Isolde Kurz
Italienische Erzählungen
Isolde Kurz

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Pensa

Die Fenster des Krankenzimmers waren weit geöffnet und ließen die warme Frühlingsluft herein, die sich schon mit dem Blütenduft vom Viale her mischte. Die kleine Jessie, heute zum erstenmal fieberfrei, saß im Bettchen aufgerichtet und zupfte mit ihren spitzigen Fingerchen abgeschälte Hautfetzen von ihren mageren wachsweißen Händchen und Aermchen los. An dieser wunderlichen Unterhaltung mußte sich auch die junge Bonne beteiligen, die an ihrem Bette saß und einmal übers andere im Sitzen einnickte, denn sie war zwölf Nächte nicht aus den Kleidern gekommen. So oft sie aber ihr blasses Gesicht auf die Kissen niederfallen ließ, wurde sie von der Kleinen mit dem ungeduldigen Ruf: »Pensa! Aber Pensa!« weggestoßen und emporgezerrt, um dann gleich auf der anderen Seite wieder wie ein toter Körper vornüber zu fallen.

Diese Ermattung schien sich allmählich dem ganzen Raume mitzuteilen. Die Bilder an der 82 Wand, vom vollen Sonnenschein getroffen, blinzelten schläfrig, der hohe grüne Wandschirm zwischen Bett und Thüre nickte so im Stehen ein, die Möbel knackten, als wollten sie sich recken und dehnen, und das kattunbezogene Kanapee in der Ecke sah aus, als werde es gleich alle Viere von sich strecken. Auch die übellaunige kleine Rekonvaleszentin gab den nutzlosen Kampf auf und schlummerte selber ein, wobei die Schweißperlen auf ihre blasse Stirn traten. Die Wärterin aber ließ den Kopf wohlig über die scharfe Kante des Stuhlrückens herabhängen, ohne von seiner Härte eine Empfindung zu haben. Nur der Tanz der Sonnenstäubchen in dem stillen Gemach dauerte fort, und ein paar Mücklein, die kümmerlich in den Vorhangfalten überwintert hatten und bei dem ersten warmen Sonnenblick wieder hervorgekommen waren, schwirrten in der Helle umher, wie um zu beweisen, daß es sich doch verlohnte, das bischen Leben gerettet zu haben.

Die goldene Standuhr, die so viel bange Stunden gezählt hatte, stand heute zum erstenmal still, daß es schien, als halte die Zeit den Atem an, um den erquickenden Schlaf der Kranken und der Gesunden nicht zu stören. Sie war daher auch nicht imstande, anzugeben, wie lang dieser Schlummer gedauert hatte, doch mußte es eine ziemliche Weile gewesen sein, denn die Sonne hatte unterdessen Zeit gefunden, ihren Platz zu wechseln, und den hellen Streif, worin die Mückchen und Stäubchen tanzten, an die andere Seite des Zimmers zu verlegen.

83 Mit einem Mal ward die Stille durch eine Klingel von der Gangthüre her unterbrochen. Schritte und Stimmen kamen über den Korridor, die Thür ging nicht eben geräuschlos auf und ein schöner, junger Mann, in der Uniform eines Stabsarztes, erschien auf der Schwelle. Ihm folgte die Mutter der kleinen Patientin, eine Frau mit harten männlichen Zügen und strengen blauen Augen, jener Sorte von Augen, die nicht bezaubern, sondern gebieten wollen und die ihre Inhaberin ohne weiters als Brittin kenntlich machen. Pensa war in die Höhe gefahren und stand ergebungsvoll mit gefalteten Händen am Bettende. Ihr Gesicht war mit Purpur übergossen und die vom Schlummer erfrischten Augen leuchteten. Auch die Kleine war erwacht und lächelte ihrem Doktor zu, der es so gut verstanden hatte, sich in ihre Gunst zu schmeicheln, daß sie sich von ihm jederzeit geduldig den Löffel in den Mund stecken ließ und ohne Widerspruch die Medizinen schluckte, die er verschrieb. Freilich in den Augen ihrer Wärterin war dabei wenig Verdienst; Pensa würde mit Freuden Gift genommen haben, wenn Er es der Mühe wert gehalten hätte, ihr welches zu verordnen.

Sie hatte auch Ursache, ihn zu verehren, den schönen jungen Doktor mit den goldenen Litzen auf dem Aermel, der immer so freundlich mit ihr sprach und keine Gelegenheit versäumte, ihr etwas Gutes zu thun. Während Jessie's Krankheit hatte sie ihn sogar einmal zu der Mutter ihrer Patientin sagen 84 hören: »Signora, an diesem Mädchen haben Sie eine Perle gefunden.« Eine Perle! – Ihr Leben lang hatte noch niemand die arme Pensa eine Perle genannt, sie fühlte sich vor sich selbst emporgehoben und wäre von Stunde an für den Doktor Gusberti vom zweiten Bersaglieriregiment durch Wasser und Feuer gegangen.

Der Doktor fand den Zustand der Kleinen über Erwarten befriedigend, die Abschuppung auf gutem Wege und die Signora, die über Rückenschmerzen klagte, frisch wie eine Rose. Dann wollte er blitzschnell nach der Mütze greifen, um sich zu empfehlen, denn er liebte nicht die langen Krankenbesuche. Aber die Dame legte ihm nachdrücklich die Hand auf den Arm und sagte mit ihrem englischen Accent, den auch ein zehnjähriger Aufenthalt in der Toskana nicht zu mildern vermocht hatte:

»Gusberti, thun Sie mir noch den Gefallen und untersuchen Sie die Bonne, ich fürchte, sie wird mir auch krank. Sehen Sie nur, wie sie beständig die Farbe wechselt.«

Gusberti hatte auf einmal keine Eile mehr. Er legte die Mütze wieder ab, zog das junge Ding, aus dessen Gesicht jetzt wirklich die Flammen schlugen, mit sich ans Fenster und stellte eine eingehende Untersuchung an. Er hatte eine angeborene Sympathie für hübsche junge Mädchen, die er nicht zu verbergen suchte, und wenn er mit einem solchen sprach, gab er seiner Stimme den schmeichelnden Ton, wie ihn Erwachsene gegen hübsche Kinder 85 anzuschlagen pflegen. Von Pensa hegte er überdies die beste Meinung, da er sie so brauchbar und treu am Krankenbette gesehen hatte, also lächelte er sie mit einer unverhohlenen Zärtlichkeit an, die dem guten Kinde wie ein Blick ins Paradies erschien, und fuhr ihr mit dem Handrücken über das brennende Gesicht. Nachdem er gewissenhaft den Puls befühlt und den Schlund besichtigt, knöpfte er mit einer Art, die keinen Widerspruch zuließ, ihr Leibchen auf und zog das grobe, doch zum Glück saubere Hemd etwas über die Achsel herunter, um sich zu überzeugen, daß kein Scharlach im Anzug sei. Hals und Schultern waren blendend weiß und aus dem festen Stoff, dessen Poren an das Korn des Marmors erinnern, und der kindliche Schnitt eines kleinen grauen Miederchens mit Achselträgern konnte die darunter schwellende Fülle nicht mehr verbergen.

»Gott, wie schön du bist, kleine Pensa!« rief Gusberti mit unbefangenem Entzücken, indem er zwei Schritte zurücktrat.

Das Mädchen zog in der Verwirrung die Schultern herauf und wollte sich wieder verhüllen, aber Gusberti ließ es nicht zu, ehe er sich durch den Augenschein von der völligen Abwesenheit jedes Ausschlags überzeugt hatte. Doch that er dies auf so diskrete Weise, daß auch die Padrona, welche daneben stand, keinen Anlaß zur Mißbilligung fand. Er verordnete gründliches Ausschlafen und guten alten Wein zur Stärkung und wollte dann eilig davonstürmen, aber die Signora rief ihm unter der Thüre nach:

86 »Und Ihre Mütze, Gusberti? Wollen Sie denn baarhäuptig fort?«

Er griff an den Kopf – richtig, die Mütze fehlte. Wo hatte er sie nur hingelegt? Pensa half ihm suchen und bei dieser Gelegenheit konnte er es nicht lassen ihr in der Ecke heimlich zuzuflüstern:

»Dir fehlt nichts, aber mir um so mehr. Pensa, Pensa, du hast mir heute ein Leides angethan. Wer giebt dir denn das Recht so schön zu sein?«

Pensa war elternlos und stand unter der Obhut eines geistlichen Verwandten, der seinen Pflichten vollauf genügt zu haben glaubte, als er sie im Haus des Majors Roselli unterbrachte. Sie stammte aus einer jener Soldatenehen, denen zwar nicht der Segen der Kirche, wohl aber die Anerkennung des Staates fehlt. Ihr Vater hatte als Unteroffizier bei den Carabinieri gedient, ein rauher piemontesischer Ehrenmann, der in seinem Leben nur die eine Ungesetzlichkeit begangen hatte, ihr das Dasein zu geben. Doch führte sie seinen Namen und er hatte gehofft, ihr dermaleinst als Unterlieutenant sogar eine kleine Mitgift zu hinterlassen. Diese Aussicht, zu der ihn seine Verdienste berechtigten, war der Traum seines Lebens; brachte er es bis zum Unterlieutenant, so brauchte er auch nicht mehr im Quartier zu schlafen, er konnte ein Familienleben führen und seinem Kind in Wahrheit Vater sein. Seine Frau hatte sich im Dienst herumdrücken müssen und war noch ganz jung wenige Tage nach Pensas Geburt im Spital gestorben. 87 Aus Pietät für die Tote zog er ihre beiden Taufnamen Penelope und Elisa in einen zusammen und nannte das Kind Pensa; vielleicht wollte er auch sein ganzes inniges Gedenken in diesem selbstgeschaffenen Namen niederlegen. Pensa wurde bei guten Leuten im Sienesischen untergebracht und der Vater sorgte nach Kräften für sie, versäumte auch nie, wenn er Urlaub hatte, sie in Staggia zu besuchen und der stattliche Mann mit dem stolzen Zweispitz auf dem Kopf und den glitzernden Litzen auf den Aermeln erschien dem Mädchen wie der liebe Gott auf Erden. Sein ernstes gebräuntes Gesicht und die roten Streifen auf den Beinkleidern flößten ihr eine grenzenlose Verehrung ein, sie war überzeugt, daß es keine edlere und gebietendere Persönlichkeit auf der Welt geben könne, als ihren lieben Vater und ihr innigstes Bestreben ging darauf aus, sich der Ehre ihrer Abstammung würdig zu zeigen. Er war in ihren Augen sogar mehr als der Sindaco des Orts, denn dieser ging im abgeschabten Rock und auch bei den höchsten Gelegenheiten, wie dem Verfassungsfest und dem Geburtstag des Königs, trug er nichts Buntes als die dreifarbige Schärpe, während ihr Vater bei solchen Anlässen sogar eine große blau und rote Feder auf den Hut zu stecken hatte. Er kam auch nie mit leeren Händen dieser gute Vater; aber die kleinen Geschenke, die er brachte, waren niemals mädchenhafter Tand, sondern zielten immer in der einen oder andern Form auf eine moralische Wirkung 88 ab. Seine größte Furcht war, daß es dem Kinde einst ergehen könne wie der Mutter oder vielleicht noch schlimmer, und er hätte sie lieber weniger hübsch gesehen, obgleich der niedliche Anblick ihn doch immer mit geheimem Vaterstolz erfüllte. Oft sprach er mit ihr von den Gefahren, denen ein unbeschütztes Mädchen ausgesetzt sei, und er pflegte dann halb im Scherz zu sagen: »Ich habe dich Pensa genannt, damit du denken sollst, denken, was recht und unrecht ist.«

»Nur brav bleiben,« schloß er gewöhnlich seine Ermahnungen, »das ist die Hauptsache, dann kommt das Glück von selbst.«

Nun, brav wollte sie schon bleiben, das sollte ihr nicht schwer fallen, hatte sie doch an ihrem Vater und den beiden Pflegeeltern das beste Beispiel vor Augen und daß das Glück auch einmal an sie kommen mußte, daran zweifelte Pensa nicht im geringsten, denn Gott ist ja so gut.

Einst hatte der Vater ihr eine schöne Photographie der Madonna della Seggiola geschenkt und sie dabei ermahnt, sie solle die Heilige jeden Tag bitten, daß sie ihr denken helfe, und wenn einmal das Herz mit dem Verstand durchgehen wolle, dann solle sie nur vor die Madonna treten und sie um Rat fragen; was die dazu sage, das sei gewiß das rechte. Das Bild war Pensas liebstes Eigentum, sie faßte es in einen hübschen Strohrahmen mit himmelblauen Schleifchen, die sie aus ihrer Sparbüchse kaufte, stellte ein Sträußchen steifer 89 künstlicher Blumen davor, welche nach ihrer Meinung der Madonna viel gefälliger sein mußten, als die Blumen vom Felde, die ja gar nichts kosten und gleich verwelken, und machte von nun an all ihre kleinen Angelegenheiten mit der Mutter Gottes aus. Stundenlang konnte sie mit gefalteten Händen vor dem Bilde stehen und den schönen ernsten Knaben anstarren, zu dem sie eine leidenschaftliche Liebe gefaßt hatte, und gern hätte sie die Madonna gebeten, ihr auch einmal das Jesuskind auf den Schoß zu geben, sie wolle es gewiß nicht fallen lassen, aber das ging leider nicht an. Doch zum Lohn für ihre Frömmigkeit bekam sie von der Madonna ein so reines Herz, daß viele ihre Einfalt für Verstellung hielten.

Schon bei der ersten Kommunion hatte sie das allgemeine Aufsehen erregt: denn als sie im weißen Kleid, von allen Sünden reingesprochen, unter den Mädchen kniete und der Priester sich eben zur Messe anschickte, hörte man plötzlich Pensas Stimme, die in hellem Jammer rief:

»Ach, Herr Erzpriester, verzeihen Sie, ich hab' eine vergessen« – und unter dem unterdrückten Gekicher der Mädchen und den spöttischen Blicken der Jungen lief das gute Kind aus den Reihen heraus dem Priester nach, um sein Gewissen zu erleichtern.

»Warte, warte, liebes Kind,« antwortete der, »bis ich mit der Messe fertig bin. Knie nur dort vor dem Beichtstuhl nieder, ich komme gleich.«

So mußte das unschuldigste Lamm in der ganzen 90 Heerde an dem heiligen Ort wie eine Ausgestoßene abseits knieen, und in ganz Staggia sprach man noch lange von der großen Sünde der kleinen Pensa, die der alte Geistliche unter dem Beichtsiegel lächelnd mit sich hinwegnahm.

Bald nach diesem Vorfall war ihr Vater gestorben, Pensa mochte damals etwa vierzehnjährig sein, sie wußte es selber nicht so genau. Er hatte sich bei der Verfolgung eines ausgebrochenen Sträflings die Tapferkeitsmedaille und einen Messerstich in die Lunge geholt, von dem es kein Aufkommen mehr gab. Pensa wurde an sein Sterbebett gerufen. Da seine Ehe ungesetzlich gewesen, hatte er ihr trotz der langen Dienstjahre und der goldenen Medaille keine Pension zu hinterlassen – »nichts als den ehrlichen Namen,« sagte er, »den du mir rein erhalten sollst. Denke immer, daß wir uns einmal wiedersehen, und daß ich dann Rechenschaft von dir fordern werde.«

Als es schon zu Ende ging und um ihn her die Sterbegebete gemurmelt wurden, hielt er die Augen noch immer auf die Tochter geheftet und flüsterte mit dumpfem, fast drohendem Ton »Pensa, Pensa,« wobei es ungewiß blieb, ob er sie noch ein letztes Mal ermahnen wollte, seiner Worte zu gedenken, oder ob er bloß ihren Namen nannte. Darauf war er gestorben und mit militärischen Ehren bestattet worden, und Pensa fuhr des andern Morgens nach ihrem Geburtsort zurück. Sie dachte unterwegs an die vielen Kränze und Fackeln, die sie 91 gesehen, und an das prächtig gestickte Bahrtuch, mit dem der rohgezimmerte Sarg bedeckt war, und wunderte sich, daß die Sonne noch so schön scheinen mochte, während sie doch eine Waise geworden war und man ihren guten Vater hinausgetragen hatte, den sie erst im Himmel wiedersehen würde. Noch mehr wunderte sie sich, daß sie an das alles denken konnte, ohne sich zu Tode zu grämen, als ob es nur ein Schauspiel wäre, das man vor ihr aufgeführt habe. Und unter all diesem Vorsichhinstaunen war es doch ein großer Genuß, eine so lange Strecke in der Eisenbahn zu fahren, wenn auch nur in der dritten Klasse. Die kleine Provinzialzeitung widmete dem Dahingeschiedenen einen ehrenvollen Nachruf, worin sie betonte, daß auch dieser Tapfere den Tod fürs Vaterland gestorben sei, aber an die arme kleine Pensa schien niemand denken zu wollen. Sie durfte noch in Staggia bleiben, bis sich eine Stelle für sie fand, auch hatte ihr die Pflegemutter aus eigenen Mitteln eine schwarze Schürze gekauft, damit war aber die werkthätige Liebe erschöpft. Darauf hatte dann Pensa ihre Siebensachen zusammengepackt, Weißzeug und Kleider, womit sie anständig versehen war, und obendrauf die Madonna della Seggiola. Das alles wurde in eine roh gehobelte hölzerne Lade gestopft, ganz ähnlich dem Sarg, in dem sie ihren Vater hinweggetragen hatten, und unter dem Schutz des geistlichen Verwandten fuhr das Mädchen nach Florenz und zwar zu ihrem Entzücken diesmal in der zweiten Klasse.

92 In Florenz ging das Staunen erst recht an. Gar nicht zu reden von dem Riesendom, in den man ihren kleinen Heimatsort samt Kirche und Rathaus bequem hineinstellen könnte, – so dachte wenigstens Pensa, – und von den steinernen Menschen, denen man auf Schritt und Tritt in den Weg kam, als ob sich nicht ohnehin Leute genug auf den Straßen drängten, – auch im Hause des Majors gab es so viel zu sehen, daß das arme kleine Hirn nicht wußte, wie es all die Eindrücke verarbeiten sollte. Da liefen gestreifte Teppiche über alle Gänge und gar noch die Treppe hinab – Pensa drückte sich hart ans Geländer, um ja nicht darauf zu treten; gelbe, halbverschossene Damaste, wie sie sonst nur die Geistlichen tragen, waren als Zierrat an den Wänden aufgehängt und in einem Zimmer, das nach Fiesole sah und ganz vollgestopft war mit den unbegreiflichsten Gegenständen, stand ein eiserner Mann, inwendig hohl, mit einem Helm auf dem Kopf und leeren Augenhöhlen, wie der leibhaftige Popanz, – der zehnjährige Denis nannte ihn den »Ritter Niemand« und machte sein kleines Schwesterchen damit fürchten. – In diesem Zimmer saß die Padrona stundenlang vor einer Staffelei und malte Bilder; der beste Anstreicher von Staggia machte keine schöneren. Der Major trug eine Uniform, die fast noch prächtiger war, als die ihres Vaters, und flößte ihr eine unsägliche Scheu ein, noch mehr aber fürchtete sie sich vor der Signora, deren Kleider im Gehen rauschten, 93 ohne daß man die Seide sah, und deren Aussprache ihr ungeheuer vornehm dünkte, weil sie kein Wort davon verstand. Der Diener faßte die Teller mit Handschuhen an und niemand spuckte auf den Boden.

Denis, der Prachtjunge mit den blonden Pagenlocken und den blauen Augen der Mutter, nur ohne deren starren Ausdruck, saß halbe Tage lang über seinen Büchern, die mit bunten, merkwürdigen Bildern geziert und in einer unbekannten Sprache geschrieben waren; er sagte, es sei englisch. Abends pflegte er ihr zu erzählen, was er gelesen hatte, die Abenteuer des Robinson oder wundersame Märchen von reisenden Königssöhnen, die herrenlose Bettelmädchen aufgriffen und zu Königinnen machten. Solche Geschichten, an deren Wahrheit Pensa keinen Augenblick zweifelte, brachten ihre Phantasie vollends aus Rand und Band, denn sie wußte, daß Engländer vornehme und ernsthafte Leute seien, und wie sollten die dazu kommen, Geschichten zu drucken, die nicht wahr sind! – Geschichten ganz anderer Art waren es freilich, die sie von ihren Mitangestellten in Küche und Vorzimmer zu hören bekam, wirkliche Studien aus dem Leben und mit scharfem Dienstbotenrealismus vorgetragen; indessen davon nahm sie nur so viel auf, als sich mit ihrem eigenen Wesen vertrug. Auch hatten die einschneidenden Ermahnungen ihres Vaters ihr einen so heiligen Abscheu vor leichtfertigen Grundsätzen beigebracht, daß sie allem, was nicht wohlanständig war, mit unverhohlener Entrüstung begegnete. Das zog ihr 94 die mitleidige Geringschätzung der andern und den Spitznamen: die Heilige, die »Santarellina« zu. – Als sie einmal statt der Köchin die Einkäufe besorgen sollte, brachte sie trotz zeitig erteilter Winke alles um so viel billiger nach Hause, daß ein zwischen den Lieferanten und der Köchin vereinbartes Vertragsverhältnis zu Schaden kam. Noch am selben Abend wollte Salvatore, der Bursche des Majors, sie im Dunkeln küssen und erhielt dafür eine gepfefferte Ohrfeige. So hatte sie sich in dem fremden Haus eine ingrimmige Feindin geschaffen und noch am gleichen Tag ihren einzigen wohlwollenden Beschützer verloren.

Davon merkte sie indessen nichts und würde sich auch nicht darum gekümmert haben, da sie die Liebe der Kinder und das Zutrauen ihrer Herrin besaß. Vor dieser fürchtete sie sich etwas weniger, seitdem ihr toskanisches Ohr sich an die scharfen Zischlaute gewöhnt hatte und sie ihr Italienisch zu verstehen anfing. Freilich hatte sie zu diesem Zweck die eigene Sprache umlernen müssen, doch das war nicht so schwer. Sie wußte jetzt, daß, wenn ihre Herrin von einem Schiff sprach, ein Gebäude gemeint war, und daß man ihr einen Löffel bringen mußte, wenn sie nach einem Kutscher rief. Ihre Gelehrigkeit ging sogar so weit, daß sie ein paar englische Wörter aufschnappte, und wenn sie Jessie herzte, konnte sie bald ganz wie die Padrona »baby, sweet baby« dazu sagen.

Die Kinder sprachen zu Pensas Trost »ganz 95 wie Unsereiner,« desgleichen der Major, aber diesem ging das Mädchen immer aus dem Weg, ohne zu wissen warum.

Sie war schon über ein Jahr im Hause, als Jessie am Scharlachfieber erkrankte und das Uebel zeigte von der ersten Stunde an ein ernstes Gesicht. Pensa blieb vierzehn Tage und Nächte mit der kleinen Kranken vom Rest des Haushalts abgesperrt und das Essen wurde ihr vor die Thür gebracht. Die Eltern betraten das Zimmer fast nur, wenn der Arzt kam, denn den Major hielt der Dienst fern, die Mutter aber wollte die Gefahr der Ansteckung für Denis, der ihr Liebling war, verringern. Sie besorgte selbst den Unterricht des Knaben, der keine Unterbrechung leiden durfte, wenn Denis auf den Herbst für eine englische Schule reif sein sollte. Alle Fasern ihrer Seele hingen an der Hoffnung, diesen Knaben, in dem sie ein Stück England erblickte, zu einem vollendeten englischen Gentleman zu erziehen. Für die kleine Jessie dagegen war nicht mehr viel Raum im Mutterherzen übrig, vielleicht weil das Kind zu sehr dem Vater glich, vielleicht auch, weil die Kleine selbst bei jeder Gelegenheit zeigte, daß sie viel mehr an ihrer toskanischen Bonne hing, als an der Mutter. In ihren Fieberdelirien verlangte sie nur nach Pensa und wandte ungeduldig den Kopf hinweg, wenn die Mutter an ihr Bett rauschte. Wie suchte aber auch das Mädchen diese Liebe zu verdienen! Geräuschlos huschte sie in Strümpfen über die Steinfliesen des Bodens, denn 96 man hatte der Reinlichkeit halber die Teppiche entfernt, hielt den Atem an, wenn die Kleine einmal einschlief oder trabte mit Jessie nebst allen Kissen und Decken auf dem Arm, Nächte lang im Zimmer auf und ab. Die Vorschriften des jungen Doktors waren ihr heiliger als die zehn Gebote, und seit er sie eine Perle genannt hatte, wäre sie auf seinen Wink zum Fenster hinausgesprungen. Ihr Herz klopfte, wenn sie nur seinen Schritt auf dem Gang hörte; aus Angst für das Kind, dachte sie, dessen Leben an dem Hauch seines Mundes hing. Die Minuten, die er am Krankenbett verbrachte, ließen sie die Wonne der Seligen ahnen, welche im Anschauen des Höchsten leben. Ihre Seele erwachte dann zu einer höheren Thätigkeit, in der sie ihr selber unbekannte Talente entfaltete. Sie verrichtete ihre Handleistungen mit dem Geschick einer gelernten Krankenwärterin und das Lob, das sie von ihm erntete, war die Speise, die ihr Leib und Seele frisch erhielt und sie zu neuen Mühen stählte. Und gar jene eine unvergeßliche Nacht, wo die Kleine in wilden Phantasien lag und der junge Doktor bis zum Morgengrauen an ihrem Bettchen saß.

Der Vater schnarchte im Nebenzimmer und Pensa kauerte auf einem Schemelchen am Fußende des Bettchens, die Arme um beide Kniee geschlungen, und wie in schauernder Ehrfurcht in sich selbst zusammen gesunken. Die metallenen Litzen an Gusbertis Uniform warfen Blitze in ihre Augen, sein blasses Gesicht, auf das die gedämpfte Nachtlampe 97 dunkle Schatten warf, schien einem höheren Wesen anzugehören. Auch sein Säbel dort in der Ecke, der von dem herabgedrückten Schein des Lämpchens getroffen wurde, erinnerte sie an das Schwert des Erzengels, der den Drachen schlug. Ach, und das Glück, ihn von Zeit zu Zeit sagen zu hören:

»Pensa, fülle den Eisbeutel frisch – so ist's recht – und jetzt gieb ihr ein Schlückchen Limonade.«

Als er gar einmal sagte: »Setze dich doch lieber in den gepolsterten Lehnstuhl, du mußt müde sein, armes Kind« – da war es ihr gerade, als hätte der liebe Gott gesagt: »Komm, liebe Pensa, und setze dich zu mir auf ein goldenes Stühlchen ins Paradies.« Immer hatte der junge Mann ein gutes Wort für sie übrig. Als ihm die Signora bei den ersten sichtbaren Zeichen der Besserung sagte:

»Nächst Gott gebührt Ihnen der Dank für diese Rettung.«

Da erwiderte Gusberti lächelnd: »Nächst Gott gebührt der Dank unsrer guten, kleinen Pensa, die so wacker ihre Pflicht gethan hat.«

Nie verließ er das Krankenzimmer, ohne ihr ein Gläschen starken Rotwein aufgenötigt zu haben, denn das Büffet stand zu seiner unbeschränkten Verfügung, und die wohlwollende Teilnahme, mit der dies geschah, war dem Mädchen noch eine bessere Herzstärkung als der Wein.

* * *

98 In dieses Paradies war jetzt die Schlange gekrochen. Gusberti dachte zwar nach einer halben Stunde schon nicht mehr an seine leichtfertige Liebeserklärung, es war einfach eine Redensart, wie er sie hübschen, jungen Mädchen jeden Standes schuldig zu sein glaubte, aber Pensa, die seine Worte für voll nahm, dachte den ganzen Tag und alle folgenden Tage ihres Lebens daran. Gleich nach seinem Weggang schlich sie in ihre eigene kleine Kammer, um der Madonna zu erzählen, daß sie den schönen, lieben, guten, jungen Doktor mit den goldenen Litzen auf dem Aermel heiraten wolle, und sie wartete ängstlich, ob die Heilige nicht vielleicht ein böses Gesicht dazu mache. Aber die lächelte weiter in ungetrübter Schönheit und Mutterwonne. Nein, sie hatte nichts dagegen, die gute Madonna, – sie hielt ja selber ihr liebes Kind am Busen.

Pensa zweifelte gar nicht, daß er an einem der nächsten Tage kommen werde, um ihre Hand anzuhalten, und sie freute sich schon, was die Mädchen in Staggia für Augen machen würden, wenn sie hörten, daß die kleine Pensa den schönsten Offizier von Florenz, mit goldenen Litzen auf den Aermeln, geheiratet habe.

Wenn Gusberti von nun an das Zimmer betrat, schlugen in ihrem Gesicht Flammen auf und sie machte Miene, davon zu laufen; wenn er zu ihr sprach, so entfärbte sie sich und bebte. Dem jungen Mann entging ihr verändertes Betragen nicht und nun begann auch er, sie mit anderen Augen 99 anzusehen. Bei Gelegenheit preßte er ihren Arm, daß ihr fast ein Schmerzensschrei entfuhr, aber sie lächelte glückselig. Eines Tages, als er sie allein unter der Thüre fand, sagte er: »Lege doch das plumpe Halstuch ab, das deinen reizenden Wuchs verdeckt« – und fortan waren die heranreifenden Formen für Aller Augen sichtbar.

Die jungen Leute aus der Nachbarschaft, die Pensa bisher für ein Kind gehalten hatten, fingen jetzt an, ihr lange Blicke nachzusenden. Sie erschien mit einem Mal größer und entwickelter, ihre Augen hatten einen feuchten Glanz, der Allen auffiel. Wenn sie flink und gewandt die Straße hinabging und der kurze Rock sich so knapp um das feste, zierliche Persönchen legte, blieb jeder Vorübergehende stehen und sah ihr nach. Der Ruf ihrer Tüchtigkeit hatte sich verbreitet und erwarb ihr auch Verehrer mit redlichen Absichten. Der Bäckergesell, der jeden Morgen das Brod ins Haus brachte, trug jetzt immer eine frisch aufgeblühte Rose im Mund, um seinen Herzenszustand anzuzeigen, und ließ diplomatisch fallen, er denke daran, bald einen eigenen Hausstand zu gründen und, wenn Pensa gesinnt sei wie er, so könne man »von etwas reden«. Pippa, die dicke Köchin, war wütend und hätte dem Mädchen am liebsten Gift gegeben, denn sie hatte selber ein Auge auf den hübschen Domenico geworfen und bezog die stumme Blumensprache zuerst auf sich. Wenn der Major die Neckereien und Anzüglichkeiten hörte, die zwischen 100 den Dienstboten hin- und hergingen, so pflegte er zu sagen:

»Greif zu, Pensa, wenn dir einer im Leim hängt, sonst gehst du leer aus« – aber die Padrona, die ein so zuverlässiges Mädchen nicht verlieren mochte, nahm Pensa gegen all das Drängen in Schutz und bestärkte sie dadurch unwissentlich in ihren abenteuerlichen Liebesträumen.

Die jungen Engländerinnen, die im Haus verkehrten und die alle mit mehr oder minder Geschick den Pinsel führten, fanden, daß Pensa einen malerischen Kopf habe, und versuchten sich der Reihe nach an ihrem Konterfei. Auch der Padrona gingen die Augen auf über den Schatz, den sie im Hause besaß, und sie ließ Pensa des öfteren Modell stehen, was dem guten Kinde einen ganz übertriebenen Begriff von seiner eigenen Schönheit beibrachte.

Natürlich konnte Pensa nicht schweigen von ihrem Glück, sie mußte die kleinen Geschenke der Malerinnen vorzeigen und machte dadurch die beiden andern Mädchen, die im Hause dienten, rasend vor Eifersucht. Der dicken Pippa, welche schreiben konnte und deshalb die Korrespondenz der andern Dienstboten besorgen mußte, diktierte sie einen Brief an ihre Pflegeeltern, in dem die Stelle vorkam:

»Könntet ihr nur sehen, wie schön ich geworden bin, das Herz würde euch im Leibe lachen. Wenn ich am Camposanto vorbeigehe, so freuen sich sogar die Toten, und bald werdet ihr noch etwas ganz anderes von mir hören.«

101 Der Major allein wollte ihre Schönheit nicht gelten lassen und krittelte sogar an dem hübschen Pastellbildchen herum, das seine Frau von ihr gemalt hatte, indem er mit dem Zirkel in der Hand bewies, daß Pensa eine zu kurze Nase und zu dicke Lippen habe. Nur wenn er ihr allein auf der Treppe oder im Hausflur begegnete, so urteilte er milder, denn dann konnte es wohl vorkommen, daß er stehen blieb und sie zu ihrem Schreck unter das Kinn faßte. Einmal geschah sogar etwas ganz Sonderbares. Jessie, die vom Fieber so geschwächt war, daß sie das Gehen erst wieder lernen mußte, war am Abend noch ganz angekleidet auf Pensas Schoß entschlafen, und das Mädchen träumte mit weit offenen Augen vor sich hin, indem sie das Kind mit beiden Armen umschlungen hielt. Da kam der Major leise aus dem Nebenzimmer herein, in dem Gäste saßen. Er beugte sich einen Augenblick über sein schlafendes Kind herab, um seine Atemzüge zu belauschen, und strich ihm ein herabgefallenes Löckchen aus der Stirn. Dann fuhr er, wohl aus Versehen, sachte über Pensas entblößten Arm, von dem der Aermel bis zum Ellbogen zurückgerutscht war, und küßte leise das schmale Handgelenk. Pensa schlug ihre verträumten Augen ohne Ausdruck zu dem Padrone auf, es schien ihr am Ende gar nichts mehr wunderbar in dieser verzauberten Welt.

Auch Gusberti kam denselben Abend noch auf einen Augenblick herein, aber die Signora war 102 dabei und nahm ihn wieder mit fort zu den Gästen. Pensa konnte aus dem Nebenzimmer hören, wie er einer jungen Engländerin angenehme Dinge sagte. Darüber verfiel sie plötzlich in große Traurigkeit. Sie hatte in den letzten Tagen die Dienstboten mehrmals erzählen hören, die Padrona gehe damit um, den schönen Gusberti durch die Hand einer wohlhabenden Landsmännin für seine Aufopferung zu belohnen. Dieses Gerede fiel ihr jetzt wieder ein, und das Herz wurde ihr schwer wie Blei.

In jener Nacht lag sie lange, lange vor der Madonna auf den Knieen, um sie anzuflehen, sie möge doch dem schönen Gusberti verbieten, die große Engländerin mit dem platten Busen zu heiraten, sie wolle ihr dafür ihre silberne Uhr geben, die sie von der Padrona zum Geschenk erhalten hatte und auf die sie so stolz war. Nachdem dieses Opfer gebracht war, fühlte sie sich ruhiger und glaubte nun mit einigem Recht auf den Beistand der Heiligen zählen zu können.

Der Erfolg schien ihr Recht geben zu wollen. Gusberti hatte zwar eine Zeitlang mit dem Gedanken an die englische Heirat gespielt, denn die Aussicht, die Uniform ausziehen und eine Privatpraxis gründen zu können, lockte ihn. Aber schließlich mochte er sich doch nicht entschließen, die eine Fessel mit einer andern zu vertauschen, und für den Augenblick hatte die hübsche Pensa mit den verzauberten Augen, die ihm überallhin folgten, wirklich von seiner leicht entzündlichen Phantasie Besitz ergriffen.

103 Er kam nach wie vor, so oft es ihm seine Zeit zuließ, um, wie er sagte, nach seiner Freundin Jessie zu sehen, aber er vermied es, Miß Dolly zu begegnen. Im Atelier der Signora pappte er für Denis einen papiernen Drachen zusammen. Beide Kinder vergötterten ihn und waren nicht aus seiner Nähe wegzubringen. Pensa saß auf erhöhtem Stuhl vor der Herrin und sah verzückt nach Gusberti hinüber, wie er seinen schönen Kopf mit dem gewellten Haar auf die Arbeit niederbeugte. Sie hätte zehn Jahre ihres Lebens darum gegeben, ihm nur einmal mit der Hand über den glänzend schwarzen Scheitel fahren zu dürfen. Was ihr versagt war, durfte sich die kleine Jessie erlauben, die legte sich von hinten über Gusberti herein und zerzauste ihm lachend das Haar. Er fuhr von Zeit zu Zeit herum, hob rasch den Störenfried auf den Arm, küßte die kleinen Händchen und Füßchen und setzte dann das Kind mit einem verzehrenden Blick auf Pensa zu den Füßen der hübschen Wärterin nieder. Diese, blaß vor Bewegung, zog die Händchen, die er geküßt hatte, gleichfalls an die Lippen und drückte leise, inbrünstige Küsse darauf. Die Signora pinselte daneben eifrig fort und ward nur böse, wenn sie Pensas Kopf nicht in der vorgeschriebenen Stellung halten konnte.

Eines Tages fand Pensa auf dem Mosaiktischchen im Atelier unter anderen Papieren eine Visitenkarte Gusbertis. Diese brachte sie heimlich an sich und versteckte sie in der Kiste bei ihren 104 wenigen Habseligkeiten. Hier las sie auch zum erstenmal seinen Vornamen Attilio, der ihr so wunderschön däuchte, daß sie ihn immer leise vor sich hinsagen mußte. Auch ein seidenes Taschentuch mit seinem Monogramm hatte sie hier verborgen; es war einmal im Kinderzimmer liegen geblieben, und Pensa glaubte kein Unrecht zu thun, indem sie es unterschlug. Wenn sie sich auf einen Augenblick allein sah, so kniete sie vor der Lade nieder und zog die beiden Reliquien hervor. In dem Tuch hing noch das Parfüm, das er auf sich zu tragen pflegte, und gab ihr ein Gefühl seiner Gegenwart, wenn sie ihr Gesicht darin vergrub. Sie meinte an den beiden Gegenständen schon ein Stück von ihm selber zu besitzen.

* * *

Warme, wunderbare Johannisnacht! Der Himmel blieb auch nach Sonnenuntergang tiefblau, und die zarten Federwölkchen, die darin schwammen, konnten die hervorbrechende Sternenfülle nicht dämpfen. Vom Arno stiegen die ersten Raketen auf, um den Beginn der Festlichkeiten anzuzeigen. Auch den dämmernden Viale hinab wogte es von Gruppen geputzter Menschen, alles strebte dem Flusse zu. Ein dumpfer Lärm, wie das Gebrause des Meeres, drang von dort herauf. Pensa stand allein am Fenster, nachdem sie das Kind zu Bette gebracht, und weinte leise vor sich hin. Die andern Dienstboten waren alle dem Johannisfeuer nachgegangen 105 und ließen sie allein das Haus hüten. Zwar fragte Pensa wenig nach dem Feuerwerk, aber in dem Gedränge hätte sie hoffen können, Ihm zu begegnen, denn heute war ganz Florenz auf den Beinen. Da hatte ihr eben noch die alte Gemüsefrau, Domenicos Mutter, angeläutet, der hätte sie sich anschließen können, da die Pippa und die Flavia nichts von ihr wissen wollten, aber die beiden waren heimlich weggelaufen, ohne ihr ein Wort zu sagen, und dachten nicht ans Zurückkehren. Zuletzt war auch noch Salvatore gegangen unter dem Vorgeben, daß er nur drunten an der Festung ein paar Worte mit einem Kameraden reden müsse, Pensa sah ihm nach, wie ihm die rote Zottelquaste seiner Mütze im Nacken tanzte, bis ihn die Dunkelheit verschlang. Auch er vergaß das Wiederkommen.

Jetzt war kein Laut mehr im Hause zu hören als die Atemzüge des schlafenden Kindes. Wer blieb auch am heutigen Abend in der dumpfen Wohnung zurück?

Tiefe Dunkelheit spann sich über die Festungsanlagen, der Springquell plätscherte eintönig, und der schwarze Weiher mit seinen flimmernden Wellchen schien sich ins Unendliche auszudehnen. Dahinter stand die schwere Masse der Festung mit Pulverturm und Mauern kohlschwarz auf dunklem Grund; den grünen Doppelkranz, der sie umgiebt, hatte die Nacht verschlungen, aber der Duft seiner Lindenblüten erfüllte die nahe Dunkelheit. Eine dauernde Helle am westlichen Himmel machte die 106 Stelle kenntlich, wo das Feuerwerk abgebrannt wurde; das Knattern und Prasseln war aus der Ferne zu vernehmen. Dazwischen tönte dann und wann ein Hornsignal von der Festung.

Pensas Thränen waren schon getrocknet, und ihre Gedanken flogen nach jener hellen Stelle am Horizont, von wo die zischenden Feuerschlangen in die Nacht hinausfuhren. Die letzte Gruppe der Vorübergehenden, die sie noch drunten in der Dunkelheit unterschieden hatte, war eine junge Dame am Arm eines Offiziers gewesen, gewiß ein junges Ehepaar, und der Mann mochte wohl so schön und gut sein wie Gusberti und auch so lustig, denn sie hörte sein Flüstern und Lachen bis herauf. Und die junge Frau in dem duftigen Sommerkleid, wie glücklich mußte die sein, daß sie das Recht hatte, sich so öffentlich auf seinen Arm zu stützen, seinen Säbel an ihrer Seite klirren zu hören. Ach, was für glückselige Menschenkinder giebt es doch in dieser Welt! Pensa träumte den Beiden nach, es schien ihr, als sei der schöne Offizier Gusberti und als wandle sie selbst in Hut und Spitzenmantille wie eine Dame an seiner Seite, sie und er allein mit ihrer Seligkeit im Menschenschwarm wie auf einer Insel, – und oben am Fenster stehe ein fremdes junges Mädchen und beneide sie um ihr Glück.

Da tönte ein leiser Klingelzug. Pensa fuhr zusammen, auf der Straße war es ganz still, sie hatte niemand kommen hören, da ihr Fenster nicht nach der Hausthür ging.

107 Sie zündete ein Lämpchen an und legte ängstlich die Sperrkette vor, ehe sie mit der üblichen Frage, wer außen sei, die Gangthür öffnete.

Eine fröhliche Stimme gab Antwort und, als Pensa am ganzen Leibe zitternd die Kette zurückzog, erschien Gusberti auf der Schwelle.

»Ah, du bists, Pensa!« sagte er. »Ist deine Herrschaft zu Hause?«

»Sie haben dich doch nicht ganz allein gelassen?« fuhr er fort, ohne auf Pensas stammelnde Antwort zu warten, indem er sich mit heimlicher Freude in dem leeren Vorzimmer umsah. Er kannte das Gesinde zu gut, um zu glauben, daß auch nur eines von ihnen in der Johannisnacht zu Hause geblieben sei, wenn die Herrschaft fort war.

»Wahrhaftig, ganz allein ist das arme Kind,« fuhr er fort, Pensas Hand ergreifend. »Und fürchtest du dich denn nicht in der leeren Wohnung? – Ich muß dir wohl ein wenig Gesellschaft leisten, nicht? – Ich hoffe, du schickst mich nicht fort, Pensa. Ich möchte doch auch noch meine kleine Freundin Jessie küssen; sie schläft am Ende schon? Darf man sie noch sehen?«

Pensa blickte ihn von unten herauf an, ihr Lämpchen in der Hand, das im Luftzug flackerte. Was brauchte er sich nur so zu verstellen? – Als ob er nicht wüßte, daß die Herrschaft schon in aller Frühe mit Denis aufs Land gefahren war! Als ob sich's nicht von selber verstände, daß sein Kommen nur ihr galt!

108 Aber das nahe, unerhörte Glück schwebte wie ein Schrecken über ihr, daß sie nicht einmal zu lächeln vermochte und nur mit ganz ernsthaftem Gesicht sagen konnte:

»Wollen Sie eintreten, Herr?«

Gusberti bedurfte dieser Aufforderung nicht, denn er stand schon innen und drückte leise die Thür ins Schloß. Wie sie so vor ihm stand im kurzen Röckchen und dem spannenden Jäckchen von Rosakattun, das der hohe Gürtel abschloß, war sie der allerniedlichste Armvoll, der ihm jemals vorgekommen, und es schien ihm geradezu eine Sünde, sich dieses reizende, blasse Kind mit den dunklen Märchenaugen als die Frau eines Bäckers zu denken. Es war ja wahrlich ein gutes Werk, wenn er sie vorher auch nur auf kurze Zeit durch seine Liebe glücklich machte, ehe sie dem trübseligen Los ihres Standes verfiel.

»Hast du denn inzwischen auch an mich gedacht, Pensa?« fragte er, einen Arm um ihren Leib legend.

Sie sah ihn leuchtend an; eine Antwort war überflüssig.

»Und weißt du, daß ich all' die Zeit an dich gedacht habe?« fuhr er fort und senkte seine Augen tief in die ihrigen. »Hast du mich denn behext mit deinem Namen, daß ich nichts thun kann, als an dich denken?«

»Ach, ich bin ja nur ein armes Mädchen,« brachte sie mit versagender Stimme hervor.

Er lächelte und fragte leichthin, ob man denn arm sei mit solchen Augen und solchem Haar, und 109 dabei zog er den Hornkamm aus ihrem Scheitel, daß die reiche Flechte schwer in den Nacken sank.

»Pensa! Pensa!« rief er plötzlich jubelnd und breitete beide Arme nach ihr aus. – »Du mußt die Meine sein.«

Da war es nun gesprochen, das große Wort. Ein Seufzer unendlicher Erleichterung riß sich von ihrem Busen, während sie stumm seinen Armen nachgab und mit dem Kopf gegen seine Brust sank.

Er küßte ihren Scheitel mit den aufstrebenden krausen Härchen und schwelgte in dem natürlichen Duft der blonden Haare, in denen er sein Gesicht begrub.

»Nicht wahr, mein süßer, kleiner Schatz hat keine Eile, den mehligen Bäcker zu heiraten und ihr Leben unter Mehlstaub in der Bäckerstube zu verbringen?«

Pensa lächelte und schüttelte den Kopf. Wie mochte er nur so unnütz fragen! Aber es klang alles so lieb und gut und es verstand sich von selbst, daß er ihren Bund jetzt durch einen langen Kuß besiegelte. Pensa gab ihn mit einem Ernst und einer Feierlichkeit zurück, die den jungen Mann in Erstaunen setzten. Dann wollte sie sich aus seinen Armen winden, da er sie aber nicht losließ, war es doch so süß, sich noch von ihm festhalten zu lassen; die Schuld lag ja nicht an ihr. Ach, und war sie erst seine Frau, dann sollte auch die Pippa den Domenico haben und alle Menschen sollten glücklich sein!

110 Nun aber war's genug des Kosens, nun sollte er wirklich gehen und sollte erst morgen wieder kommen, um mit der Padrona zu sprechen und alles ins Reine zu bringen. Gusberti verstand sie nicht und suchte sie auch nicht zu verstehen. Ihr frischer, roter Mund war ihm zum Küssen recht, aber auf sein Geplauder zu achten, das verlohnte doch eigentlich nicht der Mühe. Er wollte sie aufs neue in die Arme ziehen, doch Pensa faßte so ernstlich und innig bittend seine Hände, daß er stutzig ward.

»Was willst du denn, närrisches Kind? Warum schickst du mich denn fort, da wir es doch so gut haben können? Wer weiß, wann wir wieder beisammen sind wie heute?«

»Aber haben wir denn nicht dazu unser ganzes langes Leben?« antwortete sie, sich seiner Liebkosungen erwehrend.

»Ja, wenn wir uns nur immer sehen könnten, wann wir möchten! Aber deine Padrona hält dich ja unter Schloß und Riegel, daß man dich kaum von weitem zu Gesicht bekommt.«

»O Gott!« stammelte Pensa erbleichend. »Sind wir denn nicht –«

»Sind wir denn nicht verlobt?« hatte sie sagen wollen, aber sie brachte das Wort nicht mehr über die Lippen. Es war ihr wie im Traum, wenn man die Empfindung hat, jählings mit großer Gewalt von einer Höhe herabzustürzen.

Beide hatten sich jetzt verstanden und sahen sich 111 eine Zeitlang sprachlos in die Augen. Pensa schlug eine Hand vors Gesicht und zitterte so, daß sie sich an der Tischkante halten mußte.

»O Gott, o Gott!« rief sie mit versagender Stimme. »Warum kommen Sie denn hieher, wenn Sie es nicht redlich mit mir meinen? Glauben Sie denn, ich sei so Eine?«

Gusberti suchte sie zu beschwichtigen. Nein gewiß, er hatte keine niedrigen Gedanken, er kannte und liebte ihr reines Herz und wenn er nur in anderen Verhältnissen wäre – Hier stockte er, um keine Lüge zu sagen, und fuhr dann mit größerem Feuer fort:

»Siehst du, auch ich bin arm, liebe Pensa, und kann dir keine Zukunft bieten. Aber weil wir arm sind, sollen wir darum auch noch freiwillig auf alles Glück verzichten? Laß es uns doch dem Schicksal, das uns übel wollte, zum Tort thun, daß wir selig sind.« –

Aber seine Sophistik hatte keine Gewalt mehr über sie. Ein namenloser Schreck hatte sie erfaßt. Sie dachte nur noch an ihren Vater und an alles, was sie ihm versprochen hatte. Nur ehrlich bleiben, das ist das erste! Sie riß sich los und flog nach ihrer kleinen geweißten Kammer, deren Thüre offen stand.

Attilio folgte erstaunt und unwillig, er wußte sich ihr Betragen noch nicht ganz zu reimen. Aber auf der Schwelle blieb er jählings stehen.

Mitten in der Kammer stand das wohlbekannte 112 Kinderbettchen mit seinen Spitzen und blauseidenen Kissen, in dem unter einem weißen Tüllschleier die kleine Jessie schlummerte. Die Nachtlampe schien über das gerötete, lächelnde Unschuldsgesicht. Am Boden aber kniete Pensa vor einem metallenen Krucifix, das neben ihrem eigenen Bette hing, und rief leidenschaftlich:

»Wenn Sie es gut mit mir meinen, so gehen Sie! Ich habe niemand auf der Welt, mich zu beschützen, niemand als diesen hier!«

Attilio stand regungslos auf der Schwelle. Eine Flut unaussprechlicher Gedanken wirbelte ihm durch den Kopf. In der Rührung, die ihn übermannte, sah er sein Unrecht ein und kam sich fast wie ein Verbrecher vor. Er ließ die Augen durch das ärmliche Kämmerchen schweifen.

Die kahlen getünchten Wände und die Lade von Pappelholz, die des Mädchens ganzen Besitz barg und ihr zugleich noch vor dem Bett als Betpult diente, sahen ihn mit stillem Vorwurf an. Solche Armut wollte er noch berauben! Er war selbst armer Leute Kind, und seine einzige Schwester, für die er nicht sorgen konnte, mußte als Gouvernante fremdes Brot essen. Sie war bildschön und achtzehn Jahre alt. Der Gedanke, daß vielleicht im gleichen Augenblick eben solch ein Räuber über ihre unbeschützte Schwelle dringe, machte ihm das Blut gerinnen.

Gleichwohl kämpfte noch die Leidenschaft mit der besseren Erkenntnis, und ein ungerechter Aerger 113 mischte sich darein. Warum hatte das thörichte Mädchen nicht von Anfang an deutlich gesprochen? Und wie kam sie dazu, sich solche Tollheiten in den Kopf zu setzen?

»Gut, ich gehe,« antwortete er endlich zögernd auf ihr wiederholtes Flehen. »Ich gehe, weil du es haben willst. Du bist recht grausam, aber dein Wille soll geschehen. Und so – gute Nacht!«

Er eilte fast taumelnd von dem jähen Wechsel seiner Empfindungen durch das Vorzimmer und die Treppe hinab. Köstliche Nachtluft wehte vom Mugnone her und kühlte seine erhitzte Stirn. Er nahm einen weiten Umweg an der Festung hin, um nicht in den heimwogenden Menschenschwarm zu geraten. Gott sei Dank, daß er mit reinem Gewissen dieses Haus verlassen hatte! Wie sich das arme Kind an ihn festklammern wollte fürs Leben, an ihn, der ihr doch keine Stütze sein konnte! Es hätte gewiß ein unglückliches Ende genommen. Nun sollte es aber auch ganz aus sein, er wollte künftig die Versuchung meiden und ihr nicht mehr begegnen. Ohnehin that er gut, sich von diesem Hause fernzuhalten, wo noch ein anderer Fallstrick auf ihn lauerte, denn, daß trotz seiner Zurückhaltung der Heiratsplan nicht aufgegeben war, dafür kannte er seine englische Freundin.

Das Geknatter vom Arno her war jetzt verstummt, nur kleine Rauchwölkchen zogen noch als die letzten Reste des Feuerwerks unter dem hellen Himmel hin. Wie diese kleinen Wölkchen, so schmolz 114 das Bild der armen Pensa von seinem Horizont hinweg. Nach ein paar Wochen war sie vergessen.

Pensa aber vergaß nicht. Sonst gedankenlos und lustig wie eine Meise, ließ sie jetzt den Kopf hängen und schien ihrem Namen Ehre machen zu wollen. Und doch ging ihr Denken nicht weiter, als daß ihr Attilio fehlte, der für sie Licht und Lebensluft gewesen war. Sie hatte gethan, was recht war, und er war im Unmut von ihr gegangen. Ueber diesen Punkt, der all ihre Begriffe umwarf, kam sie nicht hinweg. Hatte man sie denn nicht gelehrt, daß, wer recht thut, auf Belohnung zählen darf?

Mit der muntern Laune hatte sie auch ihr Fleiß und ihre Tüchtigkeit verlassen. Statt ihre Arbeit zu verrichten, stand sie am Fenster oder auf dem unbeschützten Balkon in der Sonnenglut und mußte sich jeden Tag für dieselben Versehen ausschelten lassen.

Wenn sie morgens in die Küche kam mit überwachtem Gesicht und vernachlässigtem Haar, das sich vom Scheitel wegsträubte, so sagten die Dienstboten neckend:

»Unsre Heilige bereitet sich aufs Kloster vor« – und die Pippa fragte höhnisch, ob vielleicht die Heiligkeit Schaden genommen habe, weil man in Sack und Asche traure. Der geohrfeigte Salvatore brummte, indem er vorsichtig den Wassereimer aus dem Brunnen zog:

»Unsereiner ist ihr zu gering, sie hat die Epauletten im Kopf.«

115 Pensa sah einem nach dem andern ins Gesicht, als wundre sie sich, was all das Reden bedeute, füllte schweigend ihre Wasserkanne und ging mit gesenktem Kopf davon.

Die kühleren Stunden des Tages verbrachte sie mit den Kindern im Schatten des Festungsgartens, wo Denis auf seinem kleinen Tricycle das Radfahren versuchte und Jessie mit Hacke und Schaufel im Boden wühlte. Pensa sah sich unterdessen fast die Augen aus dem Kopf, denn sie meinte, einmal müsse er doch hier vorbeikommen. Da er fern blieb, wurde sie kühner und ging häufig durch die Straße, aus der sie ihn sonst hatte kommen sehen, zuerst scheu und mit niedergeschlagenen Augen, bereit, beim ersten Auftauchen einer Uniform in die nächste Seitengasse zu entweichen, dann immer häufiger und entschlossener; aber Gusberti war nirgends zu sehen, und sie wußte nicht, daß er unterdessen die Wohnung gewechselt hatte.

Wenn sie ihm einen Brief schriebe? –

Aber nein, sie kannte die Mängel ihrer Handschrift und schämte sich. Und dann, was würde er von ihr denken? – besser warten, einmal mußte er ja doch wieder kommen, denn das Fernsein that so weh und sie beurteilte seine Empfindungen nach den ihrigen. Aber die Wochen gingen hin, und Gusberti wurde mittlerweile im Hause ein Verschollener.

Eines Morgens ging sie im Auftrag der Padrona auf den Blumenmarkt unter den Loggien. 116 Zwischen den gefüllten Blumenkörben und den hohen Kübeln, in denen die exotische Flora schmachtete, drängte sich die vornehme Damenwelt in hellen Sommerfarben, Müßiggänger im weißen Flanellanzug und gelben Schuhen standen gaffend daneben, da und dort tauchte auch eine Uniform auf, aber Er war nicht darunter. Pensa füllte ihr Körbchen mit Gardenien und glühendroten Rosen an langen Stielen, die sie vorsichtig mit feuchtem Moos bedeckte, um sie frisch nach Hause zu bringen. Da fiel ihr Blick auf einen offenen Schreibtisch unter den Loggien, an dem ein blasser, junger Mann vor einem Tintenfaß und einem Stoß Papier saß. Zwei Bauern verließen ihn soeben, indem sie ein paar Münzen auf den Tisch warfen und einen großen Brief mit fortnahmen. Jetzt kam ein dralles Dienstmädchen, den Korb am Arm, heran und ließ sich ein Schreiben aufsetzen.

Pensa blieb stehen und horchte, aber nicht aus Neugier. Ein großer Gedanke arbeitete in ihr, während sie scheinbar mit Eifer die Auslage einer Strohhutverkäuferin musterte. Die dralle Magd hatte viel auf dem Herzen, denn sie lag mit rotem Gesicht über den Schreibtisch hereingebeugt, und die Feder des Schreibers kritzelte nur so über das Papier hin, daß die Tinte spritzte. Dann bezahlte sie vergnügt und ging.

Pensa trat zaghaft heran und zog sich unschlüssig wieder zurück, da ihr ein Soldat zuvorkam. Der wollte auch gern einen Brief bestellen, hatte 117 aber kein Geld und wurde darum vertröstet. Der Schreiber, der Pensas Bewegungen schon lange beobachtet hatte, wandte sich jetzt laut an diese:

»He, schönes Kind! Soll ich Ihnen eine Epistel schreiben an Ihren Liebsten? Für Sie thue ich's umsonst.«

Pensa fuhr erschrocken auf, da er aber ihre Gedanken erraten hatte, konnte sie nicht mehr zurück.

»Umsonst brauchen Sie es nicht zu thun,« stammelte sie, indem sie über und über errötend herantrat.

»O wenn Sie etwas daran wenden wollen, so habe ich hier das allerschönste Briefpapier zur Auswahl.«

Er zog seine Schublade auf und blätterte in einem Stoß farbiger Papiere, die mit wunderbaren Bildchen und Goldleistchen verziert waren. Bei ihrer Padrona, die doch so viele Briefe schrieb, hatte Pensa nie eine ähnliche Pracht gesehen. Eine Taube mit rosenrotem Briefkouvert im Mund schien ihr endlich das passendste Sinnbild. Sie zog zaghaft einen Franken aus ihrer Börse, fragte, ob das genug sei, bat den Schreiber, den Brief auch ja zu frankieren und wollte sich hastig entfernen.

Jener hatte den Bogen schon zurechtgelegt und die Feder eingetaucht, jetzt rief er:

»Halt, halt, was soll ich denn schreiben?«

Das Kind stand sehr bestürzt, sie hatte geglaubt, das sei seine Sache. In seinem Gesicht las sie Wohlwollen und Redlichkeit, deßhalb sagte sie:

118 »Schreiben Sie, was Sie für das Beste halten, Sie verstehen das besser als ich.«

Der Blasse lächelte, er hatte in solchen Dingen Erfahrung.

»Machen wir zuerst die Adresse, wie heißt der junge Mann, dem Sie schreiben wollen?«

»Attilio,« flüsterte sie fast unhörbar.

»Attilio, und weiter! Den Familiennamen! Ich nehme an, er hat auch einen Familiennamen.«

Den Familiennamen, das fehlte gerade noch! Hier auf offenem Platz den Namen nennen, den sie auch zu Hause nur mit halber Stimme auszusprechen wagte. Sie sah jetzt, daß sie sich mit diesem Brief auf ein Unternehmen eingelassen hatte, das über ihre Kräfte ging, aber es half nichts: hatte sie A gesagt, so mußte sie auch B sagen.

Sie nannte endlich den Namen Gusberti, aber so leise, daß sie ihn ein paarmal wiederholen mußte, bis endlich der Schreiber mit vorgestülptem Ohr den Klang auffing. Damit war aber die Pein noch nicht zu Ende. Der Quälgeist wollte jetzt auch Titel, Stand und die Adresse wissen, von der Pensa selbst keine Ahnung hatte. Sie war der Meinung gewesen, die Post und der Schreiber würden diese Angelegenheit unter einander abmachen und sie brauche nur zu bezahlen. Endlich hatte er ihr so viel abgefragt, als allenfalls zur Auffindung des Adressaten ausreichen mochte. Nun ging es erst an den Brief. Der Schreiber mußte ihr begreiflich machen, was ein Brief für ein Ding 119 sei und daß ein Inhalt nicht für alle Fälle gleichmäßig passe. Dies war Pensa neu, denn sie hatte noch nie einen Brief bekommen und wußte nur, daß die Mädchen in Staggia sich alle mit ihren Herzensangelegenheiten an den Droghisten wandten, der die Korrespondenz des ganzen Orts besorgte und immer im voraus wußte, was not that.

»Nun, wie stehen Sie denn mit Ihrem Attilio?« fragte endlich der Schreiber scherzend, um der Sache näher zu kommen. – »Will er bald Hochzeit machen?«

Um Pensas Mund zuckte es und Thränen traten in ihre Augen.

»Ich habe ihn seit vielen Wochen nicht gesehen.«

»Das ist ja schändlich von ihm,« sagte eine fremde Männerstimme neben ihr.

Ein Kranz von Zuhörern hatte sich in der Stille um sie her gebildet, die sich an der Einfalt des hübschen Kindes weideten. Pensa blickte weder rechts noch links und schien sich in sich selber verkriechen zu wollen, als sie ihr ängstlich gehütetes Geheimnis vor so viel fremden Augen bloßgestellt sah. Der Schreiber aber brachte, teils aus eigener Eingebung, teils durch freundliche Beihilfe des Publikums eine schwungvolle Epistel fertig, worin die Sehnsucht eines liebenden Herzens mit allen Künsten der Rhetorik geschildert war. Dann wurde der Brief verlesen und fand den Beifall aller Umstehenden. Pensa hörte schamrot aber glückselig vor Bewunderung des Kunstwerks zu und genoß im 120 voraus die Wirkung, die es thun mußte. Ein eleganter junger Mann, der den Strohhut nach hinten zurückgeschoben trug, stand hart neben ihr und sagte, indem er sich mit einem buntseidenen Tuch die Stirn wischte:

»Dieser Attilio muß ja ein Tigerherz haben. Laß dir raten, schönes Kind, und halte dich an mich, – ich bin nicht so grausam.«

Pensa lief voll Schreck mit ihrem Brief davon, ließ aber die Blumen liegen, die der elegante junge Mann sogleich an sich nahm, um sie ihr nachzutragen. Nun brauchte es Bitten und Drohungen, ehe sie sich der ungebetenen Begleitung entledigen konnte, darüber wurde es spät, und die Mittagstafel wartete auf die Blumen. Endlich war sie frei und setzte sich in einen Dauerlauf. Eine Brieflade inmitten einer Hausthür mit blinkendem Metallschild darüber erweckte ihr Zutrauen. Dahinein warf sie im Vorübereilen ihren Brief, ohne sich mehr mit Lesen des Metallschilds aufzuhalten. Es war der Privatschalter eines sehr beschäftigten Advokaten, und die Liebesbotschaft lief Gefahr, im Papierkorb einer Schreibstube ein frühes Ende zu finden, aber der schützende Genius der Liebenden kam in Gestalt eines Bureaudieners, um die Briefe des Advokaten zu sichten, und beförderte Pensas Epistel in den nächsten Postschalter, von wo sie denn auch mit einiger Verspätung richtig an ihre Adresse gelangte.

Ein paar Tage vergingen, während deren Pensa 121 die Stunden seit Absendung des Briefes zählte, aber Antwort kam keine. Da, als sie schon zu verzweifeln anfing, begegnete sie dem Doktor des Abends unter den Platanen auf dem Heimweg von einem Spaziergang. Denis gab zuerst Laut und rannte ihm entgegen, aber Pensa hatte ihn schon vorher erkannt. Er schlenderte langsam heran mit erheucheltem Gleichmut, die Hand auf des Knaben Schulter, und hob Jessie, die ihm an Pensas Hand entgegenlachte, auf die Arme. Aber als Denis sich mit des Doktors jungem Rattenfänger, der eine neue Bekanntschaft war, zu balgen anfing, trat Gusberti näher heran und sagte mit unbefangen freundlichem Gesicht zu Pensa:

»Ich habe deinen Brief erhalten, Kind. Du mußt mir nicht mehr schreiben; ich weiß schon, was du mir sagen willst, aber das geht vorbei. Alles geht vorbei auf dieser Welt, weißt du?«

Pensa verstand ihn nicht, es war ihr nur, als höre sie hundert Glocken klingen. Von seinen roten Streifen ging ein Purpurschein aus und verhüllte ihr die ganze Welt, daß er und sie allein da zu sein schienen und alles andere, auch die Kinder, in eine weite Ferne gerückt.

»Ich glaubte, Sie seien böse auf mich,« sagte sie leise.

»Ich bin nicht böse auf dich, liebes Kind,« entgegnete er väterlich, »du hast ganz Recht gehabt, und ich war ein Thor. Jetzt hab' ich längst alles eingesehen und bin dir zugethan, wie einer lieben, 122 kleinen Schwester. Aber schreibe mir nicht mehr, und, wenn du mir eine Liebe anthun willst, so vergiß auch du die Thorheiten, die ich dir gesagt habe. Bleibe so schön und gut wie bisher, und ich bin gewiß, daß es dir noch einmal recht gut gehen wird.«

Wenn er glaubte, mit diesen Worten einen Strich unter das Vergangene zu machen, so täuschte er sich gründlich. Die arme Pensa nahm nur noch auf, was ihrer Leidenschaft Nahrung gab; alles andere fiel fremd und unverstanden an ihr nieder. Wie er neben ihr stand, groß und schlank in seiner spannenden Uniform, war sie nur damit beschäftigt, sich seine Züge, die ihr wieder ganz neu schienen, fester ins Herz zu prägen. – War's möglich, daß sie einmal in einer seligen Stunde ihren Kopf an seine Brust gelehnt hatte? Es schien ihr jetzt, als habe sie damals die Seligkeit gar nicht so voll empfunden, wie sie gesollt hätte und wie sie sie jetzt empfinden würde, wenn diese Stunde wieder käme. Daß es zwischen ihnen aus sein sollte, das drang gar nicht in ihr Verständnis.

Sie ließ sich auch nicht im mindesten irre machen, sondern fragte schüchtern, aber ohne ihre großen Augen von ihm abzuwenden, wann er wieder kommen werde.

Diese Hartnäckigkeit erzürnte den jungen Mann, der nicht begreifen konnte, was sie überhaupt noch bei ihm suchte. Er wurde jetzt ganz schroff, um der Thorheit schneller ein Ende zu machen.

»Hast du mich denn nicht verstanden?« sagte er. 123 »Ich hab' es dir rund und deutlich gesagt und damit sei es genug. Zu meiner Frau kann ich dich nicht machen, und zu etwas anderem bist du zu gut. Ich will, daß du nicht mehr an mich denken sollst.«

Pensa sah ihn unverwandt an, während er sprach, und zwei große, runde Thränen bildeten sich an ihren Wimpern.

»Nicht mehr an Sie denken?« wiederholte sie langsam, als sei ihr der Sinn ganz unfaßbar.

Nun that sie ihm doch wieder von Herzen leid in ihrer hilflosen Liebe. Er nahm sie freundlich bei der Hand und suchte sie zu trösten.

»Komm, weine nicht, meine gute, kleine Pensa. Es wird ja auch eine Zeit kommen, wo wir uns wieder sehen und wie gute, alte Freunde mit einander plaudern können. Und unterdessen weißt du, daß ich dir von Herzen gut bin. Und wenn du je einmal in Not kommen solltest, dann denke an einen, der dich sehr lieb hat, der dir zugethan ist wie ein Bruder, und schreibe mir. Vorher aber nicht, das mußt du mir versprechen.«

Als er schon verschwunden war, blickte sie noch immer auf die Stelle, wo er gestanden hatte, und lächelte glückselig vor sich hin. Er hatte ja gesagt, daß es ihr noch sehr gut gehen müsse – wie konnte es ihr gut gehen ohne ihn, das mußte er doch wissen! – Wenn sie nur bald in Not käme und seiner bedürfte, damit sie ihm schreiben könnte! Vorher wollte sie es ja gewiß nicht thun, 124 sondern wollte sich in allem gehorsam zeigen; nur daß sie nicht mehr an ihn denken dürfe, das mußte ein Scherz gewesen sein, denn das war ja ganz unmöglich. Unterdessen war sie glücklich, nur wieder einmal sein Gesicht gesehen zu haben, und sie behielt an seinen Worten eine süße Labung, mit der sie ihre sehnsüchtigen Gedanken wie hungrige Waisenkinder wieder eine zeitlang nähren konnte.

Im Hochsommer ging die Signora mit Kindern und Dienerschaft ins Seebad. Pensa hatte diesem Zeitpunkt schon lange mit stiller Angst entgegengesehen, denn Florenz verlassen, hieß für sie ins Grab steigen. Aber sie wurde nicht gefragt, die Kinder brauchten eine Aufsicht. Dort an dem rauschenden Strand von Viareggio, in der kräftigen Seeluft, die sich mit dem heißen Duft der harztriefenden Pinien mischte, beim Anblick der unendlichen, herzerweiternden Ferne, in der die lustigen Segel schimmerten, hätte eine stärkere Seele ihr Gleichgewicht wiedergefunden. Aber auf die dumpfen Kinder der Natur übt die große Mutter keine Heilkraft. Die arme Pensa, die nicht denken konnte, genoß nicht die Wohlthat, sich vom eigenen Ich zu befreien und erlöst im großen Weltfrieden aufzugehen, denn sie hatte kein Ich und war selbst nur ein Stück des immer treibenden Lebens. Woher die Kraft nehmen, um dieser dunklen Gewalt zu entfliehen? Der Hochsommer lag mit drückender Schwüle über der Landschaft, und das Meer dampfte die Glut zurück, die es empfing. Längst 125 war alles Liebeswerben in der Natur vorüber, die Blumen waren verblüht und schossen in Samen, keine flackernden Leuchtkäfer durchschwärmten mehr die Nächte. Zwischen den Kastanienästen fütterten die Nachtigallen ihre junge Brut und hielten Singschule. Die ganze Natur brütete in gesättigter Stille und Schöpferkraft.

Pensa fand unter den vielen fremden Menschen keine Ansprache und blieb mit ihren Gedanken allein. Aber sie dachte nicht viel. Das Bild des schönen, jungen Mannes, der sie so glühend geküßt und dann mitten im Aufruhr ihres Blutes allein gelassen hatte, stand unverrückt wie die Einbildung eines Geisteskranken vor ihren Sinnen. Oft fielen ihr die Worte ihres sterbenden Vaters ein: »Nur brav bleiben, dann kommt das Glück von selbst.« Jetzt war sie brav geblieben, aber wo war das Glück?

Das unablässige Donnern der Wellen betäubte ihren schwachen Kopf, und die Seeluft entkräftete ihren blutarmen Körper. Und dann die endlosen Nächte, gegen die die Ewigkeit eine Kurzweil ist! Jeden Morgen fürchtete sie sich vor dem Wasser, in das sie die schreiende Jessie mit Gewalt hineintragen mußte, aber die Padrona kannte kein Erbarmen. Sie nahm ihr Kind auf den Rücken und schwamm vor den entsetzten Augen der Badegäste hinaus, bis ihr roter Schwimmanzug nur als ein kleiner Punkt in weiter Ferne sichtbar war. Darüber vergaß Jessie die Furcht und plätscherte 126 vergnügt im Wasser, beide Aermchen um den Hals der Mama gelegt, wie ein Nereïdenkind. Kamen sie endlich zurück, so mußte die arme Pensa dran glauben. Diese hing, blau vor Kälte und Furcht, an einem Seil an der seichtesten Stelle, wo die Welle kaum ihre Kniee bespülte, aber die Signora zerrte sie weg und drückte sie ins Wasser bis an den Hals.

Miß Dolly war gleichfalls in Viareggio und verkehrte mehr als je im Hause. Pensa beobachtete sie aus der Ferne, und ihr einziger Trost in aller Trübsal war es, daß die Madonna Wort gehalten und dem schönen Gusberti nicht erlaubt hatte, die Engländerin zu heiraten.

Noch eine andere Erscheinung tauchte in dem kleinen Badeort auf, mit der Pensa sich angelegentlich beschäftigte. Es war eine reizende Brünette von stolzem Wuchs, aber sehr bescheiden gekleidet, die jeden Morgen mit einem kleinen, kränklichen Knaben auf den »Nettuno« und an den Strand kam. Der Schnitt ihrer Züge erinnerte an Gusberti und übte auf Pensa eine unwiderstehliche Anziehung. Bald wurde die Schöne auf das blasse, kleine Mädchen mit den großen verträumten Augen aufmerksam, die ihr unverwandt überall hinfolgten. Da geschah es einmal, daß sie auf dem Heimweg ihre Taschenuhr aus dem Gürtel verlor. Sie beachtete es nicht und ging eilig weiter, aber Pensa hatte das kleine goldene Ding in den Sand fallen sehen. Flugs war sie zur 127 Stelle und rannte mit ihrem Fund atemlos hinter der Schönen her, wobei sie auf dem lockeren Sande und mit Jessie auf dem Arm gar nicht schnell genug vorwärts kommen konnte. Auf ihr Rufen blieb endlich die Fremde stehen und nahm bestürzt aus den Händen der freudestrahlenden Pensa ihr Eigentum entgegen. Einen Moment blickte sie zweifelhaft in Pensas feines Gesichtchen, dann griff sie in die Tasche, aber Pensa wurde dunkelrot, hob zur Abwehr beide Hände auf und lief eben so schnell wieder davon. Das freundliche Lächeln, mit dem ihr die Fremde von nun an auf dem »Nettuno« zunickte, that ihr in der Seele wohl, aber sie wagte sich nie zu nähern aus Furcht, die Schöne möchte ihr abermals Geld anbieten, sondern lehnte nur mit Jessie an der Terrasse und starrte zu ihr hinüber.

Ihr Herz hatte sie nicht betrogen, denn die schöne fremde Gouvernante war Attilios Schwester und ging bald im Hause Roselli aus und ein. Miß Dolly schloß sich ihr mit Feuer an, und die Beiden wurden unzertrennliche Freundinnen. Pensa litt Qualen der grausamsten Eifersucht, wenn sie sah, daß Miß Dolly Olimpia und ihren Zögling im Nachen hinausruderte, während Denis nachschwamm und die beiden Mädchen durch Wassergüsse zu belästigen suchte. Auch Pensa wurde zuweilen auf diesen Nachenfahrten mitgenommen zur Aufsicht für Jessie, die mit dem fremden Knaben spielen wollte, und Olimpia richtete gelegentlich das Wort 128 an sie, aber sie konnte aus den verwirrten Antworten der Bonne nicht klug werden, und Miß Dolly sagte ihr, daß das Mädchen zwar eine treue Kinderwärterin, im übrigen aber so dumm sei wie ein Fisch.

Nachdem die Dinge so weit gediehen waren, kamen die Damen überein, Attilio eine Falle zu stellen. Dolly konnte sich den schönen Offizier nicht aus dem Kopf schlagen, Olimpia war eingeweiht, und Frau Roselli gab überhaupt niemals einen Plan auf, den sie gefaßt hatte. Ein Fest in der Familie bot den willkommenen Anlaß, und so setzten die Signora und Olimpia eines Tags ein gemeinsames Brieflein an den Doktor auf, worin er zu Familienpicknick und Nachenfahrt mit Musik und farbigen Lampions eingeladen wurde. Ein Postscriptum der Signora lautete:

»Damit Sie nicht klagen können, ich mache Sie von Ihren Berufspflichten abwendig, habe ich auch einen ärztlichen Fall für Sie in Bereitschaft. Unsre kleine Bonne, die Sie kennen, ist zusammengeschmolzen wie der Mond im letzten Viertel, und das schwache Licht ihres Verstandes brennt so trübe, daß wir fürchten, es werde bald ganz ausgehen. Also kommen Sie in Person und sehen zum Rechten.«

Umgehend kam ein Schreiben von Gusberti zurück, worin er sich in höflichen Entschuldigungen überbot. Die Manöver hätten ihm für Arbeit gesorgt, schrieb er, das ganze Spital liege voll Soldaten, die am Sonnenstich erkrankt seien. Da 129 man mit dem Fieber keinen Waffenstillstand schließen könne, so dürfe er nicht daran denken, seinen Platz zu verlassen. Dann folgte eine Flut von Grüßen, Empfehlungen, respektvollen Handküssen u. s. w., daß ein jedes, groß und klein, seinen Teil bekam, und auch der Miß Dolly geschah höfliche Erwähnung, zum Zeichen, daß die kleine Intrigue durchschaut sei.

Nachschrift: »Unsrer guten Pensa geben Sie Eisenpillen und verbieten ihr das Baden.«

Ein Rezept lag bei, und Pensa schluckte die Pillen, die Er verschrieben hatte, mit einer Inbrunst, als wäre es der Leib des Herrn. Aber ihr Befinden besserte sich nicht. und sie war überzeugt, daß sie nach Florenz zurückkehren oder sterben müsse. Da schlug endlich die Stunde der Erlösung. Es kam ein Brief mit fremdem Poststempel, in Folge dessen die Padrona augenblicklich zusammenpackte und mit Denis nach England reiste. Pensa wurde mit Jessie und der Dienerschaft nach Florenz geschickt.

Als sie spät am Abend in der Stadt einfuhr und vom Bahndamm her die Lichter der Festung glänzen sah, fühlte sie sich dem Leben zurückgegeben. Auf der Straße meinte sie, die erste Person, die ihr entgegenkomme, müsse Er sein, sie sah sich auf dem Pflaster nach den Spuren seiner Fußtritte um und nahm tiefere Atemzüge, um die Luft einzufangen, die auch er atmete. Gusberti betrat zwar jetzt das Haus so wenig wie vorher, aber sie konnte doch hoffen und, so lang sie hoffte, atmete sie. Es war doch nicht wie in Viareggio, wo sie gewiß sein 130 durfte, in dem eleganten Menschenschwarm am Molo und Abends bei der Musik auf dem Nettuno nur unbekannte, gleichgiltige Gesichter zu sehen. Hier konnte jeder Ausgang sie mit ihm zusammenführen, und wenn sie fleißig am Fenster stand, so mußte sie ihn ja ein oder das andere mal vorüber gehen sehen. Niemand verbot ihr jetzt auf dem Balkon zu stehen oder mit Jessie sich draußen herum zu treiben so lange sie wollte. Die andern Dienstboten führten zwar stillschweigend ein Register über ihre Vergehen, das auf die Rückkehr der Herrin wartete, aber sie wagten ihr nichts zu sagen, denn es war allgemein angenommen, daß Pensa die besondere Gunst des Majors besitze.

Eines Abends stand sie mit der Kleinen unter der Hausthür, als ein buckliges Weiblein in abgetragener schwarzer Seide und zerrissenem Spitzenumhang vorüberging. Es blieb einen Augenblick stehen, sah Pensa scharf an und sagte:

»Mädel, soll ich dir wahrsagen? Ich bin die Sonnambula.«

Pensa wich ängstlich in den Hausflur zurück und starrte das Weib bezaubert an, zwischen Lust und Grauen schwankend. Sie erinnerte sich, dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Unlängst war sie jenseits des Arno in einen Menschenauflauf geraten, und da hatte die Sonnambula in einem Kreis von Zuschauern, – Landleuten und Vorstadtbewohnern, – am Boden gelegen und unter Zuckungen mit geschlossenen Augen Fragen, die ihr gestellt 131 wurden, beantwortet, während ein Mann mit metallener Schale umherging und Münzen einstrich. Schon damals hatte das Wunderbare des Mädchens Phantasie mächtig angezogen, aber sie scheute sich vor den vielen Zeugen und duckte sich vorbei. Jetzt, während die Habichtsaugen des Weibes auf ihr ruhten, war die gute Pensa, noch ehe die Hexe eine Probe ihrer Kunst gegeben hatte, bereit und willig ihr aufs Wort zu glauben.

»Du hast einen Stachel im Herzen,« begann diese, »und wenn ich dir nicht helfe, gehst du daran zu Grund.«

Ein tiefer Seufzer Pensas machte sie kühner.

»Du hast dein Herz an einen jungen Mann gehängt, der dich lieber hat, als seine beiden Augen, aber ihr habt euch entzweit und könnt ohne meinen Beistand nicht mehr zusammenkommen.«

»Können Sie mir helfen, Frau Sonnambula?« fragte das Mädchen zitternd.

Jetzt machte die Alte sich erst ein wenig kostbar, aber nach einigem Hin- und Widerreden bestellte sie Pensa auf den nächsten Sonntagmorgen in ihre Wohnung im Borgo Stella. Sie war eine von den vielen Schwindlerinnen, die in Florenz ihr Wesen treiben und von der Einfalt der Landbewohner und der städtischen Dienstboten meist weiblichen Geschlechts leben.

Bei der ersten Begegnung mit Pensa war sie sich darüber klar, weß Geistes Kind sie vor sich hatte. Sie hielt es nicht einmal für nötig, nähere 132 Erkundigungen über den Fall einzuziehen. Als Pensa verstört und ängstlich in ihrem übelriechenden Schlafzimmer saß, sagte sie ihr auf den Kopf zu, sie wisse schon alles, und die arme Einfalt merkte nicht, daß sie selber sich Wort für Wort ihr Geheimnis entlocken ließ. Sie war ganz betäubt vom Geruch der Büchschen und Näpfchen, die umher standen, und warf von Zeit zu Zeit scheue Blicke auf eine schwarz und weiße Henne mit ausgerauftem Schwanz, die traurig auf dem schmierigen Boden hin- und herspazierte. Trotz ihrer Unwissenheit war es Pensa nicht unbekannt, daß schwarz und weiße Hennen mit ausgerauftem Schwanz in der Hexerei eine wichtige Rolle spielen.

»Zweierlei Tuch, eine böse Geschichte,« sagte jetzt die Alte. »Da brauchts starke Stricke, um den zu binden.«

»Binden« bedeutet in der Sprache der Wahrsager die erste Maßregel, durch welche der geliebte Gegenstand für die Einwirkung des Zaubers empfänglich gemacht wird.

»Lege einmal einen Zwanzigfrankenschein auf den Tisch, damit ich sehe, ob ich ihn festnageln kann.«

Einen Zwanzigfrankenschein! Dem Mädchen sank das Herz bis in die Kniee, denn sie hatte in ihrem Leben noch keinen besessen. Aber gestern war ihr der Monatlohn ausbezahlt worden, volle fünfzehn Lire, und Pensa hatte das Geld eingesteckt, um unterwegs ihre neuen Schuhe und das Aufbessern eines alten Kleides zu bezahlen; den Rest wollte sie wie 133 gewöhnlich in der Postsparkasse anlegen. Welch ein Glück, daß sie dieses Geld wenigstens bei sich trug. Die Sonnambula war natürlich viel zu uneigennützig, um für sich selbst etwas zu verlangen, und daß die Unsichtbaren sich bezahlen lassen, hatte Pensa nie gehört, aber die Frau setzte ihr auseinander, daß dem Geld etwas dämonisches innewohnt, welches Macht über die Geister giebt. Der Schein mußte in Pensas Besitz gewesen sein, wenn er seinen Zauber üben sollte, sonst hätte ja die Sonnambula eben so gern eine eigene Banknote auf den Tisch gelegt. Das alles war dem Mädchen ganz überzeugend. Sie zog ihre kleine Börse hervor und die Hexe war klug genug, sich mit dem Zehnfrankenschein zu begnügen, da der Rest aus gewechselter Münze bestand.

Das Papier wurde auf den Tisch gelegt, und die Alte spießte den Schein mit einem Schlag auf der Platte fest.

»Ich muß setzt mit ihm selber sprechen,« sagte sie und zog aus einer Schublade einen Pack schmieriger Karten hervor. Sie trieb allerlei Hokuspokus mit Mischen und Abheben, bis der Carreaubub hervorkam, wobei sie Pensa erklärte, das sei Er.

Aber Er wollte sich nicht gefügig zeigen, und die bösen Schwarzen schoben sich dazwischen. Da brach die Alte in Verwünschungen aus, packte schnell das ganze Spiel zusammen, den Carreaububen nach oben, und stimmte, fest auf die Karten blickend, einen sinnlosen Singsang an: 134

»Attilio bist du,
Attilio sollst du bleiben,
Zu deiner Pensa soll dein Herz dich treiben.
Sei bei Tag und Nacht
Nur auf sie bedacht,
Hab nicht Rast noch Ruh,
Fahr' der Hölle zu!«

Ueber diesen Schluß war das gute Mädchen sehr erschrocken, und die Alte hatte Mühe, ihr begreiflich zu machen, daß, was ein rechter Zauberspruch sei, immer mit einer Verwünschung enden müsse.

Dann entließ sie Pensa mit der Beteuerung, daß der Geliebte ihr jetzt unfehlbar begegnen werde. Der aufgespießte Zehnfrankenschein blieb natürlich auf dem Tisch der Gauklerin zurück.

Pensa sah sich fast die Augen aus dem Kopf, aber sie konnte nirgends eine Spur von Gusberti entdecken. Offenbar hatte ihr Augenlicht abgenommen vom vielen Weinen. Den ganzen Rest des Tages verbrachte sie in fiebernder Erwartung, indem sie im Kinderzimmer mit Jessie am Fenster stand. Dabei geschah es, daß die Kleine ein hölzernes Pferdchen auf die Straße fallen ließ, und Pensa huschte schnell die Treppe hinab, es zu holen. Es dämmerte bereits, aber das Lämpchen im Treppenhaus war noch nicht angezündet und Pensa erschrak heftig, als im Dunkeln eine Männergestalt ganz unerwartet vor ihr auftauchte. Ein leises Klirren begleitete jede Bewegung der Gestalt und regte Pensas leicht entzündete Einbildung zu einer geheimnisvollen Thätigkeit auf. Sie sah trotz der 135 Dunkelheit ganz deutlich Attilios Züge mit allen Einzelheiten, die ihr jetzt erst wieder klar wurden, denn sie hatte ihn so lange nicht gesehen. Sie war gewiß, daß die unsichtbaren Gewalten, die ihr jetzt dienten, ihn in ihren Weg geführt hatten, und erstaunte nicht im mindesten, als zwei Arme sich plötzlich um ihren Hals legten und eine gedämpfte Stimme flüsterte:

»Reizendes Geschöpf!«

Pensa fiel mit einem langen Seufzer in die Arme, die sich ihr entgegenstreckten. Aber ebenso schnell fuhr sie mit einem halblauten Schrei zurück, denn etwas fremdes hatte sie berührt, und ihre Augen, die sich jetzt an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannten den wohlwollenden Padrone.

»Nun, nun, es wird doch noch ein Scherz erlaubt sein,« sagte er und suchte sich des Mädchens wieder zu bemächtigen, aber Pensa stieß ihn empört zurück und flog im hellen Entsetzen die Treppe hinauf.

Auch diese Enttäuschung brachte sie nicht zum Bewußtsein. In kurzem war sie ganz in der Gewalt der Betrügerin, die sie eben so plump wie frech zum besten hielt. Vielleicht war es sogar weniger der Glaube an Wunderkräfte, als das Bedürfnis, ihrem übervollen Herzen endlich Luft zu schaffen, was das Mädchen nach allen fehlgeschlagenen Versuchen immer wieder zu der Sonnambula führte. Das Bedürfnis wurde in kurzem zur Gewohnheit wie ein schmerzstillendes 136 Betäubungsmittel, von dem der Kranke nicht mehr lassen kann. Konnte sie ihn nicht sehen, so mußte sie wenigstens von ihm sprechen, seinen Namen nennen. Sie wurde erfinderisch im Ersinnen von Vorwänden, um sich ihren Pflichten zu entziehen und zu der Sonnambula zu eilen.

Gleich in den ersten Tagen war sie dort auf der Treppe zwei jungen Mädchen begegnet, die sich bei ihrem Anblick mit den Ellbogen anstießen, und Pensa hörte wie eine zur andern sagte:

»Das ist die Bonne, die den Offizier heiraten will.«

Sie schämte sich sehr und machte, daß sie die Treppe vollends hinunter kam, aber doch nahm sie die aufgefangenen Worte für eine gute Vorbedeutung.

Oft hörte sie auch vom Nebenzimmer ans mit an, wie die Kartenschlägerin in ihrem wohlausgestatteten Salon vornehme Kundschaft empfing. Wie sollte das arme, unwissende Kind an der Allmacht der Wunderthäterin zweifeln, wenn es herrschaftliche Wagen vor der Thür anfahren und seidene Schleppen auf der Treppe rauschen hörte! Mit der Zeit wurde sie in die Angelegenheiten der andern Kunden eingeweiht und war sogar einmal mit Grauen Zeugin, wie ein betrogenes Mädchen an ihrem treulosen Liebhaber Rache nahm. Die Decke zitterte von den Dolchstößen, die das kleine bucklige Weiblein mit wilder Kraft ins Gebälk führte, während der Schatten ihres bewaffneten Armes wie 137 ein schwarzer Dämon im Zimmer auf- und niederhuschte und gräßliche Sprüche und Verwünschungen dazwischen tönten. Ein großes, starkknochiges Mädchen stand mit zusammengebissenen Lippen, blaß wie eine Leiche, daneben; sie hielt die Kerze in der krampfhaft geschlossenen Hand und sah verzückt von Rachgier dem Mordgeschäft zu. Pensa aber lag unterdessen betend und ächzend in einer Zimmerecke und hatte ihren Rock über den Kopf geschlagen, um nicht zu sehen noch zu hören. Bei jedem Stoß schrie sie auf und wimmerte wie eine Verzweifelte:

»Herr, schenke ihm die ewige Ruhe! – – Und das ewige Licht leuchte ihm!« –

»Amen! Amen!« wiederholte schauerlich ruhig das große, blasse Mädchen.

Von da an wagte Pensa den Blick nie wieder nach dem großen Querbalken, der unter der Decke der Mansarde hinlief, zu erheben, aus Furcht, es möchte Blut herunterträufeln. Aber aus den Händen der Sonnambula gab es jetzt kein Entrinnen mehr, denn das arme Ding fürchtete fast noch mehr ihre Rache, als es auf ihren Beistand hoffte, und es waren unter den Mädchen, die die Kundschaft bildeten, schreckliche Geschichten von ihrer Allmacht und Bosheit im Umlauf.

An Pensa zog sie sich ein Schäfchen heran, das sie von Zeit zu Zeit sorgfältig schor und dann schonte, bis ihm die Wolle wieder nachwuchs.

Wenn die Aermste, was mit der Zeit nicht ausbleiben konnte, an irgend einer Ecke auch nur die 138 Schöße von Gusbertis Uniform erblickte, so war es Verdienst der Sonnambula und mußte mit einem Geldgeschenk belohnt werden. Die unzähligen Fälle, wo die gleiche Verheißung sich als trügerisch erwiesen hatte, waren dann schnell vergessen. Von der Furcht, daß sie ihrer Wohlthäterin kein Geld anbieten dürfe, war Pensa längst zurückgekommen, ihr Monatlohn ging regelmäßig diesen Weg, und schon war das Sparbüchlein in Angriff genommen. Das Anspießen von Banknoten blieb gleichfalls im Schwung, und, wenn diese fehlten, ließen sich sogar Silbermünzen verwenden. Dafür wurden auch die Karten immer gefügiger, der Carreaubub ließ sich jetzt nicht mehr lange bitten, sondern kam auf den ersten Ruf der Sonnambula zum Vorschein und Herzdame fiel immer in seine Nähe. Wenn Gusberti bei einer Zusammenkunft, zu der man ihn durch die Geister beschieden hatte, nicht erschien, so wußte der Carreaubub des andern Tages den unabweisbaren Abhaltungsgrund mit Bestimmtheit anzugeben. Wie leicht verzieh sie ihm dann seine Kälte, die schroffen Reden, die sie von ihm gehört, und die immer wieder getäuschten Erwartungen. Ach, und wie gern ließ sie sich von dem Carreaububen all die süßen Worte wiederholen, die ihr zuerst Herz und Sinne verwirrt hatten.

Wäre nur der Padrone nicht gewesen, der ihr neuerdings die Ausgänge beschränkte und ihr überhaupt auf die Finger sah, so sehr es seine häufige Abwesenheit zuließ. Seit der Begegnung auf der 139 Treppe hatte er ihr einen Groll bewahrt, der bei jeder Gelegenheit durchbrach. Beim kleinsten Versehen drohte er ihr mit Entlassung, weil er sah, wie der Gedanke, fort zu müssen, sie erschütterte. An diesen Dienst waren ja all ihre Hoffnungen geknüpft. Sie suchte ihm dann auf eine scheue ängstliche Weise alle Befehle an den Augen abzulesen, hielt sich dabei aber, von einem brutalen Funkeln seiner Augen gewarnt, immer in der Entfernung. Er hätte übrigens keinen zudringlichen Scherz mehr gewagt, denn das dumme taktlose Ding wäre ja im Stand gewesen, sich bei ihrer Herrin zu beklagen.

In der ganzen Nachbarschaft fiel Pensas heimliches Wesen und ihre herabgekommene Kleidung auf, aber nur die Pippa war dem Geheimnis auf der Spur. Mit dem Instinkt des Hasses hatte sie das verblendete Geschöpf umschlichen und ihr die unglückliche Leidenschaft aus den Augen abgelesen. Doch schwieg sie weislich, um ihre Entdeckung bei guter Gelegenheit mit Nutzen zu verwerten.

Der Oktober versendete seine letzten Gluten, als die Signora von der Reise zurückkam. Sie wunderte sich gleichfalls über Pensas schlechten Aufzug und schenkte ihr Kleidungsstücke, die unter Pippas immer wachen Augen zum Trödler oder ins Pfandhaus wanderten, um die Wahrsagerin zu befriedigen. Das unselige Geschöpf ging jetzt schon in einer dicken Wolke umher, in der es die Außenwelt nicht mehr erkannte.

140 Als das Frühjahr herankam, waren ihre kleinen Ersparnisse ganz erschöpft: die Sonnambula hatte ihr nach und nach in kleinen Posten gegen zweihundert Franken abgenommen. Doch darüber machte sie sich keinen Kummer, denn das Geld konnte nach ihrer Meinung gar nicht besser angelegt werden; war sie einmal Gusbertis Frau, so brauchte sie ja für nichts mehr zu sorgen.

Um die Zeit der fälligen Hausmiete aber legte die Sonnambula mit einemmal ihre Schraube fester an. Sie brauchte eine größere Geldsumme, die sollte ihr Pensa schaffen, die immer so gut bei Kasse zu sein schien.

Sie begann damit, das arme Kind durch allerlei Andeutungen von einer sehr gefährlichen Nebenbuhlerin zu ängstigen und ließ sich endlich von der gepeinigten Pensa mit Mühe das Versprechen entreißen, daß sie den Geist ihres Liebhabers herbeschwören wolle, um endlich seine Gesinnung einmal auf den Grund zu erforschen. Aber den Geist eines Lebenden zu rufen, sei eine schwere und gefährliche Sache, und die Beschwörung koste viel Geld.

Pensa war gleich bereit, das Nötige zu schaffen, wie, wußte sie selbst noch nicht. Sie wagte dem Weib nicht zu gestehen, wie sehr sie auf dem Trocknen war, sie hatte eine unbestimmte Ahnung, daß ihr dann die Geisterwelt ihren Schutz entziehen würde. Einen Vorschuß ihres Lohnes zu erhalten, war bei dem strengen Ordnungssinn der Padrona ganz unmöglich. Sie bettelte sich bei den Freundinnen 141 kleine Darlehen zusammen und versetzte alle Geschenke, die sie im Lauf des Jahres empfangen hatte, aber die Summe, welche die Sonnambula brauchte, war nicht aufzubringen. Sie dachte in ihrer Herzensnot daran, dem geistlichen Oheim schreiben zu lassen, aber dieser Einfall wurde als aussichtslos wieder verworfen.

Ein schön gearbeiteter Handleuchter von schwerstem Silber war schon vor längerer Zeit durch Jessie in ihre Schlafkammer verschleppt worden. Niemand hatte je danach gefragt und Pensa war gewohnt, sich jeden Abend darin ihr Lichtstümpfchen anzuzünden. Das gute Kind hatte in seinem Leben auch nicht nadelsgroß von fremdem Eigentum an sich gebracht, jetzt aber hetzte die Leidenschaft sie durch dick und dünn, – ihr Gewissen verwirrte sich und sie versetzte auch den Leuchter.

Auf dem Heimweg aus dem Leihhaus war ihr nicht wohl zu Mute und sie mußte zum ersten mal seit langer Zeit viel an ihren Vater denken. Wenn sie den im andern Leben wieder fand und ihm Rechenschaft gab von allem ihrem Treiben, – das Versetzen des Leuchters durfte er nicht erfahren. Vor sich selber tröstetete sie sich mit der Gewißheit, daß sie lang vor dem Verfalltag wieder im Besitz von Geld sein mußte, – wer würde denn dem Leuchter ansehen, daß er unterdessen im Leihhaus gewesen!

Und doch trotz aller Gedankenlosigkeit ging ihr jeden Abend, wenn sie ihr Lichtstümpfchen auf den bloßen Tisch stellte, ein Stich durchs Herz.

142 Die Stunde der Beschwörung verbrachte sie auf Befehl der Wahrsagerin im Gebet auf ihrer Kammer, aber als sie sich des andern Tages zitternd einstellte, um ihr Urteil zu vernehmen, empfing die kleine Bucklige sie mit einem Strom von Vorwürfen.

Hätte sie gleich gewußt, was sie jetzt wisse, so würde sie sich die viele Zeit und Mühe und Pensa die Kosten erspart haben. Warum das dumme Ding ihr nie gesagt habe, daß ihr Offizier bettelarm sei und nie daran denken könne, ein Mädchen ohne Mitgift zu heiraten?

Sie wollte sich so der unbequem werdenden Kundschaft entledigen, denn nach diesem letzten großen Aderlaß war bei Pensa doch nichts mehr zu holen. Diese saß wie verdonnert auf ihrem Stuhl, und der Fächer war ihr vor Schreck entfallen. Um das zu erfahren, brauchte sie wahrlich die Hilfe der Geisterwelt nicht, es war ja nur, was sie von Anfang an wußte und was zu vergessen sie keine Kosten gescheut hatte. Aber auch jetzt gingen ihr die Augen nicht auf, sie war vielmehr überzeugt, wenn die Sonnambula nur nicht so böser Laune wäre, so könnte sie gewiß die Dinge zu ihren Gunsten lenken.

Die Alte aber wollte sich auf nichts weiter einlassen; sie wirtschaftete schlürfend auf und ab, indem sie Pensas jammervollen Blicken auswich, räumte Fläschchen und Büchschen auf die Seite und setzte ihr dabei die Bedingungen einer Offiziersehe auseinander.

143 Jedoch die Sonnambula hatte gut reden. Das war alles unanfechtbar, und Pensa sah es auch ein, aber sie hatte den Boden nicht mehr unter den Füßen. Sie mußte doch fortfahren, Attilio zu lieben, heute wie gestern und so weiter in alle Ewigkeit, weil diese Liebe nachgerade mit allen ihren Lebensorganen verwachsen war.

»Ist denn gar nichts zu machen?« fragte sie ängstlich.

»Was soll denn zu machen sein?« schnauzte die Alte sie an. »Wenn du gescheit bist, schlägst du dir die Sache aus dem Kopf und heiratest den Bäcker.«

Pensa stand auf und näherte sich schweigend der Thür. Sie war ganz blaß, und ihre Unterlippe zitterte ein wenig, aber sonst beherrschte sie ihre Erregung.

»Halt, wo willst du hin?« rief die Hexe betroffen über dieses entschlossene Gebahren. »Bleibe hier und mache dir Luft. Mit einem solchen Schwert im Herzen kann man nicht fortgehen, als wäre nichts geschehen. Komm, setz dich in den Lehnstuhl und weine dich aus, das wird dir gut thun.«

Aber Pensa verlangte nach keiner Erleichterung. Die Illusion, so lange künstlich von der Wahrsagerin genährt, war ihr Leben gewesen, in der Welt der nüchternen Wirklichkeit gab es keinen Platz mehr für sie. Vor ihrem Geist stieg die unklare Vorstellung von einer blanken Wasserfläche auf, wo sie ihre Verzweiflung untertauchen und Ruhe finden 144 konnte. Sie schüttelte den Kopf auf allen Zuspruch und strebte zur Thür hinaus.

»Was hast du vor?« schrie die Sonnambula erschrocken und umklammerte das Mädchen.

»Nichts, was Sie angeht, Signora Sonnambula,« entgegnete Pensa mit Fassung und machte sich los. – »Was Ihre Mühen betrifft, von denen Sie vorhin sprachen, so habe ich Sie immer bezahlt, so gut ich konnte. Für den Anteil, den Sie an mir genommen haben, danke ich Ihnen. Aber es wäre nicht so weit mit mir gekommen, wenn Sie mir von Anfang an keine Hoffnungen gemacht hätten.«

»Oho, soll jetzt ich schuld sein?« rief das Weib erbost. »Hab' ich dich geheißen, dein Herz an einen Mann hängen, der über deinem Stand ist, was?«

»Ich mache Ihnen auch keine Vorwürfe, Signora Sonnambula, aber es wäre eben manches besser nicht geschehen,« sagte Pensa, vor deren Geist jetzt plötzlich wieder der entwendete Leuchter stand. Wenn sie tot war, wer sollte dann den Leuchter aus dem Pfandhaus zurückholen? Und mit welcher Stirn dort oben vor ihren Vater treten, wenn der Leuchter durch sie ihrer Herrschaft verloren ging?

Die Hexe hatte sich während des Gesprächs zwischen Pensa und die Thür zu schieben gewußt, jetzt erspähte sie den Moment und drehte schnell den Schlüssel um, den sie in die Tasche steckte. In diesem Zustand durfte sie das Mädchen nicht fortlassen, denn so dumme junge Dinger sind zu 145 jedem Narrenstreich fähig, und die Polizei steckt ja gleich ihre Nase in alles.

»Mamma mia!« rief sie daher einlenkend. »Das ist doch noch lange kein Grund zum Verzweifeln. Wenn du seine Frau nicht werden kannst und ohne ihn nicht leben willst, nun, es ist schon manches Pärlein zusammengekommen, ohne den Sindaco.«

»Nein, nein,« sagte Pensa erschrocken. »Und meine Ehre und der gute Name meines Vaters, für den ich einmal Rede stehen muß! Soll man mit Fingern auf mich deuten? Wenn Sie nichts besseres wissen, so lassen Sie mich fort, denn ich will sterben.«

»Aber wenn er dich zu sich nimmt und dich bei sich behält sein Leben lang,« sagte die Alte dringlich, indem sie Pensa bei den Schultern faßte. »Wenn er für dich sorgt, dich hegt und pflegt, was kann dir denn daran liegen, ob die Andern dich für seine rechtmäßige Frau ansehen oder nicht?«

Pensa blickte sie überrascht und zweifelnd an. Von dieser Seite hatte sie die Frage noch nicht betrachtet.

»Und können Sie das machen, Signora Sonnambula?« fragte sie zaghaft.

»Ob ich das machen kann!« entgegnete die Alte mit einer Geste der Ueberlegenheit.

Pensa dachte nach. Sie stieß einen langen Seufzer aus. »In der Kirche könnte er sich wenigstens trauen lassen,« wandte sie nach einer Weile 146 schüchtern ein. Das Weib gab einen Laut der Zustimmung von sich.

»Und wollen Sie es wirklich dahin bringen, daß er mich ganz wie seine Frau ansieht,« hob das arme Kind wieder an, »und liebt und ehrt und nie verläßt? denn ich könnte ja die Schande nicht ertragen, ich würde sterben vor Jammer und Reue.«

»Nie soll er dich verlassen, Kind, dafür laß nur mich sorgen, das habe ich ganz in der Gewalt. Wir geben ihm ein Pulver ein, das macht, daß er dich sein Leben lang mit verliebten Augen ansehen muß. Nicht wahr, so gefällt dirs, und jetzt wirst du nicht mehr unzufrieden mit mir sein?«

Pensa erhob noch ein paar schwache Einwendungen, dann bat sie sich Bedenkzeit aus, um den schweren Schritt zu überlegen.

Die Hexe sah ihr erleichtert nach, als sie flinken Schritts in ihrem schwarzen Schleierchen, den Fächer in der Hand, die Treppe hinabging, und hoffte, daß sie auf weitere sechs Monate vor Pensas Vorwürfen Ruhe haben werde.

Als Pensa nach Hause kam, überraschte die Köchin sie durch die Frage nach dem silbernen Handleuchter. Die Padrona habe danach verlangt, und er sei doch zuletzt in Pensas Zimmer gewesen, aber niemand könne ihn finden. Pensa stand mit Rot übergossen und stammelte, sie wisse von nichts.

Die Pippa sah sie scharf von der Seite an und fragte, in welchem Leuchter sie denn des Abends ihr Licht anzünde, worauf Pensa stotternd bekannte, 147 sie habe schon lange keinen Leuchter und stelle das Kerzenstümpfchen auf den bloßen Tisch. Für diese auffallende Nachlässigkeit wußte sie aber keinen Grund anzugeben, und die Pippa sah mit Genugthuung, daß sie die Scheinheilige auf einem Fehl ertappt hatte. Jetzt war sie entschlossen, sie rasch zu Fall zu bringen, denn so lange Pensa im Haus war, bekam sie täglich eine Portion Gift zu schlucken. Sie hatte sich wieder an den hübschen Bäcker heranzumachen gewußt und gab sich den Anschein, als suche sie ihn aus christlicher Nächstenliebe über sein Mißgeschick zu trösten, aber heimlich schäumte sie vor Wut. Denn Domenico pflegte, so bald er Pensa nur aus der Ferne sah, mit einem Seufzer zu sagen:

»Wenn eine Gewisse gewollt hätte, so wäre sie jetzt versorgt und brauchte sich nicht mehr im Dienst herumzudrücken.«

Und wenn ihm dann die Köchin den Trost gab, es sei wohl sein Heiliger im Himmel, der diese Heirat hintertrieben habe, denn Pensa stecke voll von Heimlichkeiten und stehe im Hause in schlechtem Ruf, so antwortete er mit leuchtenden Augen:

»Seht, Pippa, dieses Mädchen dürfte gethan haben, was sie wollte, ich würde sie heute noch zu meiner Frau machen und die Augen zudrücken, wenn sie nur »Ja« sagte.«

Pensa war inzwischen wohl durch die Frage nach dem Leuchter beunruhigt worden, da aber 148 nicht weiter davon die Rede war, fühlte sie sich bald wieder sicher. Sie wußte nicht, daß der stille, tödtliche Haß an ihrer Seite ging und Wand an Wand mit ihr schlief. Gewissensbisse empfand sie keine. Hätte sie denn zaudern dürfen, wo die Liebe Attilios auf dem Spiele stand? Ihre Gedanken, die bei dem plötzlichen Angriff Pippas wie aufgescheuchtes Wild auseinandergeflogen waren, kehrten schnell auf die alten Weideplätze zurück. Sie lag die ganze Nacht in wohliger Schlaflosigkeit und spann sich behaglich in ein neues Hoffnungsgespinst ein. Sie meinte, sie überlege den Vorschlag der Sonnambula, in Wahrheit aber war sie schon ganz entschlossen, sich mit dem zu begnügen, was Attilios Liebe ihr gewähren konnte. Wenn sie erst beisammen hausten und sie unter seinem Schutze stand, dann würden die Leute sie schon mit Achtung behandeln, und wenn er gar in die kirchliche Trauung willigte, so war sie ja fast so gut wie seine rechtmäßige Frau. Was den Leuchter betrifft, so fand sich gewiß auch ein Rat. Sie wollte jetzt nur anstandshalber ein paar Tage warten und dann der Sonnambula mitteilen, daß sie ihren Vorschlag annehme.

Ehe sie aber zu diesem Gang Gelegenheit fand, siel ein Donnerschlag auf ihr Haupt.

Gusberti kam, die strahlende Miß Dolly am Arm, und machte Brautvisite. Olimpia war auch dabei und Pensa konnte aus dem Nebenzimmer, wo sie mit Jessie spielen mußte, die Freudenrufe und die schallenden Küsse hören, die zwischen den 149 Damen getauscht wurden, während die Posaunenstimme des Majors alles mit Gratulationen übertönte. Pensa fiel ohnmächtig auf den Teppich. Auf Jessies Geschrei kam die Pippa gelaufen und netzte des Mädchens Stirn mit Wasser.

Die schlaue Florentinerin war augenblicklich auf der Höhe ihrer Aufgabe. Sie erblickte äußerste Gefahr im Verzug, denn wenn Pensa den Gegenstand ihrer wahnsinnigen Träumereien sich entrissen sah, so wurde der Platz für Domenico frei. Da mußte ein Riegel vorgeschoben werden.

Sobald die Kleine zu Bett gebracht war, rannte Pensa, ohne zu fragen, noch am Abend nach dem Borgo Stella. Die Sonnambula erschrak, als das Mädchen ohne Tuch und Schleier wie eine Wahnsinnige zur Thüre hereinfiel. Aber sobald ihr die Nachricht an den Kopf geworfen war, erlangte sie auch ihre dreiste Stirn wieder.

»Das kommt von deinem langen Besinnen her,« sagte sie frech. »Glaubst du denn, so ein schöner, junger Mann werde ewig auf dich warten? Da hast du's jetzt; wer nicht zugreift, geht leer aus.«

Dann aber ließ sie sich durch Pensas Verzweiflung erweichen und gab ihr ein wenig blaues Pulver in einem Stückchen Papier. Wenn es gelang, dieses Pulver der Miß auf den Kopf oder auch nur über das Kleid zu streuen, so mußte der Bräutigam seine Braut verlassen und zu Pensa zurückkehren. Die Alte trieb ihre Menschenliebe so weit, für dieses Pulver keine Bezahlung zu verlangen.

150 Pensa hatte nicht viel Zeit zu verlieren, denn die beiden Namen standen schon am Municipium angeschlagen. Sie rannte ein paar Tage lang wie eine Besessene durch alle Straßen, die kleine Jessie immer mit sich schleppend, um Miß Dolly zu begegnen. Damit das Kind zufrieden war, kaufte sie ihm Leckereien, und das Geld dazu nahm die Unglückliche vom Schreibtisch ihrer Herrin, wo immer ein Häuflein Kupfermünzen lag. Jetzt, wo Tod und Leben auf dem Spiele stand, konnte sie nicht mehr ängstlich Recht und Unrecht wägen. Der erste Schritt war ja schon gethan, als sie den Leuchter versetzte. Da Miß Dolly nirgends zu finden war, streute sie in ihrer Angst einen Teil des Pulvers auf die Schwelle ihrer Hausthür; das war auch gut, aber nicht so wirksam, wie auf der Person selber.

Aber beim Nachhausekommen fand sie Miß Dolly in eigener Person bei ihrer Padrona im Vorzimmer stehend, wo sich die beiden Freundinnen voneinander verabschiedeten. Dolly war gekommen, die Signora zur Hochzeit einzuladen!

Schnell zog Pensa den Rest ihres Pulvers hervor und schüttete ihn der Miß auf das englische knapp sitzende Kleid. Dabei verfuhr sie so ungeschickt, daß Dolly sich verwundert umsah und fragte: »Was machst du da?«

Am selben Tag sagte die Pippa so nebenbei zu der Padrona:

»Fällt es Ihnen nicht auf, Signora Padrona, 151 wie sonderbar die Pensa in letzter Zeit geworden ist? Was hatte sie heute nur an der Tasche der Miß Thompson zu schaffen?«

Die Signora sah Pippa mit starren Augen an, wie sie zu thun pflegte, wenn sie den Sinn einer Rede nicht begriff, und drehte sich weg, ohne zu antworten.

Noch am selben Tag wollte sie Geld wechseln lassen und nahm mehrere Pfund in englischen Papierscheinen aus dem Schreibtisch. Aber ihre Schneiderin kam mit einem neuen Kleide dazwischen, das sogleich anprobiert werden mußte, deshalb ging sie eilig ins Nebenzimmer, ohne zuvor das Geld zu verschließen. Jetzt kam die Pippa, die alle ihre Bewegungen überwachte, auf den Zehenspitzen hereingeschlichen, nahm den obersten Schein fort und trug ihn auf ihre Kammer. Ihn verstecken war zu gefährlich, auch mochte sie vor sich selbst keine Diebin sein, daher verbrannte sie ihn.

Ein paar Minuten später bat sie ganz ruhig die Pensa, doch einmal einen Blick auf die kleine Standuhr zu werfen, die auf dem Schreibtisch der Padrona stand und für die einzig zuverlässige im Hause galt, denn sie selber dürfe nicht vom Herde weg, so lang sie die Ente am Spieß habe.

Als die Signora zurückkam und das Geld zu sich stecken wollte, bemerkte sie gleich, daß eine Fünfpfundnote fehlte. Sie rief der Kammerfrau, damit sie ihr suchen helfe. Die Pippa trat mit 152 dem Kochlöffel in der Hand unter die Küchenthür und sagte:

»Er wird wohl vom Tisch geflogen sein, als ich die Pensa hineinschickte, um auf die Uhr zu sehen.«

Natürlich war alles Suchen fruchtlos. Die Signora ging ins Kinderzimmer, wo Pensa mit völlig entgeistertem Gesicht neben Jessie am Boden kauerte, und fragte nach dem Schein. Pensa sah angstvoll aus allen Tiefen ihres Elends zu der Herrin auf, aber sie verstand nicht, was man von ihr wollte. Es stand jetzt anderes auf dem Spiel, als ein elender Papierschein, sie wußte ja nicht, ob das blaue Pulver wirken werde, da sie die Hälfte schon vorher weggeschüttet hatte.

Die Padrona wiederholte ihre Frage: »Hast du nicht einen Papierschein vom Schreibtisch wirbeln sehen, als du in mein Atelier tratst?«

»Ich war nicht in Ihrem Atelier, Signora,« sagte die Unglückliche, deren Kopf nicht mehr im Gleichgewicht war.

»Wie, du warst nicht in meinem Atelier?« rief die Signora entrüstet. »Ich sah dich doch selbst aus der Thüre gehen und die Pippa sagt, sie habe dich hineingeschickt.«

Pippa, die auf dem Gang horchte, verging beinahe vor Wonne. Das war ja sichtbar Gottes eigene Hand, der die Pensa verderben wollte, und sie kam sich selber schon fast von Schuld gereinigt vor.

153 Das Kind erinnerte sich jetzt wieder an seinen Gang und sagte unschuldig:

»Ach ja, ich sollte auf die Uhr sehen.«

Die Herrin wandte ihren harten durchdringenden Blick nicht von ihr ab. Heute zum erstenmal fiel ihr Pensas verändertes Aussehen auf und zugleich ging ihr Pippas Bemerkung wieder durch den Kopf: »Was hatte sie nur an der Tasche der Miß Thompson zu schaffen?«

Doch setzten diese Eindrücke sich nicht in einem deutlichen Verdacht fest. Pensas Treue und Einfalt waren ja in zu guter Erinnerung, auch ging es ihr nicht in den Kopf, daß eine Menschenkennerin ersten Ranges wie sie so gröblich sich getäuscht haben könnte.

Aber sie war in tiefster Seele erschüttert durch den Vorfall, weniger des Geldes wegen, dessen Verlust gleichwohl empfindlich war, als daß so etwas in ihrem Haushalt geschehen konnte, den sie bisher für ein Muster von Zucht und Ordnung angesehen hatte.

Sie versammelte alle Dienstboten in ihrem Atelier und redete ihnen scharf ins Gewissen. Sie hätte es nie für möglich gehalten, daß ein Dieb unter ihnen sei, und habe auch jetzt auf niemand einen bestimmten Verdacht. Aber die Thatsachen sprächen zu klar, das Geld sei verschwunden. Dieser Raub sei aber so dumm wie frech, denn das Wechseln des fremden Geldes müsse unausbleiblich den Dieb verraten. Der Schuldige könne daher gar nichts 154 besseres thun, als ein offenes Geständnis ablegen und den Raub zurückerstatten, worauf er straflos ausgehen würde. Bedenkzeit bis zum nächsten Morgen wurde gewährt; ließ der Schuldige diese ungenützt verstreichen, so hatte er die Folgen sich selbst zuzuschreiben.

Diese Rede hatte, wie begreiflich, keinen anderen Erfolg, als daß sämtliche Dienstboten eine schlaflose Nacht verbrachten, denn der Verdacht hing jetzt über jedem Haupt. Sämtliche – mit Ausnahme Pensas. Diese blieb ganz stumpf in der allgemeinen Aufregung und träumte von der Wirkung des blauen Pulvers und daß Attilio sie wieder in die Arme nehme; aber als sie sich an ihn schmiegen wollte, wich er zurück und immer weiter zurück, daß sie ihn nicht mehr erreichen konnte.

Die schüchterne Bemerkung Salvatores, ob sich die Padrona nicht vielleicht bei dem Geld verzählt habe, war von dieser fast empört zurückgewiesen worden, denn sie täuschte sich nie. Gleichwohl ließ es ihr keine Ruhe, sie verbrachte den halben Abend vor der Schublade ihres Schreibtisches zählend und rechnend, aber das Ergebnis blieb immer das gleiche. Von Durchsuchung ihrer Leute nahm sie als gänzlich aussichtslos Abstand. Sie wartete jetzt bestimmt darauf, daß der Schein ihr am andern Morgen stillschweigend in den Weg gelegt werde; natürlich wartete sie vergebens. Schon in den letzten Tagen hatte sie bemerkt, daß die Kupfermünzen, die sie in einem 155 Döschen auf dem Schreibtisch hielt, zu verschwinden pflegten, aber wegen der Geringfügigkeit der Summe hatte sie nicht nachgeforscht. Das war also nur ein Versuch gewesen, und das dicke Ende kam nach. Solcher Verdorbenheit gegenüber ziemte keine Schonung, und sie war entschlossen, unnachsichtlich gegen den Schuldigen vorzugehen, wer es auch sei.

Am Vormittag verlangte Pippa eine Unterredung. Sie kam mit ganz niedergeschlagener Miene und begann. Das Herz gehe ihr fast in Stücke, sagte sie, aber länger zu schweigen, wäre ein Verbrechen gegen die gute, edle Padrona, gegen ihre eigene Person und gegen alle andern, die unschuldig seien wie sie. Sie habe schon lange bemerkt, daß die Pensa stehle, ihr selbst sei früher verschiedene Male Geld abhanden gekommen, sie habe die Diebin fast auf der That ertappt, hätte ihr aber nichts beweisen können. Auch seien es ja nur Kleinigkeiten gewesen, und sie wollte ihr Zeit gönnen zur Reue. Auch in den letzten Tagen müsse sie wieder kleine Summen gestohlen haben, denn man wisse ja, daß sie kurz zuvor ganz auf dem Trockenen gewesen sei, und doch habe Salvatore mit angesehen, wie sie in der Stadt sich mit Leckereien vollstopfte.

Salvatore hatte nur gesehen, wie Pensa der Kleinen Chokolade gab; selbst hatte sie keine gegessen. Aber der Schuß war wohlgezielt, denn dafür kannte Pippa ihre Herrin, daß ihr nichts so 156 zuwider war wie das Naschen, und daß sie diese Sünde am schwersten vergab.

Sie stockte ein wenig, und ehe sie in ihrer Anklage fortfuhr, bat sie die Padrona, Pensas viele gute Eigenschaften und ihre große Jugend zu bedenken, sie sei ja fast noch ein Kind.

»Kind oder nicht!« antwortete die Padrona hart. »Verdorbene Kinder sind noch schlimmer, als lasterhafte Große. Kannst du beweisen, was du gesagt hast, so soll sie meine ganze Strenge fühlen.«

Es falle ihr schwer genug zu reden, antwortete die Pippa, aber da sie selber in Gefahr sei, dürfe sie nicht zögern. Wenn ihr die Padrona nicht glauben wolle, so möge sie sich auf den Monte di Pietà begeben und nach einem gewissen silbernen Leuchter fragen, der auf so rätselhafte Weise verschwunden sei. Dort könne sie den Leuchter finden und auch erfahren, wer ihn gebracht habe. Sie denke, wer den Leuchter genommen, der habe auch den Schein. Denn auf dem Weg gebe es keine Umkehr mehr, der führe Schritt für Schritt zur Verdammnis.

Bei diesen letzten Worten kehrte Pippa die Augen nach oben und stieß einen tiefen Seufzer aus. Die Padrona antwortete nicht und entließ sie mit Mißtrauen, denn Pensa war ihr bisher als ein Spiegel ehrlicher Einfalt erschienen, Pippa dagegen kannte sie als lügnerisch und selbstsüchtig. Dennoch waren unleugbar schon gestern die Zeichen 157 nicht günstig für Pensa gestanden. Frau Roselli beschloß vor allem einmal ihre Lade zu durchsuchen und entfernte das Mädchen unter einem Vorwand auf ein halbes Stündchen aus dem Hause. Pensa empfing den Auftrag zerstreut und schien sich an den gestrigen Vorfall nicht mehr zu erinnern. Wahrlich, wenn sie schuldig war, eine solche Gleichgiltigkeit erschien noch strafbarer als das Vergehen selbst.

Die kleine Lade in Pensas Kammer stand harmlos offen und enthielt nur ein wenig Weißzeug, ein paar verschossene Seidenbänder, eine Schnur unechter Korallen in einem Schächtelchen und andern wertlosen Jahrmarktstand. Frau Roselli wunderte sich über diese Dürftigkeit, denn sie hatte Pensa immer reichlich mit Geschenken bedacht, wo mochte das alles hingekommen sein? Sie konnte sich nicht verhehlen, daß das Mädchen Heimlichkeiten hatte. Uebrigens strömte die Lade ein starkes Parfüm aus, für das sie keine Erklärung wußte. Endlich fand sie in einem Winkel sorgfältig zusammengewickelt und versteckt ein buntes Seidentuch mit den verschlungenen Initialen »A« und »G«. Dieses Tüchlein, das sich durch seinen Duft verriet, war nicht Pensas Eigentum, so viel stand fest. Die Signora wußte sogar, wem es gehörte, denn der Doktor hatte es noch während Jessies Krankheit vermißt und danach gefragt, weil es ihm von der Schwester gestickt und ein liebes Andenken war. Die Visitenkarte Gusbertis, die gleichfalls in der Lade lag und der Richterin vielleicht die Augen 158 geöffnet hätte, kam unglückseligerweise nicht zum Vorschein, denn sie hatte sich zwischen ein paar Heiligenbildchen geschoben. Diese Entdeckung veränderte mit einem Male ihre Gesinnung gegen das Mädchen, und ihre Gedanken wurden zu lauter Spürhunden auf der Fährte der Verbrecherin.

Hatte Pensa dieses Tuch genommen, so konnte sie eben so gut noch manches andere gestohlen und zu Geld gemacht haben, wahrscheinlich war das Tuch nur zu wertlos für das Pfandhaus.

Auf der Stelle nahm sie eine Droschke und fuhr nach dem Monte di Pietà; von dort brachte sie den silbernen Leuchter und die Gewißheit von Pensas Schuld nach Hause.

Das Mädchen war unterdessen schon zurückgekommen und bügelte Jessies Spitzenkleidchen. Sie bemerkte nicht, daß um sie her geflüstert wurde und daß man ihr auswich, sie fühlte nichts, als die dumpfe, tödliche Angst, daß das Pulver wirkungslos bleibe, denn die Sonnambula, bei der sie in der Eile gewesen, hatte ihr gesagt, wenn nur die Hälfte davon auf das Kleid der Braut gekommen sei, so könne sie für nichts stehen.

Sie wurde gleich zu der Herrin gerufen, die ihr noch einmal mit richterlichem Ernst die Frage nach dem Schein vorlegte. Pensa beteuerte, sie wisse von nichts. Da fragte die Signora nach dem silbernen Leuchter. Das Mädchen wurde blaß wie eine Leiche, aber ihr Unstern trieb sie zu leugnen. Nun wickelte die Signora den Leuchter aus einem 159 Tuch und hielt ihn der Unglücklichen vor die Augen. Pensa senkte den Kopf, am ganzen Körper zitternd, und brachte kein Wort hervor.

»Hast du also den Leuchter genommen, ›Ja‹ oder ›Nein‹?« ging das Verhör fort.

»Ja,« sagte sie fast unhörbar.

»Und wozu brauchtest du das Geld?«

Pensa schwieg. Wenn sie von der Sonnambula und ihrem Treiben erzählt hätte, so wäre ihr vielleicht verziehen worden, aber sie fühlte, daß sie auch auf der Folter nicht den geliebten Namen über die Lippen gebracht hätte. Sie mußte sich ganz durchsuchen lassen, ihre Tasche umdrehen, selbst ihre kleine zerrissene Börse öffnen, aus der nichts herausfiel, als ein einziger Centesimo. Sie solle sagen, wo sie den Schein hingebracht habe, wer ihre Helfershelfer seien, die ihr das Gestohlene bargen. Pensa blieb bei der Beteuerung, sie habe den Schein nicht genommen.

»Hast du auch dieses Tüchlein nicht genommen?«

Diese Anklage erschien ihr noch als die schrecklichste von allen. Sie sollte aus niedriger Habsucht den bestohlen haben, der ihr das teuerste auf der Welt war! Sie brach in Thränen aus und schluchzte, sie habe das Tüchlein gefunden und es nur behalten, weil es so gut roch.

»Und den Schein hast du wohl auch gefunden?« fragte ihre Herrin mit eisigem Hohn. »Roch er wohl auch gut?«

»Nein, bei den Seelen meiner Lieben im 160 Fegefeuer! Bei den Schmerzen der Madonna! Nein!« schrie Pensa und griff an ihren Kopf, der mit ihr im Kreise ging.

Die Padrona sah schrecklich aus, ihre blauen Augen starrten. Der unerhörte Undank und die verstockte Schlechtigkeit dieses jungen Geschöpfes erschütterten sogar ihre Fassung. Die Lügnerin, die Diebin, die Komödiantin! Am wohlsten wäre ihr gewesen, wenn sie sie auf der Stelle hätte züchtigen dürfen, aber das verboten die Landesgesetze. So sollte sie wenigstens auch die Strenge dieser Gesetze fühlen!

Sie packte das Mädchen, das keinen Widerstand leistete und an allen Gliedern zitterte, so fest, daß sich ihre Nägel durch den Aermel ins Fleisch bohrten, schleppte und stieß sie in ihre Kammer, die sie hinter ihr abschloß. Da sollte sie bleiben bis die Carabinieri sie abholten auf die Quästur. Dort würde man ihr den Mund schon öffnen.

Ist ein Opfer gefallen, so erwacht das Tier im Menschen und verlangt vom Blute zu lecken; wenn ein Wesen moralisch getötet ist, fällt das Urteil der Anderen wie eine Hyäne darüber her und zerfleischt die Leiche. Jeder hat noch etwas gegen den Gerichteten beizubringen und man freut sich, daß sein Schicksal zwar hart, aber auch verdient ist. Hier kam noch der schwere Umstand hinzu, daß durch Pensas Fall alle Anderen gereinigt wurden und wieder frei aufatmen konnten. Ein jedes wollte jetzt ihre Verworfenheit von Anfang an 161 gewittert haben. Hatte man sich denn jemals ihr anschließen können? Ihre scheinheilige Miene war Allen zuwider gewesen; nicht umsonst hieß sie im Haus die »Santarellina«. Ja, jetzt war die Tugend und Heiligkeit am Tage.

Frau Roselli, die sich nicht leicht erzürnte, dann aber eiskalt und unerbittlich war, fühlte bei diesen Reden den Stein auf ihrer Brust immer kälter und schwerer werden. Sie wollte gar keine Schonung kennen und nur die Rückkehr ihres Gatten abwarten, um das Mädchen verhaften zu lassen. Jessie, die nach ihrer Pensa schrie, wurde von der Mutter erbarmungslos abgestraft und in einen dunklen Winkel gesperrt. Das Gift dieses Einflusses mußte ihrem Fleisch und Blut mit aller Strenge ausgetrieben werden, dann wollte sie eine englische Bonne ins Haus nehmen, die ihr Vertrauen verdiente.

Die Nachricht von dem schweren Fall der kleinen Scheinheiligen wurde in der ganzen Nachbarschaft herumgetragen. Domenico ward zuerst benachrichtigt.

»Denkt euch nur, einen ganzen Koffer voll gestohlener Wäsche,« sagte die Pippa. »Dutzende von seidenen Taschentüchern, der Leuchter, das Geld! Dafür kommt sie auch heute noch ins Gefängnis, Ihr könnt selber zusehen, wie man sie abführt.«

Domenico schlug beide Hände vors Gesicht und schluchzte wie ein Kind. »So jung und ein solches Schicksal!«

162 »So jung und so schlecht!« rief Pippa. »Ihr könnt Gott danken, daß er Euch vor der Schande bewahrt hat. Ich habe es immer gedacht, stille Wasser sind tief, aber ich mochte nichts sagen, weil ich Euch so versessen sah auf die Pensa. Jetzt thätet Ihr gut Euch zu besinnen, wo solche Eigenschaften zu suchen sind.«

Sie sah selbstzufrieden umher und fühlte sich auch innerlich sehr gehoben vom Gefühl ihrer Reinheit.

Pensa lag in ihrer Kammer, mit ausgestreckten Armen über die kleine hölzerne Lade hergeworfen, als wäre hier eine Freistatt. Sie war ganz zerbrochen vom Bewußtsein ihrer Schuld und der Unschuld, die sie nicht beweisen konnte. Wenn sie nur alles erzählen könnte, wie es von Anfang an gegangen, wie sie ihr Herz an den schönen Offizier gehängt hatte und von der Sonnambula betrogen worden war. Aber wie dieses Geständnis über die Lippen bringen! Und vor diesen kalten, blauen Augen, die nie etwas thörichtes geträumt hatten, – das war ganz unmöglich.

Die Drohung sie den Gerichten auszuliefern, war für Pensa dasselbe, wie etwa die Aussicht in einen Kessel mit siedendem Wasser geworfen zu werden. Schon der Gedanke, als Zeugin auf die Quästur zu müssen, hätte sie ja an allen Gliedern zittern gemacht! Und wenn er von dieser Schande erfuhr, ihr Abgott, der schon ohnehin für sie verloren war! Der in den nächsten Tagen eine andere 163 zum Altar führte, der sie nun nie wieder in seine Arme schloß! – Bei diesem Gedanken vergaß sie sogar das Schrecknis, das vor ihr stand, und die ganze Last ihres Jammers fiel mit einem Ruck auf jene andere Seite.

Der Major wollte von so äußersten Maßregeln, wie der Einmischung der Quästur, nichts wissen.

»Die Polizei ist keines Menschen Freund,« setzte er seiner Frau auseinander. »Lieber möchte ich einem Dieb noch Geld geben, nur damit er schweigt und mir keine Untersuchung zuzieht. Das gäbe endlose Vorladungen, und schließlich hätten wir noch die Prozeßkosten zu bezahlen, denn das Mädchen hat ja nichts und der Staat thut keinen Schritt umsonst. Von dem gestohlenen Geld bekommt man so wie so nichts mehr zu sehen.«

Diesen Standpunkt konnte seine Frau nicht begreifen, ihr war es gar nicht so sehr um ihr Geld, sie verlangte Gerechtigkeit ohne Ansehen der Person und der Zweckmäßigkeit, Gerechtigkeit im Abstrakten. Für solche Verbissenheit hatte nun seinerseits der Major kein Verständnis, und es gab einen kleinen Ehestreit, wo nordische und südliche Anschauungen hart aufeinanderfuhren, wo aber ausnahmsweise der Gatte Meister blieb. Er hatte seiner Frau klar gemacht, daß die Verhandlungen sie möglicherweise den ganzen Sommer in der Stadt festhalten könnten.

Als der Major die Kammer betrat, fand er Pensa noch immer mit dem Kopf auf ihrem Koffer 164 liegend, das lose Haar nach vorn gefallen und die Arme hilflos herabhängend. Sie glich einem Opfer, das auf den Streich des Henkers wartet. Die Sonne spielte auf ihrem Nacken, der aus dem verwaschenen Kattunjäckchen vortrat, und vergoldete die kleinen Löckchen. Als sie den Padrone erkannte, zog sie sich noch mehr in sich selbst zusammen, daß sie ein ganz kleines Häufchen ward, und hielt die Augen gesenkt. Er hieß sie aufstehen.

Der Major war gekommen, um das Mädchen durch gütliches Zureden zum Geständnis und so weit wie möglich zur Herausgabe des Geldes zu bewegen, dann wollte er sie ohne Aufsehen entfernen. Aber beim Anblick der schönen Sünderin vergaß er das Geld. Das war also die freche, kleine Person, die die gekränkte Tugend zu spielen wagte, wenn er sich nur einen unschuldigen Scherz erlaubte! Jetzt hatte sie sein Haus bestohlen und teilte offenbar den Raub mit einem Liebhaber. In seinen grobgeschnitzten Zügen spiegelte sich eine grausame Freude, sie so in seiner Gewalt zu sehen. Er hätte sie schütteln und schlagen oder in den Armen zusammenpressen mögen, so reizte ihn diese hilflos hingesunkene Gestalt.

Pensa hatte aus seiner Anrede die Hoffnung geschöpft, daß sie in ihm ein menschliches Herz finden werde, und lag vor ihm auf den Knieen. Sie wiederholte schluchzend und stammelnd die Beteuerung ihrer Unschuld. Den Leuchter habe sie freilich in großer Not aufs Pfandhaus getragen, 165 aber nur um ihn am ersten des Monats, wenn ihr der Lohn ausgezahlt würde, zurückzuholen. Wozu sie das Geld so nötig gehabt, wollte sie auch jetzt nicht sagen. Der Major überzeugte sich, daß der entwendete Schein nicht mehr in ihrem Besitz sein konnte, und daß ein Gefühl, stärker sogar als ihre Todesangst, sie abhalte den Mitschuldigen zu nennen. Sein Grimm wandelte sich in Eifersucht und entzündete das rasende Verlangen, dieses verlorene Geschöpf, das in seiner Sünde und seinem Jammer so unwiderstehlich war, an sich zu reißen.

Er redete ihr zu sich zu fassen und stellte sich, als glaube er an ihre Unschuld. Er wolle bei der Padrona einen Aufschub erwirken und inzwischen sehen, was er für sie thun könne. Er sei von jeher ihr Freund gewesen, sie habe niemand, der es gut mit ihr meine, niemand als ihn. Wenn andere sie in die Klemme gebracht hätten, er wolle sie wieder herausziehen. Er werde schon einen Ausweg finden, er thäte ja alles für sie. Die Padrona freilich bestehe darauf, ihren englischen Bankschein wieder zu bekommen und der Schein sei nun eben nicht mehr in Pensas Händen – er sei nie in Pensas Händen gewesen, nein, gewiß nicht. Aber es gebe noch andere englische Scheine, die dem entwendeten Schein so ähnlich sähen, wie ein Ei dem andern, denn die Nummer des Scheins habe die Padrona zu notieren versäumt. Er wolle keine Mühe sparen und einen ganz gleichen Schein finden, den solle seine kleine Freundin morgen früh der Padrona 166 geben, und eine Erklärung würde man schon zusammen ausdenken.

Ob sie denn eine Schuld eingestehen könne, die sie nicht begangen habe? wandte Pensa schüchtern ein.

Ja, da sei nun nichts zu machen, antwortete leichthin der Major. Das müsse sie als Buße für andere Sünden ansehen, die sie wohl begangen haben werde. Ob die kleine Pensa denn keine Sünde auf dem Gewissen habe?

Er fuhr ihr mit seiner breiten Hand über den Nacken am Kopf herauf, daß die spröden Haare unter seinen Fingern knisterten, und wollte sie um den Leib fassen, aber sie sträubte sich. Ihr Herz, das schon angefangen hatte aufzuschwellen, zog sich wieder ganz bang zusammen, und sie fiel von einem Schrecken in den anderen.

»Du bist ein Gänschen,« sagte der Major, indem er sie freigab, »aber du wirst schon noch einsehen, wer es gut mit dir meint. Ich gehe jetzt fort und ruhe nicht, bis ich einen Bankschein habe, der für den vermißten gelten kann. Niemand im Hause darf erfahren, daß wir einverstanden sind. Ich komme erst in der Nacht wieder, wenn alles still ist, und bringe dir den Schein. Dafür mußt du aber auch ein bißchen erkenntlich sein, denn kein anderer Padrone thäte, was ich für dich thun will.«

»Kein anderer ließe sich bestehlen und würde noch selber das Gestohlene ersetzen,« fügte er in 167 Gedanken hinzu, aber er sprach es nicht aus, da er Pensa auf diesem Punkt so empfindlich sah. Mit schweren Schritten ging er aus dem Zimmer und schloß wieder hinter sich ab.

Später wurde ihr durch Salvatore das Essen gebracht. Das wäre eigentlich Pippas Geschäft gewesen, aber diese scheute sich, das Zimmer Pensas zu betreten. Es kam ihr fast vor, als sollte sie der Leiche einer von ihr Gemordeten ins Gesicht sehen. Hätte man die Pensa gleich aus dem Haus geschafft, so wäre alles gut gewesen, und sie hätte nicht mehr an das Unglückskind zu denken gebraucht, aber sie noch immer in der Nähe zu wissen und ihr Stöhnen zu hören, das war unheimlich. Wenn sich der Padrone ihrer annahm, so hatte sie nichts dagegen und wollte mäuschenstill dazu sein. Sie wünschte ja keineswegs ihren Untergang, und daß sie nicht im Haus behalten würde, dafür bürgte die Entschlossenheit der Padrona.

Salvatore redete dem Mädchen gutmütig zu ein wenig Speise zu nehmen, aber sie wollte nichts als ein Glas Wasser. Er fragte, ob er sonst nichts für sie thun könne, sie schüttelte den Kopf. Dann schlich er auf den Zehenspitzen ganz nahe zu ihr heran und flüsterte durch beide Hände:

»Traue dem Padrone nicht, er meints nicht gut.« Pensa wußte selber, daß sie ihm nicht trauen durfte. Was blieb ihr noch übrig?

In ihren angstvollen Augen stieg ein letzter, schrecklicher Gedanke auf, noch ungewiß und 168 formlos, aber er setzte sich fest und nahm Gestalt an. Salvatore sah ihn nicht. Er sagte ihr, daß er von der Padrona den Befehl habe, Jessies Bettchen hinauszutragen, und erzählte, wie das Kind nicht aufhöre, nach Pensa zu verlangen. Jetzt machte sich des Mädchens Verzweiflung Luft, sie warf sich mit Schreien über die kleinen Kissen her und wollte das leichte Eisengestell nicht loslassen, bis der Bursch es ihr mit sanfter Gewalt aus den Armen wand. Also sollte sie nicht einmal das Kind wiedersehen, an dem sie hing, wie wenn es ihr eigenes wäre! Nun erschien sie sich erst ganz verstoßen und gerichtet.

Aber auch einen andern sollte sie nicht wiedersehen, von dem zu lassen noch schrecklicher war. War sie auch von der verfluchten Hexe betrogen worden, und gehörte er jetzt der Engländerin, ganz konnte er doch die arme, kleine Pensa nicht vergessen haben, die er einst so glühend in den Armen gehalten hatte. Ihr schwaches Hirn machte eine äußerste Anstrengung und suchte mit Sammlung nachzudenken.

Als Salvatore zurückkam, um auch das Waschgerät zu holen, fragte sie ihn, ob er die Adresse des Stabsarzts Gusberti kenne, und sie sprach diesmal den Namen ohne alles Zögern aus. Er bejahte und brachte ihr auf ihre Bitte heimlich Papier und Schreibzeug. Den Brief versprach er mit aller Bestimmtheit noch am Abend zu bestellen, sollte er auch heimlich weglaufen müssen und sich acht Tage Arrest zuziehen.

169 Pensa dachte jetzt gar nicht mehr an ihre schlechte Handschrift, sondern schrieb ohne Besinnen, wie ihr das Herz eingab, alle Worte aneinanderhängend:

»Herr Doktor, Sie haben mir einmal gesagt, ich solle Ihnen nicht mehr schreiben, und es geschieht auch nicht um Sie zu belästigen. Aber Sie haben auch gesagt, wenn ich in Not sei und Sie brauche, soll ich Sie rufen. Jetzt bin ich in großer fürchterlicher Not. Kommen Sie heute noch vor Mitternacht unter mein Fenster und pfeifen Sie leise. Dann erfahren Sie alles. Ich will fort und fort beten, daß Sie den Brief rechtzeitig erhalten. Wenn Sie nicht heute Nacht kommen, so können Sie mir nicht mehr helfen. Dann beschwöre ich Sie nur, nichts Schlechtes von mir zu glauben, denn es ist nicht wahr. Die Sonnambula war an allem schuld und weil ich Sie nicht vergessen konnte.

Ihre bis in den Tod getreue Pensa.

Verzeihen Sie auch das einfache Schreiben, ich hatte keine Zeit so schöne Sachen hinein zu setzen.«

Da sie schon im Zug war und noch ein Blättchen übrig hatte, schrieb sie auch an die Padrona:

»So wahr ich von Gott Verzeihung hoffe, ich weiß nichts von dem Schein. Es ist alles so, wie ich gesagt habe. Nur wegen des Leuchters bin ich schuldig und bitte, daß Sie mir vergeben und die Jessie nicht mehr schlagen, das Kind versteht ja nichts davon.«

170 Der Brief war abgegangen und allmälig wurde es still im Hause. Jessies Geschrei war verstummt, das Kind mußte eingeschlafen sein. Jetzt kam der Major nach Hause. Pensa hörte seinen Tritt vom Vorzimmer her und seine schallende Stimme, die ihr noch rauher vorkam als sonst. Nebenan gingen die Pippa und das Kammermädchen flüsternd zu Bett.

Die Stunden vergingen. Pensa betete angstvoll, daß Er doch kommen möge. Drunten auf dem Viale wurde es auch still und so oft noch ein später Fußgänger vorüber ging, flog sie ans Fenster. Es war gerade eine Nacht, wie an jenem Johannisfest. Der helle Himmel sah mit weißen Wölkchen und mit wenigen, durch den Mondschein getrübten Sternen ins Zimmer. Doch dafür hatte Pensa kein Auge, nur an dem Lindenduft erkannte sie, daß es wieder war wie dazumals. Sie wartete und wartete in einer Exaltation, die fast Freude war.

Jetzt schlich es über den Gang nach ihrer Kammer. Das war der Padrone. Der Schlüssel wurde gedreht, aber innen war noch ein Riegel, den hatte sie vorgeschoben. Er war zwar schwach, aber er genügte für ihre Sicherheit. Es klopfte, sie schlich an die Thüre.

»Oeffne, Pensa, ich bins,« hieß es leise.

»Ich weiß, aber ich öffne nicht.«

»Närrchen, ich habe ja den Schein. Mach doch auf.«

171 »Ich will den Schein nicht.«

So ging das Geflüster noch eine zeitlang hin und her. Der ungeduldige Mann rüttelte von außen an der Thüre, aber der Riegel blieb fest.

»Nun, so geh ins Verderben!« sagte er endlich im Zorn und entfernte sich.

Jetzt war alles entschieden, aber nun faßte sie auch eine furchtbare Angst. Wenn Attilio nicht erschiene, wenn er den Brief nicht erhalten hätte! Wenn sie sterben mußte, ohne den Trost seines Anblicks! Und hatte sie denn den Mut zu sterben? Wie würde sie aussehen, wenn der Morgen kam? Und die ewige Strafe, die auf dem Selbstmord steht!

Jetzt schlich es abermals auf dem Gang. Der Major kam zurück.

»Sei doch vernünftig, Pensa, ich mein' es ja gut mit dir.«

Die Versuchung begann aufs neue. Sollte sie öffnen, die Todsünde auf sich laden? Dann konnte sie sich retten, aber das Grauen vor dem Mann, der ihr Elend mißbrauchte, stieß sie zurück.

Sollte sie sterben und in die ewige Verdammnis fallen? Aber vielleicht ist Gott barmherziger als die Menschen – man nennt ihn ja den lieben Gott!

Da ertönte ein leiser Pfiff auf dem Viale. Gott sei Dank! Er ist gekommen. – Er! Sie hatte kein anderes Gefühl mehr, als hinunter zu ihm – in seinen Armen sterben!

172 Er war es wirklich. Er hatte den Brief noch spät zu Hause vorgefunden, als er von seiner Braut kam. Mit Mühe entzifferte er Handschrift und Orthographie. Was mochte nur das kleine Mädchen von ihm wollen? Wie lästig diese Störung! Aber der Brief klang so angstvoll. Gewiß, sie war in Not und bedurfte seiner. Sei es, was es sei, er mußte ihr helfen.

Es war nicht mehr weit vor Mitternacht, als er sich auf den Weg machte. Unter dem wohlbekannten Fenster pfiff er leise. Etwas Weißes wurde sichtbar, er hörte seinen Namen nennen.

Jetzt wuchs die Gestalt in die Höhe und erschien hoch oben auf dem Fensterbrett. Ein Schrei und ein Sausen durch die Luft, dann fiel ein schwerer Körper neben ihm zu Boden.

Er war in seinem Entsetzen zuerst zurückgesprungen. Jetzt eilte er hinzu und beugte sich über die Gefallene. Er richtete den armen, zerschmetterten Leib in seinen Armen empor, wie sie es gehofft hatte, und beim Schein eines Streichhölzchens erkannte er, daß das Leben schon erloschen war.

 


 


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