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1.
Herrmann an Schmidts.

Hamburg.

Die Freude des Himmels umschwebe Sie, mein Lehrer, mein Freund, mein Vater! Ich bin Ihnen entflohen. Was konnte ich anders thun? Sie fanden eine Schwester wieder, und mit ihr das Glück Ihres Lebens. Wäre ich werth, Ihr Schüler, Ihr Freund zu seyn, wenn ich mich nicht drei Jahre lang in Deutschland, in der Schweiz, und überall umher treiben könnte, ohne zu scheitern? Nein, mein theurer Schmidts, als Sie mein Lehrer wurden, verkauften Sie Sich meinem Vater nicht; denn Sie liebten mich, den wilden jungen Menschen, der halb Knabe, halb Jüngling war. Mein Herz, mein Vertrauen, meine innige Liebe waren Ihre Belohnung. Als Sie aber meinem kranken Vater versprachen, mich noch drei Jahre lang von Stadt zu Stadt zu führen: da verkauften Sie Sich ihm; und das mußten Sie nicht, sondern glücklich seyn.

Es freuet mich, daß ich einmal ganz ungehindert nur meine Phantasie, meine Grillen, meine Launen zu Rathe ziehen darf. Eigentlich sollte ich in Wien seyn, und bin nun hier in Hamburg. Ich ging hierher, weil ein junger Mensch, für den ich in Cassel anfing mich zu interessiren, nach Hamburg reiste: das hätte ich mit Ihnen nicht gekonnt. Und, mein Freund, ich befinde mich wohl unter der Menschenmasse, die der Handel hier aus beiden Halbkugeln zusammenführt. Man sollte jeden jungen Menschen hierher schicken, wäre es auch nur, um seine Begriffe von Entfernungen zu berichtigen. Seitdem ich hier bin, ist es mir bis Paris nur ein Paar Schritte, und bis Neapel (das ich sonst wie die Römer ihre Serer betrachtete) ein Paar Schritte weiter. Der Kaiser von China ist mir näher gerückt, seitdem ich einen seiner Unterthanen hier gesehen habe. Und doch, so gern ich unter dem Gewühl dieser Menschen bin, zwischen den wehenden Wimpeln der Schiffe, die Tausende von Meilen gemacht haben, und fröhlich die lange Reise wieder antreten; so angenehm mir der Anblick des Lebens, des Treibens, der Bewegung, der Thätigkeit ist: so unangenehm kann er mir doch von Zeit zu Zeit werden; denn – was ist es, frage ich mich, das diesen Ameisenhaufen in eine solche lebendige Bewegung bringt? Geld; nichts als das verächtliche Geld!

Liebe zu Gewinn, zu Geld, sieht man hier auch in den feinsten, seelenvollsten Gesichtern. Ich finde das natürlich, wiewohl es mir wehe thut, daß ich es so finden muß. Aber – ist das Uebrige, warum der Mensch arbeitet, sich mühet, sich quält, warum er erträgt, was er nicht ertragen sollte – ist das mehr? und ist das ganze Leben mehr? Ist der Mohr, der mir gegenüber wohnt, und den ganzen Tag auf den Fersen hockt, Taback raucht und Kaffee trinkt – ist er nicht klüger, als wir alle? Doch nein! wäre er es, würde er dann hier seyn? würde er nicht lieber in dem Schatten seiner heimischen Palme sitzen?

Ich will nicht grübeln, wie Sie mir sonst vorwarfen. Das Leben ist ein Räthsel, welches der Unglückliche in der trüben Stunde seines Schmerzes, und der Glückliche in der kurzen Minute seines Genusses errathen zu haben glaubt. Doch auch wir haben es errathen, in den schönen genußreichen Stunden unsers Vertrauens, unserer Freundschaft, und des Gefühls von sittlicher Ordnung in der Menschenwelt. Es ist die stille, reine Freude am Guten, und, für einen jungen Menschen, wie ich, ist es, trotz allen Grübeleien, recht viel: der Tempel der Hoffnung, die Bahn der Ehre. Man ist glücklich, weil man jung ist: auch das ist viel. Ich weiß, Sie mißgönnen es mir nicht.

 

*

 

2.
Derselbe an denselben.

Hamburg.

Ich liebe! – Lächeln Sie nicht, guter Schmidts. Könnte ich Ihnen doch mein: »ich liebe!« mit der Würde sagen, mit der alles Edle und Gute gesagt werden sollte! Ich liebe; und in meiner Brust ist nicht das verschämte kindische Gefühl eines jungen Menschen, der dem ersten dem besten Mädchen seine Liebeserklärung vordeklamirt hat.

Sie wissen, wie oft wir über die stärkste, die gewaltigste und verderblichste aller Leidenschaften mit einander geredet haben, und daß ich stark genug war, die erwachenden Gefühle meines Herzens zweimal der Vernunft, der Zufriedenheit meines Vaters, und unsrer Freundschaft zum Opfer zu bringen. Ich wagte es, auf Ihr Wort hin, zu kämpfen; und ich siegte. Also hoffe ich, daß Sie jetzt das Geständniß meiner Liebe mit der Achtung aufnehmen werden, die ich für mein Herz fodern zu können glaube.

Ich war nach meiner Gewohnheit ein wenig in der benachbarten Gegend umhergeschweift, kam wieder an die Elbe, und fand am Ufer einen großen Kahn, der nach Hamburg fahren wollte. Das Wetter war ungestüm gewesen; deshalb hatte der Kahn hier angelegt. Jetzt wurde es still und schön, und ich entschloß mich, mitzufahren. Kaum hatten wir vom Ufer abgestoßen, kaum waren die Segel aufgespannt, so sah ich den einen Matrosen fallen und den andern wanken, weil sie im Dorfe aus langer Weile zuviel getrunken hatten. Der Schiffer am Steuer war ganz nüchtern; und so blieb ich ruhig. Kaum aber waren wir in der Mitte des ungeheuren Stromes, so heulte der Wind in die Segel, und ward von Minute zu Minute stärker. Ich war bisher oben auf dem Verdecke gewesen; der kalte heftige Wind trieb mich aber hinunter in die Cajüte. Man hatte die Fensterladen zugemacht, um sich vor dem Winde zu schützen; so konnte ich denn nur hören, daß zwei Frauenzimmer und drei Männer in der Cajüte waren, die zusammen eine Gesellschaft ausmachten.

Man sprach allerlei, z. B. über Schauspiele, und Familiensachen. Ich hatte noch Niemanden in's Gesicht gesehen, so finster war es; aber doch unterschied ich eins von den Frauenzimmern, Anfangs nur an dem schönen Tone ihrer Stimme, und an der ganz fehlerfreien Sprache. Nicht lange, so berief man sich in einem kleinen Streite über ein Schauspiel – ich weiß nicht, welches – auf ihr Urtheil. Sie sagte es mit einer süßen, sehr weiblichen Bescheidenheit; und nun redete sie so schön, ihre Bemerkungen waren so fein, und doch so höchst natürlich, daß man hätte glauben sollen, jeder müsse sie machen können. Immer traf sie den Punkt, auf den es gerade ankam: eine Kunst, die gar nicht leicht ist, und die Sie einmal für das Eigenthümliche einfacher, großer Seelen erklärten.

Ich mischte mich in das Gespräch, und es freute mich, daß ich ein Paar Male mit ihr zusammentraf. Die Unterhaltung wurde mit jedem Augenblicke interessanter; doch auf einmal hörten wir über unserm Kopfe poltern, und der Kahn machte ungewöhnliche Bewegungen, die von dem Striche, den er bis jetzt gehalten hatte, nicht herrühren konnten. Ich trete an die Thür der Cajüte, höre den Schiffer gräßlich fluchen, gehe hinaus, und habe ein schreckliches Schauspiel vor mir. Der Schiffer steht, im Gesichte dunkelroth, über der Cajüte; die Matrosen stehen unten an dem Mast, und beide fluchen einander wild entgegen. Ihm zum Trotz wollen wir trinken! rufen die Kerl. Wir sind Matrosen, aber nicht seine Sklaven! Mag der Teufel den Kahn holen, und uns dazu!

Kerl! rief der Schiffer, von dem Verdeck herunter in den Raum springend, und wollte den Matrosen fassen. Da sprangen die Uebrigen herbei, und einer zog sogar sein Messer. Während dessen zerriß der wüthende Sturm das große Segel. Ich verstehe zwar nichts von der Schifffahrt, sah aber doch, daß der Kahn vor dem Winde trieb. Auf den Lärm kamen die übrigen Reisenden hervor. Ein ältlicher Mann wurde bleich, als er nur einen Blick auf den tobenden Strom, und auf die Lage unseres Kahnes geworfen hatte. Jansen! rief er mit zitternder Stimme dem Schiffer zu: wir gehen zu Grunde, wenn nicht anders gesteuert wird! – Jansen war jetzt nicht im Stande zu hören; er fluchte nur gräßlich auf die Matrosen. Der Reisende rief noch lauter: wir sind verloren! Gott erbarme sich unser! – Die Matrosen standen bei diesem Geschrei mit einem teuflisch triumphirenden Lächeln da.

Helfen Sie mir, rief Jansen, vor Wuth ganz außer sich, diese Teufels-Kerl, dieses höllische Lumpenpack zur Vernunft bringen, oder wir sind verloren! Wir sprangen hervor; doch nun zogen die Unmenschen ihre Messer. Die drei Reisenden flohen in die Cajüte zurück, und schrieen, wie Kinder, um Hülfe, die sie doch nur in ihrem Muthe finden konnten. Ich zog mein Couteau, und sprang auf die Seite des Schiffers. Gehen Sie, rief ich mit donnernder Stimme, an das Steuer, wohin Sie gehören! Befehlen Sie den Matrosen; und den Ersten, der sich widersetzt, – hier trat ich ihnen ganz nahe – haue ich nieder!

Mein Couteau schien auf die Matrosen Eindruck zu machen. An das Steuer! rief ich dem Schiffer noch einmal zu. Was sollen die Matrosen thun? – Wie? rief der Verwegenste unter ihnen; Er will uns kommandiren? – An das Segel! rief der Schiffer. Ich zog eine Taschenpistole hervor, und wiederholte donnernd: an das Segel! und redest du noch ein Wort, so jage ich dir eine Kugel durch den Kopf, du Bösewicht!

Mein fester Ton wirkte; alle drei Matrosen gingen an ihre Arbeit. Doch wir näherten uns dem Ufer immer mehr, und der eine Reisende, welcher den Strom und die Gefahr kannte, hörte nicht auf zu rufen: wir sind verloren! Die beiden anderen Männer lagen betend auf den Knieen. Das eine Frauenzimmer war in Ohnmacht gefallen; das andre aber trat in die Thür, und sagte mit fester lauter Stimme, so daß sie gehört werden konnte: »ich verlasse mich auf unsre braven Matrosen; die werden wohl dafür sorgen, daß wir nicht versinken.«

Jetzt sah sich einer um, und rief: nein, meiner Seele! es wäre ja Schade um so eine schöne Mamsell! Frisch, Cameraden! gewendet! – Nicht lange, so flog unser Schiff von dem gefährlichen Ufer zurück in die Mitte des Stromes. Nun blickte ich hinter mich, und erstaunte, denn ich sah den Himmel in dem Gesichte dieses Mädchens.

Wir blieben Beide stehen, priesen laut die Geschicklichkeit der Matrosen, und feuerten sie dadurch immer stärker an. »Die Gefahr,« sagte mir das Mädchen heimlich, »ist noch gar nicht vorüber.« Ich bewunderte ihre Fassung; denn es war in der That ein fürchterliches Schauspiel! Das Heulen des Sturms in den Segeln; das Donnern der Wogen am Kiel; die ungleichen Wellen, die sich, gleich wüthenden Feinden, einander entgegenwälzten, doch, wie zu unserm Untergange verschworen, ihre ganze Wuth gegen die eine Seite des Kahnes richteten; der schwarze Himmel, der tief auf uns herabhing, dann, vom Sturme zerrissen, sich öffnete, daß ein Sonnenstrahl wie ein zuckender Blitz hervorbrach, und in dem fallenden Regen leuchtete, doch bald wieder von tiefem Dunkel verhüllt wurde! Ich hatte die Natur noch nie in diesem erhabenen Aufruhre gesehen!

Nun flog der Kahn um eine Landzunge, und der Strom erweiterte sich majestätisch. In diesem Augenblick legte sich der Sturm, und es folgte eine tiefe Ruhe: die Wolken zogen sich am Horizonte hinab, die Sonne ging seitwärts immer schöner unter; auch der Strom wurde nach und nach immer stiller, und endlich gegen Abend, als der volle Mond aufging, glich er einem klaren, glänzenden Spiegel. Jetzt trat das Mädchen mit mir und einem Andern auf das Verdeck, während daß wir nahe an dem schönen Ufer hinfuhren, welches mit mahlerischen Baumgruppen, Dörfern und Landhäusern besetzt war. Das Jauchzen der Kinder, die am Ufer spielten; kleine Fischernachen, die in dem Silber des Flusses umher schwebten, eine Menge Wasservögel, die über den glatten Spiegel wegschossen; zwei Waldhörner, die in einem kleinen Gehölz eine sanfte Melodie bliesen, und tausend Nachtigallen, die nahe und fern wirbelten: das alles machte sogar auf die rohen Matrosen Eindruck; selbst sie feierten den schönen Anblick der ruhigen Natur, der freundlichsten Nacht.

Auch die Frau, die sich jetzt von ihrer Angst erholt hatte, kam auf das Verdeck, um mir zu danken; denn meine Entschlossenheit sollte nun einmal uns Alle gerettet haben. Ein schrecklicher Tag! sagte sie. Ich konnte das nicht sagen, und bemerkte an einem Zuge in dem schönen Gesichte des Mädchens, daß sie eben so fühlte, wie ich. Vor Hamburg ward angelegt, weil der Schiffer Lust hatte, sich hier in einem Wirthshause von seiner Angst zu erholen. Meine Reisegefährten baten mich mit Herzlichkeit, die Nacht mit ihnen in einem Landhäuschen zuzubringen. Ich nahm die Einladung an, um nicht eigensinnig zu scheinen.

Man brachte unsre Sachen nach dem Landhause, das nicht weit vom Ufer entfernt war. Die Frau befand sich nicht wohl; auch wir Andern bedurften Ruhe, und gingen bald aus einander.

Das junge Frauenzimmer ist schön: das war alles, was ich dachte. Ihre Fassung, ihr Muth? Nun, sie hatte mir ja selbst gesagt, daß sie schon einige Male auf der See gewesen wäre. Ihr warmes, echtes Gefühl für die Schönheit der Natur, das sie nur durch entzückte Blicke, nicht durch Worte, äußerte, hatte mir gefallen; aber ich war ganz ruhig geblieben. Und bin ich das nicht noch jetzt, da ich sie von ganzer Seele liebe? bin ich nicht noch ruhiger, als an jenem Abend?

Am folgenden Morgen erkundigten wir uns gegenseitig, wer wir wären. Man fing noch einmal an, mir zu danken. Ich sagte: es war von mir sonst nichts, als eine mechanische Bewegung, womit sich jeder Mensch gegen eine drohende Gefahr stemmt.

Aber das rettete uns, Herr von Bärburg, erwiederte die Tante, Madame Schuygens; ohne Sie wären wir verloren gewesen.

Die Nichte hatte bisher geschwiegen, und mir, während die Andern sprachen, nur mit freudigen Blicken gedankt. Jetzt sagte sie lächelnd: »die Alten bauten dem Glücke sogar Tempel; so erlauben Sie uns denn, daß wir dem Glücke danken, welches Sie zu uns führte.«

Ich nahm Abschied, und man begleitete mich bis auf die Landstraße. Wir, die Nichte und ich, waren schneller gegangen, und hatten bis jetzt nur einzelne Worte über den gestrigen Tag und Abend gesprochen. Nun blieben wir stehen, die Uebrigen zu erwarten. »Seltsam!« sagte sie: »wir kennen Sie erst seit gestern; und schon heute trennen wir uns, wahrscheinlich auf immer.« (Ich hatte ihr gesagt, daß ich bald abreisen würde.) Vielleicht sehe ich Sie noch einmal, erwiederte ich; und sie machte eine Verbeugung, ohne mir zu antworten, oder mich auch nur mit einem Blicke einzuladen.

Einige Tage vor dem, welchen ich zum Antritt meiner Reise nach England oder Frankreich bestimmt hatte, ging ich noch einmal zu Madame Schuygens. Ich wurde im Hause von niemand empfangen, ging die Treppe hinauf, und hörte in dem geöffneten Zimmer zu einem schönen Flügel singen. Marie (so heißt die Nichte) sang gerade die letzten Stanzen einer Romanze: sehr einfache Worte, mit der einfachsten Musik, welche aber, gewaltig wie die Natur, in das Herz drangen. Der Schluß hieß:

Der Liebe stiller Schmerz
Zerbricht das treue Herz.

Nun folgte ein langes Nachspiel, das erst schmerzlich die letzten Seufzer eines gebrochenen Herzens nachhallte, dann immer ruhiger, immer sanfter wurde, und sich mit ein Paar starken, erhabenen Accorden endigte.

Jetzt machte ich eine Bewegung. Sie sah sich um, sprang auf, und kam mir mit einem freundlichen Gesicht entgegen. Verzeihen Sie, sagte ich: ich bin schon seit einigen Minuten hier, wollte Sie aber nicht unterbrechen. Sie erwiederte, ein wenig erröthend: »wie werden es meine Verwandten bedauern, daß sie gerade heute in Hamburg sind!« – Sie war allein; und, lieber Schmidts, ich hatte eine Art von Freude darüber. Werden Ihre Verwandten nicht noch heute zurückkommen? fragte ich. Es wäre mir lieb, sie noch einmal zu sehen, und ich habe keinen andern Tag mehr übrig.

»Wahrscheinlich gegen Abend,« erwiederte sie.

Ich war entschlossen, zu bleiben, und sagte ihr lächelnd: Wenn man kommt, um auf immer Abschied zu nehmen, so hat man das Vorrecht, sich nicht so genau an die gewöhnliche Sitte zu binden. Ich habe mich darauf gefreuet, den heutigen Tag hier zu verleben, und werde nicht gern wieder weggehen, wenn Sie es mir nicht ausdrücklich befehlen.

»Herr von Bärburg,« erwiederte sie lächelnd, »es würde mir nahe gehen, wenn ich Sie durch irgend etwas veranlaßt hätte, das zu sagen. Sie sind mir willkommen!« (Dabei reichte sie mir zutraulich die Hand.), »Ja, es freuet mich sogar, daß Sie mich allein finden; denn nun kann ich Ihnen heute wahrscheinlich eine Freundin vorstellen, die Ihnen dafür danken wird, daß Sie mich gerettet haben.« Sie ging hinaus, vermuthlich um ihre Freundin einladen zu lassen. Als sie zurückkam, war das Gespräch Anfangs abgebrochen, und ein wenig gezwungen; sie schien nicht ganz so heiter, so ruhig, wie sonst: doch nach einer Stunde hatte sich das Fremde verloren. Wir gingen miteinander in einen kleinen Garten, und sprachen von ihren Blumen, von der Natur, von Musik, von Land- und Stadtleben. Alles, was sie sagte, war einfach, ungesucht, natürlich; doch alles verrieth einen vollkommen ausgebildeten Geist und ein tief fühlendes Herz. Sie verließ mich von Zeit zu Zeit, um nach der Küche zu sehen, und erkundigte sich, zuletzt sogar in meiner Gegenwart, und mit heiterer Ruhe, ob der Bote, den sie zu ihrer Freundin geschickt hätte, noch nicht wiedergekommen wäre.

Ich empfand noch immer keine Liebe für sie; aber ich fühlte, daß sie die Liebe aller Männer verdient und das Ideal eines edeln Mädchens ist. Die schöne jungfräuliche Würde, worin sie sich immer zu erhalten wußte, die feine zarte Weiblichkeit, in deren Gränzen sie blieb, ohne nur einen Augenblick ängstlich, verlegen, oder gar genirt und steif zu werden, veranlaßte mich zu dem Tone der Vertraulichkeit, zu dem mein naher Abschied auf immer mir Muth gab, wenn auch mich nicht berechtigte. Ich sagte ihr, was ich von ihr dachte. Sie nahm das nicht als eine Schmeichelei, als ein fades Compliment auf, wie es tausend nicht ungebildete Mädchen unter gleichen Umständen genommen hätten, sondern als Wahrheit; und nun erzählte sie mir, mit einer schönen Bewegung ihres Herzens, welch ein vortrefflicher Mann ihr verstorbener Vater gewesen sey, und mit welcher Sorgfalt er für ihre Bildung gesorgt habe. In dem allen verrieth sich indeß nicht die mindeste Spur von Eitelkeit; was sie sagte, war nur eine rührende Lobrede auf ihren Vater.

Ihre Vertraulichkeit diente mir zum Beispiel, und Ich erzählte ihr von Ihnen, lieber Schmidts. Wir waren Beide sehr bewegt. Nun ließ sie mich eine ganze lange Zeit allein, höchst wahrscheinlich, weil sie dieser starken Bewegung unserer Herzen nicht trauete. Endlich kam – nicht ihre Freundin, sondern die Tochter derselben, ein Kind von dreizehn Jahren, das sich ihr in die Arme warf, wie man sich einem edeln Fürsten zu Füßen wirft. Es war ein liebliches Schauspiel, wie die Kleine mit begeisterter Liebe, mit ungeheuchelter Ehrfurcht an ihr hing! Sie hatte noch eine jüngere Schwester bei sich, ein Kind von acht Jahren; und auch diese flog auf Marien zu, und drückte ihre Hand an die kleine Brust, mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke der innigsten Zärtlichkeit in dem fröhlichen Gesichte.

Marie schien zu fühlen, daß die beiden Kinder nicht hätten mit mir zusammen kommen sollen; denn jetzt gerieth sie aus einer Verlegenheit in die andre. Die Kinder hörten nicht auf, sie zu loben, so sehr sie auch steuerte und wehrte. Als die ältere Schwester hörte, daß ich der glückliche Mensch wäre, der ihrer Marie das Leben gerettet hätte, kam sie, mit der schönen Gluth der jungfräulichen Schamhaftigkeit und des liebenden Eifers im Gesichte, auf mich zu, und sagte: o, ich will ewig an Sie denken, und für Sie beten! – Also wissen Sie, liebes Kind, fragte ich mit einer listigen Miene, wie alles gekommen ist? Die Kleine wollte reden; doch Marie hinderte sie daran. Ich bitte Sie, sagte ich: soll ich nicht hören, wie Sie geliebt werden? Julie erzählte mir nun, während Marie den Tisch besorgte, wie ihre Marie sie liebe und sie unterrichte; wie alle Menschen Marien liebten, alle, die sie auch nur ein einziges Mal gesehen hätten. Sie konnte nicht aufhören zu erzählen. Ich fragte sie aus, und endlich seufzte sie mit einer unbeschreiblichen Betrübniß in den Augen: ach, glücklich ist meine gute Marie gar nicht! Aber still! das darf Niemand wissen! Marie muß nicht einmal erfahren, daß ich es weiß.

Diese Paar Worte machten – ich weiß selbst nicht, warum – einen heftigen Eindruck auf mich. Ich stand auf, und trat an ein Fenster. Was für ein Unglück, was für einen Gram konnte Marie haben? und warum hatte ich gar nichts davon gemerkt, auch nicht den kleinsten Zug des Kummers oder der Sorge in ihrem holden, freundlichen Gesichte, in ihren stillen, zufriedenen Augen? Marie kam gerade in das Zimmer, sah mich im Fenster stehen, blickte – sorgend, wie es mir schien – auf ihre Schülerin, und sagte nun in freundlichem Scherze: »nicht wahr? meine Julie liebt mich sehr!«

Ich trat ernst auf sie zu. Nicht mehr, als jeder Mensch Sie lieben muß.

»Sie hat Ihnen vermuthlich erzählt, wie viele Mühe ich mir gegeben habe, ihre Liebe zu gewinnen.«

Mademoiselle, ich bin von Juliens einfacher, wahrer Erzählung zu bewegt, als daß ich jetzt reden könnte. Bei diesen Worten faßte ich ihre Hand, und beugte mich darauf nieder; doch ich küßte die Hand nicht, in der That aus einem Gefühle der zartesten Achtung. Sie wendete sich von mir ab, nahm Julien in ihre Arme, und drückte sie mit Blicken der innigsten Zärtlichkeit an ihre Brust, doch ohne sie zu küssen.

Bei Tische nahm ich meinen Platz zwischen ihr und Julien. Es war eine Mahlzeit, die ich nie vergessen werde! – Um die beiden kleinen Verrätherinnen zum Schweigen zu bringen, erzählte Marie, in einer holden Verwirrung, mit Wangen, die von einem sanften Purpur angehaucht waren, allerlei Kleinigkeiten. Ich horchte auf den Ton ihrer schönen Stimme, auf die feinen Wendungen, die sie gebrauchte, um keine Veranlassung zu neuem Lobe zu geben, und dann auf die Erzählung selbst, die ihr eignes Herz in Bewegung brachte. Jetzt wurde ihre Stimme noch schöner. Sie vergaß die eigentliche Absicht ihrer Erzählung; und so näherten wir uns nach und nach einem besseren Tone voll freundschaftlichen Zutrauens, voll reiner Fröhlichkeit. Heiter, so heiter, wie ich vielleicht noch nie gewesen war, erzählte ich nun; und das Gespräch wurde eine lange Reihe von Scherzen und Einfällen.

O, sagte Julie endlich, sehr vergnügt: nicht wahr? wenn es immer so wäre, wie heute! Aber wenn der Cousin hier . . . – Sie brach ab, weil Marie ihr einen Wink gab. »Der Cousin!« Ich runzelte die Stirn, als hätte man den Nahmen meines Todfeindes genannt.

Nach Tische sang Julie, und Marie spielte dazu. Nein, in diesem Augenblicke durfte ich sie nicht bitten, zu singen; denn ihre Stimme hätte meine Seele zerschmolzen. Ich warf nur von Zeit zu Zeit einen Blick auf ihr schönes Profil, auf die edle Stirn, die feinen Lippen, die schöngeformten Wangen, in deren Rosen das holdeste Lächeln ein Grübchen gedrückt hatte; sah nur die schöne weiße Hand, mit Sicherheit, und doch so ruhig, die schwersten Stellen ausführen, und wiederholte mir unablässig die Worte: »ach, glücklich ist die gute Marie gar nicht!«

Nun kam ein Bote aus Hamburg, der ihr die Nachricht brachte, daß ihre Verwandten in der Stadt bleiben würden. Ich griff nach meinem Hute. »Wird meine Tante nicht das Vergnügen haben, Sie noch einmal zu sehen?« fragte sie, doch bloß höflich, weiter nichts. – Meine Abreise ist auf übermorgen bestimmt, antwortete ich, sehr betrübt; denn ich wollte ja von der edelsten, schönsten Seele Abschied nehmen. Meine Augen funkelten – ich weiß selbst nicht, ob von Thränen, oder von einer wehmüthigen Begeisterung. Ich ergriff ihre Hand, und sagte mit Tönen, die aus dem Innersten meines Herzens kamen: nur zwei Augenblicke habe ich Sie gesehen, Mademoiselle Schuygens; doch diese beiden Augenblicke sind die schönsten meines Lebens. Ihre Hand zitterte ein wenig in der meinigen; sie verbeugte sich, öffnete die Lippen zweimal, und sagte dann, wie über sich selbst lächelnd: »die Art, wie wir einander kennen lernten, war so einzig, und die Trennung selbst so schnell! Ich bitte Sie, die Versicherung meiner Achtung und meines Vertrauens anzunehmen.« Ihr Auge fing an zu glänzen. Sie verbeugte sich tief, als ich ihr die Hand küßte. Nun wendete ich mich, um die gewaltige Bewegung meines Herzens zu besiegen, schnell an Julien, umfaßte sie, und drückte sie an mein Herz. Sie schlug die Arme um meinen Nacken, und sagte: o, Sie guter Mann! Sie haben meiner Marie das Leben gerettet! Aber müssen Sie denn reisen? müssen Sie nothwendig? – Lieber Schmidts, es war mir, als ob das eine Stimme vom Himmel riefe! Ich wendete mich wieder zu Marien, und sagte ganz ruhig: in der That, die liebe Kleine hat Recht. (Sie verstand mich nicht; denn ihr Betragen blieb unverändert.) Ich muß nicht reisen; ich brauche nur nicht reisen zu wollen, und so, Mademoiselle, sehe ich Sie noch wieder. – Sie verbeugte sich, und dabei war eine kleine Unruhe in ihrem Gesichte; doch die verschwand bald wieder, und sie nahm mit ganz unverstellter Freundlichkeit von mir Abschied.

Ich fühlte, und mit Stolz, daß ich sie liebte. Nicht mit Unruhe dachte ich an sie, nicht mit der heftigen Sehnsucht der Leidenschaft, sondern mit der ruhigsten Hoffnung, mit der Gewißheit ihres Vertrauens, ihrer Freundschaft. Sie zu heirathen, dieser Wunsch war noch nicht deutlich in meiner Seele; ich wünschte sonst nichts, als sie glücklich zu sehen. Und »glücklich ist die gute Marie gar nicht!« hörte ich noch immer Julien sagen; und »der Cousin!« Diesen brachte ich mit Mariens Unglück in Verbindung. Ich träumte allerlei durch einander, und eben daran merkte ich denn, daß mich, trotz meiner Ruhe, trotz meinem inneren Frieden, an Marien noch etwas Andres interessirte, als ihr Glück. Ich stellte mir den Cousin immer mit der Figur und dem Gesichte eines hiesigen Mäklers vor, der mich bei einem Geldgeschäfte um einige Hundert Mark betrogen hat. Sah ich irgend einen alten häßlichen Mann bei einem jungen hübschen Mädchen, so dachte ich den Augenblick an den Cousin. Kurz, lieber Schmidts, der Cousin war es, der mich belehrte, daß ich Marien liebte.

Ich breche ab. Mein Wagen ist da. Ich gehe für einige Tage aufs Land. Bald sollen Sie mehr von mir hören.

 

*

 

3.
Derselbe an denselben.

Hamburg.

Ich muß Ihnen weiter erzählen, lieber Schmidts. Gelegentlich erkundigte ich mich nun in den Häusern meiner Bekannten nach Schuygens. Es giebt hier mehrere dieses Nahmens, die aus Holland hergezogen sind; doch von einer Mamsell Schuygens, die ein Wunder von Schönheit und Bildung wäre, will Niemand etwas wissen. – Ich besuchte nach acht oder vierzehn Tagen die Familie wieder. Man empfing mich sehr freundlich, und nun wurde mir denn der Cousin, unter dem Nahmen Sall, vorgestellt, der mir sehr umständlich dafür dankte, daß ich das kostbare Leben seiner Cousine erhalten hätte. Er war weder ein schöner Mann, noch so häßlich, als ich ihn mir bisher gedacht hatte: ein junger Kaufmann, prächtig, ein wenig allzu sorgfältig, gekleidet, an dem alles, was er that, sogleich den Anbeter seiner schönen Cousine verrieth. Man schien nicht zu wissen, daß ich neulich da gewesen war, um Abschied zu nehmen. Aber als ich etwa fünfzehn Minuten mit Marien gesprochen hatte, näherte sich mir der Cousin Sall, fragte mit einem affektirt freundlichen Wesen: wann ich von Hamburg abreisen würde; und erbot sich, wenn ich nach einer Handelsstadt ginge, mir Adressen mitzugeben. Ich antwortete ihm trocken, daß mich jetzt noch Geschäfte in Hamburg zurückhielten. Geschäfte? fragte er verwundert; ich glaubte, Sie wären ein Edelmann! – Und welche Geschäfte kann der haben, meinen Sie? fragte ich lächelnd. Er wich nicht von meiner Seite, hatte die Hände auf den Rücken gelegt, und horchte so auf jedes Wort, das ich mit Marien sprach.

Marie selbst war sich vollkommen gleich: freundlich, himmlisch freundlich gegen mich, und sanft gegen den ihr gewiß sehr lästigen Cousin, der ihr die fadesten Schmeicheleien sagte. Beim Abschiednehmen erbot Herr Sall sich noch einmal, mir für meine weitere Reise durch Briefe nützlich zu seyn, und nannte mir auch einige Städte, welche von einem Reisenden gesehen zu werden verdienten. Als er hörte, daß ich alles Merkwürdige in Hamburg gesehen hätte, wunderte er sich sehr, daß ich noch länger bleiben könnte. Kurz, er gab mir nicht undeutlich, obgleich auch sehr höflich, zu verstehen, daß er meine Abreise gar nicht bedauern würde. – Fünf glückliche Minuten hatte ich, als Herr Sall ein Paar Zeilen auf ein Aviso seiner Correspondenten antworten mußte. Marie sagte mir während der Zeit recht viele Grüße von Julien. »Die Kleine,« setzte sie hinzu, »liebt Sie jetzt eben so sehr, wie mich. Sie denkt noch immer an den schönen Tag, da Sie hier waren, und ist stolz darauf, daß sie Ihr längeres Bleiben in Hamburg veranlaßt hat.«

Es brach ein so reines Vertrauen aus Juliens Seele hervor. Sagen Sie ihr, ich ließe ihr danken für alles, was sie mir von ihrer guten Cousine Marie anvertrauet hätte.

»Anvertrauet?« fragte sie etwas unruhig; doch bald war wieder ein sanftes, ruhiges Lächeln in ihrem Gesichte. »Anvertrauet? Was kann das Kind von mir wissen!«

Sie sagte mir z. B., was ich seitdem nie habe vergessen können: ihre gute Marie sey gar nicht glücklich.

»Die kleine Plauderin! Das war es also, was sie Ihnen gesagt hatte, als ihr Thränen in den Augen standen?«

Das war es. Das Auge des Kindes schwamm in Thränen, und mein Herz in theilnehmender Betrübniß.

Sie blickte zu Boden, und sagte: »in der That, Sie sind allzu gütig; aber – Theilnahme eines Freundes thut dem Herzen wohl, und die Ihrige würde mein Leiden vermindert haben, wenn ich eins zu tragen hätte. Was man in Juliens Hause, was Juliens gütige Mutter so nennt, ist nichts, oder viel, sehr viel; doch kein Unglück, unter dessen Last ich leiden müßte. Mein Vater starb: ein vortrefflicher Mann, den ich, so lange ich lebe, beweinen werde. Nun zog ich zu meiner Tante. Das nennt man ein Unglück. Ist es aber nicht vielmehr ein Glück, daß sie mich nach dem Tode meines Vaters, der mir nichts hinterlassen konnte, bei sich aufnahm? Sie kennen meine Tante. Freilich liebt sie mich nicht, wie mein Vater mich liebte; aber doch mehr, als ich es je durch den pünktlichsten Gehorsam verdienen kann. Gewiß, Herr von Bärburg, ich lebe hier recht zufrieden, recht glücklich.« – Jetzt trat der Cousin wieder zu uns, und ich nahm Abschied, wobei die Tante mich einlud, bald wiederzukommen.

Mariens Schönheit hatte mich entzückt, ihr Geist bezaubert; doch ihre immer gleiche Ruhe, ihre immer sanfte heitre Geduld fesselten mich. Mochte sie sagen, was sie wollte: sie war gewiß nicht glücklich. Man sah, man hörte es nicht; und doch war es so unverkennbar, daß die Menschen, unter denen sie hier lebte, nicht zu ihrem Geiste paßten. Sie wissen, ich hasse nichts stärker als die Prätensionen der sogenannten gebildeten Leute, die immer mit halber Verachtung von jedem weniger Gebildeten reden. Aber dieses Mädchen, unter diesen Menschen! Ein Vetter, der immer eine rothe Sammet-Weste ohne Rock trägt, und nichts Anderes über seine Zunge kommen läßt, als Tabacksrauch, und die Wörter: Mark Banko, Briefe, Cours, Papiere; die Tante, eine runde, recht gutherzige Frau, die wahrscheinlich ehemals in einer glänzendern Lage gelebt hat, und daher von nichts anderem redet, als von den Mitteln, zu Ehren zu gelangen; die bei allen Heirathen in Hamburg berechnet, wie viele tausend Mark da zusammen gebracht sind; an den Fingern alle arme Mädchen herzählt, die nach dem ersten besten Manne greifen sollten, um zu Brot und Ehren zu kommen; die den Reichthum für alles hält, doch ihn sich zu nichts Anderem wünscht, als jedes Jahr vier große Feten geben zu können, von denen ganz Hamburg sprechen sollte, und auf die sie sich jedes Mal drei Monate vorbereiten müßte. Sie weiß noch alle Feten, die sie in ihren glücklichen Zeiten gegeben, und nennt mir sogar alle Delikatessen oder Seltenheiten, mit denen sie ihre Gäste überrascht hat! Ihr Mann ist eine Zeitlang in Nordholland ansäßig gewesen; daher singt sie jeden Morgen vier Holländische Psalmen, die Marie mit dem Flügel begleiten muß, ohne die Sprache zu verstehen. – Doch, ich greife der Geschichte vor; denn das alles habe ich zum Theil erst später erfahren. – Nun folgt der reiche Cousin, der sich um die Hand der schönen Marie bewirbt; ein wahrer, echter Kaufmann, der gar keinen Begriff davon hat, wie ein Mensch einige hundert Thaler in der Tasche oder im Büreau behalten kann, ohne damit zehn Procent gewinnen zu wollen. Er rechnet Marien täglich seine Hunderttausende vor, und begreift nicht, daß sie davon nicht bezaubert wird. Einige Tausend Mark, die Marie geerbt hat, stehen in seiner Handlung, und jeden Sonnabend, wenn er nach der Börsenzeit zu der Tante auf das Landhaus kommt, muß sie sich Schilling für Schilling vorrechnen lassen, wie viel sie nun gewonnen hat. Darum nennt er sich auch, mit einem Scherze in seiner Manier: »Sall et Compagnie.« Er begreift nicht, wie Marie je etwas anders lesen mag, als Reimers Rechenkunst. Für mich bekam er einmal großen Respekt, weil ich ihm begreiflich machte, daß die Logarithmen, die er bis dahin für ganz unnütz gehalten hatte, dem Kaufmann allerdings sehr brauchbar wären.

Dies sind die Menschen, die Marien täglich umgeben! Die Tante und der Vetter mit der rothen Sammetweste quälen sie obendrein alle Tage einige Stunden, doch ja den Cousin Sall nicht fahren zu lassen. Er hat so und so viel Mark Banko, Cousine, sagt der Vetter; das macht auf Amsterdam so viel, auf London – warten Sie, ich will erst den Cours nachsehen – ja recht! so viel, in Paris so viel, in Genua so viel. –

Ich ging zuweilen wieder hin, und jedes Mal wurde ich kälter aufgenommen. Marie war immer nicht da: bald mußte sie mit dem Vetter eine Rechnung collationiren, bald hatte sie einen Besuch zu machen. Man gab mir auf alle nur mögliche Weise zu verstehen, daß ich doch je eher je lieber abreisen, oder wenigstens nicht wiederkommen möchte. Endlich wurde ich sogar abgewiesen, und mehr als Einmal kurz hinter einander. Die Herrschaft wäre verreist; man wüßte nicht, wann sie wiederkommen würde. Das war das Ende! –

Ich wünschte, Marien nur noch Einmal auf ein Paar Minuten allein zu sprechen, um sie zu fragen, ob sie mein seyn wolle. Auch das nicht! Denn mein Vater . . .! Und ich wußte, was Marie mir antworten würde. Ich will ihr nur sagen, sie solle sich nicht bewegen lassen, ihre Hand einem Manne zu geben, den sie nicht liebe. – Zuweilen schweifte ich in weiten Kreisen um das Landgut her. Aber was wollte ich? Ich kannte ja Marien, und war gewiß, daß sie mich hinter dem Rücken ihrer Tante nicht würde sprechen wollen. Einmal hatte ich ihr schon geschrieben; ich zerriß aber den Brief, weil ich ja wußte, daß sie keinen Brief von mir annehmen würde. Das wußte ich und freuete mich darüber; aber dennoch war ich beinahe in Verzweiflung. Nun hoffte ich, der Zufall – Zufall? – die Vorsehung sollte mich begünstigen, das Mädchen, ohne welches ich nicht leben kann, einmal wieder zu sehen.

Meine Hoffnung wurde erfüllt. Eines Tages bin ich im Schauspiele; und auch dieses feinere Vergnügen zerstreuet mich nicht. Ich lehne mich an die Brüstung der Loge, ohne zu hören und zu sehen. Auf einmal stößt jemand mit einem Finger auf meine Schulter. Ich blicke seitwärts; und nun flüstert eine Stimme mir zu: »Herr von Bärburg!« Es ist die kleine Julie. O, mein Gott! sage ich: Sie sind es? Sie, meine liebe Julie? Was macht Ihre Cousine?

»Es hat mir rechte Mühe gekostet, zu Ihnen zu kommen. Sehen Sie, dort hinten saß ich. Ich fürchtete immer, Sie würden weggehen, ehe Sie mich bemerkt hätten. Dort sitzt meine Mutter; von der soll ich Sie grüßen. O, ich mußte Ihnen doch sagen, daß ich hier bin! Aber freundlich sind Sie gar nicht mehr, auch blaß, so blaß, wie meine Cousine.«

Meine beste, liebste Julie; was macht Ihre Cousine?

»Sie spricht von Ihnen recht viel, mit der Mama mehr als mit mir, ob ich ihr gleich versprochen habe, sie in meinem Leben nicht wieder zu verrathen. Aber warum haben Sie ihr auch wiedergesagt, was mir so herausfuhr, weil ich Marien so herzlich liebe! Sehen Sie nur! Mama lacht, daß ich mich doch zu Ihnen durchgedrängt habe.«

Ich sah hin, und verbeugte mich. Eine junge Frau dankte mir mit holder Freundlichkeit. In dem Zwischenakte schrieb sie etwas mit Bleistift, und ließ es mir durch ihre Nachbaren zukommen. Es war die Bezeichnung ihres Landhauses bei Hamburg, und eine Einladung auf den folgenden Tag. Ich verbeugte mich wieder, und nun winkte sie ihrer Tochter, mit der ich so gern noch von Marien geplaudert hätte.

Beim Hinausgehen wartete ich auf sie, und redete sie an. »Meine Tochter,« sagte sie lebhaft, »hat mir von Ihnen so viele Gutes gesagt, und Sie haben sich bei jedem, der Mamsell Schuygens kennt, so viele Anrechte auf Dankbarkeit erworben, daß ich es mir erlauben mußte, Sie ohne alle Umstände einzuladen, ob ich Sie gleich noch nicht kannte. Wir erwarten Sie mit recht frohem Herzen.« Nun verbeugte sie sich, und stieg mit Julien in den Wagen. Diese gab mir einen Wink, dessen Bedeutung ich nicht errathen konnte: es war, als wollte sie zu verstehen geben, sie habe etwas gethan, was sie nicht hätte thun sollen.

Ich fuhr am folgenden Tage hinaus, und sah gleich bei dem ersten Schritt in den Garten, daß hier eine reiche Familie wohnte, und daß ein fühlendes Herz den Garten angelegt hatte. Man führte mich zu Madame Schulz. Julie wollte mir entgegen springen, und kam wirklich mit einem Freudengeschrei auf mich zu. Doch auf einmal blieb sie stehen, und sagte: Ach, der Cousin! nun weiß ich es erst! –

»Herr von Bärburg,« sagte die Mutter mit feiner Grazie: »meine Kinder empfangen Sie mit Frohlocken, die Mutter mit recht freundschaftlicher Wärme.« –

Nach einer halben Stunde war ich hier wie zu Hause. Madame Schulz sagte mir mit der herzlichen Vertraulichkeit guter Menschen, daß ihre beiden Töchter nicht aufgehört hätten, von meiner Freundlichkeit, von meiner Güte zu erzählen. »Herr von Bärburg,« fuhr sie fort, »das muß eine Mutter wohl bestechen!« Von Marien war gar nicht die Rede; selbst Julie, die, wenn sie einen Augenblick mit mir allein war, sogleich mit lachenden Augen auf mich zu kam, schwieg von dem, was ich am liebsten gehört hätte, und ich sah ganz deutlich, daß es ihr verboten war, von Marien zu reden. Gegen die Tischzeit kam Herr Schulz, ein Kaufmann, der aber wenig Geschäfte mehr macht; und nun mußte ich die Scene auf der Elbe erzählen, durch die ich mit Marien bekannt geworden bin.

»Sie wohnt nur eine kleine Stunde von hier-« sagte Herr Schulz. »Warum hast du sie nicht eingeladen? Sie ist die Freundin meiner Frau und meiner Kinder, und wir kennen sie hier, wie man sie überall kennt, wohin sie kommt: als einen wohlthätigen Engel. Haben Sie unsre Freundin seitdem wieder gesehen?«

Ich bin einige Male da gewesen, antwortete ich ruhig, weil ich sah, daß Madame Schulz es gern vermeiden wollte, von ihr zu reden.

»Da gewesen?« (Er sah mich verwundert an.) »Sie sagen das so kalt, Herr von Bärburg! Wir reden von ihr immer mit Entzücken.« Er nahm sein Glas, und trank auf Mariens Gesundheit. – Es ist kein Enthusiast, lieber Schmidts, es ist ein beinahe kalter Mann, der nun wirklich mit Entzücken von dem Mädchen sprach! Seine Frau wollte ihn gern auf ein andres Gespräch bringen; er schilderte aber die Menschen, mit denen Marie leben muß, und fast das ganze Gespräch bei Tische betraf nur diese.

Nach dem Kaffee fuhr Herr Schulz in die Stadt, und ich blieb mit der Frau allein. Ich rechnete auf ihre Vermittelung; doch vergebens. Augenscheinlich vermied sie das Gespräch von ihrer Freundin vorsetzlich, ob das gleich sehr natürlich schien. Sie erzählte wohl von Marien, weil wir, Julie und ich, unablässig auf sie zurückkamen; doch sie sagte kein Wort, woraus ich nur die kleinste Hoffnung für mich hätte schöpfen können. Noch mehr, sie bedauerte sogar, daß ihre Freundin jetzt so äußerst selten zu ihr käme. Las sie vielleicht in meinen Augen die Bitte, daß ich bei ihr Marien noch einmal zu sehen wünschte?

Sie bat mich, ihr Haus oft zu besuchen; und wie gern versprach ich das! Beim Abschiede äußerte ich einiges Bedauern über Mariens Lage.

»Mein Mann findet ihre Lage so übel, wie die Männer überhaupt jede beschränkte Lage. Wir Weiber denken darüber anders. Haben Sie eine Klage von Marien gehört?«

Und dennoch kann sie sehr unglücklich seyn. Wenn ich nur das Einzige bedenke, daß ein Mann, den sie nicht liebt, sie mit Anträgen verfolgt . . .

Sie fiel lebhaft ein: »Ein Mann, den sie nicht liebt? Das hat mein Mann nicht gesagt. Aber wenn auch! Glauben Sie mir, wir Weiber finden eine solche Verfolgung so lästig nicht. Herr Sall ist übrigens ein sehr ehrlicher, braver Mann.«

Madame, ich nehme lebhaften, sehr innigen Antheil an dem Schicksal der Mamsell Schuygens. Sie werden dem Freunde eine Besorgniß verzeihen . . .

»Verdanken! Wem wäre es nicht lieb, seine Freundin so werthgehalten zu sehen! Aber wahrlich, Sie haben eine zu üble Meinung von Herrn Sall; und – ein Mädchen, Herr von Bärburg, muß ja fast immer, wie man sehr richtig sagt, ihre Hand verschenken. Dafür bekommt sie aber etwas, das uns Weibern recht viel gilt: den ehrwürdigen Titel Frau, und einen eigenen Hausstand.«

Und verkannt wird der edle, stille Geist; verkannt, vielleicht verspottet, das schöne Herz voll Sehnsucht nach Liebe, nach einem besseren Loose!

»Verkannt? O, wer würde das nicht! Marien würden tausend Männer verkennen, glauben Sie mir das!«

Aber nicht verhöhnen, nicht zurückstoßen! sagte ich mit Feuer.

»Das verhüte ihr guter Engel! Es ist das Schrecklichste von allem, wenn die Liebe, die ein stilles Herz nach langem Kampfe errungen hat, verspottet wird.«

Errungen? läßt sich die Liebe erringen?

»Ja; das müssen wir Weiber meistens. Aber darum ist unsre Liebe unsre Tugend, wie sie der Männer Lohn ist. Marie wird den Mann lieben, dem sie ihre Hand giebt. O, Sie wissen nicht, wie edel, wie zart, wie schön ihre Seele ist!«

Ich soll Sie heute nicht verstehen, Madame! Eben, weil sie so schön, so edel ist, sollte sie nicht weniger erhalten, als sie geben kann: die reine, edle Liebe eines vollen großen Herzens. In ihren Augen sollten nie andre als Freudenthränen stehen.

»Wäre denn ohne andre Thränen ihr Herz der Freudenthränen werth? Würde der Mensch so stark werden, wenn er nicht trüge? – Ich achte Ihre Besorgniß für das Loos meiner Freundin; doch – Mariens Schicksal wird nicht härter seyn, als sie es tragen kann. Sie wird nie unglücklich seyn, das weiß ich, weil ich sie schon lange, ich möchte sagen, von Kindheit auf, kenne.«

Jetzt wußte ich nichts mehr zu sagen, und ging. Hier, guter Schmidts, haben Sie meine Geschichte. Sie errathen, was mir fehlt: die Einwilligung meines Vaters. Er liebt mich, und – Er entscheide über das Schicksal seines Sohnes! Reisen Sie zu ihm, lesen Sie ihm meine Briefe vor; auch diese Stelle. Ich ehre meinen Vater zu sehr, als daß ich nicht sogleich alle Wünsche nach der größten Glückseligkeit meines Lebens aufgeben sollte, wenn er Nein sagt; aber ich bitte ihn, mir diese Glückseligkeit nicht zu verweigern. Daß Sie eilen müssen, brauche ich nicht erst zu erinnern. O, die fürchterlichen Worte der Madame Schulz; »ein Mädchen muß ja ihre Hand fast immer verschenken!« Ach, vielleicht ist Marie schon in dem Augenblicke, da ich dies schreibe, das Eigenthum eines Andern! Warum habe ich mich ihr nicht zu Füßen geworfen! warum ihr nicht gesagt: ich liebe dich! Aber, sie hat meine Liebe in meinem Herzen gelesen, und ich die ihrige, wenn nicht in ihrem Herzen, doch in Juliens Worten: Marie spricht von Ihnen recht viel.

Könnte ich doch diese Julie nur eine einzige Stunde allein sprechen! Dafür gäbe ich –

Leben Sie wohl!

 

*

 

4.
Derselbe an denselben.

Hamburg.

Ich hoffe auf Antwort von Ihnen, wie der Verbrechen auf das Wort Gnade. Mein Vater wird schwächer, schreiben Sie mir, aber nicht eine Sylbe Antwort auf meine Bitte. Lassen Sie sein Ja den besten Segen seyn, den er giebt. »Die Sache scheint Ihnen nicht so eilig!« O, warum nicht, lieber Schmidts? Sie tadeln meine Liebe nicht; aber Sie gehen darüber hin, wie über eine unbedeutende Kleinigkeit. Wenn Sie nicht antworten, Schmidts, so muß ich den Knoten zerhauen; so mag Marie selbst über das Glück meines und ihres Lebens entscheiden! –

Ich ging jeden Abend in das Theater, und in die Loge, in welcher Madame Schulz neulich saß, um sie dort einmal wiederzusehen. Endlich kam sie. Ich verbeugte mich, als sie hereintrat. Sie dankte mir so fremd, daß ich erschrak – so in die Luft hin, daß jeder Andere in der Loge den Gruß auf sich hätte beziehen können. Doch als bei einer vorzüglich interessanten Scene alles in der Loge mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörte, sah sie sich nach mir um, und nickte mir mit dem freundlichen, lieben Gesichte zu, als ob sie mich erst jetzt erkennte. Sobald der Vorhang fiel, that sie wieder, als sehe sie mich nicht; und auf einmal sagte sie – so laut, daß ich es hören mußte – zu einem Frauenzimmer neben ihr: »ich glaubte, der Cousin, Herr Sall, würde heute kommen.« (Das war ein gutes Zeichen.) »Sind Sie übermorgen,« fragte sie weiter, »auch bei Schuygens?« –

Ja. Und Sie, Madame Schulz?

»Ich kann nicht. Ich erwarte einen lieben Besuch, auf den ich schon lange gehofft habe.«

Und der ist?

»Ein junger Herr,« antwortete Madame Schulz lachend, »den ich immer auf eine seltsame Weise einlade: immer in dieser Loge.«

Das war ein noch besseres Zeichen! – Ich verbeugte mich, und ging.

Als ich zwei Tage nachher in ein kleines Bosket trat, das einen Theil des Gartens ausmacht, sprang mir Julie mit einem Freudengeschrei entgegen. »Ach, Sie also sind der Besuch, den mir meine Mutter auf heute versprach?« – Nun hatte ich endlich was ich wünschte. Ich zog Julien in eine nahe Laube; und schon nach einer halben Minute waren wir bei Marien. Die Kleine erzählte mir, doch sehr vorsichtig, daß Marie noch recht oft käme; und dabei legte sie den Finger auf den schönen lächelnden Mund, als ob sie nichts verrathen dürfe. »O,« sagte sie dann, recht stolz: »ich weiß wohl, was Sie gern wissen möchten!«

Nun? was möchte ich denn gern wissen? fragte ich lächelnd.

»Sie wollen mich fangen! Ja, wenn ich Ihnen nichts sagen wollte, so würden Sie doch nichts erfahren. Aber ich will Ihnen alles sagen, was Mama und die Cousine Marie mit einander gesprochen haben, viel, sehr viel! Ich saß dabei Und ließ meine Schwester lesen; aber sie las, was sie wollte, und ich hörte, was ich wollte.«

Guter Schmidts, ich durfte die Offenherzigkeit des Kindes nicht mißbrauchen, mich nicht eindrängen in Geheimnisse, die Marie nur der vertrautesten Freundschaft entdecken wollte. Nein, liebe Julie! sagte ich liebkosend; was Marie der Mama anvertraute, hätten Sie nicht hören sollen, wie ich es von Ihnen nicht hören will. Man muß Niemanden betriegen.

Die Kleine sah mich mit großen Augen an. »Aber es ist ja von Ihnen!«

Desto weniger darf ich es wissen, liebe Julie. Sie haben gefehlt, mein Kind. Horchen ist etwas sehr Uebles.

Dem kleinen Mädchen kamen Thränen in die Augen. »Ach, ich bin nur dann neugierig, wenn es Marien betrifft; sonst horche ich nie!«

Am wenigsten darf man den behorchen, den man liebt! Sie werden das nicht wieder thun, liebe Julie.

»O, gewiß nicht!« sagte sie; und in dem Augenblicke trat die Mutter mit glänzenden Augen in die Laube. Sie war sehr freundlich gegen mich, sehr gütig, und sagte einige Worte, die mich schon jetzt beinahe nicht zweifeln ließen, daß sie meine Unterredung mit ihrer Tochter gehört hätte. Kaum hatte sie sich gesetzt, so trug sie Julien ein Geschäft im Zimmer auf.

»Marie,« hob sie nun mit großer Freundlichkeit an, – »ich weiß, es wird Sie interessiren – Marie hat Herrn Sall ausgeschlagen.« (Ich fühlte, daß meine Wangen glüheten, daß meine Augen von hoher Freude glänzten.) »Nun hat man ihr aber aufs neue einen Monat Bedenkzeit gegeben. Ihre Tante und Herr Sall sind fest entschlossen, die Verbindung zu Stande zu bringen, es koste auch, was es wolle.«

Die Elenden! fuhr ich auf.

»Herr von Bärburg!« sagte sie warnend. »Sall ist ein ehrlicher braver Mann, der nur unglücklicher Weise nicht zu begreifen weiß, wie ein Mädchen, das nur einige tausend Mark in Vermögen hat, einen Mann mit einer Million ausschlagen kann. Das begreifen aber auch andre Menschen nicht, wie zum Exempel Mariens Tante, die übrigens eine brave ehrliche, gutherzige Frau ist.«

Ich konnte mich nicht halten. Warum soll ich länger schweigen? Ich liebe Marien, und mein Herz ist nicht verächtlich.

»Sie sagen mir damit kaum etwas Neues,« erwiederte sie lächelnd. »Aber, Herr von Bärburg, ich habe diesen Augenblick gefürchtet; denn das soll doch wohl die Einleitung zu einem Gespräche seyn, bei dem ich nur wenige Antworten haben werde. Ich liebe Ihre Aufrichtigkeit, und achte Ihre zarte Empfindung für Marien. Nun denn, Offenheit gegen Offenheit! Ich weiß nicht, was Marie für Sie fühlt. Das aber kann ich Ihnen mit Bestimmtheit sagen: sie denkt nicht an eine Verbindung mit Ihnen, und auf ihre Weigerung gegen Herrn Sall haben Sie gar keinen Einfluß gehabt.«

Das heißt, ich soll meine Hoffnungen auf Mariens Hand aufgeben?

»Es heißt nicht mehr, als was ich gerade gesagt habe. Marie hat von Ihnen mit Achtung und mit der Wärme gesprochen, womit ihr schönes Herz die Pflicht der Dankbarkeit immer erfüllt. Aber seitdem sie weiß, daß wir einander zuweilen sehen, vermeidet sie solche Gespräche. Eine Unterredung, welche Julie behorcht hat, betraf Sie, doch von einer ganz andern Seite. Herr Sall möchte sie gern für einen Abenteurer erklären; und das hat Marien weh gethan. – Je mehr ich unser Verhältniß überdenke, Herr von Bärburg, desto deutlicher sehe ich auch, was Sie bewegen konnte, mir Ihr Herz zu eröffnen, und was Sie wohl gar dahin bringen könnte, zu glauben, zwischen mir und Marien finde irgend ein Mittheilen von Geheimnissen Statt. Ich lud Sie ein, weil Julie nicht aufhörte, von Ihnen zu reden, und weil Sie Mariens Retter sind. Sie gewannen meine Achtung, und ich lud Sie zum zweiten Mal ein – auf eine geheimnisvolle Weise, weil Herr Sall ein eifersüchtiges Auge auf Sie hat, und weil die Frau, mit der ich redete, seine Schwester ist. Erfuhr man, daß Sie bei mir aus- und eingehen, so war mein Umgang mit Marien abgebrochen. Ich bin Ihre Freundin, Herr von Bärburg; aber liebe ich Marien mehr als Sie. Dies muß ich Ihnen sagen, damit Sie nicht glauben, was nur ein Zufall ist, sey ein Plan meiner Freundin.«

Ich verstehe Sie, Madame, erwiederte ich betrübt. Sagen Sie mir nur gerade heraus, daß Marie mich eben so wenig liebt, wie Herrn Sall.

»Mit Ihnen ist schwer fertig zu werden! Ich habe Ihnen gerade heraus gesagt, was ich weiß, und ich bitte Sie, meine Worte ganz buchstäblich zu nehmen.«

Aber, Madame, könnte ich denn Marien nicht ein einziges Mal hier bei Ihnen nur ein Paar Stunden sprechen? Ich liebe Marien, und erwarte mit jedem Tage die Einwilligung meines Vaters zu einer Verbindung mit ihr. Nun will ich ihr nur sagen, was sie doch wissen muß: daß ich sie liebe.

»Gewisse Dinge sind so zart, daß man sie nicht berühren darf. Ich soll Marien hieher locken? Oder – soll ich ihr vorher sagen, was sie hier zu erwarten hat? Hieße dann Kommen nicht, schon einwilligen? Würde Marie kommen? Ich glaube kaum. Ihre Tante läßt sie mit Zutrauen hierher gehen, weil sie nicht weiß, daß Sie hier sind; muß ich dieses Zutrauen nicht ehren? Sie fodern nichts Ungerechtes; aber Sie hoffen noch auf die Einwilligung Ihres Vaters. Marie, sage ich Ihnen, ist so stolz als gut. Herr von Bärburg, ich wünsche, daß sie die Ihrige werden möchte; doch um dieses Wunsches willen bitte ich Sie, ja zu bedenken, daß Sie, wenn Marie Ihnen Ihre Achtung entziehen müßte, auch ihre Liebe nie gewinnen könnten. Ihres Vaters Einwilligung scheint mir das Allernothwendigste. – Marie hat Salls Hand ausgeschlagen, und ich wollte Ihnen fast dafür stehen, daß er sie nie bekommen wird. Jetzt bitte ich Sie, mir nichts weiter zu sagen. Ich bin Mariens Freundin, und daher verpflichtet, mehr als jeder Andre die Stille zu ehren, womit sie ihr Herz bedeckt. Kommen Sie!« – Wir gingen in das Haus. Längeres Bleiben wurde mir nun zu einer Pein, und ich kehrte früh nach Hamburg zurück.

Sagen Sie mir, lieber Schmidts, kann ich nicht aus der Behutsamkeit, mit der man sich gegen mich verwahrt, eben aus der Stille, womit Marie ihr Herz bedeckt – kann ich daraus nicht schließen, daß ich ihr nicht gleichgültig bin? Darf ich nicht glauben, daß Madame Schulz mehr weiß, als sie sagt, oder, wenn auch nicht weiß, doch vermuthet, ahnet? Ich fürchte, daß sie in ihrem Zartgefühle zu weit ginge, wenn sie nicht glaubte, daß ich ihrer nicht bedürfe. Sie handelt so, und nicht anders, um von dem Charakter ihrer Freundin jeden Anschein von Thätigkeit – die man ja den Mädchen in solchen Fällen, gleichviel ob mit Recht oder mit Unrecht, so übel auslegt – zu entfernen. Sollte nicht ein Seufzer, irgend eine kleine Anmerkung über mich einer so feinen Frau wie Madame Schulz, Mariens Geheimniß verrathen haben? Lieber Schmidts antworten Sie mir auf diese Frage; denn sie entscheidet! Ich kann die Einwilligung meines Vaters erwarten, bitte Sie aber, so viel als nur möglich, zu eilen.

Und wird nicht Madame Schulz Marien meine Liebe entdecken? wird sie nicht, wenn sie ihr nicht alles offen sagt – doch, warum dürfte sie das nicht? – ihr wenigstens leise andeuten, daß ich sie liebe, daß ich mit Sehnsucht den Augenblick erwarte, wo ich ihr meine Liebe erklären kann? – Ich will den Rath der Madame Schulz befolgen, und mich ruhig verhalten.

 

*

 

5.
Derselbe an denselben.

Hamburg.

Madame Schulz ist eine sehr liebenswürdige Frau. Ich besuche sie jetzt oft mehrere Tage hinter einander. Herr Sall hat erfahren, daß ich bei ihr gewesen bin; und nun ist – was sie voraus sagte – Marien der Umgang mit ihr verboten. Ich begreife nicht, sagte ich, warum Marie diese Tyrannei erträgt. Muß sie denn bei diesen harten Verwandten leben? – »Nein, sie muß nicht; denn ich würde sie wie einen segnenden Engel aufnehmen. Aber ihr Vater hat sie seiner Schwägerin, die er nicht recht kannte, übergeben; und sie ehrt mit Geduld seinen letzten Willen.« (Ich seufzte.) »Können Sie das tadeln?«

Da erzählt mir nun Madame Schulz von Mariens Kinderjahren: die lieblichsten Idyllen voll paradiesischer Unschuld. Sie zeigt mir Briefe von ihrer Freundin: wahre Meisterstücke, eben weil in ihnen nicht die mindeste Kunst ist. Ich kopiere sie mir nach und nach, ohne daß die Schulz es weiß. Auch den Brief, worin sie unsre Gefahr auf der Elbe beschreibt, habe ich gefunden. Sie sagt darin ein Paar Worte zum Lobe – nicht meiner Fassung, meiner Entschlossenheit; sondern sie hat einen kleinen Zug bemerkt, den sie mir hoch anrechnet. Als die Gefahr vorüber war, holte ich aus meinem Flaschenfutter einige Bouteillen Wein hervor, um sie unter die Matrosen zu vertheilen. Gerade mit eben dem, der das Messer auf mich gezückt, und dem ich die Pistole vorgehalten hatte, stieß ich an, um mich so, stillschweigend, mit ihm zu versöhnen, und war freundlicher gegen ihn, als gegen die übrigen. Dies rechnete sie mir als eine edle Humanität an. Daß der schöne Abend Eindruck auf mich gemacht, hatte sie nicht einmal bemerkt: so war sie selbst in den Entzückungen ihrer Seele verloren gewesen!

Schmidts, bei der Familie Schulz gehe ich auf dem geheiligten Boden ihrer Kindheit; denn hier das Landhaus hat Mariens Vater gehört, und nichts ist seitdem verändert worden. Das kleine Gärtchen, worin sie als Kind ein Dutzend Blümchen gepflanzt, und Erbsen für ihre Vögelchen gezogen hat, ist noch unangetastet; es erbt von Kind auf Kind, und heißt noch jetzt: Mariens Freude. Da sitze ich unter Rosen, sehe sie als ein schönes Kind umherhüpfen, und lese ihre Briefe; da sitzt Madame Schulz neben mir, und erzählt, wie rein, wie edel, sich aus dem unschuldigen, lächelnden, frohen Kinde die schamhafte, bescheidene Jungfrau entwickelt hat; wie die Liebe zu allem Guten und Schönen sich in die erste Sehnsucht des erwachenden jungfräulichen Herzens gemischt, und zur reinsten, unschuldigsten, frömmsten Empfindung der Tugend geworden ist.

O, Sie sollten hören, lieber Schmidts, mit welcher begeisterten Liebe die Schulz, die in früheren Zeiten ganz nahe bei ihr wohnte, und alle Tage mit ihr lebte, wie die von ihr redet! Ich danke ihr, ich küsse ihr die Hände, und betheure ihr tausendmal, daß ich Marien glücklich machen werde. Wenn ich sie jetzt noch einmal bäte, mir eine Zusammenkunft mit Marien zu verschaffen, so würde sie es, glaub' ich, thun. Sie liebt mich, wie ihren Bruder, und ihre Kinder nennen mich Oheim. Alle lieben mich, alle; doch nur, weil ich ihre Marie so unaussprechlich liebe.

Ich erwarte mit brennender Ungeduld ein Paar Worte von Ihnen, und den Segen meines Vaters. Haben Sie mich denn ganz vergessen? Lieben Sie Ihren Herrmann nicht mehr-? Schmidts, ich bitte Sie dringend, zu eilen!

 

*

 

6.
Derselbe an denselben.

Hamburg.

Wie? Mein Vater dem Tode nahe, und ich soll hier bleiben? Hat dieser Befehl ein fürchterliches Geheimniß zum Grunde, mein theurer Lehrer? oder was soll ich sonst glauben! Mein Vater stirbt, und die Hand eines Fremden soll ihm die Augen zudrücken, nicht die Hand seines Sohnes? Ich erstarre, so oft ich das lese! Hundertmal an Einem Tage bin ich entschlossen, dem Befehle nicht zu gehorchen, sondern zu ihm hin zu eilen; doch Ihre Worte –

O, mein theurer Lehrer, mein Freund, mein Vater! Sie können mich nicht betriegen, nicht täuschen. »Dein Vater,« schreiben Sie mir, »stirbt langsam an der Auszehrung. Er befiehlt dir, zu bleiben, wo du bist. Ehre diesen Befehl deines sterbenden Vaters, Herrmann, so schwer es dir auch werden mag. Er muß sich noch mit seinem Bruder, dem Rittmeister, versöhnen, und« – so schreiben Sie – »ihm eine Sache entdecken, die schwer auf seinem Leben gelastet hat.« Auch Ihnen ist die Sache ein Geheimniß? – Schmidts! mein Vater ist ein sehr edler Mann; und doch liegt ein schwerer Gram auf seiner Seele! O, würde nicht sein Herz an dem ihn liebenden, ihn ehrenden Herzen seines Sohnes sanfter brechen, als vor den Augen eines Bruders, der so unversöhnlich gegen ihn war? Ich höre schon die rauhe Stimme des Rittmeisters, von dem jeder Ton wie ein harter Vorwurf klingen wird. Soll mein Vater nicht lieber die sanftere, klagende, weinende Stimme seines Sohnes hören? Wer darf mich von ihm wegdrängen! Nein, ich komme! In Sohleben erwarte ich ein Billet von Ihnen. Die Pferde sind bestellt. Leben Sie wohl.

 

*

 

7.
Derselbe an denselben.

Hamburg.

Hier bin ich wieder! Tausendmal lese ich in Ihrem Billet die furchtbaren Worte: »Die Bitte, der Befehl des Vaters darf den Sohn von dessen Sterbebette zurückweisen, und der liebende Sohn muß ihn befolgen.« – Ich schweige. Aber mir ist – o, wie könnte ich es beschreiben! In jedem Augenblicke höre ich die Seufzer eines Sterbenden; ich höre meines Vaters Stimme Herrmann! rufen; ich sehe überall ein offnes Grab!

 

*

 

Die Einwilligung meines Vaters werde ich nicht erhalten, sagen Sie? O, es ist grausam, das Glück des Sohnes auf einen Zeitpunkt zu verweisen, wo der Vater ihn nicht mehr segnen kann! Es liegt viel auf meinem Herzen; sehr viel! Die ganze Schulzische Familie ist während meiner Abwesenheit von hier nach Lübeck gereist, wo Madame Schulz eine Schwester hat. Der Verwalter sagte mir, als ich sie besuchen wollte: man glaube, ich habe Hamburg auf immer verlassen. – Ohne Abschied zu nehmen? – »Ja, Herr von Bärburg, das fiel meiner Herrschaft sehr auf; es war ihnen gar nicht gleichgültig, daß man darüber allerlei sagen konnte. Madame hat recht für Sie gestritten. Ich habe mich sogar bei Ihrem Wirth erkundigen müssen. Die Antwort aber war nicht hin, nicht her; es hieß, Sie waren, ohne einem Menschen ein Wort zu sagen, bei Nacht und Nebel davon gegangen.« (Bei Nacht und Nebel! Der Ausdruck fiel mir auf. Ich dachte an den Abenteurer, wozu mich Herr Sall gern machen wollte.) »Verzeihen Sie, man braucht ja diesen Ausdruck wohl bei solchen Gelegenheiten. Mamsell Julchen weinte helle Thränen.« – Bei welchen Gelegenheiten, Herr Verwalter? Nicht wahr, man sagte, ich sey durchgegangen, und zwar sagte das einer aus Salls Hause. – »Nun, da Sie es schon wissen – Herr Sall selbst. Schulden halber, hieß es, wären Sie durchgegangen. Herr Sall hatte sogar eine Liste von den Schulden.«

Schmidts, das brachte mein Blut in Wallung. Ergrimmt über den elenden Menschen, den Sall, der meine Schulden zu Buche trägt, fuhr ich nach Hamburg. Ich steckte einen beträchtlichen Wechsel ein, kleidete mich – wie kindisch war ich! – in die reiche Landschafts-Uniform, und fuhr zu Herrn Sall, der, so wie er mich erblickte, augenscheinlich erschrak. Ich bat ihn, mir den Wechsel auf Wien zu Gelde zu machen. Er betrachtete ihn sehr genau. Finden Sie ihn verdächtig? fragte ich boshaft; oder meinen Sie etwa, er werde nicht hinreichen, meine Schulden zu bezahlen? – (Er bückte sich fast bis auf die Erde.) Sie bücken sich; aber ich sage Ihnen, Herr Sall, wenn Sie noch einmal so gütig sind, mit einem Register von meinen Schulden umher zu gehen, so werde ich bei Ihnen eine Schuld machen, von der Sie wohl schwerlich zu irgend einem Menschen ein Wort sagen möchten. – Er bückte sich wieder sehr tief, und sagte: das Papier ist gut. Wenn Sie befehlen, so . . . Der Cours ist ein halb Procent. –

Die Angst, womit er das sagte, machte mich kälter. Ich schämte mich meiner Kinderei, ließ mir den Wechsel von ihm bezahlen, und ging ganz kalt und höflich von ihm weg.

Zu Hause stellte ich aber doch Ueberlegungen an, die mich aufs neue gegen Herrn Sall erbitterten. Wer wußte nun, daß ich nicht davon gelaufen war? Denn Er wird sich wohl hüten, meiner zu erwähnen. Und wenn wenn nun Marie glaubte, der Mann, für den ihr schönes Herz vielleicht zum ersten Male etwas gefühlt hat, sey ein Betrieger! – Herr Sall! dachte ich; unsre Rechnung ist noch nicht abgeschlossen.

Am folgenden Abend war ich in einer Gesellschaft, wo ich, ohne es vorher zu wissen, die ganze Sippschaft des edeln Herrn Sall antraf. Sobald man meinen Nahmen hörte, sprach man so bedeutend von Abenteurern, von Menschen, die, auf einen falschen Nahmen, auf erdichteten Reichthum hin, borgten, und sich in gute Familien eindrängten! Auch ein Dummkopf hatte merken müssen, daß alles das mich treffen sollte. Herr Sall, Herr Sall! Sie könnten leicht einmal eine andre Münze einnehmen, als Gold oder Silber. Ich ging unmuthig nach Hause.

Am nächsten Morgen nehme ich kurz und gut eine Karte, melde darauf meine Rückkehr nach Hamburg, und schicke sie der Tante Schuygens. Mein Bedienter giebt die Karte, wie er nachher sagt, einem Mädchen, das so schön ist, wie ein Engel. Sie hätte gelächelt, setzt er hinzu, als sie die Karte gelesen, und gesagt, sie ließen sich empfehlen. Also weiß sie, daß ich wieder da, daß ich kein Betrieger bin; und nun fühle ich mich ruhig. –

Ich habe ein Avertissement zerrissen, das ich in die Zeitungen wollte einrücken lassen; und meine Rechnung mit Herrn Sall ist abgethan.

Schulzens sind noch nicht wieder hier. Ich schicke alle Tage hinaus. Ach, es sind schon wieder einige Wochen hingegangen, ohne daß ich etwas von meinem Vater gehört habe!

 

*

 

8.
Derselbe an denselben.

Hamburg.

Sie sagen, ich solle ohne den Rath der Madame Schulz keinen Schritt thun? Zu spät! Ein Riesenschritt hat mich – Dank sey es Herrn Salls plumper List! nahe an das Ziel gebracht. Ich glaubte, es wäre, da Madame Schulz nicht hier ist, doch nöthig, die elenden Menschen, die so geschäftig gegen mich sind, ein wenig näher zu beobachten; und das war bald geschehen. Einmal traf ich bei Marien einen jungen Menschen, Salls Anverwandten, einen Thoren von anderer Art, der mit übertriebener Heftigkeit gegen den Kaufmannsstand deklamirte: Sein Vater, ehemals selbst ein Kaufmann, war von Hamburg aus nach Wien gesendet, um – ich weiß nicht, ob zu einer Vermählung, oder einer Thronbesteigung – Glück zu wünschen. Man hatte ihm in Wien einen Titel gegeben, ihn zum Kaiserlichen Agenten in Hamburg gemacht, und ihm eine Huldigungs-Medaille geschenkt. Diese läßt er stracks mit Brillanten besetzen, und der Narr ist fertig. Der Kaiserliche Adler prangt über seiner Hausthür, und die Medaille trägt er seitdem, wenigstens bei Familienschmäusen, im Knopfloche. Er zieht sich vom Handel zurück, läßt seine Kinder auf einen größern Fuß erziehen, und spricht von Adel; kurz, der ganzen Familie sind die Köpfe verdrehet.

Der junge Mensch drängte sich an mich; doch ich hatte mehr zu thun, als die Thorheiten eines Laffen anzuhören, und eine unkluge Familie in ihrer Narrheit zu bestärken. Nun, diesen jungen Menschen treffe ich wieder bei einer Partie in einem Wirthshause. Ich rede ihn an, um irgend ein Wort von seiner Cousine zu erfahren – sehr freundlich, wie sich versteht. Er präsentirt mich seinem Vater, als den Freiherrn von Bärburg; und dieser hebt nun sogleich von seiner Ambassade an, und von dem Einflusse, den er hatte am Kaiserlichen Hofe haben können.

Es war mir um Nachrichten von der schönen Cousine zu thun; deshalb mußte ich aushalten. Man bittet mich, bei der Gesellschaft zu bleiben; und nun komme ich denn bald auf den Anfang unserer Bekanntschaft in dem Hause der Madame Schuhgens. »Ach ja!« sagt der junge Mensch. – »Und was macht denn Madame Schuygens? was der Vetter in der rothen Sammetweste? was die Cousine? – Madame singt noch jeden Morgen ihre vier Psalmen; der Vetter trägt noch immer seine rothe Weste, und eine Feder hinter dem Ohr; Mamsell« – »Was will das Mädchen!« fällt der Vater ein. »Sie hat elende fünftausend Mark, und Sall, sein Vermögen abgerechnet, ist ein naher Verwandter von mir, und ich bin Gesandter in Wien bei des Kaisers Majestät gewesen!«

Ich erfuhr, daß Herr Sall noch immer den Liebhaber macht, und daß Marie dabei bleibt, ihn auszuschlagen; daß er aber seinen Kopf darauf gesetzt hat und sein ganzes Vermögen daran wagen will, ihre Hand zu erhalten, und daß man, wenn sie sich nicht bald freiwillig ergiebt, zu Mitteln greifen wird, die nicht fehlen können.

Gar nicht fehlen können! wiederholt die Frau Residentin mit kreischender Stimme; denn Sall, müssen Sie wissen, Herr Baron, Soll, unser Vetter, ist ein Mensch, der, was er einmal haben will, auch haben muß.

Ich lächelte; denn ich konnte doch nicht fragen: was sind das für Mittel? Und so nahm ich eine Einladung an, als ich gehört hatte, daß sie von der ganzen Familie mit sonst Niemand umgingen, als alle Vierteljahre einmal mit Sall, und alle Woche einmal mit einer alten Muhme von der Familie, die nach der Reihe bei jedem ißt, weil sie von jedem alles weiß, doch nur das Böse.

Ich ging einige Mal zu meinem Herrn Residenten. Richtig hörte ich immer etwas von Marien, und zwar immer dasselbe: daß sie Salls Hand ausschlüge. Man nahm mich mit großer Achtung auf, besonders die Tochter, ein sehr hübsches Mädchen, sogar nicht ohne Geist und ohne Sinn für das Gute, aber verzerrt durch den Hochmuth, der die ganze reiche Familie besessen hat. Die Muhme trug fleißig zu, und ich nahm mir aus allem, was für mich paßte. Doch endlich brachte die Muhme ganz andre Nachrichten: In Vetter Salls Hause kehrte man das Unterste zu oberst. Die Zimmer wurden neu gemahlt, die Fenster bekamen Scheiben von Spiegelglas, das Silber wurde umgearbeitet, und Herr Sall ging nicht mehr, sondern tanzte im ganzen Hause herum; auch hatte er ein Paar brillantene Ohrringe und eine reich besetzte Uhr bestellt.

Mein ganzes Inneres war in dem stärksten Aufruhr; doch ich mußte Geduld haben, bis man die Preise der Ohrringe, der Uhr, und alles Andre abgemacht hatte. Also hat, sagte ich endlich, als eine Pause entstand, Mamsell Schuygens doch nachgegeben? – (Sie werden leicht denken können, daß meine Stimme zitterte.)

So sagt man, erwiederte die Muhme; und da sie eine fremde Stimme hörte, so holte sie ihr Glas hervor, um mich näher in Augenschein zu nehmen.

Der Herr Baron von Bärburg, ein Freund unseres Hauses. –

Ah so, so! sagte die Muhme. Sie stand auf, trat zwei Schritte näher auf mich zu, und verbeugte sich; doch nun war es auch vorbei: denn sie hatte mich ja zu beschauen, auszuforschen. Auf mein Alter, meine Zähne, mein Vermögen, meine Güter, meine Ahnen bis in das zwanzigste Glied, auf alles machte sie Jagd. Sie hatte die Kunst zu fragen recht eigentlich studiert. Ich mußte Geduld haben; denn erst wollte sie wissen, ehe ich etwas von ihr erfahren konnte. Dabei verglich sie mich mit der Tochter des Hauses, und that sehr freundlich und geziert.

Erst jetzt fiel ihr ein, daß ja Herr Sall einen Nebenbuhler gehabt hatte, Nahmens Bärburg, der Schulden halber bei Nacht und Nebel aus Hamburg weggegangen war. Wie sollte sie es nun anfangen, mich darüber zu examiniren! Sie öffnete schon den Mund, sprach aber nicht, und sah mich erst lächelnd, dann verdrießlich an. Endlich ließ sie mich sitzen, und ging mit der Frau Residentin (wie man sie wenigstens in der Familie nennt) in ein Nebenzimmer. Nicht lange, so kam sie wieder zurück, trat vor mich hin, und machte mir eine tiefe Verbeugung, als ob sie sagen wollte: nun habe ich die Ehre, Sie zu kennen.

Also, hob sie nun wieder mit offnem Munde an, war es ein Irrthum, und Herr Sall hat sich vergebens gefürchtet. Doch wahr ist und bleibt es, Mamsell Marie hat ihre Einwilligung gegeben. Da Madame Schulz, auf die sie sich verließ, gerade nicht hier ist, so haben sie dem armen Mädchen gedrohet, sie nach Nordholland zu einer alten Großtante zu schicken, die eine Mennonitin, oder wohl gar noch etwas Schlimmeres, ist. Endlich hat sie denn eingewilliget; denn die alte Großtante soll schon zehn Nichten, die sie haben beerben wollen, todt gebetet, und todt gescholten haben. So ist es! Wer es besser weiß, der sage es! – Nun stemmte sie beide Hände auf die Hüften, saß in einer herausfodernden Stellung da, und hielt eine Weile den Mund so weit offen, daß man einen Apfel hätte hineinwerfen können.

Uebrigens, hob sie aufs neue an, begreift Niemand, wie der Vetter Sall, der doch zu einer der größten Familien von Hamburg gehört, sich so viele Mühe um ein Mädchen geben kann, das in der Welt Gottes nichts weiter hat, als eine glatte Haut. Eine Pedantin ist sie, Frau Muhme, die keine Assiette an die rechte Stelle zu setzen weiß; die alle Thiere kennt, aber eine Schildkröten-Pastete nicht von einer Auster-Pastete zu unterscheiden weiß, ein weißhäutiges Ding, die als Frau mehr Geld in die Apotheke, als zu dem Schneider schicken wird, und die, als ich sie zum ersten Male sprach, ihre nächsten Verwandten nicht kannte. Von ihrem Herkommen munkelt man ja auch so allerlei. Gott sey Dank, eine ehrliche Herkunft ist doch das Beste im menschlichen Leben!

Endlich schwieg dieser lebendige Steckbrief, diese Läster-Chronik. Sie stemmte beide Hände auf die Hüften, und sagte: so ist es! so! – Nun wollte die giftige Creatur sogleich wieder über mich her fallen; doch ich nahm meinen Hut, und empfahl mich.

Warum aber, fragte ich zu Hause mich selbst – warum sollte es nicht wahr seyn? Ist denn die Schulz nicht abwesend? Kenne ich die Tante in Nordholland? ist sie nicht vielleicht ein Ungeheuer, gegen das Herr Sall für einen Engel gelten könnte? Jetzt wurde mir alles auf einmal so schrecklich wahr, daß ich hätte verzweifeln mögen!

Am folgenden Morgen ging ich den Weg nach dem Landhause ihrer Tante. Ich überlegte noch einmal, was ich Marien anzubieten hätte, und war fest entschlossen, sie jetzt, es koste auch, was es wolle, zu sehen und zu sprechen. Es begegnete mir ein Wagen, und ich wich hinter ein Gebüsch aus, weil die Straße enge und kothig war. In dem Wagen saßen die Tante und der Vetter mit der rothen Weste. Ich setzte meinen Weg nun rascher, muthiger fort, und ging seitwärts durch den Garten, um, ohne abgewiesen zu werden, durch eine Seitenthür in das Haus zu kommen. Nach zehn Schritten trat mir Marie in dem Theile des Gartens entgegen, der durch hohe Obstbäume und eine Haselnuß-Allee ganz verdeckt ist.

Sie erschrak, als sie mich erblickte; doch faßte sie sich bald, und ging ruhig auf mich zu. Wie es mir schien, war sie ein wenig blasser, ein wenig hagerer; in ihren Augen glaubte ich Merkmahle eines finstern Grams und auf ihren Wangen Spuren von Thränen zu bemerken.

So sehe ich Sie endlich einmal wieder, meine Freundin! fing ich an, und küßte ihr die Hand. Endlich! O, wie habe ich mich nach diesem Augenblicke gesehnt!

Sie war in Verlegenheit, und schwieg. »Ihr Besuch soll ohne Zweifel meine Tante gelten,« sagte sie nach einer Pause, in welcher sie sich gesammelt hatte.

Ganz und gar nicht. Mein Besuch gilt Sie; Ihre Tante begegnete mir nicht weit von der Stadt.

»Herr von Bärburg, so willkommen Sie mir auch immer sind, so muß ich Sie doch bitten, mich nur dann zu sehen, wenn meine Tante hier ist. Sie hätten mir diese Art von Vorwurf wohl ersparen sollen!«

Nein, Mademoiselle, ich bin nicht hier, Sie zu sehen, sondern die Pflicht der Menschlichkeit gegen das edelste Mädchen zu erfüllen. – Sie sah mich starr an. – Man will, fuhr ich fort, Sie zwingen, Ihre Hand einem Manne zu geben, der, wenn Sie ihn auch liebten, sich durch niedrige Ränke Ihrer unwürdig gemacht hätte.

»Man will mich zwingen, Herr von Bärburg; man wird und kann es aber nicht. Indeß – ich danke Ihnen für Ihre Theilnahme.«

Man drohet Ihnen mit einer Tante in Nordholland, weil Madame Schulz nicht hier ist, auf deren Freundschaft Sie rechnen könnten.

»Man drohet mir, Herr von Bärburg. Sie selbst werden, sobald Sie mit Ruhe über die Sache nachdenken, leicht einsehen, daß man mich nicht gegen meinen Willen nach Nordholland transportiren kann. Man drohet mir, wie Kindern: mit etwas Unmöglichem. Und nun ganz offen. Ihre freundschaftliche Theilnahme an meiner Lage könnte mir leicht drückender werden, als diese Lage selbst. Doch das ist nicht Ihre Schuld. Ich bitte Sie, Herr von Bärburg, mich meinem Schicksal zu überlassen; es ist so schwer nicht, als Sie glauben. Man kann mir nicht mehr zu leide thun, als ich gerade zu ertragen Willens bin. Uebrigens werde ich nicht zugeben, daß sich irgend jemand zum Richter in einer Sache aufwirft, die nur ich zu entscheiden habe.« Sie sah mich dabei ruhig an; doch, als ob sie befürchtete, daß sie zu viel gesagt hätte, setzte sie gütiger hinzu: »ich danke Ihnen, Herr von Bärburg; aber ich bin auch in dem schlimmsten Falle noch gar nicht verlassen. Meine Freundin Schulz bleibt mir ja immer.«

Sie ist nicht hier; und – verzeihen Sie, daß meiner theilnehmenden Besorgniß für Sie kein Schutz sicher, keiner stark genug scheint, als der Schutz eines Mannes, der für Sie, für Ihr Wohl, ohne Bedenken tausend Leben aufopfern würde; mit Einem Worte, als der meinige!

»Ich danke Ihnen mit Rührung für diesen so seltenen Eifer, wenn er auch zu weit getrieben wäre, was er denn wohl seyn mag. Sie werden mir gewiß glauben, daß ich Herr über meine Hand bin.«

Herr Sall sagt, Sie haben eingewilligt, seine Gattin zu werden.

»Herr von Bärburg,« erwiederte sie mit einem leichten Scherze, »das ist eine bloße Erweiterung unsers Gespräches, die nicht zur Sache gehört. Lassen Sie das aus dem Spiele, was Herr Sall gesagt, und was ich bewilligt haben soll, oder nicht. Ich hoffe, Herr von Bärburg, Sie sind jetzt vollkommen ruhig über mein Schicksal, das, es sey, wie es wolle, immer nur mein Wille seyn wird.« Mit diesen Worten verbeugte sie sich, und mir stiegen Thränen in die Augen, daß ich so, so wieder weggehen, noch einmal dem quälenden Schmerze der Ungewißheit überlassen bleiben sollte. Sie bemerkte es, und blickte seitwärts, nahm einen Zweig von der Erde auf, flocht ihn mit einem andern zusammen, und entzog mir so die schönen Augen, die wahrscheinlich eine mitleidige Thräne benetzte.

Ruhig, sagen Sie? Mit tausend brennenden Pfeilen im Herzen verlasse ich Sie; denn ich sehe, daß ein Weh nach dem andern über mein Herz fallen wird. Sie fühlen, daß Sie mit Ihrer Geduld, mit Ihrem Muthe die Hölle in ein Elisium verwandeln können; Ihnen wird der Schmerz unterthan und die Quelle einer geistigen Freude. Ich sehe, wie es kommen wird! Sie werden sich dem Wunsche Ihrer Verwandten aufopfern, mit Ihrem Schmerze die Ruhe der Familie wieder herstellen.

»Herr von Bärburg,« sagte sie jetzt in starker Bewegung, »wenn Sie wissen, wie, ich denken muß; wenn Ihr Herz das meinige erräth: o, so machen Sie mir ein schweres, aber vielleicht unvermeidliches Opfer nicht noch schwerer, nicht – – noch unvermeidlicher!«

Unvermeidlich? fragte ich erstaunt.

Sie sah mich an, und ihr blaues Auge bedeckter sich allmählich mit der langen, schönen Wimper. »Man wird mit desto mehr Härte in mich dringen, je mehr man sieht, daß ich Freunde habe, die Theil an mir nehmen.«

Ich faßte ungestüm ihre Hand, die sie mir aber sogleich, mit einer sehr natürlichen Bewegung nach ihrem Schleier hin, wieder entzog. So sey es! sagte ich wild; – und wir Beide schwiegen. O Marie! hob ich in der tiefsten Wehmuth wieder an; verschieben Sie dieses grausame Opfer wenigstens noch einige Wochen!

»Das will ich,« erwiederte sie schnell und höchst ängstlich; »das verspreche ich Ihnen, wenn Sie mich jetzt verlassen wollen.« Sie verbeugte sich.

Nein, Marie! (Ich faßte ihre Hand, und drückte sie an mein Herz.) Mit jedem Tage hoffe ich die Einwilligung eines gütigen Vaters; und dann – hier warf ich mich vor ihr auf die Kniee – und dann, dann, o ihr himmlischen Mächte! dann gießt alle Güte, alles Mitleiden über das Herz meiner ewig theuren Marie, wenn ich ihr mit bebenden Lippen sage: ich liebe dich!

»O, mein Gott!« rief sie, und suchte sich zitternd aus meinen umschlingenden Armen los zu machen. »Ich bitte Sie, bei unsrer Freundschaft, lassen Sie mich!« Sie erblaßte; es rollten Thränen über ihre Wangen, und ihr Busen flog. Sie suchte Fassung, und wendete sich in einer reitzenden Verwirrung dahin und dorthin.

Marie! sagte ich sanft; und in meine so lange gequälte Seele kehrte in diesem Augenblick der Friede zurück. Sagen Sie mir nur Ein gütiges Wort, geben Sie mir nur ein Zeichen, daß Sie mich nicht hassen, daß Sie mir verzeihen! – Sie schlug die Augen nieder, und schwieg. – Ein Wort, Marie! nur Eins! Lassen Sie mich nicht in Verzweiflung gehen!

Ihre Thränen flossen stärker; doch sie blieb so stehen. Ich hörte jeden ihrer Athemzüge, die wie Seufzer klangen. Marie, sagte ich heftiger, gehören dem Manne, der Sie verfolgt, alle Opfer, und einem Herzen, das Sie liebt, auch nicht das kleinste? nicht ein Lächeln? ein Wort? ein Blick nur?

Sie wendete den schönen Kopf langsam zu mir, sah mich wehmüthig lächelnd an, und blickte dann wieder zu Boden.

In diesem Augenblicke kam ihre Tante, ganz außer Athem, durch das Gebüsch. Du nimmst deine Zeit recht gut wahr, Marie! (Dabei warf sie einen wüthenden Blick auf mich.) Ich darf nicht mehr eine Minute außer dem Hause seyn; sonst bestellst du dir einen jungen Herrn über den andern!

»Sie bedenken nicht, liebe Tante; daß ich dann nicht einmal der Verbindung mit dem verächtlichsten Manne werth wäre. Der Herr von Bärburg . . .«

Der Herr von Bärburg wird wohl thun, wenn er den Frieden seiner bis jetzt immer einigen Familie nicht weiter stört!

»Den hat er nie gestört. Was soll denn der Herr von Bärburg von mir denken! Ich bitte, liebe Tante, hören Sie mich an. Der Herr von Bärburg . . .«

Der Herr von Bärburg hat hier nichts, nichts, gar nichts zu suchen!

Gott, Lob! Madame, sagte ich, daß die Hoffnungen, die ich vielleicht haben könnte, nicht von Ihnen abhangen. Sie sind nicht Mariens Mutter.

»Sie ist meine Mutter, Herr von Bärburg!« sagte Marie erschüttert; »Ich bitte Sie, das in keinem Falle zu vergessen!«

Vergessen? Du sollst ihn vergessen! rief die Tante. Du bist zu gut für Jemand, von dem kein Mensch weiß, wer und was er ist! – Sie zog Marien mit sich fort, und ich blieb ohne Besinnung stehen, bis ich sie aus den Augen verlor. – Wahrscheinlich hatten Sie mich doch auf dem Wege bemerkt; denn die Tante mußte sogleich wieder umgekehrt seyn, da ich den viel kürzeren Fußsteig gegangen war.

Und nun, lieber Schmidts, nun! Die Minute entscheidet. Lassen Sie mich nicht umsonst bitten! Sagen Sie meinem Vater, daß ich mein Glück aus seinen Händen erwarte. Jetzt, da es sich, wie Sie mir schreiben, mit seiner Gesundheit bessert, da ein neues Leben in seine Brust zurückkehrt – jetzt! O, dürfte ich mich ihm nur zu Füßen werfen! Aber er hat mir geschrieben: ich solle bleiben; sein Leben sey außer Gefahr. O, Schmidts! sie liebt mich! ja, sie liebt mich! denn sie wendete das Auge voll Liebe auf mich, das lächelnde Auge voll zärtlicher Liebe. Jetzt, jetzt! Eilen Sie, Schmidts! Wenn ich Marien verlöre!

 

*

 

9.
Derselbe an denselben.

Hamburg.

Ich treibe mich umher wie ein Gespenst, das verdammt ist, rastlos den Ort seiner Verbrechen zu umirren. Eine Sylbe, ein Ja von meinem Vater könnte mich erlösen; und Niemand ruft es dem Gequälten zu! »Es ist nicht so eilig,« schreiben Sie; »die Aeußerung meines sehnlichen Wunsches könnte der Gesundheit meines Vaters schaden!« O, ist denn mein Vater ein Tyrann? Hat er nicht tausendmal über das Vorurtheil unseres Standes gespottet? hat nicht er selbst eine Bürgerliche geheirathet? Sie sagen, es sey noch Zeit. Schmidts, sind Sie ein Gott, und wissen Sie, welch ein unersetzliches Elend, vielleicht die nächste Minute gebiert? Können Sie den verflossenen Augenblick zu dem künftigen machen? Ich stehe hier, und warte; aber ich warte zitternd, zitternd für Sie, für Marien, nicht für mich. Denn was aus mir würde, wenn ich meine Existenz durch das gleichgültige Zögern meines Freundes verloren hätte, das weiß ich. O, ich bitte, zögern Sie nicht länger!

»Es ist so eilig nicht.« Ich habe nie seltsamer über die menschliche Schwäche, über das menschliche Schicksal spotten hören, als mit diesen Worten. Guter Gott! die Minute entscheidet über das Schicksal ganzer Völker; ein Augenblick zerstört ganze Erdtheile! Wer bedarf der Eil mehr, als die trostloseste Verzweiflung? Denn – in dem Hause meines Ex-Ambassadeurs weiß man seltsame Dinge von der Tante Schuygens und Herrn Sall; man weiß, daß Härte bei Marien der verkehrte Weg gewesen ist, daß Zwang und Drohungen bei ihrem stillen, aber hartnäckigen Eigensinn unwirksam sind, daß man sich an ihre Großmuth, ihre Güte, ihr Mitleiden wenden, und, wenn auch das nicht helfen sollte, ihr feines Ehrgefühl in Bewegung bringen muß. »Die Tante,« sagte die geschwätzige Muhme, »ist seit einem sehr unangenehmen Vorfalle krank.« (Wahrscheinlich seit meiner Zusammenkunft mit Marien; denn die Tante sah mich bei dem Worte: Vorfall, mit sehr bedeutenden Blicken an.) »Das hat die gutherzige Marie schon so weich gemacht, daß die Tante nur noch ein wenig kranker werden dürfte, um die Freude zu haben, sie mit Herrn Sall vor ihrem Bette trauen zu sehen.«

Schmidts, Sie wissen nicht, wie wahr das ist! Ich bitte, ich beschwöre Sie, zu eilen!

 

*

 

10.
Derselbe an denselben.

Lüneburg.

Bemühen Sie sich weiter nicht. Sie sehen, ich bin unterweges. Ich brauche nun weder die Einwilligung meines Vaters, noch die Thätigkeit eines Freundes. Was vom Leben noch vor mir liegt, kann sehr wohl unter der Hand des Zufalls gemächlich hinfließen. Ich habe keine Wünsche mehr; und – sagten Sie nicht einmal, ein Leben ohne Wünsche sey entweder das glücklichste, oder das unglücklichste? O, stören Sie die letzten Stunden meines Vaters ja nicht mit einem Wunsche seines Sohnes! Ich bin sehr resignirt. Ein Paar Zoll breit näher an dem Abgrunde, bei dem mein Wagen umschlug: und ich war dahin. Jetzt bin ich mit einem zerschlagenen Kopf, und einem verrenkten Arme davon gekommen. Ich bin so resignirt, daß ich nicht einmal die Frage thue: warum nicht die Paar Zoll weiter! »Es hat keine Eil,« schrieben Sie, lieber Schmidts. Jetzt lächle ich darüber. Ich lächle, wie die Nemesis zürnend an die Seite des Uebermüthigen tritt, der bei irgend einem menschlichen Beginnen sagt: es hat keine Eil! Drei Zoll weiter, mein Freund, und Sie waren gerechtfertigt.

Eil hätte es wohl ein wenig gehabt; denn – Marie ist nun Madame Sall. Wer hätte das denken sollen! werden Sie sagen; und Sie haben wieder Recht. Sall sagte nicht: es hat keine Eil. Er wußte, wie kostbar die Augenblicke sind. Freilich, ein Kaufmann, ein so einfältiger Kaufmann wie Sall, der sonst nichts weiß, als seine Mark nach Dukaten und Pfunden zu berechnen, weiß doch, daß der glückliche Augenblick vorüber geht wie ein Blitz, und daß der Mensch nichts weniger versäumen darf, als diesen Augenblick. Wir, Sie und ich, wußten das nicht. Ich? o Gott! Hundertmal flisterte mir mein guter Genius zu: was bedarf es vorher der Erlaubniß deines Vaters? Eile zu ihr, ergreif ihre Hand, führe sie an das Bett deines Vaters; und wenn er Marien sieht, so wird ihr segenvoller Anblick Gesundheit in die Quellen seines Lebens gießen, und er wird dich segnen. Vor- oder nachher – läuft das nicht auf Eins hinaus? Das dachte ich hundertmal, und schon hob ich den Fuß, zu ihr zu gehen; doch die kindliche Liebe, die Freundschaft hielten mich zurück.

Und nun ist es so! so!Ich komme zu Ihnen, in die Arme der Freundschaft. Sie werden mich nicht trösten können; aber – ich liebe Sie noch immer.

 

*

 

11.
Derselbe an denselben.

Lüneburg.

Ich ging zu Madame Schulz, die mit ihrer Familie von Lübeck zurückgekommen war, und erzählte ihr, wie weit ich wäre, welche frohe Hoffnungen ich hätte. Sie sah mir ernst in's Gesicht, und sagte: »ich weiß nicht, wie es zugeht, daß ich mich nicht mit Ihnen freuen kann. Hätten Sie doch die Einwilligung Ihres Vaters, ohne die gar nichts zu thun ist! Sall geht triumphirend umher. Man sagt, er werde mit seiner jungen Frau seinen Oheim in Emden besuchen.«

Welche junge Frau?

»In Schuygens Hause macht man Anstalten, die mir gar nicht gefallen! Madame Schuygens hat Eßtische machen lassen, und noch ein Dutzend silberne Leuchter gekauft. Das setzt eine Gasterei oder gar eine Hochzeit voraus.« – Ich sagte ihr, was mir Marie versprochen hätte. – »Die Zeit, die Sie sich bedungen haben, ist verflossen, und für die Zufriedenheit ihrer Tante kann Marie große Opfer bringen!« –

Nach Tische kam Herr Schulz aus der Stadt. Als er mich sah, erschrak er, suchte sich aber zu fassen, und gab dann seiner Frau einen Wink.

Ich fürchte, Sie haben etwas, das mich interessirt! sagte ich zitternd.

Ja, stammelte er hervor; freilich habe ich das, und etwas sehr Neues. Ich glaube, Marie ist heute Madame Sall geworden.

Ich sank in einen Stuhl zurück. Man umarmte mich, suchte mich zu beruhigen, und machte mir sogar neue Hoffnungen.

»Woher weißt du das?« fragte Madame Schulz.

Sie sind heute Ein- für allemal aufgeboten. Ich hörte das nach der Kirche, und ging zu dem Prediger. Er zeigte mir Salls schriftliches Verlangen, ihn mit Marien aufzubieten.

Ich trat schwankend in das Fenster, um mich zu fassen. Das Pferd, auf welchem Herr Schulz gekommen war, wurde noch auf dem Hofe umhergeführt. Ich schnell hinunter, setze mich auf, und sprenge nach dem Landhause der Madame Schuygens. »Madame ist weggefahren,« sagte mir eine Magd; »Herr Sall und die Mamsell haben heute Hochzeit.« –

So war es denn vorbei! mit allem vorbei! – Wo? frage ich endlich. – »Das weiß ich nicht.« – Kommen Sie bald wieder? »Nein, erst morgen.«

Ich reite zurück, und mir fällt ein, daß Sie mir schrieben: warum bist du deiner Sache nicht gewisser? Aber, als ich Marien bat, mir nur ein Zeichen zu geben, daß ich hoffen dürfe: blickte sie da nicht lächelnd zu mir nieder? O, auf dieses Zeichen hätte ich eine Welt, die Seligkeit des Menschengeschlechtes, gebauet! Und nun – betrogen!

Das half übrigens. Ich nahm kalt und gefaßt von Schulzens Abschied, und nach einer Stunde saß ich im Wagen. Nahe bei Lüneburg warf ich um. Drei Zolle weiter; und Sie hätten nichts mehr von dem Jünglinge gehört, der auch einmal liebte, und so unglücklich wurde! O, darf ich denn nun nicht fragen: warum nicht drei Zoll weiter?

Julie fiel, als ich Abschied nahm, schluchzend in meine Arme. Ach! sagte das Kind, ich habe Gott so viel gebeten, er möchte doch machen, daß Sie mein Cousin würden; denn ich merkte ja gleich, daß Sie Marien liebten. Ach, und Marie liebte Sie auch!

Nein, sagte ich gerührt, das that sie nicht. Auch ich habe gebetet; und hätte sie mich geliebt, nur so wie Sie mich lieben, Julie: Gott würde unser Gebet erhört haben! – Ich drückte das gütige Kind an meine Brust, und eilte dann, fast sinnenlos, die Treppe hinunter. Madame Schulz nahm ihr Tuch von den nassen Augen, und wehete mir noch ein Lebewohl zu. –

Marie mochte Recht haben, so zu handeln, aber ich war doch auch ein Mensch; so gut wie ihre Tante. Wenn sie für die Thränen eines Menschen so viel thut: glaubte sie denn, daß mein Auge trocken bleiben würde? wußte sie denn nicht – Warum nicht drei Zoll weiter!

 

*

 

12.
Derselbe an denselben.

Großen-Eich.

Hier bin ich, lieber Schmidts, in dem Sterbezimmer meines guten Vaters! Ich kam zu spät; sein Geist war schon entflohen. O, wie nun alles dahin ist, und wie ich in der freudenlosen Oede so kalt dastehe! Ja, Sie hatten Recht. Es war der letzte Wunsch meines Vaters; Sie konnten ihn, den Betrübten, so schmerzlich Betrübten, nicht auch noch durch den Wunsch seines Sohnes betrüben, da dieser seinen letzten Wunsch, an welchem alle seine Hoffnungen hingen, zerstörte. Sie konnten nicht; und ich, in Ihrer Stelle, hätte es eben sowenig gekonnt. Aber warum müssen Wünsche Wünschen, Hoffnungen Hoffnungen feindselig begegnen! Ach, warum muß der Mensch, der kaum aus der Gegenwart den dürftigen Zoll des Glückes zu nehmen versteht, seine Hoffnungen, seine Wünsche in die Zukunft hinausweisen, die er gar nicht kennt! Wir ringen mit der Gegenwart, und werden fast immer besiegt; warum müssen wir noch das Gespenst der Zukunft auffodern, mit uns zu kämpfen! Warum muß uns, da wir blindlings in dem Dunkel des Lebens vorwärts tappen – warum muß uns ein Weg, den wir bezeichnen, ohne ihn zu kennen, der Weg zum Glücke scheinen! Warum muß dem unweisen Menschen sein Plan weise dünken, und jeder andre Thorheit? Warum mußte mein Vater mir die Hand meiner Cousine bestimmen? warum alle seine Hoffnungen und die ganze Glückseligkeit eines geliebten Sohnes auf dieses Eine Blatt setzen! War er unglücklich, und war er unschuldig: wie vorsichtig hätte ihn das machen sollen, lieber Schmidts, nicht den Keim der Schuld und des Unglücks in das Leben seines Sohnes zu pflanzen!

Wie glücklich, wie überselig könnte ich seyn! Und was bin ich nun! Ich habe die Krone meines Lebens verloren, den unschätzbarsten Edelgestein aus meinem Glücke. Was ich noch habe, ist nichts, als die Fassung, worin er glänzte. Glauben Sie ja nicht, daß ich je vergessen kann! Sie glauben das auch nicht, oder Sie müßten alles Zutrauen zu meiner edelsten Kraft verloren haben. Nie werde ich vergessen, nie! Ich könnte ein andres Mädchen lieben, das will ich Ihnen zugeben, ob ich gleich jetzt fühle, daß auch nicht einmal das möglich ist; aber vergessen, vergessen, was Marie mir gewesen seyn würde, wenn sie mein geworden wäre: nein, das kann ich nicht! O, sie wäre, wie eine himmlische Gestalt, wie ein Geist aus einer höheren Welt, zwischen mich und das finstre Leben voll Niedrigkeit getreten! Sie wäre die segnende Sonne für alle meine Tugenden, die Quelle meines lebendigsten Glaubens, und der Bürge meiner Unsterblichkeit gewesen. Wie liebte ich sie denn? Mit einer Liebe, in die sich keine Begierde, keine Sinnlichkeit mischte, an der das Blut keinen Antheil hatte. Hätte ich einen Mann gefunden, wie sie: ich würde ihn eben so zärtlich geliebt haben. O, noch jetzt, da sie einem Andern gehört, ist sie der Stern, der meiner Seele in der dunkeln Nacht des Lebens leuchtet. Sie gab ihre Hand, und eben darum gewiß auch ihr Herz, einem Andern; und ich wage es nicht, sie zu tadeln.

Es konnte nicht anders seyn, weil es nicht anders ist. Aber ich frage noch immer mit einem Seufzer: warum konnte es nicht anders seyn?

Ich will nicht klagen, lieber Schmidts; denn Sie haben mich zu einem Manne gebildet. Aber bejammern darf ich doch in mir das grausame Schicksal des Menschen.

Mein Oheim, der Rittmeister, ist hier gewesen. Sein hartes Herz hatte sich endlich durch die letzten Seufzer des Sterbenden versöhnen lassen; und das rechnete er mir, dem Sohne, sehr hoch an. Nein, ich konnte nicht anders, als kalt gegen den Mann seyn, der seinen ihn liebenden Bruder so lange haßte! – Er drängte sich an mich mit einer gewissen Treuherzigkeit, mit einer Innigkeit, die mich eingenommen haben würde, wenn ich ihn nicht gekannt hätte. Und richtig! so wie ich ihm nur nicht demüthig entgegen trat, stieß er mich mit Härte von sich. Desto besser! Mein Weg durchkreuze sich nie wieder mit dem seinigen. Unmöglich konnte ich lange mit ihm beisammen bleiben; die Klagen meines Vaters fielen zu schwer auf mein Herz. Ich reiste ab, um mich von den bittern Empfindungen zu befreien, die des Rittmeisters Anblick in mir erregen mußte. Bei den Vorwürfen, die er mir auf eine sehr unangenehme Weise machte, blieb ich kalt, und reis'te, doch nur auf einige Tage in die Nachbarschaft.

 

*

 

13.
Derselbe an denselben.

Großen-Eich.

O Schmidts, ich zähle ja nur erst Tage, seitdem ich sie verlor! Die Thränen, die ich weinte, als sie für mich dahin war, sind ja noch nicht getrocknet. Kann in dieses nasse Auge ein Blick der Liebe kommen? können diese seufzenden Lippen Worte der Zärtlichkeit sagen? kann diese zitternde Hand eine andere fassen, den Bund der Liebe mit ihr zu schließen? – O, ist denn der Wunsch meines Vaters, daß ich Sonnensteins Tochter heirathen möchte, ein kalter, unwiderruflicher Befehl? Ich kenne sie nicht; kaum steht noch ein halberloschenes Bild von ihr in meiner Seele. O, was habe ich verloren! rufe ich. Soll ich nun zu ihr eilen und rufen: o, was habe ich gefunden?

»Sehen Sie Minetten nur erst,« schreiben Sie mir. Ich sähe sie lieber gar nicht. Ist sie gut, so wird sie mich an eine höhere, eine gränzenlose Güte erinnern; ist sie tugendhaft, so wird vor meiner Seele eine Tugend stehen, die zu rein für diese Erde ist! Ist sie schön – o, Sie sahen Marien noch nie! Ein milder Wintertag erinnert nur um so stärker an den schönen Frühling, an die blühende Natur, an die Nachtigall und ihre Gesänge der Liebe; er macht die Sehnsucht nach dem Frühlinge nur noch heißer.

Meine Cousine würde nichts dabei gewinnen, wenn ich sie schon jetzt kennen lernte. Lassen Sie erst die Tage des stärksten Schmerzes vorüber gehen. Ich kann noch nicht; o, ich sollte es gar nicht thun müssen!

Sonnenstein ist bei mir gewesen. Er ist ein edler Mann, doch nicht so wie mein Vater. Die Welt hat einen Theil des Gepräges abgegriffen, das die Natur so schön und rein auf ihn gedrückt hatte. Von dem Wunsche meines Vaters sagte er kein Wort; und dafür danke ich dem Manne von Welt. Meinen Schmerz sah er nicht, oder hielt ihn für bloßen Ernst, und freuete sich über mein solides Wesen. Er sagte weiter nichts, als daß er wünsche, mich nun bald mitten in seiner Familie zu sehen, die mit Freuden auf meine Ankunft hoffe. Dann erkundigte er sich ganz fein nach meinen Reisen, und äußerte lächelnd, daß ein junger Mann von meiner Art wohl nicht ohne alle kleine Abenteuer geblieben seyn würde. Ich konnte ihm versichern, daß mir ein Abenteuer, wie er es meinte, nicht vorgekommen wäre, weil ich keins hätte haben wollen. – O, ein Abenteuer war die reine, ewige Liebe meines Herzens gewiß nicht! – Er sagte mir recht artige Complimente über die Ordnung, die ich in meine Vermögensumstände gebracht hätte, lud mich angelegentlich nach Grundleben ein, und machte mir eine Schilderung von seiner Frau, die in der That ein sehr liebenswürdiges Weib seyn muß. Von ihr sprach er mit einer Begeisterung, die ich ihm sehr hoch anrechne, da er sie aus der Kälte der großen Welt gerettet hat. Von seiner Tochter sagte er nur, was ein feiner Weltmann sagen durfte. Lächelnd setzte er dann hinzu: »doch das werden Sie ja selbst sehen, lieber Neffe; der Vater sieht an seiner Tochter immer zu viel, oder zu wenig.« Von seinem Erhard redete er mit der Liebe und Achtung eines Vaters für einen edlen Sohn, doch mit Bescheidenheit. Ich gestehe Ihnen, daß er mir sehr gefallen hat. Mein Urtheil über den Rittmeister bestätigte er; und dabei erzählte er mir einen Zug von dessen ungemäßigter Rohheit, über den ich erstaunte. Sie kennen ja aus den Erzählungen meines Vaters die Tante Isabelle. Trotz den vereinigten Bemühungen meines Vaters, Sonnensteins und aller Menschen, den Rittmeister von diesem Teufel frei zu machen, behielt er sie ganz ruhig im Hause; doch auf einmal, ohne alle Veranlassung, holt er die Tante aus dem Bette, schleppt sie in einen Wagen, und schickt sie fort. Da haben Sie den ganzen Rittmeister in Einem Zuge!

Ich versprach Sonnensteinen, der mir Bedenklichkeiten äußerte, den Rittmeister gar nicht zu sehen. Wir haben uns auch in Großen-Eich auf eine solche Art getrennt, daß er wohl schwerlich einen Besuch von mir erwartet oder wünscht. Desto besser! Ich liebe nun einmal diesen Rittmeister nicht, trotz seiner rohen Ehrlichkeit, die doch auch sehr verdächtig erscheint, wenn man Sonnensteinen darüber reden hört, den er eben so unversöhnlich haßt, wie meinen Vater, ohne daß ein Mensch begreifen kann, warum.

 

*

 

14.
Derselbe an denselben.

Grundleben.

Hier bin ich, lieber Schmidts. Absichtlich ließ ich einige Wochen vergehen, ehe ich Ihnen schrieb, um mein erstes Urtheil über eine Familie, deren Mitglied ich werden soll, berichtigen zu können, wenn ich mich etwa darin geirrt hätte. Doch das war eine unnöthige Vorsicht; man gab sich mir gleich Anfangs, wie man ist, weil man sich gut fühlt. Es war eine ganz eigene, nichts weniger als angenehme Empfindung, in der ich durch den Park auf Sonnensteins großes schönes Haus zufuhr. So fest ich mir vorgenommen hatte, die Eindrücke der Gegenstände ruhig aufzunehmen, so überfiel mich doch ein Schmerz, ein unfreiwilliges Zittern, als ich aus dem Wagen stieg, und die Treppe vor dem Hause hinan ging. Meine Tante, die allein zu Hause war, nahm mich mit einem feinen Anstande auf, unter welchem indeß die Innigkeit, die sie dem Verwandten und dem künftigen Sohne schuldig war, nicht im mindesten litt. Sie hatte mein Herz in der ersten Viertelstunde gewonnen. Auch sie schwieg von meines Vaters Plane, der ihr eigener Wunsch ist, und verrieth noch überdies nicht die mindeste Neugierde. Ich hätte nicht anders aufgenommen werden können, und wenn auch keine Tochter im Hause wäre.

Gegen Abend kam der Vater mit Minetten von einem Besuche zurück. Ich bin gewiß, die Tochter weiß nicht ein Wort von der Absicht unsrer Eltern; denn sie kam mir so offen, so freundlich, so unbefangen entgegen, ohne auch nur die kleinste Verlegenheit zu verrathen. Das verdanke ich ihren Eltern mit hochachtender Liebe. –

Schon nach einer Stunde fühlte ich mich ganz zu Hause. Alles Fremde war verschwunden, und überhaupt war keine Aengstlichkeit zu bemerken gewesen. Selbst meines Oheims Kälte ging hier, bei seiner Familie, in eine ruhige, angenehme Wärme über. Man hatte meine Ankunft später erwartet. »Desto besser!« sagte die Mutter; »nun kann er sich nach seinem Kopf und nach seinen Bedürfnissen einrichten. Minette, müssen Sie wissen, lieber Neffe, hatte nicht übel Lust, alle Ihre Neigungen und alle Ihre Talente schon vorher errathen zu wollen. An der kleinen Bibliothek in Ihren Zimmern werden Sie sehen, was für einen Geschmack sie Ihnen zutrauet. Sie wollte Ihnen auch ein Klavier, einen Meßtisch, ein Zeichenbret, ein Mikroskop, und der Himmel weiß was noch sonst für Instrumente, hinein bringen lassen; denn das alles mußte der Vetter Herrmann brauchen, weil es der Bruder Erhard um sich hatte.« –

Ich fand in einem meiner Zimmer wirklich eine Sammlung von Büchern, die dem Geschmacke der Cousine Ehre machte: die besten Schriftsteller aller Nationen. Vor dem Klaviere, an das ich mich bald setzte, verlor ich mich schon nach zwei Minuten in einige Takte der Romanze, die ich Marien einmal singen hörte, und dann in eine süße Wehmuth, die sich aber zuletzt in einen sehr tiefen Gram verwandelte. Es war mir unangenehm, hier, wo mich die freundschaftliche, sorgende Güte werther Verwandten umgab, sogleich von dem Schmerze der Vergangenheit befallen zu werden; doch – ich schlug einzelne Accorde an, bis ich zuletzt, in Schmerz, Wehmuth und Sehnsucht versunken, gänzlich vergaß, wo ich war, und nur in meinen Träumen lebte.

Man neckte mich bei Tische mit meinem einsamen, melancholischen Anfange, vorzüglich Minette, die eine frohe Heiterkeit – das Kind einer unschuldigen Seele und einer vollkommenen Gesundheit – hat. Am folgenden Morgen führte mich die Cousine in der umliegenden Gegend umher. Auf einer Höhe blieb sie stehen, und zeigte zweimal auf ein Haus, ohne ein Wort zu reden. Ich fragte; sie antwortete mit einem leiseren, bewegten Tone: »da wohnt Ihr Oheim, der Rittmeister. Wollen Sie ihn nicht besuchen?« – Ich sagte: Nein; und nun schwieg sie mit einem kleinen Seufzer.

So, lieber Schmidts, wurde ich nach und nach auf dem ganz ebenen Wege der Freundschaft, des Vertrauens, ein Mitglied dieser achtungswerthen Familie, zu der ich schon ganz zu gehören scheine. Man behandelt mich in der That mit einer so heitern Liebe, daß ich kein Gefühl haben müßte, wenn ich nicht dankbar dafür wäre. Ich bin es; aber, was Sie meinten, lieber Schmidts – o, wie konnten Sie meinem Herzen diesen Wankelmuth zutrauen!

Minette ist ein liebenswürdiges Mädchen, und ich möchte sogar sagen, schöner als Marie; auch hat sie bei der feinsten Bildung für die Welt ein warmes Herz. Doch ich will, ich kann die beiden Mädchen nicht vergleichen, wie Sie mir zumuthen. Sie haben Recht: Minette paßt überall hin. Sie ist die schönste Rose in dem Kranze ihrer Gespielinnen. Reine Sitten haben ihre Unschuld bewahrt; ein heller Geist wacht über die Gefühle ihres Herzens, und dieses erwärmt ihren ruhigen Geist. Sie ist immer liebenswürdig, ungezwungen. Marie nahm nur Eine Stelle ein; doch auf der war sie ein höherer Geist. Ihre feinen Sitten hatte sie nicht in dem Umgange der großen Welt erlernt; sie kamen unmittelbar aus dem zarten Geiste, und waren ein Theil ihrer Tugend. Minette ist eine schöne, liebliche, harmonische, leichte, vollendete Musik; Marie ein zauberischer Ton, ein Accord aus einer Aeolsharfe, der vom Himmel herabschwebt, in weiter Ferne leise klingt, immer stärker wird, die ganze Seele mit geheimnißvollen Ahndungen füllt, und eine Sehnsucht entzündet, für welche das Leben keine Befriedigung gewähren kann.

Das sind Bilder. Aber warum sollte ich auch vergleichen! Das Leben war Marien nichts, als eine Bedingung ihres frommen Daseyns. Liebe war die Luft, in der sie athmete; doch sie konnte sie großmüthig aufopfern. Sie sah ein schöneres Glück, als die Liebe ihr geben konnte, ein höheres Leben, als das irdische, eine heiligere Hoffnung, als den Bund einer fremden Treue. Sie gehörte sich selbst an; die Liebe gab ihr nichts, was sie nicht schon hatte. – Minette wird lieben, und die Liebe wird ihr alles seyn. Sie würde unter dem Schmerz über eine Untreue erliegen. Und dennoch – obgleich Marie mich aufgab, dennoch liebte sie mich mehr, als Minette jemals lieben kann.

O, warum mußte ich sie verlieren! o, warum mußte sie nicht so glücklich seyn, als sie zu seyn verdiente! – Leben Sie wohl.

 

* * *

 

Herrmann vergaß Marien nicht; sie blieb seinem Herzen immer heilig. Nach und nach umspann ihn aber Minette doch mit den schönen Fäden ihrer Liebenswürdigkeit. Er hatte sich geirrt; Minette wußte sehr wohl, daß ihre Hand ihm bestimmt war, wenn sie ihm gefiele. Auch hatte sie mit sehr gespannter Neugierde auf den Tag gehofft, da sie ihn sehen würde, ihn, den ihr Vater als den schönsten, edelsten von allen jungen Männern lobte. Nun kam er endlich. Sie achtete auf sich und auf ihre kleinsten Bewegungen, um ihn nicht merken zu lassen, welchen Antheil sie an ihm zu nehmen bestimmt sey.

Sie fühlte bald, daß er ihres Vaters Lob vollkommen verdiente. Jetzt liebte sie ihn noch nicht; in ihrem Herzen war nur erst das Wohlgefallen der Jungfrau an dem schönen, furchtlosen, und doch bescheidenen Jüngling. Sie hatte sich vorgenommen, ihn zu beobachten, und recht sorgfältig über ihr Herz zu wachen, damit sie nicht zu früh verriethe, wie schwach sie gegen ihn wäre. Doch ihre Beobachtungen waren es eben, was in ihrem Herzen allmählich eine sanfte Neigung, und dann eine stille Liebe erregte, die immer mehr zur Leidenschaft wurde.

Durch ihre Beobachtungen entdeckte sie aber auch, daß Herrmanns Herz ihren Empfindungen nicht entsprach. Alles, was er that, so oft er allein war, verrieth einen geheimen Kummer. Sie glaubte schon (und dachte diesen Gedanken mit Zittern), ihn verloren zu haben; und jetzt, da sie ihn liebte! Da stand das reine, edle Mädchen, tief nachsinnend über ihre Lage, erröthend über ihre zu voreilige Leidenschaft, ohne Entschluß über ihr Benehmen für die Zukunft, das unruhig wogende Herz mit der Hand bedeckend. Sie wußte freilich schon vor Herrmanns Ankunft, daß sie ihm bestimmt wäre; doch alles Andre hatte die Mutter lächelnd ihrem Herzen und ihrer eigenen Klugheit überlassen.

Minette war offen genug gewesen, ihrer Mutter zu gestehen, daß sie Wohlwollen für Herrmann empfinde; doch ihre Liebe – es war das erste schöne Gefühl, das ihr Herz erhob – verschwieg sie. Welches bessere Mädchen gesteht einem Andern, als dem Geliebten selbst, die erste Liebe! Doch jetzt? Der Augenblick war da, den die Mutter ihr schon angekündigt hatte. Wenn es dir, hatte diese gesagt, unweiblich scheint, weiter zu gehen, Minette, und du doch nicht stehen bleiben kannst: dann bedarfst du meines Rathes. Minette hatte das lächelnd versprochen und dabei gesagt: ich fürchte den Augenblick nicht!

Sie hielt Wort. Eines Tages sammelte sie sich, brachte das ängstlich klopfende Herz zur Ruhe, und ging in der Dämmerung des Abends, da die Gluth ihrer Wangen sie nicht verrathen konnte, zu ihrer Mutter. Das Gespräch war sogleich bei Herrmann. »Ich fürchte fast, liebe Mutter, Sie werden Ihren Wunsch nicht erreichen.«

Du fürchtest das, Kind? meinen Wunsch? Indeß – wie so?

»Herrmann – wie soll ich mich ausdrücken! (Sie glühete schon jetzt.) – Es scheint ihm etwas schwer auf dem Herzen zu liegen, das ihn . . . verhindert . . .«

Dich zu lieben? Das müßte denn sehr viel seyn, Minette! Aber warum hätte ich denn davon nichts gemerkt, mein Kind? Sie legte lächelnd ihre Hand an die Wange der Tochter. – Wie dein Gesicht dabei glühet! und wie nun, da ich dir das sage, deine Hand zittert, und – sie legte die Hand auf Minettens Brust – wie dein Herz pocht! – Liebe Tochter, laß uns aufrichtig seyn! Du liebst ihn. So gern du auch diese Liebe den Augen deiner Mutter verbergen möchtest, so . . . – Hier lag die Tochter mit glühenden Wangen und rollenden Thränen an dem Herzen der Mutter. Ist er, fuhr diese fort, nicht ein edler Mensch, der die innigste Liebe eines Mädchens verdient und rechtfertigt?

»Ja, Mutter, ich liebe ihn,« sagte Minette zögernd und leise, mit zitternden Tönen. »Ja, ich liebe ihn, und – ich bedarf Ihres Rathes.«

Darum eben entriß ich deinem Herzen dieses schwere Geständniß. Du liebst ihn; mein Kind, wie ich deinen Vater liebte, und du begreifst nicht, wie du eine Minute ohne ihn leben kannst: nicht wahr? – Minette drückte das Gesicht noch fester an das Herz der Mutter. – Mein Kind, was du bemerkt hast, ist auch mir nicht entgangen: sein Versinken in sich selbst, seine Liebe zur Einsamkeit, sein schnelles Abspringen von einer Empfindung zu der entgegengesetzten, wenn irgend eine Anmerkung, ein Wort gesagt wird, das für ihn, wie es scheint, eine geheime Beziehung hat. Es kommt mir so vor, als lebte er fast mehr in der Vergangenheit, als in der Gegenwart. Indeß sehe ich auch, daß er dich auszeichnet, daß deine Heiterkeit, dein froher Sinn auf ihn wirkt, wie Sonnenschein auf eine kranke Pflanze, daß er sich mit Einem Male aufrichtet, daß dann sein feuriges Auge dich verfolgt; daß er über deine Scherze lächelt, kurz, daß er seine Vergangenheit vergißt, und nur in der Gegenwart lebt.

»Viel mehr, als das, liebe Mutter! Er spielt das Klavier vortrefflich. Aber wenn er allein ist, dann greift er ein Paar Accorde, spielt das Ende einer sanften Melodie, und singt dabei immer zwei Zeilen, als ob an diesen Tönen, an diesen Worten, seine ganze Erinnerung hinge. Dann läßt er die Finger auf den Tasten liegen, und bleibt so, vor sich hin sehend, sitzen. – Er liebt mich nicht, er liebt eine Andre! Denn, was Sie sehen . . .«

Ist eben so wahr, liebe Tochter, als was du sahest.

»Also . . . er liebt . . . eine Andre?« fragte Minette mit weichen Tönen, und trat einen Schritt von ihrer Mutter zurück.

Ich will mich nicht länger an dem süßen Schmerze deines zärtlichen Herzens weiden. Er hat eine Andre geliebt, mein Kind.

»Ist das nicht Eins, liebe Mutter? Und Sie haben das gewußt? O, war das gütig? o, war es mütterlich?«

Wie rasch nun wieder! Ja, mein Kind, ich weiß es, aber erst seit drei Tagen. – Was dich besorgt machte, ließ auch mich nicht ruhig. Ich wendete mich deshalb an seinen vertrautesten Freund, den Lehrer seiner Jugend, der um den Wunsch seines Vaters weiß, an Schmidts, den du ja kennst und achtest. Ihm entdeckte ich die Unruhe, in der ich um Herrmanns willen war. Mit seiner Antwort schickte er mir Herrmanns Briefe aus Hamburg. Er hat geliebt, meine Tochter, ein sehr vorzügliches Mädchen; aber das Mädchen ist verheirathet und mit ihrem Manne nach Holland gezogen.

»O, meine gütige Mutter!« sagte Minette schmeichelnd; mehr zu sagen, wagte sie nicht.

Nein, mein Kind; dein Wunsch ist nichts als Neugierde.

»Gewiß nicht!« erwiederte Minette noch schmeichelnder. »Aber – soll ich nicht erfahren, wie der Mann liebte, an dessen Liebe Sie und der Vater mein ganzes Leben gewiesen haben? soll ich nicht erfahren, wie er denkt; was mir zu wissen so noth thut? In den Briefen an seinen Freund hat sich gewiß sein ganzes Herz enthüllt; soll ich es nicht kennen lernen?«

Die Mutter weigerte sich noch immer; doch Minette hatte so viele Gründe, daß jene endlich sagte: nun denn! zur Strafe sollst du mir die Briefe vorlesen.

Minette lächelte; doch als ihre Mutter die Briefe brachte, nahm sie den ersten zitternd in die Hand. Beim Lesen wurde sie immer ruhiger; endlich aber, mitten in einem Briefe, brach sie ab. »Nein, liebe Mutter; die Strafe ist für den Wunsch meines Herzens zu groß. Ich muß Verzicht auf die Briefe thun, wenn ich sie vorlesen soll, obgleich mein Herz immer mit Sehnsucht den Wunsch fühlen wird, sie alle zu lesen.« – Sie bedeckte das Auge voll Thränen mit ihrer Hand.

Eigensinn! sagte die Mutter. Nun, so lies sie allein. –

Minette ging mit den Briefen (es waren aber nur die aus Hamburg und Lüneburg) schnell auf ihr Zimmer, und las sie dort, bei dem unruhigsten Pochen ihres Herzens. Nun saß sie mit gestütztem Kopfe da, und es flossen Thränen über ihre glühenden Wangen. Die Mutter kam, und Minette sagte traurig: »ich wollte, ich hätte ihn nie gesehen, oder – diese Briefe nicht gelesen!«

Du unartiges Mädchen! mußt du mir einen so harten Vorwurf machen? Ich mache ihn mir ja schon selbst! – Sie umarmte ihre Tochter.

»Ach, diese Briefe enthalten das Unglück meines Lebens! Er wird mich nie lieben, nie! denn er hat geliebt! Ich werde immer unglücklich seyn!«

Wunderliches Mädchen! Was ist denn so Fürchterliches in diesen Briefen? – Minette, laß uns vertraulich mit einander reden, wie zwei Schwestern. Was findest du denn in diesen Briefen? Jugendliche Liebe, vielleicht eine bloße Thorheit. Du glaubst nicht, wie weit eine solche Scene, wie die auf der Elbe, und ein solcher Tag, wie der, den Herrmann mit Marien allein zubrachte – wie weit dergleichen ein Herz bringen kann. Aller der Glanz, aller der himmlische Reitz, den er um das Mädchen verbreitet, ist vielleicht nichts weiter, als der Abglanz dieser beiden Tage. – (Minette schüttelte den Kopf.) – Aber wenn es auch so wäre – uninteressant kann Marie nach der Beschreibung ihrer Freundin nicht gewesen seyn, obgleich das Zeugniß einer Freundin etwas verdächtig ist. Er hat geliebt, Minette, wie dein Vater, ehe er mich kannte, eine Andre mit großer Leidenschaft liebte. Du wirst lächeln; du . . .

»Haben Sie immer dazu gelächelt, liebe Mutter?«

Was das für eine Frage ist! Nein; aber ich lächle jetzt darüber, daß ich nicht immer gelächelt habe. –

Die Mutter gab sich viele ganz vergebliche Mühe, Minetten ihre Besorgnisse ausreden zu wollen. Sie war und blieb unglücklich, bis, was der Mutter nicht gelang, Herrmann bewirkte. Er sah in Minettens schönen Augen Thränen, und Kummer in dem schönen Gesichte. Die Betrübniß war bei ihr eine geistige Schwärmerei geworden; sie wollte nicht Herrmanns Gattin seyn, sondern seine Freundin, um ihn in seiner stillen Traurigkeit zu trösten. Die Mutter suchte vergebens, sie zu überzeugen, daß dieser Weg sie zu keiner Art von Ruhe führen würde.

»O, das soll er auch nicht, Mutter!« erwiederte Minette. Und wie war ihr nun beizukommen?

Mein Kind, es taugt nicht, wenn der Mensch alles mit dem Kopfe abmacht; aber – das wußtest du ja sonst, wie dein Vaterunser – noch weniger taugt es, wenn das Herz alles, ohne den Kopf zu Hülfe zu nehmen, allein thun will.

»Ich würde ihn verachten, wenn er die vergäße, die er liebte; wenn er eine Andre lieben könnte!«

Die Mutter schalt; und doch hatte Minette den rechten Weg eingeschlagen, der gerade zu dem Ziele führte, wohin ihre Mutter sie gern bringen wollte. Herrmann bemerkte die Begeisterung, das Schwärmerische, die Traurigkeit in Minettens Augen. Das zog ihn an. Sie hatte jetzt in ihrem Wesen etwas so Erhabenes, und gegen ihn eine so stolze, edle Haltung, aber dabei auch ein so zärtliches Vertrauen, ein so ruhiges unbesorgtes Andrängen an sein Herz, daß er von Tage zu Tage näher zu dem Zauberkreise der Liebe hingezogen wurde. Je mehr ihr Schmerz zunahm, desto mehr verlor sich sein eigener. Er suchte Minettens Gesellschaft auf, und gewöhnte sich an sie. Die Bilder seiner Vergangenheit wurden immer blasser, und auch Minettens Gram verlor sich allmählich. Sie fand nun mit einer kleinen Beschämung, daß ihre Mutter doch Recht hatte, und daß ihre Idee von Freundschaft eine Schwärmerei gewesen war, wohinter sich die Liebe nur zu verbergen suchte.

So lebten Beide einige Monate. Minette sah ihren Sieg über Herrmann immer deutlicher in seinen Augen, und in seinem Bestreben, ihr zu gefallen. Er fühlte das selbst, und lächelte darüber, daß die Zeit, die Schmidts so oft prophezeiet hatte, schon so früh gekommen war. Freilich empfand er nicht jene volle, heiße Liebe, jene stille, heilige Begeisterung, die Marie in seinem Herzen erweckt hatte; aber doch etwas dem Aehnliches, was ihm noch schöner schien. Seine jetzige Liebe wuchs unter Rosen, unter Lachen und Scherzen auf. Hier war kein Hinderniß: er sah Minetten täglich, stündlich; und immer lag auf dem schönen Gesichte das holde Lächeln der Liebe.

Nun kam Minettens Geburtstag. Er hatte auf eine Posse gedacht, die er ausführen wollte; als aber die Mutter ihre Tochter an das Herz drückte, und ihr mit Thränen in den Augen das höchste Glück des Lebens wünschte: da schien ihm seine Posse verächtlich. Er nahm Minetten aus den Armen der Mutter in die seinigen, und beinahe wäre seinen Lippen schon in dieser Minute das süße Geheimniß seines Herzens entflohen.

Am Abend war er mit Minetten im Garten. Sie hing an seinem Arme; sie war in einem schönen Feuer, in der Freude des heutigen Tages, in der schönen Begeisterung der Gewißheit von Herrmanns Liebe. Er legte einen Arm um ihren Leib; und sie sagte mit freudigen Blicken: »o, wer ist glücklich, wenn wir es nicht sind!«

Wir? wir? Ich durch Sie! O Minette! ich durch Sie? – Sie reichte ihm, hold erröthend, mit Thränen der Liebe in den glänzenden Augen, die Hand, und lag, von seinen Armen umschlungen, an seiner Brust, an seinen Lippen. Beide fühlten sich glücklich, selig.

 

* * *

 


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