Selma Lagerlöf
Der Fuhrmann des Todes
Selma Lagerlöf

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VI

Die arme kleine Rettungsschwester, die in den letzten Zügen liegt, fühlt sich mit jedem Augenblick schwächer und kraftloser. Sie hat keine Schmerzen, kämpft aber noch mit dem Tod, wie sie in so mancher Nacht bei einer Krankenwache mit dem Schlaf gekämpft hat.

»Ach, wie schön du lockst! Aber du darfst mich nicht übermannen!« hat sie da zum Schlaf gesagt. Und wenn sich dieser auch einmal einige Augenblicke auf sie herabgesenkt hatte, so war sie doch immer rasch wieder aufgefahren und zu ihren Pflichten zurückgekehrt.

Jetzt ist es ihr, als ob irgendwo in einem kühlen Zimmer mit unbeschreiblich reiner, frischer Luft, die einzuatmen für ihre Lungen ein wahres Labsal wäre, ein tiefes breites Bett mit weichen schwellenden Daunenkissen hergerichtet würde. Sie weiß, daß dieses Bett für sie bestimmt ist, und sie sehnt sich danach, hineinzusinken und ihre unaussprechliche Mattigkeit wegzuschlafen; aber sie hat das Gefühl, sie würde dann in einen so tiefen Schlaf sinken, daß sie nie mehr daraus erwachen könnte. Und sie widersteht dem Locken der Ruhe noch immer; diese darf ihr jetzt noch nicht zuteil werden.

Als die kleine Rettungsschwester jetzt die Augen wieder aufschlägt, liegt ein Vorwurf darin. Sie sieht strenger aus als je vorher.

»Wie hart seid ihr doch, daß ihr mir zu dem einzigen nicht verhelfen wollt, nach dem ich mich sehne!« scheint sie zu klagen. »Habe ich doch, so lange ich gesund war, gar viele Schritte gemacht, um euch allen zu dienen, so daß ihr euch jetzt wohl die Mühe machen könntet, den hierher zu holen, den ich sprechen möchte.«

Meist liegt sie indes mit geschlossenen Augen da und wartet und lauscht so eifrig, daß ihr kein Geräusch in dem Häuschen entgeht. Plötzlich hat sie den Eindruck, als sei ein Gast ins äußere Zimmer getreten, der nun dort darauf warte, zu ihr hereingeführt zu werden. Sie schlägt die Augen auf und sieht ihre Mutter flehend an.

»Er steht ja draußen an der Küchentür. Kannst du ihn nicht hereinlassen, Mutter?«

Die Mutter steht auf, tritt an die Tapetentür, öffnet sie und schaut in das große Zimmer hinaus, kommt aber gleich wieder an das Bett her und schüttelt den Kopf.

»Es ist niemand draußen, Kind,« sagt sie. »Niemand als Schwester Maria und Gustavsson.«

Da seufzt die Kranke tief und schließt die Augen aufs neue. Aber noch einmal hat sie das Gefühl, daß er da drinnen dicht an der Tür sitzt. Wenn nur ihre Kleider wie gewöhnlich auf einem Stuhl am Fußende des Bettes lägen, dann würde sie sich anziehen, hineingehen und mit ihm sprechen können. Aber die Kleider liegen nicht da, und sie fürchtet auch, ihre Mutter würde ihr nicht erlauben aufzustehen.

Sie überlegt und überlegt, wie sie in das vordere Zimmer hinausgelangen könnte, denn sie ist ganz sicher, daß er da draußen ist. Die Mutter will ihn nur nicht zu ihr hereinlassen, wahrscheinlich weil sie meint, er sehe zu schrecklich aus, und nicht will, daß sie mit so einem Menschen redet.

›Mutter meint, es hätte keinen Wert, wenn ich noch mit ihm zusammenträfe,‹ denkt die Kranke. ›Sie meint, jetzt wo ich am Sterben bin, könnte es mir ja einerlei sein, wie es ihm weiter ergeht.‹

Schließlich denkt sie sich etwas aus, das ihr äußerst schlau vorkommt.

›Ich werde Mutter bitten, mich in das große Zimmer hinauszuschaffen, weil ich so gerne dort liegen möchte,‹ denkt sie. ›Ich werde sagen, ich sehne mich, es noch einmal zu sehen. Dagegen wird Mutter nichts einzuwenden haben.‹

Sie bringt ihren Wunsch vor, fragt sich aber gleich, ob denn die Mutter am Ende ihre verborgene Absicht durchschaut habe, denn diese hat viel dagegen einzuwenden.

»Liegst du denn hier nicht gut?« fragt sie. »Du warst ja seither ganz zufrieden hier.«

Die Mutter tut nichts, um der Kranken zu willfahren, sondern bleibt ruhig bei ihr sitzen. Der kleinen Heilsarmeeschwester ist es zumut wie einstens, wenn sie, so lange sie noch ein Weltkind gewesen war, die Mutter um etwas gebeten hatte, was diese nicht dienlich fand. Und gerade wie ein kleines Kind fängt sie nun an zu bitteln und zu betteln, um die Geduld der Mutter zu erschöpfen.

»Mutter, ich möchte so gern in das große Zimmer; Gustavsson und Schwester Maria tragen mich schon hinaus, wenn du sie hereinrufst. Ach Mutter, mein Bett wird nicht mehr lange dort stehen!«

Aber die Mutter erwidert: »Du wirst sehen, so bald du draußen bist, verlangst du wieder herein.« Aber sie steht doch auf und kehrt gleich darauf mit Gustavsson und Schwester Maria zurück.

Es ist ein Glück, daß Schwester Edith in der kleinen hölzernen Bettstelle liegt, in der sie schon als Kind geschlafen hat, so daß die drei, Schwester Maria, Gustavsson und ihre Mutter, sie recht gut hinaustragen können. Sobald sie durch die Tür gekommen ist, wirft sie einen raschen Blick auf die Küche des großen Raumes und ist ganz verdutzt, als sie David Holm nicht dort erblickt; diesmal war sie ihrer Sache so ganz gewiß gewesen.

Sie fühlt sich sehr enttäuscht, und anstatt sich in dem dreiteiligen Zimmer, das so viele Erinnerungen enthält, umzusehen, schließt sie die Augen. Und da hat sie sofort wieder das Gefühl, daß sich an der Eingangstür jemand befindet, der wartet.

›Es ist unmöglich, daß ich mich täusche,‹ denkt sie. ›Irgend jemand muß dort sein, entweder er oder ein anderer.‹

Sie öffnet die Augen aufs neue und läßt ihre Blicke sehr aufmerksam im Zimmer umherlaufen. Mit großer Mühe entdeckt sie, daß drüben an der Tür etwas steht; aber es ist ganz undeutlich, nicht einmal wie ein Schatten. Sie hätte sagen können, es sei der Schatten eines Schattens.

Die Mutter beugt sich über sie und fragt:

»Ist es dir nun leichter, seit du hier bist?«

Sie nickt und flüstert, sie sei sehr froh, daß man sie herausgebracht habe. Aber sie denkt nicht an das Zimmer, sondern starrt immerfort nach der Tür.

›Was mag das dort drüben nur sein?‹ fragt sie sich, und es ist ihr, als hänge ihr Leben daran, dies herauszubringen.

Schwester Maria stellt sich zufälligerweise so auf, daß sie der Kranken die Tür verdeckt, und mit Aufbietung aller ihrer Kräfte bringt Schwester Edith sie in eine andere Stellung.

Man hat die Kranke in den Teil des Zimmers gestellt, den sie und ihre Mutter die gute Stube zu nennen pflegen, und diese Abteilung liegt am weitesten entfernt von der Tür. Nachdem die Kranke nun eine Weile dagelegen hat, flüstert sie ihrer Mutter zu:

»Jetzt hab' ich gesehen, wie es in der guten Stube aussieht, aber nun möchte ich auch ins Eßzimmer.«

Sie merkt wohl, daß ihre Mutter einen bekümmerten Blick mit den beiden andern wechselt und daß diese den Kopf schütteln; sie legt sich das auf ihre Art aus und denkt, sie seien ängstlich, sie noch näher zu dem an der Tür stehenden Schatten hinzubringen. Allmählich ist eine Ahnung in ihr aufgestiegen, wer es ist, der dort steht; aber sie fürchtet sich nicht vor ihm, sondern wünscht nur, ihm näher zu kommen.

Sie sieht ihre Mutter und die beiden Freunde flehend an; und alle drei gehorchen ihr ohne weitere Einwendungen.

Als sie sich nun in der Abteilung befindet, die früher das Eßzimmer genannt worden war, ist sie der Türe näher und kann unterscheiden, daß dort eine dunkle Gestalt steht, die irgendein Werkzeug in der Hand hält. Das kann also nicht er sein, aber es ist jedenfalls jemand, mit dem zusammenzutreffen für sie außerordentlich wichtig ist.

Sie muß ihm noch näher kommen, sie muß; und indem sie sich alle Mühe gibt, ein entschuldigendes Lächeln hervorzubringen, macht sie ein Zeichen, daß sie auch noch in die Küche gebracht werden möchte. Sie sieht, wie betrübt ihre Mutter bei diesem Ansinnen wird, sieht, wie sie zu weinen anfängt, und ein flüchtiger Gedanke zieht durch ihre Seele, daß ihre Mutter sich wohl jetzt daran erinnere, wie die Tochter früher, während die Mutter das Abendessen kochte, vor dem Herd auf dem Boden gesessen und, von dem Feuerschein rot übergossen, von allem lustig plauderte, was in der Schule vorgekommen war; sie begreift auch, daß die Mutter tatsächlich ihr Kind auf allen den gewohnten Plätzen zu sehen vermeint und unter dem Gefühl der Leere und des Alleinseins, das sie überkommt, fast zusammenbricht.

Aber sie darf jetzt nicht an ihre Mutter denken, sie darf ihre Aufmerksamkeit auf nichts anderes richten als auf das Wichtige, das sie während der kurzen Zeit, die ihr noch zugemessen ist, ausrichten muß.

Jetzt, wo sie in der äußersten Abteilung des Zimmers angekommen ist, kann sie endlich das Undeutliche, was an der Tür steht, erkennen. Es ist die Gestalt eines Mannes in einem schwarzen Mantel mit einer Kapuze, die über das Gesicht hereingezogen ist. In der Hand hält er eine lange Sense; die Kranke braucht keinen Augenblick im Zweifel zu sein, wer es ist.

›Es ist der Tod,‹ denkt sie. Und sie erschrickt, weil er zu früh für sie gekommen ist.

Während die arme Kranke immer näher zur Tür herangetragen wurde, hat sich der am Boden liegende gefesselte Schemen zusammengekrümmt, als wollte er versuchen, der Aufmerksamkeit der Kranken zu entgehen. Er sieht, daß sie unaufhörlich nach der Tür schaut, und er vermutet, daß sie da etwas unterscheiden kann. Aber sie soll ihn nicht sehen, das wäre eine zu große Demütigung für ihn. Ihre Blicke sind auch nicht auf ihn gerichtet, sondern auf den anderen, und da denkt er, wenn sie überhaupt etwas sehe, so sei nicht er es, sondern Georg.

Kaum ist die Kranke indes ganz nahe herangekommen, als er sieht, daß sie mit einer leichten Kopfbewegung Georg an ihr Bett herruft. Georg zieht, wie wenn er fröre, den Mantel fester um sich zusammen und tritt an ihr Lager. Sie sieht ihn mit einem herzbewegenden Lächeln an.

»Du siehst, daß ich keine Angst vor dir habe,« flüstert sie fast lautlos. »Ich folge deinem Rufe gerne, möchte dich aber zuerst fragen, ob du mir nicht bis morgen Aufschub gewahren könntest, damit ich die große Aufgabe vollenden könnte, deretwegen mich Gott in die Welt geschickt hat.«

Während sie auf diese Weise von ihrer Unterredung mit Georg ganz erfüllt ist, hat David Holm den Kopf aufgehoben und sieht sie an; und da sieht er, daß ihr die heilige Erhabenheit ihres Geistes eine Schönheit verliehen hat, die sie früher nie gehabt hatte, etwas so Stolzes, Hohes, Unerreichbares, aber so unwiderstehlich Anziehendes, daß er seine Augen nicht mehr abwenden kann.

»Du verstehst mich vielleicht nicht,« sagt sie zu Georg. »Neige dich näher zu mir her. Ich muß mit dir reden, aber die anderen sollen nicht hören, was ich sage.«

Georg beugt sich so weit vor, daß seine Kapuze fast ihr Gesicht berührt.

»Sprich so leise wie du willst,« sagt er. »Ich werde es doch verstehen.«

Da fängt sie in ganz leisem Flüsterton an, und keines von den dreien, die um ihr Bett stehen, hat eine Ahnung, daß sie überhaupt etwas sagt. Nur der Fuhrmann und der andere Schemen hören sie.

»Ich weiß nicht, ob du dir auch bewußt bist, um was es sich für mich handelt,« sagt sie zu Georg, »Ich brauche notwendig einen Aufschub bis morgen, damit ich mit dem zusammentreffen kann, den ich auf den rechten Weg führen muß. Du weißt, wie schlecht ich gehandelt habe. Ich bin eigenmächtig und verwegen gewesen. Wie sollte ich vor Gottes Angesicht treten können, ich, die ein so großes Unglück verschuldet hat?«

Ihre Augen öffnen sich vor Angst weit, und sie ringt schwer nach Atem, fährt dann aber gleich fort, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Ich muß dir wohl mitteilen, daß der Mann, mit dem ich noch reden möchte, eben der ist, den ich liebe. Du verstehst mich doch wohl? Der Mann, den ich liebe.«

»Aber Schwester Edith,« erwidert der Fuhrmann, »der Mann – – – –«

Sie will jedoch seine Antwort nicht hören, ehe sie alles vorgebracht hat, was ihn erweichen soll.

»Ach, du begreifst, wie schwer es für mich ist, das zu sagen. Die Erkenntnis, daß ich gerade diesen Mann liebe, bedrückt mich schwer. O wie hab ich mich geschämt, daß ich so heruntergekommen sein soll, einen Mann zu lieben, der an eine andere gebunden ist. Ich habe dagegen gekämpft und gestritten, und es war mir, als sei ich, die eine Führerin und Helferin der Elenden sein sollte, schlechter als die schlechtesten unter ihnen geworden.«

Georgs eine Hand streicht ihr wie beruhigend über die Stirne; aber er sagt nichts, sondern läßt sie fortfahren.

»Aber die größte Demütigung liegt doch nicht darin, daß ich einen verheirateten Mann liebe. Die tiefste Erniedrigung liegt darin, daß er ein böser und schlechter Mensch ist. Ich weiß nicht, warum ich mich an einen solchen Lumpen weggeworfen habe. Ich hatte gehofft, hatte geglaubt, es sei etwas Gutes an ihm, aber ich bin immer enttäuscht worden. Ach, ich muß selbst schlecht sein, da sich mein Herz so hat verirren können! Ach, kannst du nicht begreifen, daß es ganz unmöglich für mich ist, fortzugehen, ohne noch einen Versuch gemacht zu haben, ihn zu einem anderen Menschen zu machen?«

»Du hast ja schon so viele Versuche gemacht,« antwortet Georg ausweichend.

Sie schließt die Augen und überlegt, schlägt sie aber bald wieder auf, und jetzt leuchtet eine neue Zuversicht aus ihrem Gesicht.

»Du meinst, ich bitte nur meinetwegen, und denkst wie die anderen, es könne mir einerlei sein, wie es ihm weiter ergeht, ich müsse ja doch alles Irdische hinter mir lassen. Ich muß dir aber noch etwas sagen, was ich heute erlebt habe, damit du verstehst, daß ich den Aufschub brauche, um anderen zu helfen.«

Sie schließt die Augen und spricht weiter, ohne sie wieder zu öffnen:

»Siehst du, es war heute vormittag. Ich verstehe jetzt nicht mehr recht, wie es sein konnte, aber ich war mit einem Korb am Arm unterwegs, um einem Notleidenden Essen zu bringen. Plötzlich stand ich auf einem Hof, wo ich noch niemals gewesen war. Er war rings von hohen Häusern eingeschlossen, die ordentlich und gut im Stand aussahen, wie wenn wohlhabende Leute darin wohnten. Ich wußte nicht, was ich an diesem Ort zu tun haben sollte, und sah mich unschlüssig um; da entdeckte ich an der einen Häusermauer eine Art Anbau, der eigentlich aussah, als sei er ursprünglich zu einem Geflügelhaus bestimmt gewesen, den man aber neuerdings in eine menschliche Wohnung einzurichten versucht hatte. Da und dort waren einzelne Bretter und Stücke von Pappe aufgenagelt, auch ein paar schiefe Fenster eingesetzt, und aus dem Dach ragten zwei Ofenrohre heraus.

Aus dem einen dieser Rohre stieg ein dünner Rauch empor, und da ich daran erkannte, daß dieser Bau bewohnt war, sagte ich zu mir: ›Selbstverständlich muß ich hier hin.‹

Ich stieg eine hölzerne Treppe hinauf, die steil wie eine Leiter war und mir noch einmal den Eindruck machte, als begebe ich mich in eine Art Vogelschlag, und legte die Hand auf die Klinke der Eingangstür. Sie war unverschlossen, und da ich Stimmen drinnen hörte, trat ich ein, ohne anzuklopfen.

Niemand wendete sich nach mir um, als ich hereinkam. Ich zog mich in einen Winkel an der Tür zurück und blieb da stehen, bis man mich brauchen würde. Denn ich wußte ganz bestimmt, daß ich wegen einer ganz besonders wichtigen Sache hergekommen war.

Während ich nun da wartete, drängte sich mir unwillkürlich der Gedanke auf, daß ich hier in irgendein Wirtschaftsgebäude und nicht in eine menschliche Wohnung gekommen sei. Es war kaum ein Möbelstück zu sehen, nicht einmal ein Bett. In einer Ecke lagen ein paar schmutzige Matratzen, die offenbar als Betten dienten. Keine Stühle waren da, wenigstens keine in einem Zustand, daß man sie hätte verkaufen können, und nur ein plumper roher Tisch.

Plötzlich wurde mir klar, wo ich mich befand. Die Frau mitten im Zimmer war ja David Holms Frau. Sie waren also ausgezogen, während ich im Sanatorium gelegen hatte. Aber warum waren sie nur so erbärmlich und unbequem eingerichtet? Und wo waren ihre Möbel? Wo war der schöne Schrank und die Nähmaschine und – – – –

Ich konnte nicht noch mehr aufzählen, es fehlte einfach alles, in diesem Raum war ja so viel wie nichts.

›Wie verzweifelt die Frau aussieht!‹ dachte ich, ›Und wie ärmlich sie angezogen ist! Sie ist ja seit dem Frühjahr eine ganz andere geworden.‹

Ich wollte rasch vortreten, um sie zu fragen, hielt mich aber doch zurück, denn es waren noch zwei fremde Damen im Zimmer, die sich lebhaft mit David Holms Frau unterhielten.

Alle drei sahen sehr ernst aus, und ich verstand bald, um was es sich handelte. Die Damen wollten die beiden Kinder des armen Weibes in ein Kinderasyl bringen, damit sie nicht von dem Vater, der die Schwindsucht hatte, angesteckt würden.

Mir war, als höre ich nicht recht. ›David Holm kann doch wohl keine Tuberkeln haben,‹ dachte ich. Ich hatte zwar schon einmal davon reden hören, wollte es aber nicht glauben.

Und noch etwas konnte ich mir nicht erklären. Die Damen sprachen nur von zwei Kindern, und ich war doch der Meinung es seien drei gewesen.

Es dauerte nicht lange, bis ich Aufklärung darüber erhielt. Die eine der Damen vom Wohltätigkeitsverein sah, daß die arme Mutter weinte, und sagte ihr mit freundlichen Worten, für die Kinder würde in einem Asyl in jeder Weise gesorgt, und sie hätten es da ebensogut, wie sie es daheim haben könnten.

›Ach, kümmern Sie sich nicht um meine Tränen, Frau Doktor,‹ hörte ich jetzt die Frau erwidern. ›Ich würde noch mehr weinen, wenn ich die Kinder nicht wegschicken dürfte. Mein jüngstes ist schon im Spital, und als ich sah, wie sehr es leiden muß, hab ich mir gelobt, wenn ich die beiden anderen von Hause wegbringen könnte, würde ich kein Wort darüber sagen, sondern nur froh und dankbar sein.‹

Als die Frau dies sagte, überfiel mich eine beklemmende Angst. Was hatte David Holm seiner Frau, seinem Heim, seinen Kindern angetan? Oder besser gesagt, was hatte ich getan? Ich, ich hatte sie hierhergeschleppt.

Ich stand noch in meiner Ecke und konnte die Tränen nicht zurückhalten, ja, ich schluchzte laut, und es war mir unbegreiflich, daß die anderen nicht aufmerksam auf mich wurden; aber keine von den dreien schien mich zu bemerken.

Jetzt wendete sich die Frau nach der Tür, indem sie sagte:

›Ich will auf die Straße hinuntergehen, um die Kinder zu holen, sie sind nicht weit weg.‹

Sie ging so dicht an mir vorüber, daß ihr ärmliches geflicktes Kleid meine Hand streifte. Da sank ich auf die Knie nieder, zog ihren Rock an meine Lippen und küßte ihn weinend. Aber ich brachte kein Wort heraus. Das Unrecht, das ich dieser Frau angetan hatte, war zu groß.

Sie kümmerte sich indes nicht im geringsten um mich, und das verwunderte mich über die Maßen; aber es war mir auch wohl verständlich, daß sie mit der, die sie und ihre Kinder ins Unglück gestürzt hatte, nicht reden wollte.

Die arme Mutter kam jedoch nicht dazu, das Zimmer zu verlassen, denn eine der Damen sagte, ehe sie die Kinder hereinrufe, müsse noch etwas in Ordnung gebracht werden. Damit nahm sie ein Papier aus ihrer Handtasche und las es Frau Holm vor. Es war ein Schein, in dem stand, daß die Eltern ihre Kinder der Obhut der Dame anvertrauten, solange in ihrer Wohnung Gefahr vorhanden sei, von Tuberkulose angesteckt zu werden, und er sollte von beiden Eltern unterschrieben werden.

An dem entgegengesetzten Ende des Zimmers war noch eine Tür. Jetzt öffnete sich diese, und David Holm trat ein. Ich war fest überzeugt, daß er horchend hinter der Tür gestanden und nur darauf gewartet hatte, sich im rechten Augenblick zu zeigen.

Er trug den alten verflickten Anzug, und in seinen Augen funkelte der frühere boshafte Glanz, und ich konnte mir nicht verhehlen, daß er sich mit offenbarer Freude umsah, wie wenn er von dem in seinem Zimmer herrschenden Elend befriedigt wäre.

Dann fing er an zu reden und sagte, er habe seine Kinder von Herzen lieb und finde es höchst grausam, daß man ihm auch noch die beiden anderen nehmen wolle, nachdem das eine schon ins Spital gebracht worden sei.

Die beiden Damen nahmen sich kaum die Mühe, ihn anzuhören, sondern sagten, wenn er die Kinder nicht hergebe, würden sie um so sicherer zugrunde gehen.

Während die Damen mit David Holm redeten, wendete ich meine Augen von diesem ab und richtete sie auf seine Frau. Sie war an die eine Wand zurückgewichen und sah ihren Mann mit einem Ausdruck an, bei dem mir schauderte: so muß ein armer Verurteilter, der ausgepeitscht und aufs Rad geflochten worden ist, seinen Henker ansehen.

Da drängte sich mir die Überzeugung auf, daß ich ein noch viel größeres Unrecht getan hatte, als mir bisher bewußt gewesen war. Ich erkannte, daß David Holm einen geheimen Haß gegen diese Frau im Herzen tragen mußte, und daß sein Wunsch, wieder mit ihr vereinigt zu werden, nicht aus der Sehnsucht nach einer behaglichen Heimat, sondern aus der Begierde, sie zu quälen, hervorgegangen war.

Ich hörte zu, wie er bei den vornehmen Damen seine Vaterliebe ins Feld führte. Sie erwiderten, diese könnte er jetzt beweisen, indem er die Vorschriften des Arztes genau befolge und sich Mühe gebe, die Ansteckung nicht zu verbreiten. Wenn er das tue, würden sie ihm die Kinder natürlich lassen.

Aber keine von den beiden ahnte, was er tatsächlich im Sinne hatte; ich begriff es zuerst und dachte seufzend: ›Er will die Kinder behalten, weil es ihm einerlei ist, ob sie angesteckt werden oder nicht.‹

Seiner Frau war indessen auch ein Licht über seine Absicht aufgegangen. Wild und ganz außer sich schrie sie:

›Der Mörder! Er will mich die Kinder nicht fortschicken lassen! Er will sie zu Hause behalten, damit er sie anstecken kann und sie sterben! Er hat ausgerechnet, daß er sich dadurch an mir rächen kann!‹

David Holm drehte seiner Frau mit einem Achselzucken den Rücken.

›Ganz recht, ich will den Schein nicht unterschreiben,‹ sagte er zu den beiden Damen.

Nun entspann sich ein heftiger Wortwechsel; die Frau drang mit leidenschaftlichen Worten auf David Holm ein, und selbst die beiden Damen bekamen erhitzte Wangen und sagten scharfe Worte.

Er aber stand ganz ruhig da und blieb dabei, er könne seine Kinder nicht entbehren.

Ich hörte mit unbeschreiblicher Angst zu. Keinem der anderen konnte der Auftritt so qualvoll sein wie mir, denn ich liebte ja den Mann, der diese Schandtat beging. Da stand ich und hoffte immer noch, die Damen würden das richtige ihn erweichende Wort finden, aber ein sonderbarer Bann hielt mich gefangen, und ich konnte nicht von der Stelle.

›Ach, was hilft das Streiten und Überredenwollen? Einem Mann wie David Holm muß man Angst einjagen,‹ dachte ich. Weder die Frau noch die beiden fremden Damen sagten ein Wort von Gott, keine drohte ihm mit dem Zorn des ewig Gerechten. Mir war als hätte ich den strafenden Blitz in meiner Hand, aber ich konnte ihn nicht fortschleudern.

Plötzlich wurde es ganz still im Zimmer, und die beiden vornehmen Damen standen auf, um zu gehen. Sie hatten nichts erreicht, so wenig wie die Frau. Diese stritt nicht mehr, sie war verzweifelt zusammengesunken.

Noch einmal machte ich eine übermenschliche Anstrengung, um mich zu bewegen und zu reden. Die Worte brannten mir auf der Zunge.

›O du Heuchler!‹ wollte ich sagen. ›Meinst du, ich sehe nicht, was du denkst und beabsichtigst? Ich, die am Sterben ist, ich lade dich vor Gottes Richterstuhl, mit mir sollst du dort erscheinen. Ich klage dich vor dem höchsten Richter an, deine eigenen Kinder ermorden zu wollen. Ich werde gegen dich zeugen.‹

Aber als ich mich aufrichtete, um dies zu sagen, war ich nicht mehr in David Holms Wohnung, sondern hier in meinem Zimmer und lag kraftlos in meinem Bett. Und seither hab ich gerufen und gerufen, David Holm aber ist nicht gekommen!«

Die Heilsarmeeschwester hatte, während sie all dies erzählte, mit geschlossenen Augen dagelegen. Jetzt schlug sie diese weit auf und sah Georg mit unbeschreiblicher Angst an.

»Du kannst mich doch nicht sterben lassen, ehe ich mit ihm geredet habe?« sagte sie flehend. »Denk an die Kinder und an die Frau!«

Der am Boden liegende Schemen verwunderte sich über Georg. Er hätte die Sterbende ja mit einem Wort beruhigen können, indem er ihr gesagt hätte, David Holm habe ausgespielt und könne seiner Frau und seinen Kindern keinen Schaden mehr zufügen; aber er hielt mit dieser Nachricht zurück. Statt dessen entmutigte er sie noch mehr.

»Was könntest du für eine Macht über David Holm haben?« fragt er. »Er ist nicht der Mann, der sich erweichen läßt. Was du heute gesehen hast, ist nur die Rache, die er sich seit Jahren ausgedacht und auf die er sich die ganze Zeit über gefreut hat.«

»Ach, sag das nicht, sag das nicht!« ruft die arme Kranke aus.

»Ich kenne ihn besser als du,« erwidert der Fuhrmann. »Und ich will dir sagen, was David Holm zu dem gemacht hat, was er jetzt ist.«

»Das möchte ich gerne hören!« sagt die Kranke. »Es wäre gut für mich, wenn ich ihn verstehen lernte.«

»Dann mußt du mit mir in eine andere Stadt kommen, und wir müssen dort vor dem Zellengefängnis warten,« sagt der Fuhrmann. »Es ist gegen Abend, und ein Mann, der wegen Trunksucht acht bis vierzehn Tage gesessen hat, wird soeben freigelassen. Niemand erwartet ihn am Gefängnistor; aber er bleibt stehen und schaut sich um, in der Hoffnung, jemand kommen zu sehen, denn das hat er sich so sehr gewünscht.

Der Mann, der aus dem Gefängnis kommt, ist eben vorher die Beute einer großen Gemütsbewegung gewesen. Während er da drinnen saß, hat sich sein jüngerer Bruder ins Unglück gestürzt. Er hat im Rausch einen anderen erschlagen und ist nun im Gefängnis. Der ältere Bruder hat nichts von der ganzen Sache gewußt, bis ihn der Gefängnisgeistliche in die Zelle des Mörders geführt und ihm den jungen Mann gezeigt hat, der noch Handschellen anhatte, denn er hatte sich beim Festnehmen heftig gewehrt.

›Kennst du den, der da drinnen sitzt?‹ hat ihn der Pfarrer gefragt. Der Mann erkennt seinen Bruder nun, und ist tief erschüttert, denn diesen Bruder hatte er immer herzlich lieb gehabt.

›Der Ärmste muß nun viele Jahre lang im Gefängnis sitzen,‹ sagte der Pfarrer; ›aber, David Holm, wir alle hier sagen, eigentlich müßtest du statt seiner die Strafe leiden, denn du bist derjenige, der ihn verlockt und verführt hat, bis er ein solcher Trunkenbold geworden ist, der nicht mehr weiß, was er tut.‹

Nur mit knapper Not hatte David sich ruhig verhalten können, bis er wieder in seiner Zelle war; da aber war er in einen Tränenstrom ausgebrochen und hatte so geweint, wie er es seit seiner Kindheit nicht mehr getan hatte. Und dann hatte er sich gesagt, nun wolle er sich von seinen bösen Wegen abwenden. Er hat früher nicht gewußt, wie schrecklich das Bewußtsein, einen anderen, den man lieb hat, ins Unglück gestürzt zu haben, auf einem lastet. Dann hatten sich seine Gedanken von seinem Bruder auf seine Frau und Kinder hingelenkt, und er hatte plötzlich begriffen, wie schwer sie es hatten, und hatte sich gelobt, von nun an sollten sie sich nicht mehr über ihn zu beklagen haben. Und in dieser Abendstunde nun, wo er aus dem Gefängnis entlassen ist, sehnt er sich nach seiner Frau, um ihr zu sagen, daß er ein neues Leben beginnen wolle.

Aber sie erwartet ihn nicht vor dem Gefängnistor, und er begegnet ihr auch nicht auf dem Wege. Ja, als er an ihrer Wohnung anlangt und anklopft, öffnet sie ihm nicht die Tür weit, wie sie sonst zu tun pflegte, wenn er lange abwesend war. Da durchzuckt ihn eine Ahnung, wie sich die Sache verhält; aber er will es nicht glauben. Es ist unmöglich, daß dies gerade jetzt, wo er ein neuer Mensch werden will, eintreffen sollte.

Seine Frau pflegt, wenn sie ausgeht, den Türschlüssel immer unter den Türvorleger zu stecken. David Holm bückt sich nieder und findet ihn an dem gewohnten Platz. Er öffnet die Tür, sieht sich in seiner Wohnung um und fragt sich, ob er am Ende falsch gegangen ist; denn das Zimmer ist vollkommen leer, das heißt, es ist eigentlich nicht leer, die meisten Möbel stehen noch drin, aber kein Mensch ist zu sehen.

Nein, kein Mensch, und auch keine Lebensmittel, kein Brennholz und keine Vorhänge an den Fenstern! Unfreundlich und kalt und verkommen sieht es in dem Raum aus, wie wenn er seit mehreren Jahren nicht mehr bewohnt wäre.

Er geht zu den Nachbarn und fragt, ob seine Frau während seiner Abwesenheit krank geworden sei. Er versucht sich einzubilden, sie sei vielleicht ins Spital gebracht worden.

Aber die Nachbarn antworten:

›O nein, sie war ganz gesund, als sie fortging.‹

›Aber wo ist sie denn hingegangen?‹ fragt er.

Ja, das weiß niemand.

Er sieht, daß die Nachbarn neugierig und schadenfroh sind, und er ahnt wieder, daß es nur eine Erklärung gibt. Ja, seine Frau hat die Gelegenheit benutzt, während er im Gefängnis saß, und ist auf und davon gegangen. Sie hat die Kinder und das Notwendigste mitgenommen, ihn aber hat sie nicht im geringsten darauf vorbereitet, sondern ihn in diese Öde heimkehren lassen. Und er, er hat mit einer so großen Freude zu ihr kommen wollen! Er hat sich genau eingeprägt, was er zu ihr sagen wollte, hat sie so recht von Herzen um Verzeihung bitten wollen! David Holm hat einen Freund, einen Mann, der der gebildeten Gesellschaftsklasse angehört hat, aber ganz verkommen ist. Nun hatte er versprechen wollen, er werde dessen Gesellschaft nicht mehr aufsuchen, obgleich er nicht nur von dem Schlechten in dem Menschen angezogen wird, sondern auch weil dieser Bildung und Kenntnisse hat. Am nächsten Tag hat er zu seinem alten Meister hingehen und diesen bitten wollen, ihn wieder in Arbeit zu nehmen. Er hatte für seine Frau und Kinder wie ein Sklave arbeiten wollen, damit sie hübsche Kleider bekommen und nicht einen einzigen sorgenvollen Tag mehr gehabt hätten. Und jetzt, jetzt, wo er sich das alles ausgedacht hat, ist sie auf und davon gegangen!

Es überläuft ihn heiß und kalt, es graust ihm vor ihrer Herzlosigkeit. Ja, er hätte es verstehen können, wenn sie nur offen und ehrlich von ihm gegangen wäre. Dann hätte er gar kein Recht gehabt, böse darüber zu sein, denn sie hat es wahrlich schwer bei ihm gehabt. Aber daß sie sich so fortgestohlen hat und ihn ohne eine Benachrichtigung in die verlassene Wohnung hat kommen lassen, das war herzlos. Das würde er ihr niemals verzeihen.

Er war vor allen Menschen entehrt. In diesem Augenblick verspottete man ihn im ganzen Straßenviertel. Aber den Leuten sollte das Lachen vergehen, das gelobte er sich. Er würde seine Frau schon wieder finden, und dann würde er sie so unglücklich machen, wie er selbst war, ja doppelt so unglücklich. Er wollte sie lehren, wie das ist, wenn man so bis ins innerste Herz hinein fror, wie er gerade jetzt.

Sich auszudenken, wie er seine Frau strafen wollte, wenn er sie wiedergefunden hätte, war die einzige Linderung, die er sich verschaffen konnte. Dann hat er drei Jahre lang nach ihr gesucht und gesucht und seinen Haß immer an dem Gedanken geschürt, was sie ihm angetan hatte, so daß es in seinen Augen schließlich zu einem maßlosen Verbrechen wurde. Allein war er auf einsamen Wegen umhergezogen, und während dieser Zeit hatten Haß und Rachsucht bei ihm immer zugenommen. Er überlegte und sinnierte so lange, bis er sich so recht spitzfindig ausgedacht hatte, wie er sie quälen könnte, wenn sie wieder beisammen wären.«

Die junge Heilsarmeeschwester hat bis dahin geschwiegen, ist aber der Erzählung mit lebhaftem Mienenspiel gefolgt. Doch jetzt unterbricht sie die düstere Gestalt mit ängstlicher Stimme:

»Ach nein, sag nichts mehr! Es ist zu schrecklich. Wie soll ich verantworten können, was ich getan habe? Ach, ach, daß ich sie zusammengeführt habe! Seine Sündenschuld wäre nicht so groß geworden, wenn ich nicht gewesen wäre!«

»Nein, ich werde nichts mehr sagen,« versetzt der Fuhrmann, »Ich will dir ja nur begreiflich machen, daß es gar keinen Zweck hat, wenn du um Aufschub bittest.«

»Ach, aber ich möchte es trotzdem!« ruft sie in großer Seelenangst, »Ich kann nicht sterben, ich kann nicht! Gib mir nur noch einige Augenblicke! Du weißt ja, daß ich ihn liebe. Ich hab ihn noch nie so geliebt wie heute.«

Der Schemen an der Tür zuckt zusammen. Während der ganzen Unterhaltung zwischen dem Fuhrmann und Schwester Edith hat er die Sterbende betrachtet. Jedes Wort hat er ihr förmlich von den Lippen gesogen, und jeder Wechsel in ihrem Ausdruck wird ihm ewig unvergeßlich sein. Alles, was sie gesagt hat, auch als sie ihn am härtesten verurteilte, klang ihm hold in den Ohren, ihre ganze Angst und ihr Mitleid, als Georg seine Geschichte erzählte, hat seine Wunden geheilt. Er könnte dem, was er für sie fühlt, noch keinen Namen geben, er weiß nur, daß er von ihr alles ertragen könnte. Die Tatsache, daß sie ihn gerade so geliebt hat, wie er gewesen ist, deucht ihm etwas übermenschlich Herrliches. So oft sie es ausspricht, daß sie ihn liebt, geht ein Entzücken durch seine Seele, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Er versucht, die Aufmerksamkeit des Fuhrmanns auf sich zu lenken; dieser sieht aber gar nicht nach der Seite, wo er liegt. Da versucht er sich aufzurichten, fallt aber sofort unter unsäglichen Schmerzen wieder zurück.

Jetzt sieht er, wie sich die Kranke ängstlich und unruhig im Bett bewegt. Sie hebt flehend die gefalteten Hände zu Georg auf; aber dessen Gesicht bleibt streng und unerbittlich.

»Ich würde dir Aufschub geben, wenn dir ein solcher etwas nützen könnte,« sagt er zu ihr. »Aber ich weiß, daß du keine Macht über diesen Mann hast.«

Darauf neigt er sich über sie, um die Worte auszusprechen, die die Seele aus der irdischen Hülle befreien. Doch in diesem Augenblick kommt eine dunkle Gestalt auf dem Boden zu der Sterbenden herangekrochen. Mit unerhörter Anstrengung und trotz der unsäglichsten Schmerzen, wie er sie niemals hätte ahnen können, hat David Holm seine Fesseln zerrissen, um zu ihr hinzugelangen. Er ist überzeugt, daß er für diese Widersetzlichkeit durch endlos andauernde Schmerzen gestraft werden wird; aber Schwester Edith soll nicht noch länger umsonst auf ihn warten, wenn er sich mit ihr in demselben Zimmer befindet.

Er hat sich auf die andere Seite des Bettes geschlichen, wo sein Feind Georg ihn nicht sehen kann, und er gelangt wirklich so nahe an die Sterbende hin, daß er eine ihrer Hände ergreifen kann.

So unmöglich es ihm auch ist, nur den allergeringsten Druck auf diese Hand auszuüben, so empfindet sie doch seine Nähe, und mit einer hastigen Bewegung wendet sie sich nun David Holm zu. Sie sieht ihn neben sich, auf den Knien, ja, noch mehr, er hat den Kopf bis auf den Boden gedrückt und wagt nicht zu ihr aufzusehen, nur mit der Hand, die die ihrige umfaßt, teilt er ihr seine Liebe, seine Dankbarkeit, die beginnende Erweichung seines Herzens mit.

Da fliegt der Glanz seligsten Glücks über ihr Antlitz hin. Sie hebt die Augen und sieht ihre Mutter, sieht die beiden Freunde an, wie wenn sie erst jetzt Zeit hätte, ihnen zum Abschied ein letztes Wort zu sagen, mit dem sie deren Mitgefühl für das Herrliche, was ihr widerfahren ist, gewinnen kann. Mit ihrer freien Hand deutet sie auf den Boden, damit die anderen sähen, daß David Holm da bußfertig und reuevoll zu ihren Füßen liegt, und ihre unaussprechliche Freude teilen. Aber in demselben Augenblick beugt sich der Schwarzgekleidete über sie und sagt:

»Du Gefangene, du Holdselige, tritt heraus aus deinem Gefängnis!«

Da sinkt die Kranke in ihr Kissen zurück, und das Leben verläßt sie mit einem Seufzer.

In demselben Augenblick wird David Holm von einer harten Hand weggerissen. Die Fesseln, die er nicht sehen, sondern nur fühlen kann, legen sich aufs neue um seine Arme, während seine Füße frei bleiben, und Georg tut ihm mit zornigem Flüstern kund, daß David Holm nur um der alten Freundschaft willen jetzt nicht mit fürchterlichen Qualen gestraft werde.

»Komm jetzt fort von hier!« setzt er hinzu. »Wir beide haben hier nichts mehr zu tun. Die sie aufnehmen sollen, sind da.«

Mit harter Gewalt reißt er David Holm mit sich. Dieser meint noch zu sehen, daß sich das ganze Gemach rasch mit lichten Gestalten füllt. Er meint solchen auf der Treppe und vor dem Hause zu begegnen, wird aber mit so schwindelnder Eile fortgeführt,, daß er nichts deutlich unterscheiden kann.

 


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