werden wie er.

›Denn ich bin ein sehr unglücklicher Mensch gewesen,‹ denkt er.

›Ich weiß nicht,‹ denkt er weiter, ›warum ich mich nicht früher um sie gekümmert habe. Wenn es eine Rückkehr gäbe, würde ich gerne zurückkommen, um rechte Menschen aus den beiden hier zu machen.‹

Er bleibt stehen und prüft sein Herz.

»Wie merkwürdig, ich hege keinen Haß mehr gegen sie!« murmelt er. »Und ich möchte, daß sie nach allem, was sie hat erdulden müssen, doch noch glücklich werde. Wenn es mir möglich wäre, würde ich ihr ihre Möbel wieder verschaffen, und ich möchte sie gerne Sonntags in hübschen Kleidern in die Kirche gehen sehen. Aber jetzt, wo ich nicht mehr da bin, bekommt sie es ja gut. Ich glaube, Georg hat mich hierhergeführt, damit ich mich darüber freue, zu den Entschlafenen zu gehören.«

Plötzlich fährt er heftig zusammen. Er ist so versunken in seine Gedanken gewesen, daß er nicht darauf acht gab, was sich seine Frau indessen vornahm. Aber, jetzt hat sie einen leisen Angstschrei ausgestoßen.

»Es kocht, das Wasser kocht, nun ist es bald so weit! Jetzt muß es geschehen, nun gibt es keinen Aufschub mehr.«

Sie nimmt eine Büchse, die auf einem Brett dicht neben dem Herd steht, und schüttet daraus gemahlenen Kaffee in die Kaffeemaschine. Dann zieht sie aus dem Busen ein ganz kleines Päckchen, das ein weißes Pulver enthält, und mischt dieses in das Wasser.

David steht unbeweglich da und starrt seine Frau an, ohne zu verstehen, was sie eigentlich tut und beabsichtigt.

»Du wirst sehen, daß es genügt, David,« sagt sie und wendet sich zugleich dem Zimmer zu, ganz als ob sie ihn sähe. »Es reicht für beide Kinder und für mich. Ich kann es ja nicht aushalten, ein ganzes Jahr mit ansehen zu müssen, wie sie dahinsiechen. Wenn du nur noch eine Stunde fortbleibst, wird bei deiner Rückkehr alles so bestellt sein, wie du es haben willst.«

Doch jetzt steht der Mann nicht mehr ruhig da und hört ihr zu, sondern er ist auf den Fuhrknecht zugeeilt.

»Georg!« sagt er atemlos. »Ach, lieber Gott, Georg, hörst du nicht?«

»Doch, David,« antwortet der Fuhrknecht, »hier stehe ich ja. Ich muß ja mit dabei sein, und ich versäume meine Pflicht nicht.«

»Aber du mußt es nicht verstanden haben, Georg! Es handelt sich nicht um sie allein, sondern auch um die Kinder. Sie hat die Absicht, sie mitzunehmen.«

»Ja, David,« bekräftigt der Fuhrmann. »Sie hat die Absicht, deine Kinder mitzunehmen.«

»Aber das darf nicht geschehen, Georg! Es ist ja unnötig. Kannst du ihr denn nicht zu wissen tun, daß es unnötig ist?«

»Nein, ich kann mich ihr nicht vernehmbar machen. Sie ist zu weit weg.«

»Aber kannst du nicht jemand herbeirufen, Georg, jemand, der ihr sagt, daß es unnötig ist?«

»Du verlangst Unmögliches, David. Was für Macht hätte ich über die Lebenden?«

Aber David Holm läßt sich nicht abschrecken, sondern wirft sich vor dem Fuhrknecht auf die Knie.

»Denk daran, Georg, daß du früher mein Freund gewesen bist, und laß dies hier nicht geschehen! Laß dies nicht über mich kommen! Laß die armen unschuldigen Geschöpfe nicht sterben!«

Er richtet den Blick auf Georg, um eine Antwort zu erhalten; aber dieser schüttelt nur verneinend den Kopf.

»Ich will alles für dich tun, Georg, was nur in meiner Macht steht. Ich weigerte mich, als du mir befahlst, nach dir Fuhrknecht zu werden; aber ich übernehme das Amt mit Freuden, wenn ich nur das hier nicht durchmachen muß. Alle beide sind noch so klein, und eben jetzt, als ich da vor ihnen stand, hab ich gewünscht, noch am Leben zu sein, um rechte Menschen aus ihnen zu machen. Und sie ist ja heute nacht von Sinnen. Sie weiß nicht, was sie tut. Habe Barmherzigkeit mit ihr, Georg!«

Da aber der Fuhrmann noch immer unbeweglich und unerweicht dasteht, wendet sich David etwas von ihm ab.

»Ich bin so allein, so allein, und weiß nicht, wohin ich mich wenden soll,« seufzt er. »Ich weiß nicht, ob ich zu Gott oder zu Christus beten soll. Wie ganz neu in die Welt gekommen bin ich. Wer, wer hat die Macht? Wer kann mir sagen, wohin ich mit meinem Gebet gehen soll?

O, ich armer, sündiger Mensch, ich bete zu dem, der Herr über Leben und Tod ist! Wer bin ich, daß ich mich unterfange, vor dich zu treten? Gegen alle deine Gebote und Vorschriften hab ich mich vergangen. Mich verdamme in die äußerste Finsternis! Vernichte mich ganz! Tu mit mir, was du willst, wenn nur diese drei verschont werden!«

Er schweigt und lauscht auf eine Antwort. Aber er vernimmt nichts; nur seine Frau redet vor sich hin.

»Jetzt ist es zerschmolzen und hat aufgekocht, nun muß ich es nur noch etwas abkühlen lassen.«

Da beugt sich Georg zu David Holm nieder. Seine Kapuze ist zurückgeschlagen und sein Gesicht wird von einem Lächeln erhellt.

»David,« sagt er, »wenn es dir wirklich Ernst ist, dann gibt es vielleicht doch noch einen Ausweg, sie zu retten. Du selbst, David, mußt deine Frau wissen lassen, daß sie keine Angst mehr vor dir zu haben braucht.«

»Aber ich kann mich ihr ja nicht vernehmbar machen. Oder kann ich es, Georg?«

»Nein, nicht in deiner jetzigen Gestalt. Du mußt zu dem David Holm zurückkehren, der drüben in den Kirchenanlagen liegt. Vermagst du das?«

David Holm erschrickt, und ein Schauder erfaßt ihn. Das menschliche Leben steht jetzt vor ihm als etwas ihn Erdrückendes, etwas Ertötendes. Wird nicht dies frische Wachstum der Seele ersticken, wenn er wieder ein Mensch wird? Sein ganzes Glück erwartet ihn in einer anderen Welt. Aber er zögert keinen Augenblick.

»Wenn ich kann, wenn ich frei bin – – – Ich glaubte, ich müßte – – –«

»Ja, du hast recht,« versetzt Georg, und sein Antlitz strahlt immer schöner. »Dieses Jahr hindurch mußt du der Fuhrknecht des Todes sein, wenn nicht ein anderer für dich eintritt und das Amt für dich verwaltet.«

»Ein anderer?« wiederholt David Holm fragend. »Wer würde sich für einen solchen armen Kerl, wie ich einer bin, aufopfern wollen?«

»David,« sagt Georg. »Du weißt, es gibt einen, der nie aufgehört hat, darüber zu trauern, daß er dich verleitet hat, vom guten Wege abzuweichen. Dieser Mann wird vielleicht vor lauter Freude, daß er nicht mehr über dich trauern muß, deine Arbeit übernehmen.«

Und ohne David Holm Zeit zu lassen, sich so recht klar zu machen, was der andere meint, beugt sich Georg tief zu ihm herab und sieht ihm mit herrlich strahlenden Augen ins Gesicht.

»Alter Freund, David Holm, mach es, so gut du kannst! Ich bleibe hier, bis du zurückkommst. Du hast nicht mehr viel Zeit.«

»Aber du, Georg – – – «

Doch der Fuhrmann unterbricht ihn mit der gebieterischen Handbewegung, der sich David Holm zu unterwerfen gelernt hat. In demselben Augenblick richtet sich Georg auf, zieht die Kapuze über die Stirn herein und sagt mit lauter, eherner Stimme:

»Du Gefangener, tritt wieder ein in dein Gefängnis.«

 


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