Isolde Kurz
Italienische Erzählungen
Isolde Kurz

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Ein Rätsel

Ein seltsamer Fund geriet unlängst in meine Hände.

Ich pflegte von Florenz aus häufig die Steinbrüche des Monte Ceceri zu besuchen und hielt mich dort gerne in den Felsenkammern auf, die durch die Absprengung der Steine entstanden sind. Da diese Steine, zum Häuser- und Straßenbau dienend, meist in langen Stufen gebrochen werden, so haben sich unregelmäßige Treppen gebildet, die märchenhaft in das Innere des Berges zu führen scheinen. Um dem Einsturz vorzubeugen, hat man starke Pfeilermassen stehen lassen, welche die triefende Decke der Kammern tragend an die Felsenbauten der Alten erinnern. Das durchgesickerte Wasser steht als dunkler See auf dem Boden, und durch seitliche Luken sieht wie durch Fenster der blaue Himmel herein. Viele solcher Kammern sind wegen Erschöpfung des Materials verlassen, und das Geröll darüber liegender Brüche hat ihren Eingang bis zu halber Höhe verschüttet.

In einer dieser Kammern saß ich an einem warmen Frühlingsabend, hörte tief unten im Thal die Mensola rauschen und betrachtete mir die zerklüfteten 276 Flanken des Berges, wo zwischen rötlichem Geröll nur die wilde Myrte und einzelne schmächtige Cypressen sproßten. Da machte ich eine unerwartete Entdeckung. Zwischen zwei vorstehenden Steinen an geschützter Stelle stak ein in schwarzes Leder gebundenes Taschenbuch. Ich zog es vorsichtig heraus, und nachdem ich es eine Zeitlang zweifelnd in den Händen gedreht hatte, nahm ich mir die Freiheit, es aufzuschlagen. Seine Blätter waren mit Tinte beschrieben, in einer steifen, aufrecht stehenden Schrift, die von rechts nach links lief und mir auf den ersten Blick unverständlich schien, dazwischen mengten sich Zahlen und gekritzelte Figürchen. Die ersten Seiten fehlten, und in die gehefteten Blätter eingeschoben lagen andere, von verschiedenem Format, die mit denselben fremdartigen Zeichen bedeckt waren.

Lange hielt ich das unordentliche Heftchen in der Hand und suchte nach einem Schlüssel zu dieser Geheimschrift, in der ich nichts erkennen konnte als die O. Da kam mir plötzlich der Einfall, mein kleines Taschenspiegelchen herauszuziehen und neben die Schrift zu halten. Freudige Ueberraschung! Die verworrenen Züge ordneten sich sofort im Glase, die Hieroglyphen erwiesen sich als gewöhnliche Spiegelschrift, und die ersten Worte, die ich entzifferte, waren deutsch. Doch war das Lesen mit dem winzigen Spiegelchen sehr unbequem, und zuweilen liefen Querlinien mitten durch das Geschriebene und vermehrten die Schwierigkeit.

Aber das Wenige, was ich gelesen, ließ mir 277 keine Ruhe, und ich nahm den wunderlichen Fund mit nach Hause, wo ich ihm mit einem größeren Handspiegel und zwei angezündeten Kerzen zu Leibe ging. Nachdem ich das Manuscript nicht ohne Mühe entziffert hatte, suchte ich, so gut es gehen wollte, einige Ordnung hineinzubringen, indem ich Wiederholungen wegließ, kleine Zusammenziehungen vornahm und nach der Wahrscheinlichkeit die Reihenfolge herstellte.

Als es endlich ins Reine geschrieben war, erhielt es die Gestalt, in der es hier vorliegt.

* * *

Ich stand auf dem Domplatz von Pisa.

Es war eben Mittag, die letzten Schläge der Uhr zitterten noch durch die glühende, unbewegliche Luft. In der blendenden Helligkeit standen die Marmorcolosse, Dom, Battistero und Campanile traumhaft, ohne Schwere da, als wüchsen sie soeben aus dem grünen Flaume des Bodens heraus. Hier wohnt die Einsamkeit in ihrer marmornen Residenz, umflutet von unerträglichem Glast, mit dem sie jeden Eindringling wie mit einer wabernden Lohe zurückscheucht.

Nur wie ein leises, leises Schwirren tönt der Lärm der Stadt herüber, in der Entfernung rollt ein Wagen vorbei, aber niemand soll mir einreden, daß seine Insassen Wesen von Fleisch und Blut seien. Es muß ein Stück Jenseits sein, auf dem ich stehe, und ich bin keineswegs sicher, wie es um 278 meine Leiblichkeit bestellt ist. Wenn nicht mein kurzer Schatten neben mir aufs Pflaster fiele, würde ich nicht glauben, daß ich da bin. Ob meine Stimme wohl einen Laut hat? – Ich möchte sie gern probieren, aber sie wagt sich nicht hervor in dieser Stille, ich fühle mich so aufgehoben, so nicht vorhanden in der dünnen, körperlosen Hitze, die mir selbst das Gefühl der Schwere nimmt.

Ich erhebe nach einander meine Arme und Beine, um mich zu überzeugen, daß sie mein sind. Meine Bewegungen sind langsam und schattenhaft, und meine Gedanken gehen leise wie auf Filzsocken. Ich kann mich nicht auf meinen Namen besinnen. Es scheint mir, als würde ein grauer Schleier langsam über mein Gehirn gezogen, und ein dumpfer Schmerz in den Schläfen läßt mich nicht denken. Ich muß irgendwo in der Sonne geschlafen haben, denn mein Geist ist noch umflockt wie von zerrissenen Gespinnsten und meine Glieder steif vom Liegen. Seltsamer, unbegreiflicher Zustand! Ich weiß nicht, wer ich bin. – – –

Der Himmel ist überall gleichmäßig tief und blau, eine hoch gewölbte saphirne Kuppel, unter der kein Wölkchen wandert und kein Vogel singt. Immer unheimlicher blicken mich die Dinge an, es ist, als sei die Erde plötzlich im Schwung erstarrt und liege in atemlosem Erwarten von etwas Ungeheurem. Weiß und geisterhaft glüht die Sonne, als müsse sie einem Weltbrand leuchten, und die Luft hat sich regungslos in sich selbst verkrochen. 279 Die Einsamkeit starrt mir ins Gesicht mit ihren leeren, weißen Sphinxaugen, die mir mein Ich genommen haben . . . Trotz der Hitze überrieseln mich eisige Schauer. Dann fängt mit einem Male alles zu wogen und zu branden an. Mir schwindelt, ich habe keinen Halt in dieser wallenden Unendlichkeit, das Ankertau ist mir entschlüpft, die Wirbel stürzen auf mich ein und reißen mich hinunter. – – –

Die Thür des Battistero steht offen, und ich trete schwankend hinein. Ich mache ein paar Schritte in der leeren Rotunde, ich fühle meinen Atem, der aus- und eingeht, also bin ich doch. Ich setze an, ein wilder unmelodischer Ton entringt sich meiner Kehle und durchläuft im Echo den Raum. Ich betaste mein Gesicht, meine Arme, ich übe meine Glieder im Laufschritt, ich tanze, also bin ich doch.

Dann tauche ich meinen Kopf ins Taufbecken und wasche meine Hände, daß das Wasser nach allen Seiten spritzt. Jetzt wird mir wohl, und eben wollte ich neue Daseinsproben mit mir anstellen, als ein Mensch, den ich zuvor nicht wahrgenommen hatte, in mein Sehfeld fiel. Es war ein ältlicher, etwas beleibter Herr in heller Sommerhose und grau karriertem Jaquet, offenbar ein Tourist; denn er trug den Feldstecher an gelbem Riemen über die Schulter geschnallt. Die Störung war mir lästig, ich schüttelte das Wasser aus den Haaren, trocknete Gesicht und Hände mit dem Taschentuch und verließ den Tempel. – – –

Ich bin, das ist kein Zweifel, aber wer bin 280 ich? Mit welchem Namen unterscheide ich mich von anderen Kreaturen? Wo war ich vorher, und was will ich hier? – – Ich weiß es nicht! O ewige Vorsehung – ich habe keine Antwort auf diese Fragen!

Aus aller Kraft klingle ich jetzt an der Thür des Camposanto, daß der Custode herbeistürzt und seine Schlüssel hervorzieht. Das hindert mich aber nicht, noch immer weiter zu klingeln, denn der Ton der Klingel macht mir Freude. Ich nehme ihn für einen Beweis meines Daseins.

»Signore, Signore, es ist offen,« schnaubt der Custode.

»Meinetwegen, so treten wir ein.«

Totenstille empfängt mich, um die weißen Bogengänge flutet das unerbittliche Licht, der saftige Rasen leuchtet und lacht in unnatürlich dunklem Grün, übersättigt von all' den Leibern, die ihn genährt haben, und die schwarzen Cypressen stehen hoch und regungslos, riesige Schildwachen des Todes. Ich entziffere die Inschriften auf den blanken Grabsteinen und könnte schreien vor Wut. Jeder dieser armen Narren, die hier unten vermodert sind, hat seinen Namen hinterlassen, der auf diesen Steinen sein wesenloses Dasein weiter führt, und ich lebe und weiß nicht, wer ich bin. Ich kann gehen, singen, tanzen, kann einwirken auf die Dinge außer mir, aber ich weiß nicht, wie ich heiße!

Lange Zeit habe ich vor mich hingestarrt, um meine Gedanken zu sammeln, aber umsonst. Keine 281 Erinnerung kommt mir zu Hilfe. Ich kehre meine Taschen um, ich suche nach einer Visitenkarte, einem Brief, einem Paß. Da ist nichts, nichts, das mir auf die Spur hilft – nur eine Börse mit Geld und ein Taschentuch, das ich an allen Enden umdrehe, es hat nicht einmal eine Chiffre.

Was ist mit mir vorgegangen?

War das immer so mit mir? Habe ich vielleicht eine schwere Krankheit durchgemacht, in der mein Gedächtnis verlöscht ist? Was soll nun aus mir werden?

Ich versank am Ende in gedankenloses Brüten und sah der Entpuppung einer Cikade zu. Ihr falbes Gehäuse war der Länge nach wie Glas geborsten, daß der neue grüne Leib darunter sichtbar ward. Sie lag und krümmte sich, um ihre dünnen Füße aus der engen Beschuhung zu befreien, und brachte unter verzweifelten Mühen das Köpfchen aus dem Spalt hervor, das gleich den Füßen half, sich gegen die Hülse zu stemmen und sie wie ein enges Kleidungsstück unter Zerren und Zappeln vollends herunterzuziehen. Endlich war ein formloses Ding geboren, das sich noch betäubt in der Welt umsah, während die leere Larve mit den vorgewölbten Augen in dummer Verwunderung das neue Wesen anzuglotzen schien. Die durchsichtigen Flügelchen waren noch gefaltet, wie aufgerollte grüne Blättchen, und schleppten im Grase. Wunderlicher Zustand! Bin wohl auch ich soeben aus einer 282 Puppenhülle geschlüpft und muß den Gebrauch meiner neuen Organe erst erlernen?

Es ist mir fast, als wolle ein Gedanke sich zur Klarheit durchringen, als der Anblick des karrierten Mannes aus der Taufkirche mich in neue Unruhe stürzt. Er ist mir nachgeschlichen und steht drüben unter den Fresken im Gespräch mit dem Custoden. Sie schielen ab und zu nach mir herüber, und jetzt zieht der Fremde gar ein Notizbuch aus der Tasche und schreibt.

Mit zwei Schritten bin ich an seiner Seite, ich frage ihn, weshalb er mich vorhin so fixierte, ob er etwas gegen mein Hiersein einzuwenden habe; ich fühle, daß meine Augen dabei rollen.

Der Karrierte ist ein Mann des Friedens und antwortet mit einer Entschuldigung. Eine Aehnlichkeit hatte ihn getäuscht, ich erinnerte ihn an einen alten Bekannten.

Ein Hoffnungsstrahl ging mir auf, vielleicht daß der Karrierte mich kannte, vielleicht daß ich durch ihn erfahren konnte, wer ich bin.

»Warum sollte ich nicht Ihr Bekannter selber sein?«

Aber der Karrierte ward ängstlich und wich mir aus, und am Ende versicherte er, der Herr, an den ich ihn erinnert habe, sei schon vor längerer Zeit gestorben.

»Dann kann ich wohl schwerlich er sein,« sagte ich, den Hut lüpfend – »ich bedaure, bedaure unendlich.«

283 Ueberlegen lächelnd schritt ich an den Beiden vorüber, dem Ausgang zu; aber mir war nicht wohl bei der Sache.

Gestorben, sagte er? Gestorben? Es ist eine absurde Vorstellung, gestorben zu sein – tausend Gedanken zucken mir durch den Kopf, die ich nicht halten kann. – Was thäte ich denn hier, wenn ich gestorben wäre, und mit solcher Kraft in meinen Sehnen? – Nein, es ist klar, der Mensch weiß nichts von mir, und wenn er etwas weiß, so will er es nicht sagen. – Ich gewann die Thüre, die ich hinter mir ins Schloß drückte, und siehe, der Schlüssel stak, ich drehte ihn leise um, Triumph, der Karrierte war gefangen!

Jetzt durchquere ich in eiligem Lauf die Piazza, wo das grelle Licht mich wieder mit spitzen Pfeilen durchbohrt, ich laufe Spießruten die Straße hinunter, denn nirgends ist Schutz vor ihnen. Wie sie auf mich zielen von allen Seiten! Das weiße Pflaster wirft sie mir zu, von den getünchten Mauern prallen sie zurück. Ueberall sind die Jalousien niedergelassen und die Schaufenster mit Segeltuch verhängt, der Schweiß rinnt mir in Strömen über die Stirn, aber ich halte mich nicht damit auf, ihn abzuwischen. Nur fort von diesem verhexten Pflaster, das sich an die Sohlen festkleben will, nur hinaus aus dieser Stadt des ewigen Schlafs! Ich bin auf einer Brücke, der Arno rollt hier seine trägen, gelben Wellen nach dem Meere; noch eine Straßenlänge weiter, dann ist der Bahnhof erreicht. 284 Ein Zug steht auf dem Geleise, der zur Abfahrt pfeift, ich rufe, winke, ein Kondukteur faßt mich, wirft mich ins Coupé, der Zug setzt sich in Bewegung, ich bin in Sicherheit. Jetzt erst denke ich wieder an den Karrierten, den ich im Camposanto eingesperrt habe. Ich weiß, ich weiß es ganz genau, daß dies ein ungeheurer Vorteil für mich ist.

Wie die weite Ebene da draußen meine Augen und meine Gedanken hinauszieht; sie läßt die Nähe des Meeres ahnen. Dies alles war einst Wasser, aber das Meer ist von den Mauern von Pisa zurückgewichen, denn die ewig lebendige Flut scheut sich vor der Berührung des weißen marmorkalten Todes – sie speit auch ihre Leichen aus. Ich schwenke den Hut nach dem schiefen Turm hinüber. Fahr' wohl, Pisa, weißes Mittagsgesicht, fahr' wohl, du schöne unsterbliche Leiche.

Ich bin mit mir allein, denn das Coupé bleibt leer, ich könnte auch keines Menschen Anblick ertragen. Ich wühle in meinem Gedächtnis nach einer Spur des Vergangenen, alle Geleise sind verschüttet. Und doch muß früher schon etwas gewesen sein, ich muß wie alle Dinge einen Anfang haben, ich bin nicht aus mir selbst entstanden. Wie hätte ich sonst bisher gelebt, ja, wie käme ich zu diesem Rock, diesem Hut, diesen Stiefeln? Es muß irgendwo ein Schneider, ein Schuster leben, der mir das Maß genommen, der Bezahlung von mir empfangen hat. Diese wüßten vielleicht etwas über mich auszusagen. Irgendwo muß ich einmal gewohnt haben; 285 noch mehr, ich muß zur Schule gegangen sein, eine Mutter muß mich geboren haben, vielleicht besitze ich Geschwister, vielleicht Weib und Kind. Wo sind sie? Und wer sind sie? Unmöglich, in meinem Gedächtnis die Antwort zu finden. Meine Gedanken fließen, fließen unaufhaltsam hinunter, ich kann nicht flußaufwärts steuern, wo die Strömung so stark ist. Was hilft es, zu raten, zu vermuten? Ich weiß nichts, nichts von mir, als daß ich auf dem Domplatz von Pisa stand, den Hut in der Hand und die Sonne auf dem Kopf, und daß es eben zwölf Uhr schlug.

Nach einem Zank mit Schaffnern und Zugführern, weil ich ohne Billet mitgefahren war, stieg ich auf einer größeren Station wieder aus. Ich war in Florenz. Eine Menschenwelle schob sich vom Bahnhof nach der Stadt, und ich ließ mich mitschieben, ohne zu überlegen. Eine Zeit lang war mir, als wäre ich einer von ihnen und habe wie sie einen Zweck und Namen, – bis mich das Gefühl meines schauerlichen Alleinseins wie mit Krallen anfiel.

Nach langem, planlosem Umherschlendern zwischen Monumenten und Säulenreihen geriet ich durch ein Thor in die abendliche Campagna hinaus, die mich mit so seltsam vertrauten Augen ansah, als habe sie mich schon einmal näher und besser gekannt. Es war noch hell, aber von den glühenden Farben des Sonnenuntergangs waren nur ein paar kleine perlmutterschillernde Wölkchen übrig, die einsam 286 über den Himmel zogen. Der Mond stand tief unten im Süd, bleichsüchtig und unfertig, und trank das verglimmende Feuer der Sonne, an dem er zusehends erglühte. Ich blieb stehen und wartete lange – auf was, wußte ich selber nicht. Nämlich – ich glaube jetzt, daß mir in der Hypnose meine Persönlichkeit wegsuggeriert worden ist, denn ich habe eine Menge von Vorstellungen und Begriffen, aber nicht einen einzigen, der sich auf mich selber bezieht.

Unerwartet fand ich mich wieder in der Stadt. Als ich das Pflaster betrat, überraschte mich das Mondgesicht, das, vollgetrunken von Licht, am untersten Ende der Straße stand. Es fehlt ihm nur ein kleines Stück auf der linken Wange, morgen wird es voll sein. Was war mit mir, als es im ersten Viertel stand? – – – – – – – –

Vor einem großen, erleuchteten Gasthof mache ich Halt und trete nach kurzem Besinnen ein. Ich verlange ein Zimmer, und weil ich ohne Gepäck bin, wird mir das schlechteste angewiesen. Doch das ist einerlei. Ich wasche mir Gesicht und Hände und steige in den Speisesaal hinab, wo ich mich an ein gedecktes Tischchen in der Ecke setze. Es muß der Zwang einer Gewohnheit sein, daß ich zu essen bestelle, denn ich empfinde keinen Hunger, nur einen brennenden Durst, der durch den Rotwein nicht gekühlt wird.

Auf dem leeren Nebentisch liegt eine deutsche Zeitung, um den Metallstab aufgerollt. Ich nehme 287 sie weg, setze mich wieder in meine Ecke und mein erster Blick fällt auf die »Vermischten Nachrichten« im Feuilleton. Ich lese:

»Ein merkwürdiger Fall macht gegenwärtig durch alle deutschen Blätter die Runde. Vor einigen Tagen begegnete man in Bremerhaven einem jungen Mann von verstörtem Aussehen, aber anscheinend den besten Ständen angehörig, der die Vorübergehenden angstvoll bat, ihm zu sagen, wer er sei. Er schien auf einer Reise begriffen, denn er trug Handtasche, Plaid und Schirm, aber er wußte nicht, wohin er wollte, denn er hatte seinen Namen und alle auf seine Person bezüglichen Daten vollkommen vergessen. Einige Bürger der Stadt nahmen sich seiner an und führten ihn auf das Polizeibüreau, wo die genauesten Nachforschungen nach der Herkunft des Unglücklichen angestellt wurden, aber leider ohne Erfolg. Man nimmt an, daß er zu Schiff gekommen sei, indeß konnte auf keinem der im Hafen liegenden Dampfer Auskunft über ihn erlangt werden. Auch die Durchsuchung seines Handgepäcks blieb ohne Resultat, denn man fand weder einen Paß noch sonstige Legitimation, nicht einmal die Visitenkarte des Besitzers. Da man ihn in diesem Zustande nicht sich selber überlassen konnte, so hat man ihn zu weiterer Beobachtung der städt. Irrenanstalt übergeben. Es ergeht daher an alle diejenigen, welche über die rätselhafte Persönlichkeit irgend einen Aufschluß zu geben vermögen, die dringende Aufforderung, dem Polizeiamt von Bremerhaven Anzeige zu erstatten.«

288 Weiter unten stand in kleiner Schrift eine Anmerkung der Redaktion:

»Merkwürdigerweise haben wir noch einen zweiten ähnlichen Fall zu verzeichnen, für dessen Richtigkeit wir jedoch so gut wie für das oben Mitgeteilte die Verantwortung ablehnen müssen. Nach einer Zeitungsnotiz aus Paris soll sich dort Ende vorigen Monats eine ältere, verheiratete Frau von Hause entfernt haben unter dem Vorgeben, nicht zu wissen, wer sie sei. Mit ihrem Mann und ihren Kindern konfrontiert, vermochte sie dieselben nicht mehr zu erkennen und behauptete, in gänzlich verschiedene Existenzbedingungen versetzt zu sein. Obgleich sie unter irrenärztliche Aufsicht gestellt und streng bewacht wurde, wußte sie eine Gelegenheit zur Flucht wahrzunehmen und konnte seitdem nicht mehr gefunden werden. Es scheint somit, wenn obige Berichte wahr sind, hier eine neue, den Aerzten noch nicht bekannte Form von Nervenkrankheit vorzuliegen.«

Die Zeitung entsinkt meiner Hand; ich starre fassungslos. Ich bin also nicht der erste, es sind schon andere vor mir ichlos geworden. Es ist eine neue Krankheit, die in Europa zu wüten beginnt, und ich bin eines ihrer ersten Opfer. Und das Irrenhaus steht auf der Entdeckung, die Zwangsjacke. Gut – ich werde mich zu hüten wissen. Wenn nur nicht schon die Blicke aller Anwesenden auf mich gerichtet wären – selbst die, welche mir vorher den Rücken zugekehrt hatten, drehen sich jetzt 289 herüber, um die Wirkung dieser Lektüre zu beobachten. Was wollen sie nur alle von mir? Wer hat überhaupt das verdächtige Blatt in meine Nähe geschoben? Hier ist Festigkeit und Vorsicht not, denn ich fühle, daß ich nicht eine Minute, nicht zehn Sekunden länger das Kreuzfeuer dieser Blicke ertragen könnte. Ich lege die Zeitung weg, stehe langsam auf und bewerkstellige mit sicherer Haltung meinen Rückzug durch den menschenüberfüllten Saal.

Gott sei Dank! Das wäre gelungen. Ich bin auf meinem Zimmer allein. Aber jetzt was beginnen? Wie mich bergen? Ich klingle dem Kellner und verlange Schreibzeug und Briefpapier. Unsinn, an wen soll ich denn schreiben? Aber immerhin, es giebt mir ein Ansehen vor den Leuten, ich werde also Briefe schreiben an erfundene Adressen, so gewinne ich Zeit und entwaffne den Verdacht.

Der Kellner kommt zurück und legt mir mit dem Verlangten auch das Fremdenbuch vor, in das er mich bittet, Namen, Stand und Wohnsitz einzuschreiben. Dazu lächelt er mit dem falschen, tückischen Kellnerslächeln, wie Judas an jenem Abendmahl gelächelt haben mag.

Also sind sie schon auf meiner Fährte, sie sehen mich schon als ihren Feind an, die Menschen, die wohl und warm wie in einem dicken Fell in ihrem Ich geborgen sitzen. Aber wenn ich ihr Feind bin, so sollen sie mich kennen lernen. Da fliegt das Bürschchen samt dem Fremdenbuch zur Thür hinaus. 290 Das Knirschen meiner Zähne genügt schon, mir Ruhe zu schaffen. – – – – – – – – –

Ja, und was nun? Wie wird es weiter mit mir gehen? Wird es nie wieder anders werden? Gott, o Gott, was ist mit mir geschehen?

Da kommt mir ein neuer Einfall. Ich zünde zwei Lichter an und trete damit vor den Spiegel, was ich vorhin versäumt habe. Ich erblicke eine Physiognomie, vor der ich selbst erschrecke. Augen, die herausgetreten sind und glühen, als ob dahinter ein Feuer brennte, und zwei lange Furchen die Wangen herunter, so tief, daß man den Finger darein legen könnte und daß sie mir ein ganz altes Ansehen geben. Und doch weiß ich an der Kraft und Elastizität meiner Glieder, daß ich jung bin. Welch' unheimliches Gesicht! Die kurzgeschnittenen Haare starren bürstenartig empor, der Bart ist seit lange nicht rasiert. – Und das bin ich! Kann ich mir denn nirgends ausweichen? Muß ich mit diesem schrecklichen Gesicht die ganze Nacht in einem Zimmer verbringen? Nein, das ist nicht möglich, ich ersticke! – – – – – – – – –

Nachdem ich mit einem Faustschlag das Spiegelglas zertrümmert, bekam ich vor dem schrecklichen Gesicht Ruhe. Das Schreiben zerstreut mich jetzt, und die Worte fliegen mir von selber in die Feder, daß es eine Lust ist. Aber es kommen ihrer mehr und mehr, sie überstürzen sich, kollern durcheinander, daß ich nicht mehr folgen kann, jagen sich, hetzen sich, wechseln, wenn ich sie fassen will, tückisch den 291 Sinn, schließen die unmöglichsten Verbindungen – es ist ein Reden wie in einer Narrenzelle.

Nein, nein, ich will, will, will es nicht dulden. Ich schlage auf den Tisch, ich trete als Herr unter sie, da geben sie Ruhe. Es werde Licht, und es ward Licht! – – – – – – – – –

Heute morgen sehen sich die Dinge ganz erträglich an. In meinem Kopf ist es jetzt hell und leer, wie in einer ausgeräumten Stube, wo der vorige Mieter kein Stäubchen zurückgelassen hat. Mit einer gewissen Neugier, die aber ohne Hast ist, nehme ich aus dem zerbrochenen Spiegelglas ein größeres Stück heraus und stelle mich damit ans Fenster, um meine eigene Bekanntschaft zu machen. Ich muß mich gestern Abend getäuscht haben. Das Gesicht da vor mir im Glas ist regelmäßig und ohne Entstellung, wenn auch etwas bleich. Es kann dreißig bis fünfunddreißig Jahre alt sein, vielleicht sogar jünger, wenn man die Wangenfalten für Folgen ausgestandener Strapazen nimmt, denn die Umrisse sind jugendlich. Ich betrachte meine Gesichtslinien mit völlig unparteilichem Auge und so genau, als müßte ich mir selbst einen Steckbrief ausstellen; ich darf sagen, sie sind nicht unangenehm, es sind wohlgebildete, von geistigem Ausdruck belebte Züge, Nase länglich und gerade, Augen von unbestimmter Farbe, ein gut geschnittener Mund mit sehr schönen Zähnen, besondere Kennzeichen: keine. Nur die Haut ist auffallend und wie neuerlich gebräunt, und der Bart bedarf der Pflege. Die 292 Statur ist über Mittelgröße und sehr elastisch, ich gehe im Zimmer auf und ab, werfe mich in allerlei Posituren, belaure meine Bewegungen wie ein Detektiv, aber es fällt mir nichts auf, das zu einer besonderen Vermutung Anlaß gäbe.

Ebenso forsche ich meinen geistigen Fähigkeiten nach, ich stelle Gedächtnisproben an, ich weiß, daß zweimal zwei vier ist, ich kann die Reihenfolge der römischen Kaiser auswendig – – nein, nein, ich bin nicht krank, bin nicht wahnsinnig, es ist etwas anderes mit mir vorgegangen. Ich bin durchgebrochen durch den Boden des Ichs, durchs Gesetz der Individuation, hindurch, hinab, ins reine Sein, auf den Urgrund der Dinge. Ich bin wie der, von dem die Vedas sagen: »Er geht umher lachend, essend, spielend, froh mit Frauen, Wagen und Pferden, nie des angeborenen Körpers gedenkend.«

Ob es ein Glück oder ein Unglück für mich ist, daß ich mein Ich verlassen habe, wie kann ich das wissen! Was ist überhaupt Glück und Unglück in meinem jetzigen Zustand! Ich bin in eine höhere Existenz versetzt, aber meine Flügel sind noch gefaltet und verklebt. – Geduld, bald lerne ich fliegen.

Es ist ja möglich, daß ich ein sehr berühmter, oder ein sehr reicher und ein sehr mächtiger Mann war; aber ich kann ebenso gut aus einem qualvollen Kerker ausgebrochen sein. Jetzt habe ich keine Kugel mehr am Fuß, ich bin zum Höchsten fähig geworden. Alle Geisteskräfte verzehnfacht, seitdem das Ich keinen Bruchteil mehr davon aufzehrt. Ich brauche nichts, 293 nicht einen einzigen Gedanken für persönliches Wollen, Wünschen und Fürchten. Ich bin der, der immer ist, aber nie wird, noch vergeht, der wahrhaft Seiende, weder Hinz noch Kunz, nicht Sohn des Herrn Müller oder des Herrn Meier. Die Dinge des Scheinlands sind für mich nicht mehr vorhanden. – – – – – – – – –

Ich muß den zerrissenen Faden wieder anknüpfen. Immer höher und heller war's geworden, da ragten mit einemmal wieder Dinge der Außenwelt herein. Erst Stimmen auf dem Gang, dann ein Klopfen an der Thür, die fast gleichzeitig aufging, und ein unbekanntes Gesicht schob sich ins Zimmer.

»Wollen Sie die Güte haben, auf der Stelle mit mir zu kommen?« ließ sich eine Stimme in höflichem Ton vernehmen.

Langsam kehre ich in die Scheinwelt zurück, langsam füllt sich mein Auge mit dem Bild des Unbekannten.

»Ich mit Ihnen gehen? Wohin? Warum?«

»Ich habe Befehl, Sie auf die Quästur zu begleiten. Bitte, widersetzen Sie sich nicht. Sobald Sie sich ausgewiesen haben, sind Sie wieder frei.«

»Warum sollte ich mich widersetzen? Ist es nicht ganz gleichgültig, wo ich bin? Haben Sie nur Geduld, bis ich mich vollends angekleidet habe.«

Bereitwillig steige ich mit dem Herrn in einen Wagen, der an der hinteren Thüre des Hôtels wartet. Wir fahren durch dunkle, winklige Gassen, an hohen Bauten vorbei, über sonnbeschienene Plätze, die von 294 Menschen wimmeln. Da drängen und stoßen sie sich vorüber, redend, gestikulierend, schreiend, und jeder trägt einen lächerlichen kleinen Fetisch mit sich – sein eigenes Ich.

Ich muß lachen und reibe mir die Hände. Was weiß der Mensch, der in sein Ich eingesperrt ist, von einem Zustand wie dem meinigen! Wie könnte er meine reine, ichlose Erkenntnis erkennen!

Schon wieder kamen Zacken, lästige Zacken. Ich steige eine Treppe hinauf, ich trete in ein Lokal, wo schlechte Luft ist! Ich will sogleich ein Fenster öffnen, werde aber durch einen Uniformierten daran verhindert, der zum Wächter der schlechten Luft bestellt zu sein scheint. Die Zacken stechen und ritzen mich jetzt von allen Seiten. Es langweilt mich, das Zimmer, den Tisch, die Menschen und das Schreibzeug auf dem Tisch zu sehen. Es langweilt mich, antworten zu sollen.

Die erste Frage ist nach meinem Namen. Es wandelt mich die Lust an, den Frager seine ungeheure Lächerlichkeit fühlen zu lassen, aber ich bezwinge mich und schweige. Könnte ich ihm denn begreiflich machen, was der Mensch ohne alle Specialisierung, der Mensch schlechtweg als solcher ist!

»Wir haben Gründe, Ihren Namen wissen zu müssen.«

»Ich habe Gründe ihn zu verschweigen.«

Es geht weiter mit Fragen, auf die ich keine Antwort habe. Meine Aufmerksamkeit ermüdet. Ich gebe wiederholte Zeichen, daß ich diese ganze 295 Gesellschaft zu entlassen wünsche, aber sie wollen mich nicht verstehen.

Ob ich zugebe, gestern in Pisa gewesen zu sein und mich der Beobachtung eines Reisenden dadurch entzogen zu haben, daß ich ihn im Camposanto einschloß?

Ich bejahe ohne weiteres.

Ob ich auch angeben könne, wo ich den Vormittag verbracht habe?

Ich ziehe es vor, hierüber keine Angaben zu machen.

Ob ich in San Rossore gewesen sei?

Ich schweige.

»Sie verschlimmern Ihre Lage, wenn Sie nicht antworten.«

Ich schweige.

Endlich erhebt sich der Beamte und sagt langsam, indem er von Zeit zu Zeit in ein Papier blickt:

»Vor zwei Tagen sind ein Herr und eine Dame in Pisa angekommen. Sie übernachteten im Grand Hôtel, ohne ihre Namen einzuschreiben. Gestern früh begaben sie sich nach San Rossore, von wo sie nicht zurückkamen. Gegen Mittag wurde die Dame durch einen Gärtner im Gebüsch gefunden, tot, mit einer Kugel in der Schläfe. Der Herr ist verschwunden. Um dieselbe Zeit erschien ein Reisender, auf den die Angaben des Gastwirts passen, in der Taufkirche, er gab Zeichen großer Aufregung und wusch sich die Hände im Weihkessel. Als er sich beobachtet sah, entkam er nach dem Bahnhof und fuhr ohne Billet hierher. Dieser Reisende sind Sie. Es ist also für Sie von höchster Wichtigkeit, 296 bezüglich des Mordes in San Rossore Ihr Alibi nachzuweisen.«

Ich erwidere nichts auf diese Mitteilung, all mein Besinnen ist vergeblich. – – – – – – – – –

Abermals bin ich mit mir allein, gefangen wie es scheint. Mein Fenster ist vergittert, und außen geht ein Posten auf und ab. Das ist alles nicht wesentlich. Es kommt nur darauf an, daß ich ungestört meine Gedanken bilden kann. Viele heimliche Bezüge sehen mich fragend an. Tiefe Rätsel kommen und bitten um Lösung. Da ist die geheimnisvolle Farbe der Vokale, die so vieles mitteilen will von jenseits der Dinge und auf die noch kein Dichter geachtet hat. Das A ist reines Licht, Anfang aller Dinge, das Weiß, aus dem die Farben hervorbrechen. Warum sagen wir »Weiß?« Ist es nicht eine Fühllosigkeit unserer Sprache? Andere feinohrigere Völker drücken das Weiße durch ein A aus, und unser erster Ausruf beim Anblick einer sonnbeschienenen Marmorwand oder eines Schneefeldes ist Ah! Das E sehe ich gelblich, übergehend in rot. I ist der lichte, blaue Himmel, die Sehnsucht, der Zug ins All, aber das tiefe Abgrundblau des Meeres nähert sich dem U, und es ist abermals eine Schwäche unserer Sprache, diesen Ton blau zu nennen, wodurch etwas Flaues, Graues hineinkommt. Welch sinnliche Kraft liegt in dem englischen blue! The blue mediterranean – darin ist die ganze Tiefe des tiefblauen Mittelmeers. Das O ist schwarz, wie ein Bahrtuch, es ist alles irdische 297 Leiden und Sterben. Aber das U ist das Samtschwarz des Abgrunds, das Nichts, der Tod, die tiefe, tiefe Kluft, die alles verschlingt. Das U ist das feierliche Requiem über einer versunkenen Welt. – Wäre ich ein Dichter, ich würde eine Kette von Vokalen dichten, die das Unaussprechliche aussprechen sollten. – – –

Es ist ja möglich, daß ich dieses arme Weib erschossen habe, aber ob ich es gethan oder ein anderer, das bleibt sich doch völlig gleich. Das alles kann mir in meiner jetzigen Stellung nicht mehr schaden. – Ich habe sie jedenfalls erschossen, denn ich bin bei allem, was geschieht, beteiligt. Und wenn sie mir auch den Kopf herunterschlagen, was thut's? Der Mensch an sich wird davon nicht berührt.

Unerwartet bekomme ich Besuch. Zacken, spitzige Zacken. Doch ich lasse mich nicht im Schreiben stören. Man macht mir Entschuldigungen. Es scheint, daß ich nicht der Thäter bin. Aber, o Gott, wie gleichgiltig ist das alles!

Man bedauert auch, daß ich im Hôtel Ungelegenheiten gehabt. Es sei ein schlechter Gasthof, man würde mich gern in einen besseren begleiten. Aufgepaßt, mein Herz! Ist das Menschentier so gütig? Ich bin jetzt ganz bei der Sache. Nur meine Papiere muß ich noch zusammenpacken – so! – – – – – – – – –

Das war eine lustige Fahrt, an die ich und noch einer denken werden. Sie wollten mich zu dreien begleiten, aber meine Höflichkeit ließ es nicht 298 zu. Es war einer darunter, den sie den Herrn Doktor nannten, ein schmächtiges, blondes Männchen, das bat ich mir zur Gesellschaft aus. Wir bekomplimentierten uns hin und her, bis man mir willfahrte, und beim Einsteigen hörte ich, wie einer der Zurückbleibenden dem Kutscher die Weisung gab: Nach San Salvi! O ihr Galeerensträflinge des Ichs, nichts anderes habt ihr dem Freigewordenen zu bieten als eine Narrenzelle! – Ich unterhielt meinen Blonden so gut, daß er ganz zutraulich ward, aber als wir durch eine einsame Gegend fuhren, legte ich ihm plötzlich die Arme um den Leib, schnürte ihm mit einem Gurt, den ich leise aus dem Innern des Wagens losgetrennt hatte, die Hände zusammen und schob ihm mein Taschentuch in den Mund. Dann ließ ich sachte das Fenster herab und schwang mich hinaus in den Graben. Der Blonde wagte keinen Widerstand. Ich hätte nur die Augen sehen mögen, die sie in San Salvi machten, als der Wagen hielt mit dem Klümpchen Unglück darin. – – – – – – – – –

Es ist ja klar, daß man einen Menschen, der kein Ich hat, in einem wohlgeordneten Polizeistaat nicht brauchen kann. Aber auch ich kann den Polizeistaat nicht mehr brauchen. – – – – – – – – –

Ich wandere und denke das Undenkbare, ich erlebe in mir alle Zeit von der Geburt des Seins aus dem Chaos bis auf diesen Tag. Ich sehe die goldgrüne Schlange der Ewigkeit um den Baum der Erkenntnis geringelt.

299 In ausgehöhlten Bergflanken, in triefenden, säulenreichen Grabkammern, beim Rand der Abstürze, denke ich mein Höchstes und Letztes. Die Grillen zirpen, und die Frösche quacken vom Wasser herüber. Es ist eine flötenweiche, sehnsüchtige Nacht. Die Sterne ziehen herauf, aber sie sind glanzlos und verweint, denn der Mond hat sich gefüllt und ihr Licht verschlungen. Mir ist weh und sehnsüchtig zu Mut nach den lieben Unbekannten, die ich vergessen habe. Auch das Weib aus den Cascinen von Pisa ist in der Nähe und sieht mich fragend an, aber ich kenne sie nicht; was hätte sie mir zu sagen? Es ist nur ein Rückfall, ein Heimweh, wie es den Seefahrer aus weiten Meeren ergreifen mag. Aber ich will nicht zurück ans Ufer. – Was gehen mich diese fremden Leute an? Die Sterne müssen verbleichen, wenn der Mond sich gefüllt hat. Dort steht er über dem Kirchlein auf dem Berge, voll und rund. Er ist so groß wie eine weingefüllte Bowleschüssel. Er glänzt nicht nur, er wärmt sogar, ich fühle sein warmes Licht um meine Stirne spielen.

Ich bin schon durchgebrochen durchs Ich, jetzt will ich auch das Sein verlassen, ich will weiter, tiefer, ein Stockwerk tiefer.

* * *

Hier endete das Manuskript. Ich kehrte zwei Tage später mit mehreren anderen Personen auf den Monte Ceceri zurück um nach dem wunderlichen Schreiber zu forschen, aber die Arbeiter, die wir in 300 den Brüchen beschäftigt fanden, konnten keine Auskunft geben. Niemand hatte einen Menschen gesehen, auf den die Personalbeschreibung des Manuskriptes paßte. Ob er in unzugänglichem Geklüft sein Ende gefunden hat, ob er ziellos weiter schweift? – Zuweilen denke ich, es war vielleicht auf einen Scherz oder gar nur auf eine schriftstellerische Uebung abgesehen. Dem widerspricht aber die Spiegelschrift und der ganze Zustand des Manuskriptes. Wie dem auch sei, es fehlt mir jeder Anhaltspunkt, um auch nur die Zeit der Abfassung zu bestimmen, denn es fand sich nirgends ein Datum, und das Heftchen kann ganz gut Jahre lang zwischen den zwei Steinen gesteckt haben.

Dieser Umstand legte von vornherein alle Nachforschungen lahm. Ich habe zwar dennoch Schritte gethan, um den Schleier zu lüften, aber sie blieben, wie zu denken war, erfolglos, die Lebenswege des Unbekannten waren nicht aufzuspüren, und die sonderbare Schrift, die wohl verwahrt in meinem Schreibtisch liegt, giebt mir, so oft ich sie betrachte, dasselbe Rätsel auf: Wer war er?

 


 


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