Isolde Kurz
Die Nacht im Teppichsaal
Isolde Kurz

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III
Wie die Florentiner Pisa behüteten

Einstmals vor grauen Jahren – so raunt es zwischen Geschichte und Sage, deren Lücken die Phantasie ergänzt – fuhren die Pisaner mit starker Schiffsmacht gen Mallorca, um die auf dieser Insel wohnenden seeräuberischen Sarazenen, die ihnen Fahrzeuge weggekapert und ihrem Handel Schaden getan hatten, zu überwältigen. Aus Besorgnis, daß die Lucchesen, mit denen sie in Fehde lagen, die Gelegenheit wahrnehmen möchten, über ihre von streitbaren Männern entblößte Stadt herzufallen, vertrauten sie den verbündeten Florentinern die Überwachung ihrer Mauern an. Die Florentiner waren, wie uns ihre Chronisten melden, damals die Redlichkeit und Bundestreue selbst, und als sie dem Wunsch der Pisaner stattgaben, beschlossen sie, ein strahlendes Beispiel dieser Tugenden aufzustellen. Sie zogen also mit großem Aufgebot an Mannen und Rossen heran, lehnten es jedoch ab, Quartiere in der Stadt zu beziehen, sondern schlugen in der weiten Ebene ein Lager auf mit vielen Zelten und strahlenförmigen Gassen dazwischen, in der Mitte das Zelt des Anführers, auf dem das Banner mit der Lilie wehte. Danach umstellten sie die Mauern der Stadt von der Landseite, denn Pisa lag damals noch am Meere, mit starker Bewachung, die sie vor den Toren noch verstärkten, und der Feldhauptmann, ein in Waffen ergrauter eisenharter Krieger, hielt eine Ansprache, worin er seinen Leuten auf das strengste verbot, die Stadt Pisa auch nur mit einem Fuße zu betreten. Wenn einer dennoch innerhalb der Mauern oder auch nur beim Versuch sich einzuschwärzen ergriffen würde, so sollte er am Halse gehenkt zwischen Himmel und Erde seinen Frevel büßen. Darum 36 daß die heimkehrenden Pisaner gewahr würden, wie heilig den Florentinern ihre Habe und die Ehre der Pisanerinnen gewesen, und daß sie es verstanden hatten, die anvertraute Stadt nicht nur gegen Feindesgewalt, sondern ebenso gegen den Mutwillen der Beschützer zu schützen. Diese Warnung verbreitete bei der bekannten unerbittlichen Härte des Feldhauptmanns einen heilsamen Schrecken unter der jungen Mannschaft, denn viele waren nur aus Abenteuerlust und Begier nach dem Neuen zu den Fahnen gelaufen. Als aber die Abwesenheit der pisanischen Streitmacht sich in die Länge zog und keine Lucchesen sich zeigten, wurde die Langeweile eines Feldlagers ohne Gegner dieser lebhaften und fürwitzigen Jugend allzu drückend, und manch einen begann die Neugier nach den Merkwürdigkeiten der reichen und berühmten Seestadt zu kitzeln, deren Kuppeln und Türme so einladend über die Mauern blickten. Besonders fesselte ihre Einbildungskraft der schiefe Turm, der damals noch neu, aber schon gerade so schief war wie heute und zu den sieben Weltwundern gezählt wurde. Man stritt darüber, ob er gleich so schief gewachsen sei oder sich nachträglich auf die Seite geneigt habe, und konnte die Frage so wenig ergründen wie in unseren Tagen; viele gingen auch Wetten ein, wie lange es dauern würde, bis er umfiele.

Nicht mindere Langeweile als draußen im Feldlager herrschte drinnen in der Stadt, weil mit der männlichen Jugend von Pisa alles fehlte, was Bewegung in die Straßen und in die Gemüter der Bewohner brachte. Am meisten langweilten sich die schönen Pisanerinnen, die wenig Reiz dabei fanden, ihre Wohlgestalt und Kleiderpracht vor den in der Stadt zurückgebliebenen Graubärten zur Schau zu stellen. Sie erstiegen alle Türme, von denen sie einen Ausblick auf das Gewimmel des Lagers erhaschen 37 konnten, und ermittelten bald den Weg, sich ihren Beschützern zu zeigen. Der Kommandant oder Platzhauptmann von Pisa hatte zwar mit dem vor den Toren vereinbart, daß keinerlei Verkehr zwischen Stadt und Lager sich entspinnen dürfe, um nicht den Wolf in die Hürde der Schafe zu locken. Aber er war kein Eisenkopf wie der andere, sondern ein wohlwollender alter Mann, der gerne der Jugend ein bißchen Freude gönnte und sich auch damit abfand, wenn sie einmal über die Stränge schlug. Nur durfte er nicht getrunken haben, denn alsdann kam ein kriegerischer Geist über ihn, daß er den im Lager draußen an drakonischer Strenge noch überbot, wenigstens in Worten. Sie sagten ihm nach, wenn er im übereilten Zorn einen henken lasse, so schneide er ihn, bevor er ausgezappelt habe, wieder ab.

Dieser Wackere verstattete den Pisanerinnen nicht nur, dann und wann von den Wehrgängen einen Blick auf das Lager der Florentiner zu werfen, sondern auch, wenn sie über die stickige Luft in den damals noch engen Straßen klagten, sich in der Abendkühle auf dem Zwinger zwischen Mauer und Stadtgraben zu erholen, wobei keine Gefahr für die guten Sitten zu befürchten war, denn die Fallbrücken wurden nur gesenkt, um die Landleute, die ihre Vorräte auf den Markt brachten, ein- und auszulassen.

Unter der Bewachungsmannschaft befand sich ein junger Mensch von heißem und verwegenem Geblüt mit Namen Zanobi, den es mehr als alle lüstete, das Verbot seines Feldhauptmanns zu brechen, sollte es auch das Leben kosten. Ihn zog aber kein schiefer Bau, sondern ein wundergerader, nämlich die Tochter des Kommandanten selbst, die reizende Orsola, die er mit ihren Freundinnen auf dem Zwinger hatte wandeln sehen. Als er bei ihrem Anblick, wie von einem Pfeil getroffen, die Hand aufs 38 Herz preßte und einen bis über den Graben hörbaren Seufzer ausschickte, brachen zwar die Freundinnen in mädchenhaftes Gekicher aus, aber Orsola errötete und antwortete durch einen raschen Blick aus halbgesenkten Lidern, der alles eher als Mißfallen ausdrückte, denn der Zanobi war ein schöner und wohlgestalteter Jüngling; und über den Graben hinweg, der eine Annäherung unmöglich machte, glaubte sie ja ihrer Ehre nichts zu vergeben. Doch aus dieser Zufallsbegegnung schlug eine Flamme auf, die schnell alle Hemmnisse übersprang und die Ergriffenen für die Gefahr blind machte. Um sich den Späheraugen der Freundinnen zu entziehen, vermied Orsola fortan den Spaziergang außerhalb der Mauern, erstieg aber, weil ihr väterliches Haus in die Befestigung eingebaut war, so oft wie nur möglich den Wehrgang, um von dort nach dem Zanobi auszuschauen und seine Augensprache zu erwidern. Von Tag zu Tag wurde das Verlangen sich zu sehen unwiderstehlicher in den beiden, und wenn sie sich sahen, so verwünschten sie Mauer und Graben, die sie hinderten zusammenzukommen und sich Leib an Leib zu umschlingen und aneinanderzupressen.

Da die Pisaner vor Mallorca noch immer kein Glück hatten und ihre Abwesenheit sich noch Monde und Jahre hinzögern konnte, sah es der Feldhauptmann nicht ungern, daß seine jungen Kriegsleute, wenn sie nicht gerade durch Wachestehen und Waffenübungen in Anspruch genommen waren, sich, soweit dies im Lager möglich, mit Künsten des Friedens abgaben, wie sie sie daheim betrieben. So hatte er eine bessere Gewähr, daß sie nicht durch untätiges Leben auf mutwillige Streiche gerieten. Die Schuster verfertigten Schuhe, die Schneider besserten Röcke aus, die Schlosser hämmerten, die Holzschnitzer bastelten, daß die Gassen des Lagers denen einer Stadt im Frieden glichen, wo ja auch die Geschäfte in freier Luft 39 vor sich gingen. Der Zanobi, der ein kunstreicher Goldschmied war, ließ sich von Hause seinen Handwerksbedarf bringen, um daraus zum Schein allerlei blinkendes Zierwerk herzustellen, das ihm die Kameraden für ihre daheimgebliebenen Mädchen abkauften, und darunter ein kleines Herz aus Gold mit einem blutroten Rubin in der Mitte, der leuchtete wie eine offene Wunde. Dies Schmuckstück übergab er einem Landmann mit Namen Silvestro, den er öfter durch das Stadttor gehen sah und den er sich durch allerlei Gefälligkeiten willig zu machen gewußt hatte, damit er es gegen reiche Belohnung der Tochter des Platzhauptmanns bringe und ihm dann berichte, wie sie das Kleinod aufgenommen habe. Die Schöne empfing die Gabe mit Entzücken und sandte dem Geber einen goldenen Ring zurück: wenn sie den an seinem Finger erblicke, so solle es ihr ein Zeichen sein, daß sie sich als Braut und Bräutigam betrachten und einander ewig und ausschließlich angehören wollten. Es ist überflüssig zu sagen, daß noch in derselben Stunde der Ring am Finger des Zanobi blinkte und daß, sobald er Gelegenheit fand sich dem Graben zu nähern, der Schein von seiner aufgehobenen Hand in Orsolas begierig wartende Augen fiel.

Wäre die Kunst des Lesens und Schreibens damals schon verbreiteter gewesen, so hätten jetzt die Liebenden von ihren beiderseitigen Standorten unbeobachtet mittelst Pfeilschüssen und Steinwürfen Briefe tauschen und ohne fremde Hilfe eine Zusammenkunft verabreden können. Aber leider waren sie auch für diese gefährliche Vermittlung auf den Botengänger angewiesen und gaben sich damit ganz in seine Hände. Der Platzhauptmann verwahrte die Schlüssel der Stadt und pflegte sie des Nachts unter sein Kopfkissen zu legen. Aus dem schweren Schlüsselbund löste Orsola einen kleinen, stark 40 verrosteten ab und ersetzte ihn durch einen anderen von ähnlichem Aussehen. Mit dem entwendeten Schlüssel huschte sie in tiefer Dunkelheit, als schon das ganze Haus mit Ausnahme einer einverstandenen Dienerin schlief, durch die menschenleeren Wege zu einem kleinen Pförtchen, das in Friedenszeiten unbewacht blieb, und öffnete es mit dem sorglich geölten Schlüssel. Draußen wartete schon der Zanobi, der den Wassergraben durchschwommen und seine auf dem Kopf herübergebrachten Kleider schnell wieder angelegt hatte, um in die Arme seiner Geliebten zu eilen. Diese führte ihn zuerst auf einen nahegelegenen kleinen Platz, wo eine uralte mächtige Ulme stand. Sie sagte: Weil wir durch das strenge Kriegsgesetz gezwungen sind, uns in Finsternis und Einsamkeit ohne priesterlichen und elterlichen Segen zu vermählen, so bitte ich Euch, mein geliebter Freund, mit mir vor diesen heiligen Baum zu treten und ihn zum Zeugen und Bürgen zu nehmen, daß ich keine schlechte Dirne bin und Ihr kein ruchloser Verführer, sondern daß wir hier in seiner Gegenwart eine rechtmäßige und gottgefällige Ehe miteinander schließen.

Es herrschte nämlich damals in südlichen Gauen noch der schöne, aus fernem Heidentum stammende Brauch, daß ein Paar, dem der herkömmliche Weg zur Trauung verschlossen war, einen Baum als stellvertretenden Zeugen und Beschützer erwählte und sich ihm durch eine altehrwürdige Formel übergab. Diese Ulme mit ihrem majestätischen Wuchs und ihrem hohen Alter genoß im weiten Umkreis eine ganz besondere Verehrung und hatte schon manchem geheimen Bunde gerauscht. Für den Jüngling lautete die Formel:

Ragende Ulme, dem Himmel vertraut,
Ich bin der Bräutigam, du bist die Braut.

Und für das Mädchen: 41

Ragender Ulmbaum, dem Himmel vertraut,
Du bist der Bräutigam, ich bin die Braut.

Dreimal umschritten der Zanobi und die Orsola den Baum unter feierlichem Anruf, und dreimal ging ein Wehen durch die Ulme, als ob sie erwidernd bekräftige. Damit waren sie beide dem zweigeschlechtigen Geiste des Baumes vermählt, der seine Rechte nun kreuzweise an Jüngling und Mädchen übertrug und die Heiligkeit und Unverletzlichkeit ihrer Ehe gewährleistete. So fest war der Glaube an die Rechtmäßigkeit der Baumehe, daß von einem Ungetreuen gefabelt wurde, der es gewagt habe, nach Abschluß einer zweiten Heirat unter dem verratenen Baume vorbeizugehen und der dafür von einem stürzenden Ast der Ulme erschlagen worden sei. Als die Zeremonie vollzogen war, betrachteten sich die beiden als rechtsgültig vermählt, und die Orsola führte ihren Zanobi auf Katzenwegen in das heimliche Brautgemach. Durch mehrere Monde dauerte ihr glücklicher Verkehr. Sie verabredeten eine Zeichensprache zwischen Stadtmauer und Lager, in der sie die geeignetsten Stunden ihrer Zusammenkünfte festsetzten. So konnten sie des lästigen Mitwissers entraten, den seine geleisteten Dienste frech gemacht hatten und der dem Jüngling immer neuen Schweigelohn auszupressen suchte. Auch des gefährlichen Schleichgangs durch das Pförtchen und die Straßen bedurfte es nicht mehr. Der Liebende lehrte die Geliebte um eine der Zinnen ein langes Seil befestigen, das er sich unten um den Leib wand und mit dem er unter ihrer und der Magd Beihilfe als geschickter Kletterer an Händen und Füßen die Mauer erklomm. Die beiden gedachten ihre Verbindung solange geheim zu halten, bis nach dem Heimzug der Pisaner das florentinische Schutzheer sich aufgelöst hätte und der Zanobi die Folgen seiner Unbotmäßigkeit nicht mehr zu fürchten brauchte. Dann wollte er nach Pisa zurückeilen, um den geschlossenen Bund zu offenbaren und die Vermählung unter dem Segen der beiderseitigen Angehörigen öffentlich zum zweitenmal zu feiern.

Jedoch der neidische Dämon, der immer und überall dem Glück der Liebenden Fallen stellt, lauerte in der Gestalt des habgierigen Bauern und trieb ihn an, den Zanobi so lange mit erpresserischen Drohungen zu verfolgen, bis dieser ihm nichts mehr geben konnte oder wollte und ihn im Zorn einen Gauner nannte. Dabei kam es zu Tätlichkeiten, die in eine Schlägerei zwischen Bauern und Soldaten ausartete und woraus der tückische Silvestro arg zerkratzt und zerschunden hervorging. Er hielt zunächst mit seiner Rachgier zurück, denn er konnte es nicht wagen, den Zanobi wegen Bruchs der Mannszucht anzuklagen, weil er keine Beweise in Händen hatte und eine schwere Strafe auf verleumderischen Anzeigen stand. Aber er spähte alle seine Bewegungen aus und hinterbrachte dann dem Platzhauptmann von Pisa, daß die Ehre seines Hauses durch einen vom Bewachungsheer geschändet sei, wobei er ihm auch angab, wann und wie er sich des Übeltäters bemächtigen könne.

Der Kommandant hatte wieder einmal stark gezecht und befand sich in dem Zustand, worin ihm die Überlegung unterzugehen pflegte. Statt zuerst seine Tochter zu vernehmen, schloß der alte Polterer sie zusamt der mitschuldigen Magd ganz fest in ihrem Zimmer ein und begab sich, sobald die mondlose Nacht heraufdunkelte, mit einem Knecht auf die Mauer. Dieser mußte, nachdem das Signal gewechselt war, den ahnungslosen Liebhaber am Seil heraufziehen, ohne daß Orsola imstande war, ihn zu warnen. Blind vor Zorn und Wein hörte der Alte keine Erklärungen noch Beteuerungen an, sondern ließ den Unglücksmann ohne weiteres in Eisen legen. So sandte 43 er ihn am frühen Morgen, da der Zorn noch in ihm fortdauerte, dem florentinischen Befehlshaber zu als einen, der auf der Stadtmauer abgefangen worden sei, im Begriff einen Hauseinbruch zu verüben, und der die ganze Strenge des Kriegsrechts verdiene.

Der Feldhauptmann ließ zurückvermelden, es sei heute der Tag des Täufers, den Florenz als Schutzpatron verehre; an diesem Tag, der auch im Lager festlich begangen werde, könne kein Todesurteil vollstreckt werden. Wenn sich aber der Herr Kommandant am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang auf die Mauer bemühen wolle, so werde er den Frevler, obwohl er guter Leute Kind und sonst ein wackerer Soldat sei, dem man kaum so niedrige Absichten habe zutrauen können, am Galgen baumeln sehen. Inzwischen war der Rausch des Platzhauptmanns samt den bösen Nachwirkungen verflogen, er hörte von der Tochter, die sich zu seinen Füßen warf, die Wahrheit an, daß der Zanobi nicht als Ehrenräuber in ihr Gemach gestiegen sei, sondern nach feierlichem Eheschluß im Angesichte des Ulmbaumes, und daß er nur das Erlöschen des Kriegsrechts habe abwarten wollen, um sich in allen Züchten und Ehren dem Schwiegervater vorzustellen. Diese Erklärung, mit dem Zeugnis des florentinischen Anführers zusammengehalten, wendete den Sinn des Kommandanten. Er begann zu begreifen, wie viel schicklicher es wäre, seine Tochter einem wackeren jungen Mann aus begüterter Familie vermählt zu sehen, als sie zur Witwe eines Gerichteten zu machen. Voll Reue begab er sich selbst in das Zelt des Feldhauptmanns, um den Tatbestand aufzuklären, und bat, den Jüngling, den er als Schwiegersohn anerkenne, loszusprechen.

Jener antwortete, er freue sich, daß der treffliche junge Mann auf keinem gemeinen Verbrechen ergriffen worden und daß auch die pisanische Frauenehre nicht zu 44 Schaden gekommen sei. Aber von Begnadigung könne keine Rede sein, weil der Verurteilte sich des soldatischen Ungehorsams schuldig gemacht und den Ruf der florentinischen Mannszucht erschüttert habe. Vergeblich berief sich der andere auf die Jugend des Schuldigen und auf die Unwiderstehlichkeit der Liebe. Der eiserne Feldhauptmann erklärte, das Palladium des Lagers sei die unbeugsame Strenge des Feldherrn und der unbedingte Gehorsam der Mannschaft. Erlitte dieser auch nur an einer Stelle den geringsten Bruch, so würde sich die Gewalttat wie eine Flutwelle über das Land ergießen, und er wäre nicht mehr imstande, ihr Einhalt zu tun.

Tief bestürzt zog sich der Fürbitter zurück, doch gab er seine Bemühung, den Zanobi zu retten, nicht auf. Er beriet sich mit den Ältesten der Stadtgemeinde, die in Abwesenheit der jüngeren Männer die Regierung in der Hand hatten, und nun erschien eine Abordnung pisanischer Greise im Lager der Florentiner, um dem Gestrengen zu bedeuten, daß das Feld, worauf er lagere, pisanisches Gebiet sei, und daß sie nun und nimmer gestatten würden, pisanische Erde durch eine Hinrichtung zu schänden. Auf dieser Erklärung beharrten sie unerschütterlich, bis zuletzt das Abkommen getroffen wurde, daß zwar dem Kriegsgesetz kein Abbruch geschehen dürfe, daß aber mit der Vollstreckung des Urteils gewartet werden müsse, bis die Florentiner auf eigenem Grund und Boden stünden. Die Abgesandten hofften, wenn erst die pisanische Macht siegreich heimgekehrt sei, so würde in dem allgemeinen Dank- und Friedensfest durch die Fürbitte der Sieger, unter denen sich viele angesehene Blutsfreunde des Platzhauptmanns befanden, der harte Sinn des florentinischen Befehlshabers am Ende doch noch schmelzen. Und so wäre es wohl auch geschehen ohne den Verräter Silvestro, der dem 45 Feldhauptmann seinen Acker zum Kaufe anbot, damit das Blutgericht auf florentinischem Boden seinen Lauf haben könne. Sie wurden handelseinig, der Bauer erhielt einen hohen Preis, und alsbald erging der Befehl, auf dem Grundstück, das jetzt Eigentum der Florentiner war, den Galgen aufzurichten. Weil aber der Verurteilte bei allen Kameraden und bei dem grimmigen Feldhauptmann selbst in so gutem Ansehen stand, erhielt er die Erlaubnis, vor dem Tode noch von seiner geliebten Orsola Abschied zu nehmen. Ein ländliches Kirchlein nahe der Stadt wurde für diese Begegnung gewählt. Dorthin brachte man unter beiderseitiger Bewachung die Liebenden, ein Priester legte ihre Hände zusammen und gab der Verbindung, die bisher nur von der Ulme geweiht war, noch zuletzt den kirchlichen Segen. In der Sakristei umschlangen sie sich noch einmal unter vier Augen, und Orsola, die keine Träne vergoß, bat den Geliebten, wenn er oben auf der Leiter stehe, seinen Blick auf die Zinne zu richten, wo sie ihn mit ihren Armen hinaufgezogen und von wo sie ihm den letzten Gruß zusenden wolle.

Die ganze Nacht lag sie betend auf den Knien, aber die Stunden gingen ihren Gang, und unbarmherzig dämmerte der Morgen herauf. Als Orsola die Zinnen erstieg, sah sie das Lager schon in voller Bewegung, aus allen Zeltgassen strömten die Bewaffneten dem Hochgerichte zu. Mit gebundenen Händen und einer tief über die Augen gezogenen Mütze wurde beim Schall der Trompeten der Verurteilte herangeführt, der seinen letzten Gang aufrechten Hauptes und festen Schrittes ging. Unter der Leiter nahmen die Kameraden ihm die Mütze ab, denn einem Braven, der er stets gewesen, durfte man die letzte Ehre, mit offenen Augen zu sterben, nicht weigern. Ohne Hilfe erklomm er schnell die Leiter, und oben auf der letzten Sprosse wandte er sich nach der Zinne um, 46 während ihm die Schlinge um den Hals gestreift wurde. Drüben stand Orsola in dem Festkleid, das sie bei ihrer ersten Begegnung getragen, sein goldenes Herzchen blinkte im ersten Sonnenstrahl an ihrem Hals. Er sah, wie sie die Arme weit voranwarf, als ob sie ihm zufliegen wolle, und sich in die leere Luft hinausschwang, um ihm im Tode vorauszueilen. Aber er ließ ihr den Vortritt nicht, mit gewaltsamem Sprung schnellte er sich freiwillig von der Leiter, daß die Seele auf einmal entfloh und eine Sekunde beider Leben endete.

Großes Trauern herrschte im Lager und in der Stadt, und der Verräter Silvestro sollte seines Blutgelds nicht froh werden. Außen durfte er sich nicht mehr blicken lassen, weil die Kameraden des Gerichteten ihm den Tod geschworen hatten, und in der Stadt, wo er sich anzukaufen hoffte, wies man ihn mit Verachtung zurück. Da fand man ihn denn eines Morgens an dem stärksten Ast der Ulme von eigenen Händen aufgeknüpft, und die Leute sagten, der zürnende Baum habe seine Schützlinge gerächt. Von da an aber trauerte die schöne Ulme, als ob sie sich der häßlichen Frucht, die sie getragen, schämte. Ihre Zweige starben ab, und es kam kein Paar mehr in ihrem Schutze zusammen.

Um die Osterzeit kehrte die pisanische Flotte siegreich zurück mit großer Beute an Schätzen und Gefangenen, nachdem sie die reiche Stadt Mallorca in Asche gelegt. Alle Glocken wurden geläutet, und bei dem glänzenden Siegesfest war viel Rühmens und Dankens wegen der von den Florentinern bewiesenen Bundestreue und der strengen Mannszucht, mit der sie Pisa behütet hatten. Das Schutzheer zog reich beschenkt nach Hause, und der Stadt Florenz, die so redlich an ihnen gehandelt, ließen die Sieger als Beuteanteil die Wahl zwischen den kostbaren Metalltüren einer zerstörten Moschee und den 47 zwei Porphyrsäulen, deren geborstene Stümpfe noch heute vor dem Eingang von San Giovanni stehen. Die Florentiner wählten die letzteren, weil die Rede ging, daß ein geheimnisvoller Zauber in den Säulen verborgen sei: wer sich dahinterstelle, dem werde jeder Trug, Diebstahl oder feindliche Anschlag offenbar. Die Säulen kamen an, von prächtigen Scharlachtüchern umwunden und geschwärzt vom Rauch des eingeäscherten Mallorca. Sie wurden aufgestellt, wo sie noch heute stehen, allein obwohl an Ränken und Arglist in der Stadt kein Mangel war, so kam doch nie eine Übeltat durch sie ans Licht. Da wurden die Florentiner den Pisanern gram, weil sie vermeinten, jene hätten aus Neid die Säulen geschwärzt, um ihnen die magische Tugend zu nehmen. Von dieser Begebenheit soll es herrühren, daß den Florentinern im Mittelalter der Spottname »die Blinden« angehängt wurde, weil sie den angeblichen Trug der Pisaner nicht bemerkt hätten.

Aus dem Groll erwuchs allmählich eine Todfeindschaft, die zu nicht endenden erbitterten Kriegen zwischen Florenz und Pisa führte und die frühere Guttat in ihr blutiges Gegenteil verwandelte, denn der Ausgang war die völlige Knechtung und Entrechtung der einst so stolzen Seestadt. Die weggeschleppten Hafenketten von Pisa, an der Taufkirche zu Florenz aufgehangen, verhöhnten noch jahrhundertelang die gestürzte Größe. Erst nach Gründung des geeinigten Königreichs Italien gaben die Florentiner die brudermörderische Trophäe an Pisa zurück, das sie als historische Reliquie feierlich im Camposanto aufbewahrt. 48

 


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