Hermann Kurz
Gesammelte kleinere Erzählungen – Vierter Teil
Hermann Kurz

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Der Pfarrer von Y...burg war unerachtet seiner in Essig eingemachten Stimmung immer noch Mensch, Vater und Lehrer genug, um den Sukzeß seines Sohnes mit einiger Genugtuung aufzunehmen. Über den Enderfolg des Examens machte er sich zwar nicht die mindeste Illusion, da er wohl wußte, daß Arithmetik und Geschichte nicht die Schlüssel waren, welche die Tür in das Reich Gottes öffneten. Aber er konnte ihm doch jetzt immerhin jenes Skaldenlied am Heldengrabe singen: »Ehrenvoll ist er gefallen!«

Eben darum aber erkannte er auch, daß seine eigene Position sich verändert hatte, und daß die Entschuldigung, mit der er sich von der Gesellschaft fernhalten konnte, nunmehr wieder weggefallen war. Er entschloß sich daher, in den sauersüßen Apfel zu beißen und seine Spitzbubenhölle mit dem Purgatorium eines Honoratiorenzirkels zu vertauschen. Dies sein eigener cynischer Ausdruck, für den wir begreiflicherweise nicht verantwortlich sind.

So gab er denn am Morgen des dritten und letzten Prüfungstages seinem Sohne den Auftrag, dessen Ausführung wir bereits kennen. Dann setzte er sich in dem grauen Kämmerlein mit den antediluvianischen Ockerspuren auf das wackelige, schneidend schmale Bettgestell, baumelte mit den Beinen, die er in dieser schwanken Stellung noch sehr künstlich an sich ziehen mußte, damit sie nicht auf dem Boden ausstanden, und studierte mit einer Attention, wie er sie niemals der Vorbereitung einer Predigt gewidmet hatte, auf sein Benehmen für den Abend. Er wollte so genießbar als möglich sein, freundlich, gemütlich sogar, aber dabei scharf genug, um jedermann auf der Zunge zu brennen, also sich ungefähr wie eine mit Zucker und Pfeffer behandelte Melone geben. War dieser Tanz auf dem Seil durchgemacht und das Kapital, das er für einen solchen Abend in Bereitschaft gesetzt hatte, aufgezehrt, dann gedachte er alsbald den Staub von den Füßen zu schütteln und die jedenfalls zwischen den Mühlsteinen des persönlichen Zusammentreffens hart bedrohte Freundschaft wieder auf dem Boden der Abstraktion und des schriftlichen Verfahrens in Sicherheit zu bringen.

Während aber der Vater diese Anstalten machte, schob der Sohn die Lage der Dinge aus dem zweiten Stadium völlig in das erste zurück. Von den Examinatoren anfangs wegen seiner Kriegslorbeeren nicht ohne alle Achtung behandelt, verscherzte er diese stündlich mehr und mehr. Nachdem er im Lateinischen und Griechischen Böcke geschossen hatte, welche wegen ihrer Unglaublichkeit nicht mitteilbar sind, stieß er im Hebräischen – denn auch hierin wurde in jenem ehernen Zeitalter schon ein Scherflein Leistung gefordert – dem Fasse vollends den Boden aus. Zum Lesen und Übersetzen einer Stelle aufgefordert, konnte er weder das eine noch das andere, mußte sich Buchstaben für Buchstaben, Wort für Wort vorsagen lassen und zeichnete sich, als es zur Sinnerklärung kam, durch eine, man möchte sagen, pharaonische Verstocktheit aus.

Die vorhergehenden Examinatoren hatten ihn nach und nach aufgegeben. Der Mann des Semitischen aber, ein sehr hartnäckiger Würmerbohrer, wollte ihn durchaus nicht loslassen, sondern setzte ihm erst mit grammatikalischen, dann mit religionsgeschichtlichen Fragen zu und wollte sich um jeden Preis rühmen können, eine Antwort aus ihm herausgefoltert zu haben. Der Vers enthielt unter anderem eine Anspielung auf die Erscheinung, die Moses im Busch gehabt. Da nun der Kandidat beharrlich schwieg, so sagte der Professor zuletzt verächtlich: »Dann werden Sie mir wenigstens sagen können, wer das ist, der dem großen Gesetzgeber im Busch erschien? – der Bewohner des Busches? – der da wohnete im Busch? – nun? – nun? – nun? es ist eine Kinderfrage – nun?«

Der Kandidat schwieg und machte eine Miene, worauf ziemlich leserlich die Antwort geschrieben stand, die er vorgestern nacht seinem Vater gegeben hatte. Der Professor aber hörte nicht auf, mit dem zum Marterwerkzeuge geschliffenen, kurzgestoßenen »Nun?« auf ihn hineinzudolchen, bis das eckige Gesicht in konvulsivischen Bewegungen, gleich denen eines Nußknackers, arbeitete.

»Der Wohner im Busche? – nun? – wer ist das – nun? – nun? – nun?«

»Der Has'!« fuhr Eduard endlich mit finsterer Entschlossenheit heraus.

Da erhob sich ein Gelächter, daß das Haus in seinen Grundfesten wankte. Ja, man will wissen, daß zu dem Neubau desselben, den die Oberschulbehörde nach Jahr und Tag anordnen mußte, an diesem Tage der erste Grund gelegt worden sei.

Der Professor ging mit großen Schritten im Saale auf und ab. Er bohrte den Kopf in die Krawatte. Dreimal setzte er an, um etwas Fulminantes zu sagen, aber dreimal blieb ihm die Stimme in der Kehle kleben. Zuletzt trat er mit einer raschen Wendung zu einem anderen Kandidaten und setzte die Prüfung fort, den Verworfenen keines Blickes weiter würdigend.

Eduard von Y...burg saß von nun an wie gezeichnet da. Auch seine Mitkandidaten, nachdem sie genug gelacht hatten, sahen ihn nur noch mit scheuen Augen an. Eine so titanische Unwissenheit mußte ihren Träger gleichsam von der übrigen Menschheit absondern. Er aber kümmerte sich nichts darum, vielmehr schien er froh zu sein, daß seine Ausgestoßenheit ihn allen ferneren Prüfungsqualen und Fragepeinigungen überhob.

Wilhelm von A... berg befand sich in peinlicher Verlegenheit. Wie sollte er sich nunmehr gegen seinen neuen Bekannten verhalten, nachdem dieser zum Paria herabgesunken war? Er kam auf den schlauen Einfall, das gestrige Benehmen desselben zu adoptieren. Begüngstigt durch den Platz, den er ziemlich nahe bei der Türe hatte, drückte er sich nach beendigter Prüfung so rasch als möglich, entkam hierdurch jeder Berührung mit der fatal gewordenen Persönlichkeit, flog eilends zu seinem Vater und erzählte ihm, welche entsetzliche Eule dem Sohne des Pfarrers von Y... burg aufgesessen sei.

»Nun kommt er heut abend zweimal nicht,« versetzte der Pfarrer von A... berg wehmütig.

Eduard aber hütete sich wohl, seinem Vater etwas von dem Abenteuer zu sagen, das er in dem brennenden Busche bestanden hatte. Daher, als der Pfarrer von A... berg mit seinem Sohne abends in den uns schon bekannten Garten kam, war das erste, was Wilhelmen in die Augen fiel, der Held des Tages, der mit großer Gemütsruhe an der Kugelbahn stand und den Wechselschicksalen der Neune zusah. Die ältere Ausgabe desselben dunklen Textes befand sich nicht weit davon und schaute mit jener eigentümlichen Art von Behagen, die bei manchen Menschen mit einem ingrimmigen Gesichtsausdruck vereinbar, ja von ihm unzertrennlich ist, in das Menschengewühl, das zwischen den Tischen im Garten hin und her wogte.

»Um's Himmels willen, Vater,« sagte Wilhelm ängstlich, indem er diesen am Handgelenke preßte, »da ist der Eduard von Y ... burg! Und das dort muß notwendig sein Vater sein!«

»Wahrhaftig, so ist's!« sagte der Pfarrer von A...berg. »Komm, wir wollen gleich auf sie lossteuern. Nimm du dich des Jungen an, der hier sehr verlassen sein wird.«

Wilhelm sah ihn fragend und bedenklich an.

»Tu's nur!« flüsterte sein Vater. »Ich werde es den Herren schon im rechten Lichte darstellen, damit es deinem guten Ruf nicht schaden kann.«

Nach diesen heimlich gewechselten Worten, während welcher beide scheinbar nach andern Seiten hingesehen hatten, eilte der Pfarrer von A...berg, so schnell ihn seine kurzen Beine tragen konnten, mit einem Ausruf der Freude und Überraschung auf den Pfarrer von Y...burg zu, der ihn seinerseits ebenfalls sogleich erkannte. Er öffnete die langen Arme, der Freund stürzte sich hinein, und – zu gleicher Zeit prallten beide, jedoch nur im Herzen, voreinander zurück!

Es ist gefährlich, eine Freundschaft auf dem Papier anzuknüpfen. Das Papier ist – wiewohl auch nicht immer – das Reich der schönen Formen, die Körperwelt ist – wenigstens sehr häufig – das Gegenteil davon. Wer hat nicht schon einen Schriftsteller aus seinen Werken liebgewonnen und sich die höchste persönliche Vorstellung von ihm gemacht? Es läßt ihm keine Ruhe, er muß sein Auge durch Anschauen der Persönlichkeit erquicken, er reist, er kommt und sieht – die Kehrseite der Stickerei! Es gibt, wo nicht Nationen und Völkerschaften, so doch Zeiten und Epochen in der Entwicklung derselben, wo die vollendete Form nur innerlich, äußerlich nur die vollendete Formlosigkeit oder gar die entschiedene Un- und Mißform zur Erscheinung kommt.

Der Pfarrer von A...berg war zu dick und besonders im Gesicht zu fettglänzend, um geistreich, der Pfarrer von Y...burg zu dürr und besonders im Gesicht zu gelbtrocken, um liebreich auszusehen. Der Pfarrer von A...berg dachte: »Aus diesen Zügen spricht kein Herz.« Der Pfarrer von Y...burg dachte: »In diesem Talge brennt kein Licht.« Eine meilenweite Abstoßung war an die Stelle der Anziehung getreten, welche die beiderseitigen Briefe ausgeübt hatten.

Beide verbargen jedoch ihre Empfindungen. Jeder am Halse des andern. Beide taten das möglichste, von Glück zu strahlen. Der Pfarrer von A...berg nahm den Freund an der Hand und führte ihn seiner Gesellschaft zu, welche mehrere Tische füllte. Da er bereits Abend für Abend die staunenswerte Geschichte der Genesis dieser Freundschaft erzählt hatte, so erkannte jedermann sofort den Pfarrer von Y...burg, der seinerseits das eigentümliche Lächeln, das er rings verbreitet sah, anfänglich auf Rechnung eben dieses Ereignisses schrieb. Er ließ sich daher ruhig nieder, die beiden Freunde tranken unverweilt Brüderschaft, und die Unterhaltung versprach in den besten Gang zu kommen.

Mittlerweile war Wilhelm dem Gebote seines Vaters nachgekommen. Da jedoch ein Stückchen Diplomat in ihm steckte, hatte er Eduarden eingeladen, sich mit ihm nach dem See zu begeben, wo sie der zahlreich im Garten anwesenden Jugend, die den Umgang eines der Krösusse des Landexamens mit dem Irus desselben auffallend finden mußte, ziemlich aus den Augen gerückt waren.

Der See war ein Ententeich an einer minder belebten Seite des Gartens. Er war stark mit wackelndem Geflügel bevölkert. Auch befand sich nicht weit davon das Hauptquartier der Landmacht, bestehend in einer großen Hühnerschar unter den Befehlen eines prächtigen schwarzen Hahns. Damals sah man noch nicht jene cochinchinesischen Podagristen, die zwar von den Eroberungen der abendländischen Zivilisation im fernsten Osten zeugen, dafür aber auch zugleich die sterbliche Ferse dieser Erfolge versinnbildlichen, indem sie, bei jedem Schritt in die Kniee zu sitzen genötigt, den schönsten Garten zu einer Invalidenanstalt machen. Damals herrschte noch in unsern Gärten und Höfen, frisch, fromm, fröhlich, frei, der deutsche Hahn in seinem Jünglings- oder Mannesbewußtsein, in seiner goldbraunen, seiner bläulichschwarzen Schönheit und mit jenem unergründlich dämonischen Zuge, der dem Herrn der Ratten und der Mäuse verwandt genug dünkte, um sich mit der Feder des wackern Jungen zu schmücken.

Ein altergrauer offener Pavillon am Gestade des Teichs nahm die beiden ungleichen Gäste auf. Wilhelm, den sein Vater mit paraten Mitteln versehen hatte, machte den Wirt, sorgte für Bier, für Wurst und trippelte geschäftig hin und wieder, um der Verlegenheit einer Gesprächsanknüpfung so lang als möglich auszuweichen. Nachdem es aber nichts mehr zu sorgen gab, sofern der Wurstvorrat, als der Vergangenheit angehörig, keinen weiteren Zuspruch motivierte, und die Flasche, die zweite an der Zahl, sich in eine zu freimütige Selbstbewegung gesetzt hatte, um wiederholte Nötigung zu rechtfertigen, da fühlte Wilhelm, daß es für einen Sohn aus gebildetem Hause an der Zeit sei, einen soliden Redeaustausch herbeizuführen.

Welchen Anlauf er jedoch nehmen mochte, immer lag der heutige Vorfall als Barrikade dazwischen. Bei jedem Worte fürchtete er, es könnte ihm als eine versteckte Anspielung ausgelegt werden, und faßte daher endlich den Entschluß, geradezu, jedoch mit einer abermals höchst diplomatischen Wendung, auf den Feind loszugehen.

»Aber hören Sie,« begann er, »Sie sind ein rechter Strick! Sie haben heut den Claviculus Salomonis« – so nannte man den hebräischen Professor – »teufelmäßig verhöhnt!«

Mochte er nun das Richtige getroffen haben, oder mochte es dem verunglückten Kandidaten schmeicheln, daß man seine Ignoranz für Bosheit hielt – Eduard erwiderte diese Anerkennung mit einem Blick der innigsten Freundschaft und stieß ein äußerst vergnügtes Gelächter aus. »Nun? – nun? – nun? –« rief er wiederholt, indem er mit großem Geschick die Stimme des Examinators nachahmte und dazu wie dieser den Kopf in den Hals hinunterbohrte, worüber Wilhelm vor Lachen platzen wollte.

»Wenn das Faß auf allen Seiten rinnt,« sagte Eduard, als sich beide müde gelacht hatten, »so muß man ihm lieber selbst den Boden ausstoßen.«

Er gestand nun seinem jungen Gönner, wie er sich glücklich fühle, dem geistlichen Elende für immer entgangen zu sein, und wie er absichtlich auf dieses Ziel hingearbeitet haben würde, wenn er nicht vorausgesehen hätte, daß die Sache sich ganz naturgemäß von selber machen werde.

Wilhelm fragte ihn, was er denn aber werden wolle?

»Am liebsten Has' im Busch!« erwiderte Eduard, seine eigene eckige Person dem Gelächter preisgebend, in welches alsbald beide von neuem einstimmten.

»Lepus timidus!« rief Wilhelm. »Das wäre doch ein ruhmloser Beruf, von dem man obendrein nicht einmal sagen könnte: bene qui latuit bene vixit

Eduard schämte sich nicht, um eine Übersetzung dieses Brockens zu bitten, »Und warum denn nicht?« fragte er dann, »Wenn ein gutes Versteck auch nur vor dem Examen schützt, so ist es schon mehr wert als eine Lebensversicherung.«

»Zugegeben,« sagte Wilhelm lachend. »Aber vor dem Schwitztag, da die Hunde das Examen halten, ist er eben im besten Versteck nicht sicher, weil sie ihn doch zuletzt kriegen, den dummen Kerl.«

Er hatte diese Bemerkung über den Hasen bloß gemacht, um etwas zu sagen, damit die Konversation nicht einschliefe. Unvermutet aber hatte er das rechte Register gezogen, bei dessen Klange Eduard ins Feuer geriet.

»Da sind Sie schief gewickelt!« rief dieser eifrig, »Es ist bei den Hasen wie bei den Menschen, es gibt dumme und gescheite. Ich hab' einmal einem Hasen zugesehen, dem die Hunde über eine Stunde lang vergebens zugesetzt hatten. Als es ihm entleidet war, trieb er einen andern Hasen auf, legte sich in dessen Lager und sah pomadig zu, wie die Hunde, ohne die Verwechslung zu merken, diesen seinen Einsteher jagten und am Ende faßten.«

»Das wäre!« rief Wilhelm.

Eduard, der sich jetzt ganz auf seinem Felde fühlte, fuhr fort, die erstaunlichsten Geschichten aus dem Tierleben zu erzählen. Nachdem er gar von einem Hasen berichtet, der dem verfolgenden Hunde endlich ins Gesicht gesprungen sei, so daß dieser vor Schrecken Reißaus genommen habe, ging er auf den Specht über und erzählte, wie dieser Baumhacker ihn einmal, da er denselben mit der Flinte gefehlt, unter einem wahrhaft höllischen Hohngeschrei von Baum zu Baum bis an den Ausgang des Waldes begleitet habe, ohne sich durch das mehrmals nach ihm gerichtete Gewehr aus der Fassung bringen zu lassen, weil er wohl gewußt, daß kein Schuß mehr im Laufe sei.

Dann erzählte er von den Raben, sie seien zwar sehr abgeführte Patrone, die auf sich zielen lassen, ohne sich zu rühren, bis sie den Finger am Drücker in Bewegung sehen; dann fliegen sie, eben noch im letzten Augenblick weg, den Schützen seinem Ärger überlassend. Nur zählen können sie nicht. Er belegte dies mit der Geschichte eines seiner Vertrauten, eines Wilderers, der den Raben in einem Versteck am Walde manchen Tag vergebens aufgelauert hatte. Sie hatten ihn mit dem Gewehr in seine Hütte gehen sehen und kamen nicht auf Schußweite heran. Zuletzt verfiel er darauf, einen andern, der gleichfalls ein Gewehr tragen mußte, in seine Hütte mitzunehmen und nach einiger Zeit wieder fortzuschicken. Nun glaubten die Raben, die den Mann mit der Flinte hatten fortgehen sehen, das Feld sei rein, und ließen sich seitdem nach Bequemlichkeit schießen, so oft dieser Kunstgriff angewendet wurde. Auch wurden sie nicht durch Schaden klug, daß sie hätten zwei zählen gelernt.

»Da wär's ihnen wohl schwer geworden, die Dauer des Dreißigjährigen Krieges anzugeben,« bemerkte Wilhelm verbindlich.

Eduard, nachdem er diese Höflichkeit mit einem dankbaren Lächeln erwidert, fuhr unermüdlich in seinen Geschichten fort. Er flunkerte zwar ein wenig. Er behauptete, er habe ein Eichhörnchen auf einem großen Schilfblatt über eine zum Überspringen zu breite Stelle eines Waldbaches schiffen sehen, wobei es seinen Schwanz als Segel aufgespannt, um den Wind zu fangen, und mit einem Fuße gerudert habe. Er erzählte ein wundervolles Beispiel von der Schlauheit eines Frosches, der, als eine Gans ihn habe fressen wollen, das Gegenteil von der bekannten Mechanik des Ulmer Spatzen angewendet habe. Dieser trug bekanntlich den Strohhalm im Schnabel den langen Weg durch das Tor, um den Bauleuten zu zeigen, wie sie es angreifen müssen, um den Balken hindurchzubringen. Der Frosch aber habe in seiner Gefahr und Todesnot geschwind ein Stecklein aufgerafft, dasselbe quer im Maul gehalten und so fest darauf gebissen, daß die Gans nicht imstande gewesen sei, ihren Verschlingungsversuch zu vollenden. Nun wissen jedoch die Naturforscher, daß die Gänse grundsätzlich keine Frösche fressen, folglich sie auch nicht zu Erfindungen in der Mechanik veranlassen. Die Überfahrt des Eichhörnchens sodann mochte wohl auch billig zu den vielen fabelhaften Seeabenteuern, woran die Geschichte der Schiffahrt so reich ist, gerechnet werden. Wilhelm jedoch war kein Naturkundiger und erfreute sich der Mitteilungen seines Freundes ohne alle Kritik.

Eduard erzählte, nicht eben was der Wald sich erzählt, aber doch, was im Walde vorgeht. Er kannte alle Kräuter, Halme, Sträucher, Stauden und Bäume, und letztere nicht bloß von der Wurzel bis zum Gipfel, sondern auch in ihren wohnlichen Beziehungen und Verhältnissen, sofern es nämlich keinen Baum gab, den er nicht erklettert hatte, um in die Vogelnester zu gucken. Von jedem Vogel wußte er zu sagen, wie viele und welcherlei Farbe Eier er lege, und wie er sein Nest baue, bis auf jenen Sonderling, der kein eigen Haus hat, sondern sich, auf fremde Unkosten jedoch und ohne Hauszins zu bezahlen, in der Miete behilft.

»Ist es denn wahr,« fragte Wilhelm hastig dazwischen, »daß dieser undankbare Kostgänger seine eigene Pflegemutter frißt?« – Diese Frage enthielt ungefähr alles, was er aus der Naturgeschichte wußte.

»In der Geschwindigkeit mag's ihm mitunter passieren, absichtlich tut er's nicht,« belehrte ihn Eduard. »Es gibt nichts Heißhungrigeres, als einen jungen Kuckuck, und wenn die Grasmücke, oder wer ihn just in Kost genommen hat, ihm beim Ätzen den Schnabel und Kopf etwas zu tief in seinen weiten Rachen steckt, so ist er wohl kapabel, aus Freßgier das mütterliche Haupt mitzuschlucken, aber, wie gesagt, nur im unüberlegten Eifer und Geschäfte halber an nichts denkend.«

Am ausführlichsten erzählte er von dem Staatsleben der Ameisen in Wald und Feld. Er beschrieb, mit welcher Aufopferung sie für die Zivilliste ihres königlichen Hauses sorgen, wie uneigennützig jeder einzelne für die Gesamtheit arbeite, wie tapfer jeder Soldat den Staat verteidige. Er konnte kaum aufhören, den industriellen Ehrgeiz dieser kleinen Arbeiter zu schildern, wie sie Lasten schleppen, die im Verhältnis zu ihrem Körper alles übertreffen, was der zweibeinige Lastträger sich auflade; wie sie sechsmal darunter zusammenbrechen und immer wieder von neuem angreifen, bis endlich andere dem erliegenden Arbeitsgenossen zu Hilfe kommen; wie der einzelne, wenn er kein eßbares Körnlein gefunden habe, wenigstens ein trockenes Blättchen oder ein Stückchen dürre Erde zum Boden der Speisekammer herbeischleppe, weil er sich schämen würde, mit leeren Händen heim zu kommen. Zu geschweigen von ihrem Witterungssinn, der sie lehre, ihren gemeinschaftlichen Vorrat, den sie bei gutem Wetter täglich zum Trocknen in die Sonne heraustragen, vor einem Regen stets so sicher ins Nest zurückzubringen, wie jene Reichsbürger ihre Spritzen immer acht Tage vor einer Feuersbrunst probierten, – hatte er einst einen Zug von Klugheit an ihnen belauscht, der seinen Zuhörer, unter Mitwirkung der dritten Flasche, bei welcher sie angelangt waren, bis zu Tränen rührte. Eine Ameisenrepublik war nämlich einmal auf den Einfall gekommen, ihr Korn zu monden, statt es zu sonnen. Als er sich nach der Ursache dieser seltsamen Maßregel umsah, entdeckte er, daß sich den Tag über Tauben in der Nähe aufhielten, welche den Körnerfrüchten gleichfalls nicht abhold sind. Er verjagte sie, und sobald die plagiarischen Vögel entfernt waren, brachten die Ameisen ihren Vorrat wieder bei Tage auf den Trockenplatz.

Dürfen wir uns hier nebenbei eine Bemerkung erlauben, so meinen wir die letztere Beobachtung um so mehr für anerkennenswert erklären zu sollen, da die Lehre, daß auch der Mond einen gelinden Grad von Wärme entwickle, damals in der Naturwissenschaft noch wenig vertreten war.

Dem sei indessen, wie ihm wolle – Wilhelms lateinische Seele, die ihre bisherige Knospenzeit über Büchern und Vokabeln verlebt hatte, sog die ungewohnten Naturtöne durstig ein. Der so günstig situierte Nutznießer dieser Seele ahnte heut zum erstenmal, daß ein voller Schulsack den Menschen nicht völlig ausfülle, auf die Dauer glücklich mache und vor allen Anfechtungen des Lebens bewahre. Es überkam ihn wie eine Erleuchtung, daß er neben diesem Auswürfling der werdenden gelehrten Welt nur etwas Halbes sei, daß, wenn er ihm allerdings auch mit einer schönen Dosis Grammatik auf die Beine helfen konnte, derselbe doch andererseits hinwiederum ihn selbst gar wesentlich ergänzen würde.

»Animae dimidium meae,« rief er in plötzlicher Begeisterung, »wir müssen notwendig smollieren!«

Nachdem Eduard sich diese Ausdrücke hatte verdolmetschen lassen, erklärte er, daß er dabei sei, und die beiden Söhne tranken in so kunstgerechten Formen Brüderschaft, wie die Väter sie vorhin getrunken hatten. Es gehörte zu Wilhelms humanistischer Bildung, die Formen des Smollismus und Fiducit los zu haben.

»Bruderherz,« begann er, nachdem die feierliche Pause auf diesen erhabenen Akt verstrichen war, »es ist doch teufelmäßig schade, daß du durchfallen wirst. »Sieh, wir beide, wenn wir in ein Individuum zusammengeschmolzen wären, oder wenn wir wenigstens miteinander unseren Lauf durch die Klöster machen könnten, wir wollten es mit der ganzen Welt aufnehmen. Was sagt Don Carlos? ›Arm in Arm mit dir, so fordr' ich mein Jahrhundert in die Schranken!‹«

»Ja, das ist nun nicht anders zu machen,« versetzte Eduard.

»Was hast du denn jetzt vor?« fragte Wilhelm.

Eduard blickte sinnend in das fallende Laub der Bäume. »An die tausend Ohrfeigen,« begann er nach einer Weile, »hab' ich von meinem Alten nach und nach eingenommen. Ich führe strenge Rechnung darüber. Wenn das Tausend vollends voll ist – weit ist's nicht mehr davon, und da er nach dem Ausgang des Examens nicht weiß, was er mit mir anfangen soll, so wird er's bald dahin gebracht haben – dann warte ich die tausend und erste nicht ab, sondern gehe zum Teufel.«

»Was? du wirst doch nicht per brennen wollen!« rief Wilhelm erschrocken.

»Was heißt das?« fragte Eduard.

»Nun, eben das, was du gesagt hast: durch die Latten gehen. Was wolltest du denn in der Welt anfange», allein und ohne Hilfe?«

»Das ist meine geringste Sorge. Ich freue mich schon darauf, dir einmal meine Abenteuer zu erzählen.«

Immer höher sah Wilhelm an diesem jungen Menschen empor, aus dessen Selbstvertrauen schon ein fertiger Mannescharakter sprechen zu wollen schien, neben welchem er selbst, in seiner festgesetzten, vorsorgenden, leitenden Laufbahn, sich fast wie das Kindlein in der Wiege vorkam. Es war ihm, dem Sohne des Glücks, als ob er in diesem seinem Widerspiel vielmehr eine Stütze und einen Stab gefunden hätte, den er nimmermehr von der Hand lassen sollte.

»Werden wir uns denn jemals wiedersehen?« fragte er wehmütig.

»Gewiß!« antwortete Eduard. »Wir wollen ein Losungswort verabreden, an dem wir einander wieder erkennen, wenn auch die Jahre uns noch so sehr verändert haben sollten. Wiewohl,« setzte er lachend hinzu, »meine Figur wird sich immer gleich bleiben, und ein Steckbrief, den man mir heut schriebe, würde noch nach zwanzig Jahren seine gute Wirkung tun.«

»Gib die Parole,« sagte Wilhelm.

»Gib du sie,« entgegnete Eduard. »Du weißt mehr als ich.«

Wilhelm dachte eine Weile nach. »Biribinker!« sagte er endlich.

»Was ist das für ein Tier?« fragte Eduard.

Wilhelm hatte kürzlich, zur Erholung zwischen seinen Vorbereitungen auf das Examen, den Don Sylvio von Rosalva gelesen, worin die Geschichte des Prinzen jenes Namens eingeflochten ist. Er erzählte sie, und die beiden Knaben lachten mit unbefangener Ausgelassenheit über die verfänglichen, mutwilligen Einfälle, welche die ›zierliche Jungfrau von Weimar‹ in jenem Feenmärchen zum besten gibt.

»Gut!« rief Eduard. »Biribinker soll unsere Losung sein.«

Sie stießen darauf an und versicherten einander unter begeisterten Schwüren eines ewigen, unauslöschlichen Andenkens.

Dann begaben sie sich in die an den Garten stoßenden Wirtschaftszimmer, in die sich die Gesellschaft bei der zunehmenden Kühle des Abends schon längst zurückgezogen hatte. Die übrige Jugend war nach Hause oder in ihre Gastquartiere entlassen worden. Die beiden Knaben setzten sich hinter den Ofen, um im Trocknen mit anzuhören, was von den Erwachsenen inter pocula gesprochen wurde, und des Aufbruchs ihrer Väter zu harren.

Hier hatte sich der anfangs heitere Horizont nach und nach getrübt.

Dem Pfarrer von Y...burg war das stehende Lächeln, das ihm die Gesellschaft entgegenhielt, allmählich mehr und mehr aufgefallen, und das um so unangenehmer, als es, bei einzelnen Mitgliedern wenigstens, mit einem stillen Mitleid tingiert erschien. Er fragte seinen Freund von A...berg mit großer Schärfe in Blick und Ton, was das sonderbare Benehmen der Leute bedeuten solle.

Dieser befand sich in peinlicher Verlegenheit. Er wußte nicht, ob Eduard seinem Vater gestanden hatte, was ihm im heutigen Examen begegnet war; indessen hatte er allen Grund zu glauben, daß dies nicht geschehen sei, denn wie hätte der Pfarrer von Y...burg sonst so ruhig und selbstbewußt auftreten können? Daß aber die Geschichte mit dem brennenden Busch bereits zum Stadtgespräche geworden war, daß sämtliche Anwesende darum wußten – ihm das zu sagen, war vollends die reine Unmöglichkeit.

Er gab daher vor, es sei hierorts eben einmal die Art, dem Fremden ein solches Gesicht zu machen; dasselbe bedeute eine gewisse Leutseligkeit, mit großstädtischem Selbstgefühl gepaart, jedoch nicht ganz ohne Verlegenheit, eine Mischung also, für die es keinen anderen Ausdruck gebe, als diese stehende Form.

Der Pfarrer von Y...burg brummte dagegen, diese Form komme ihm ziemlich blödsinnig vor. Er sagte es zwar nur halblaut, aber doch mit so viel Nachdruck, daß seine Worte reichlich in ein halbes Dutzend Ohren fielen. Das Lächeln nahm alsbald von mehreren Seiten einen spitzeren Charakter an, wodurch seine Gereiztheit nur noch stieg. Er glaubte dem Freunde nicht, sondern fühlte sich als das Stichblatt einer stillen Geringschätzung, die nach seinem Dafürhalten wohl nur daher kommen konnte, daß er vom Lande, unbekannt und nicht in den besten Umständen war.

In seinem menschenfeindlichen Herzen begann die Rache zu kochen.

Er hatte in den paar Tagen seines Hierseins von seiner Wirtin, die er häufig vor der Türe seiner Spelunke mit Nachbarinnen und Mägden schwatzen hörte, unwillkürlich einen stattlichen Vorrat Beiträge zur Skandalchronik der Stadt und des Landes aufgeladen. Von diesen machte er jetzt zu seiner Genugtuung Gebrauch, indem er bei der ersten Gelegenheit ein Kreuzfeuer von Streifschüssen, Anspielungen und Hühneraugentritten eröffnete, welche um so furchtbarer wirkten, als ein Mann, der in seiner Einsiedelei so vieles aus der Welt erfahren zu haben schien, für noch weit allwissender gehalten werden mußte, als er in Wirklichkeit war.

Es dauerte denn auch nur kurze Zeit, so war der dunkelgesichtige Pfarrer von Y... burg der gefürchtetste Gast am Tische; denn wer auch für sich selbst keine Hühneraugen hat, der ist doch häufig mit näheren oder ferneren Angehörigen begabt, so welche haben. Die spöttischen Mienen verschwanden, aber dafür tauchten Blicke des Hasses auf, die den armen Pfarrer von A ...berg auf glühende Kohlen setzten und jeden Augenblick eine gefährliche Katastrophe besorgen ließen.

Da stürzten zu seiner großen Erleichterung ein paar Nachzügler mit einer politischen Neuigkeit in die Versammlung. »Wißt ihr's noch nicht?« liefen sie. »Soeben ist die Nachricht beim österreichischen Gesandten angekommen. Der Miaulis hat den Kapudan Pascha wieder einmal in die Luft geblasen, zum zweitenmal in einem Jahr!«

Die ganze Gesellschaft sprang auf.

»Hurra!«

»Ein Teufelskerl, der Miaulis!«

»Kapudan hoch!«

»Ei, ei!« bemerkte ein bedächtiger alter Kanzleibeamter, »wenn der jetzt zweimal aufgefahren ist, so wird er wohl das Fliegen besser gelernt haben als der Schneider von Ulm.«

Alles lachte, und man belehrte ihn, sich in die Luft sprengen zu lassen, sei eine Verrichtung, die den ganzen Mann in Anspruch nehme, oder, wie ein Buchhändler hinzufügte, bei einer Auflage von fraglichem Feuerwerk werde jeweils auch eine Auflage von Kapudan Pascha verbraucht.

»Also da capo!« rief der Kanzleirat.

»Vivat sequens!« rief ein junger Vikar, der frisch von der Universität herkam.

»Und mögen alle die Pumphosen bis zum Großtürken hinauf hinter ihm drein fahren!«

»Und der Metternich –« Ein junger Aktuarius hatte diesen Ausruf begonnen, konnte ihn aber nicht vollenden, denn ein vorsichtiger Finanzbeamter schnitt die Fortsetzung ab mit der Frage: »Was macht denn der Alexander Ypsilanti?« Und als ihm geantwortet wurde, der sitze immer noch, wandte er sich an einen pensionierten Steuerbeamten, der sich nebenher mit Poesie beschäftigte, und forderte ihn auf, diesem Patrioten ein Musenopfer zu bringen.

»In meiner nächsten Muselstunde soll's geschehen!« beteuerte der Aufgeforderte mit geschmeicheltem Lächeln.

Eine Bewegung unterdrückter Heiterkeit lief über den Tisch. Um dieselbe unmerkbarer zu machen, rief einer: »Es ist doch schändlich von den Österreichern, den griechischen Helden so mir nichts, dir nichts einzustecken!«

»An England wär's, ihnen das zu verbieten!« rief ein anderer. »England soll seine Schuldigkeit tun!«

»Nein, Rußland!« rief ein dritter. »Der Kaiser von Rußland ist ja der Griechen nächster Glaubensgenosse.«

Über diesen Artikel erhob sich eine lebhafte Diskussion welche, da jeder nur auf sich selbst hörte, zu keinem Resultate zu führen versprach, bis der Pfarrer von Y... burg eine augenblickliche Pause des Atemholens benützte, um tückisch zu bemerken: »Ehe wir beraten, welche von diesen beiden auswärtigen Mächten wir dazu anhalten sollen, ihre Pflicht zu tun, möchte es vielleicht geratener sein, vorher anzufragen, welche von beiden am geneigtesten sei, unserem Ansinnen nachzukommen.«

Diese Äußerung machte, wie begreiflich, einen unangenehmen Eindruck, und sämtliche Debattanten wollten sich gegen den gemeinsamen Widersacher vereinigen, als der Pfarrer von A...berg mit hochgehobenem Glase dazwischensprang, um die Traufe von dem Herausforderer des Schicksals abzulenken. »Die edlen Griechen sollen leben!« rief er mit dem ganzen Aufwand seiner etwas öligen Stimme, »Der Miaulis und seine Heldentat! Hoch, und abermals hoch, und zum drittenmal hoch!«

Mit begeistertem Zuruf und Gläserklang stimmte alles in seinen Toast. Als er aber mit dem Glase an den Pfarrer von Y ... burg kam, zog dieser das seinige zurück, blieb sitzen und schüttelte spöttisch, lachend den Kopf.

»Was?« rief der Pfarrer von A... berg bestürzt: »Du willst nicht auf die Griechen anstoßen?«

Ein Gemurmel der Entrüstung erhob sich in der Gesellschaft.

»Sie halten's also mit den Türken?« fragte einer geringschätzig.

»Ich bin kein Politiker,« antwortete der Pfarrer von Y...burg. »Was geht der Türk' mich an –«

»Das ist aus dem Wallenstein!« bemerkte ein Referendarius halblaut dazwischen, und einige lachten.

»Aber muß ich deshalb die Partei der Griechen nehmen?« fuhr der Pfarrer von Y...burg fort. »Der Deutsche freilich hält's mit jedem Volk, das für ihn die Kastanien aus dem Feuer holt und eine Revolution macht. Warum immer nur andere vorschieben?«

»Wollen Sie damit sagen, der Deutsche solle selbst eine Revolution machen?« fragte ein Justizbeamter mit strengem Ton, indem er ihn mißtrauisch ansah.

»Nein,« entgegnete der Pfarrer von Y...burg, »ich glaube, er hat kein Genie dazu.«

»Seien Sie außer Sorgen!« rief ein anderer. »Der Herr Pfarrer erlaubt ja nicht einmal den Griechen gegen die Türken aufzustehen.«

»Gegen die Bluthunde!« rief alles zusammen.

»Volkskriege,« bemerkte der Pfarrer von Y...burg, »werden nicht mit Samthandschuhen geführt, auf einer Seite so wenig wie auf der andern.«

»Aber auf der einen Seite sind's doch Christen!« rief man ihm zu.

Er blickte seine anwesenden Kollegen skeptisch an. »Ich weiß nicht, wie weit wir diese Schismatiker als Christen anerkennen dürfen,« warf er hin. »Übrigens,« setzte er gegen die weltlichen Mitglieder der Gesellschaft hinzu, »verbietet das Christentum alle und jede Revolution und gebietet noch obendrein, auch die Nichtchristen als Menschen gelten zu lassen.«

»Die wackern Perser, ja! Es leben die Perser!«

»Weil sie diesmal die Türken angegriffen haben,« erwiderte er. »Ein andermal geht's vielleicht umgekehrt, dann lassen wir die edeln Türken gegen die Hunde von Persern oder dergleichen hoch leben.«

Die Wendung, die das Gespräch nahm, wurde immer verdrießlicher. Ein allgemeiner Sturm stand bevor. Der Pfarrer von A...berg fühlte sich daher von der menschenfreundlichen Absicht beseelt, sich selbst seinem Freunde als Hauptopponent gegenüber zu stellen und auf diese Weise den Streit womöglich in ein friedlicheres Fahrwasser einzuleiten.

»Aber warum willst du denn nicht wenigstens auf den Miaulis mit mir anstoßen?« fragte er wehmütig. »Du wirst doch anerkennen müssen, daß es eine hohe und edle Tat von ihm war.«

»Ich kenne den Mann nicht persönlich,« antwortete der Unverbesserliche mit einer Trockenheit, die jedes edlere Gemüt zur Verzweiflung bringen mußte. »Kann also den inneren Wert seiner allerdings heroischen Mordbrennerei nicht beurteilen.«

»Mordbrennerei!« rief alles mit einem Schrei der Empörung.

»An und für sich ist's nichts anderes,« behauptete er. »Und obendrein am Admiral seines bis jetzt rechtmäßigen Fürsten begangen! Freilich pflegt man das Mittel nach dem Zweck zu beurteilen, und wieder den Zweck nach dem Mittel, je nachdem es gerade bequem ist.«

»Das ist kasuistisch gesprochen!« bemerkte der Justizbeamte, der vorhin auf Miaulis mit angestoßen hatte und nun von der Ahnung eines logischen Witterungsumschlags beunruhigt sein mochte.

»Die Kasuistik ist nicht in mir, sie ist in den Köpfen der Leute,« entgegnete der Pfarrer von Y...burg. »Wo die Revolution für geheiligt gilt, da wird der Krieg als gerecht, die Brandstiftung als erlaubt, der Meuchelmord als gottgefällig angesehen: wo nicht, da verschreit man die unschuldigste Requisition als gemeinen Raub und Diebstahl. Was dem einen recht ist, muß dem andern billig sein. Haben wir da anerkannt, daß eine revolutionäre Tat mit Recht begangen worden sei, so müssen wir dort auf's allermindeste zugeben, daß sie wenigstens in gutem Glauben begangen worden ist, denn die Entscheidung über das wahre Recht steht uns nicht zu. Wohin führt aber das? Dürfen wir bei solchen Grundsätzen« – fügte er mit erhobener Stimme hinzu – »wenn zum Beispiel ein solcher Patriot, zufällig kein griechischer, dem Feinde seines Volkes, oder wen er just dafür hält, den Dolch bona fide für Freiheit und Vaterland in die Brust stößt, dürfen wir ihn in den Köpfstuhl des ordinären Mörders setzen?«

Er hatte die letzten Worte gegen den Justizmann gerichtet, dem er ohnehin seine Interpellation von vorhin nachtrug, und blickte nun triumphierend um sich her.

Diese ebenso behutsame als malitiöse Nutzanwendung brachte ein peinliches Stillschweigen hervor. Der Schatten einer verhängnisvollen Tat, die eben in der frischesten Wirkung stand, schwebte drückend über der Gesellschaft, und keiner konnte etwas sagen, ohne sich nach der einen oder andern Seite hin zu kompromittieren. Allein gerade das hatte der Menschenfeind beabsichtigt. Ein gesinnungsloser Widersacher der edlen Griechenbegeisterung – sei es nun aus Zerwürfnis mit den klassischen Studien, sei es, weil diese Begeisterung denen, die sie ausübten, nicht so gefährlich war, wie seine Mißgunst wünschen mochte, sei es aus purer Bosheit überhaupt – hatte er künstlich, ja man darf wohl sagen gewaltsam, auf die Frage vom politischen Meuchelmorde zu laviert, nur um die Gesellschaft durch schadenfrohe Konsequenzenzieherei in Verlegenheit zu bringen.

Der Pfarrer von A...berg fühlte, daß der Moment den Versuch einer abermaligen Diversion gebiete. »Du bist vielleicht doch etwas zu streng gegen den Meuchelmord,« hob er sanftmütig an. »Nach deiner Theorie müßte auch die Tat des Tell verdammt werden, und doch stellt man sie auf dem Theater dar.«

»Zu meinem Glück habe ich mit der Theaterzensur nichts zu schaffen,« erwiderte der Pfarrer von Y...burg, »und kann nur so viel sagen, daß mich Tell durch seine Disputation mit Parricida nicht völlig über die moralische Berechtigung seines Geßlerschusses aufgeklärt hat.«

Die Gesellschaft atmete leichter und ging auf eine lebhafte Erörterung des neuen Themas ein, wobei sich die meisten Stimmen dahin vereinigten, daß allerdings zwischen diesen beiden Mordtaten ein meilenweiter Unterschied stattfinde, indem ja Geßler nicht Tells Vetter gewesen sei, und daß letzterer also von jedem Vorwurfe freigesprochen werden müsse.

Der Pfarrer von Y...burg lachte hämisch vor sich hin, was jedoch im Geräusche der allgemeinen Diskussion überhört wurde. Überhaupt schien die Unterhaltung jetzt zu einem leidenschaftsloseren Gange zurückkehren zu wollen, als der Pfarrer von A...berg in seinem unseligen pazifikatorischen Eifer das eben erlöschende Feuer von neuem anschürte, um sich schließlich selbst die Finger daran zu verbrennen.

Er hatte sich noch ein zweites historisches Beispiel in den Kopf gesetzt, durch dessen Aufstellung er die Kontroverse vollends recht weit von der Gegenwart und ihren epinösen Fragen hinwegführen zu können hoffte. »Und,« fuhr er daher fort, sobald eine Pause ihm wieder zu reden gestattete, »einen Harmodios, einen Aristogiton, deren Preis wir schon in der Schule fangen, willst du auch sie als Meuchelmörder brandmarken?«

»Daß man in unsern Schulen den Meuchelmord predigt, hat in der Tat etwas Komisches,« bemerkte der Pfarrer von Y...burg mit sardonischem Lachen. »Indessen bin ich auch hier weder Angreifer noch Verteidiger, sondern bleibe auf dem Standpunkt, den ich von Anfang eingehalten habe. Die Sache selbst ist mir gleichgültig, ich frage einfach bloß nach der Konsequenz. Bekanntlich war Hipparch – auch Hippias bis zu jenem Unglückstage seines Hauses – ein so liberaler, ja ein liberalerer Fürst, als irgend ein heutiger. Wenn man nun irgendwo in der Welt, um die Republik einzuführen, einen liberalen Fürsten via Meuchelmord aus dem Wege räumen durfte oder darf–«

»Halt!« rief der Pfarrer von A...berg, »das waren ganz andere Verhältnisse!«

»Nein, nein!« unterbrach ihn der konservative Jurist, der sich selbst vielleicht in dem entfernten Verdacht haben mochte, vor Zeiten einmal für jene beiden athenischen Meuchelmörder und Märtyrer geschwärmt zu haben, und der die Gelegenheit zu einer gründlichen Disziplinierung seiner eigenen Ansichten ergreifen wollte. »Nein, gewiß wäre Athen unter den Pisistratiden viel glücklicher gewesen als unter der Republik, die mit der Zeit einen Gerber Kleon und derlei Halunken gebar.«

Nun war es, als ob an einem Wehr die Floßgasse geöffnet wäre und die Fluten donnernd übereinander stürzten, so heftig brach in der Gesellschaft der Streit über die zujüngst aufgeworfene Frage aus. Da jedoch die meisten künftige konstitutionelle Monarchisten waren, so ereignete sich der sonderbare Umstand, daß Harmodios und Aristogiton, die armen Jungen, einst die Sterne der Jugend, jetzt aus politischen Rücksichten per majora, verurteilt wurden. Die Minderzahl, vielleicht aus embryonischen Ultras bestehend, gab sich alle Mühe, sie zu retten, und bot daher die ganze Kraft der Stimmen auf; allein dieses Vorbild wurde sogleich von der Mehrheit nachgeahmt, und so war bald vor lauter Hören gar nichts mehr zu vernehmen. Damals ruhte noch im Schöße der Zukunft die Wirksamkeit jenes berühmten rheinischen Kammerpräsidenten, der mit dem durchschlagenden Worte, das er in die Stürme der parlamentarischen Debatte schleuderte: »Meine Herren, es kann nur einer zugleich sprechen!« bekanntlich seither allem und jedem Geschrei in Süddeutschland ein Ende gemacht hat.

Mitten in diesem allgemeinen Chaos und wilden. Durcheinanderwogen der Elemente ereignete sich jedoch auf einmal ein höchst unerwartetes, wahrhaft seltsames Schauspiel. Die beiden Pfarrer von A... berg und Y... burg hatten sich während der allgemeinen Schlacht in einen Einzelkampf miteinander verwickelt, wobei auf selten des letzteren neben dem Mißbehagen über die heutige Umgebung und ihren Lärm das schon von Hause mitgebrachte fatale Temperament, auf seiten des ersteren aber das Gefühl, daß durch eine so verbissene Opposition gegen alle hellenische Herrlichkeit alter und neuer Zeiten jegliches Maß des Unbilligen überschritten sei, sowie bei beiden der nicht ganz überwundene antipathische Eindruck des ersten Anblicks, gleichmäßig mitgewirkt haben mag.

Was eigentlich Gang und Wendung ihres in dem allgemeinen Geräusche unhörbar gebliebenen Streites gewesen, ist niemals enträtselt worden, da der Pfarrer von A...berg es nachher selbst nicht mehr wußte und der Pfarrer von Y...burg, vielleicht aus dem gleichen Grunde, ein tiefes Stillschweigen darüber beobachtete. Gewiß ist, daß beide in ziemlicher Verwirrung und so zu sagen Auflösung aus dem Kampfe hervorgingen, gewiß aber auch, daß derselbe mit großer Erbitterung geführt worden sein mußte. So bezeugte später ein wohlwollender Rechnungsbeamter, der ihnen vergebens zugesprochen hatte, weder um der neuen noch alten Griechen willen Händel anzufangen, sondern sich als gute gemütliche Deutsche miteinander zu vertragen. Ein Protokoll ihres Wortwechsels konnte aber auch er nicht eröffnen; es war im Bier untergegangen.

Als die Gesellschaft endlich Auge und Ohr dem überraschenden Zwischenfall zuwendete, nahm sie nur noch das letzte traurige Stadium und den beklagenswerten Ausgang des Kampfes wahr. Der Pfarrer von A.,.berg war fast blaurot vor Aufregung geworden, und seine Haare schienen nicht abgeneigt, sich zu sträuben. Der Pfarrer von Y...burg sah kälter aus, aber in seinen Augen brannte ein giftiges Feuer, daher das Schlagwort, das man jetzt leider aus dem sonst freundlichsten, leutseligsten Menschenmunde explodieren hörte, gleichwohl nicht ganz unbegründet war.

»Giftmichel!« schrie ihn nämlich der Pfarrer von A...berg an. »Strohkopf!« gab der Pfarrer von Y...burg zurück.

Der Pfarrer von A...berg holte Atem. »Metternichianer!« donnerte er dann.

»Meuchelmörder!« warf ihm der Pfarrer von Y...burg ins Gesicht.

Erstarrt über diese Donnerschläge aus blauem Himmel, saß die Gesellschaft sprachlos da.

Der Pfarrer von A...berg, gleichfalls sprachlos über eine so ganz unerträgliche, mit geistlichen Waffen nicht abzuwehrende Beschuldigung, machte, obwohl nur sehr von weitem, eine etwas kriegerische Bewegung nach einer leeren Flasche, wurde jedoch von seinem Nachbar gehalten, welchen Freundschaftsdienst er ihm mit einem stummen, aber innigen Dankesblick vergalt. Hieran konnte jeder Billigdenkende ermessen, daß der sanfte Mann, selbst in der höchsten und gerechtesten Wut, mehr nicht als eine bloße Demonstration beabsichtigt hatte.

Allein der Pfarrer von Y...burg nahm Glas und Flasche, um von ihm auszuwandern. »Ich will weder auf moderne, noch auf antike Art gemeuchelmordet werden,« sagte er hämisch und setzte sich mit eisiger Ruhe an eine andere Seite des Tisches.

Die beiden Knaben hinter dem Ofen drückten einander die Hände, zum Zeichen, daß sie keinen Teil haben wollten an dem blutigen Haß der Häuser Friedland, Piccolomini.

Die Gesellschaft war in stumme Bestürzung versunken. Sie blickte teilnehmend auf den Pfarrer von A...berg. Seine Wut legte sich, und stille Trauer trat an ihre Stelle. Die Tränen rollten ihm in das Bier. Seine Wehmut wurde laut und lauter. Er stieß mit den Freunden an, die ihm übrig geblieben waren, umarmte und küßte sie, tief gerührt, rief, es gebe doch trotz alledem und alledem immer noch gute Menschen in der Welt, und schluchzte unendlich über diese tröstliche Tatsache.

Der Pfarrer von Y...burg dagegen saß bocksteif an seinem neuen Platz und trank in finsterem Schweigen ein Glas um das andere. Nur als einmal das vieljährige oberkellnerische Inventarstück des Hauses, der nunmehr längst selig heimgegangene krumme Philipp, einen unverlangten Kalbsbraten vor ihn hinstellte, öffnete er den Mund und hieß ihn einen Esel. Der gute Philipp, welcher sehr taub war, nickte ihm mit freundlichem Grinsen zu, nahm den Braten weg und kam gleich darauf mit einer noch einmal so großen Portion desselben zurück. Er hatte verstanden, der Gast wolle einen größeren, ein Mißhören, das bei der im Süden landüblich gleichen Aussprache von e und ö einem tauben Ohre gar leicht begegnen mag.

Dem Pfarrer von Y...burg blieb keine weitere Maßregel, als seinen nagenden Grimm an dem Kalbsbraten auszulassen.

Das Schicksal hatte jedoch dafür gesorgt, daß er ihn nicht ungestört aufessen sollte. Die poetische Gerechtigkeit, die er so vielfach herausgefordert, ereilte ihn in dem Augenblick, da er die Rache in der Form, wie er sie vollzog, süß zu finden begann. Ihr Werkzeug war ein kleiner Pfarrer mit spitzigem Gesicht, der neben ihm saß und sich an der Seite des unheimlichen Gastes nicht behaglich fühlte. Entschlossen, ihn für die Attentate, die er diesen Abend auf den Frieden einer vergnüglichen Gesellschaft gemacht, exemplarisch zu bestrafen, wartete er ab, bis sein Opfer einige Bissen verzehrt und den Appetit auf diejenige Stufe gebracht hatte, auf welcher es am wehsten tut, wenn er verdorben wird.

»Habe doch recht Bedauern gehabt mit dem Herrn Sohn,« begann er nun gegen ihn.

Der Pfarrer von Y...burg ließ den frischen Bissen an der Gabel vor dem Munde schweben und sah den Redner befremdet an.

»Ich meine das Mißgeschick, das der Herr Sohn heut im Examen gehabt haben,« fuhr dieser fort, unbarmherzig direkt vorgehend.

»Wie so? was denn?« fragte der andere und ließ Messer und Gabel sinken, unseligster Entwicklung gewärtig.

»Wie? Sie wissen es noch nicht? merkwürdig!« rief der kleine Pfarrer und erzählte ihm hierauf, was jedermann außer dem unglücklichen Vater wußte. Er erzählte mit einem Genuß, für dessen unerwartete Bescherung er sich selbst in seinem Herzen Dank sagte. Er hatte geglaubt, nur leicht auf ein Hühnerauge tupfen zu können, und nun war ihm die Genugtuung geworden, dieses Hühnerauge dem noch unbewußten Träger weitläufig in seiner ganzen Größe aufdecken zu dürfen.

Der Pfarrer von U... burg starrte ihn eine Weile an. Er übersah mit einem Blicke sein ganzes Verhältnis zu der Gesellschaft. Worte nannten es nicht, nicht Pinsel noch Griffel! Weiterhin wurde ihm klar, daß Kalbsbraten für ihn abermals ein nur in der Erinnerung lebender Mythus bleiben müsse. Um nicht mit dem tauben Philipp noch einmal in Konflikt zu kommen, legte er soviel Geld auf den Tisch, als die Zeche nach seiner Rechnung betragen mochte, winkte seinem Sohne, der alsbald an seiner Seite war, wiegte sich ein wenig auf dem Stuhle hin und her, um seine Kräfte zu erproben, stand dann bolzgerade auf, blieb einen Augenblick unbeweglich stehen, und – weg war er!

Auch Eduard war ebenso schnell den nacheilenden Blicken Wilhelms entschwunden.

Indessen hatte die poetische Gerechtigkeit ihren Weg auch zu dem kleinen Pfarrer gefunden, durch dessen Bosheit dieser rasche Abgang bewirkt worden war. Er lag mit dem Stuhl am Boden und streckte die Beinchen in die Höhe. Ob der Pfarrer von Y...burg ihn bei seinem kometenartigen Dahinstrahlen unwillkürlich oder absichtlich, zum Entgelt für seine freundnachbarliche Mitteilung, zu Boden gerissen hatte, hierüber konnte man nur Mutmaßungen hegen: daß er es war, der ihn gefällt, das stand außer Zweifel.

Nachdem der kleine Pfarrer wieder ajustiert war, erging sich die Gesellschaft in unverhohlenen Mißbilligungsäußerungen über den Abgegangenen, und ganz besonders auch über seine Unart, ohne Gutenacht fortzugehen. Französische Abschiede waren dazumal noch etwas Seltenes.

Alles war zuletzt einig, er sei ein verkappter Jesuit.

Indessen war und blieb die Stimmung gestört, der schöne Abend verdorben. Vergebens suchte man den Pfarrer von A...berg zu beschwichtigen. So oft er bedachte, daß er, ein so gediegener Mann, der alle Menschen liebte, und alle Menschen ihn, er, der bloße Theoretiker des Meuchelmords, ein praktischer Meuchelmörder sein sollte, so oft wurde er von neuer Rührung übermannt. Aus diesem Grunde hatte auch niemand an einen Vermittlungsversuch gedacht; denn, selbst wenn die allgemeine Abneigung gegen den Beleidiger zu überwinden gewesen wäre, so war die Beleidigung zu schwer, um verziehen, um vergessen werden zu können.

Nach verschiedenen, mehr oder minder mißglückten Anstrengungen, dem Beisammensein wieder die frühere ungezwungene Heiterkeit zurückzugeben, glaubte man endlich den Abend beendigen zu müssen, und brach auf. Man fühlte die Unheilbarkeit des Risses, der zwei auf so seltene, wo nicht weit-, doch landhistorische Weise zusammengeführte Herzen für immer wieder auseinandergerissen hatte, man fühlte den Schmerz der Wunde, die in dem besseren dieser beiden Herzen – wer weiß wie lange – nachbluten mußte.

Mir selbst, der ich diese Geschichte schreibe, blutet das Herz. Wenn der Leser wüßte, welche Mühe es mich gekostet hat, diese beiden ungleichen Freunde zusammenzubringen, dann würde er mir wohl eine Empfindung der Teilnahme weihen. Nun stehe ich auf den Trümmern meiner mit so vieler Anstrengung unternommenen Arbeit, Öl und Zeit habe ich verloren, und dieses – ist dein Werk, Miaulis!

Leser, in dieser Lage gibt es für uns beide nur einen Trost. Sieh hin, dies war der Verlauf und Ausgang einer politischen Unterhaltung im Anfang der zwanziger Jahre. Deutschland im ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts! Sieh hin und ermiß das Unermeßliche, ermiß die Riesenentwicklung, die wir seitdem durchgemacht haben. Von deiner politischen Bildung getragen, kannst du sie so gut, vielleicht besser ermessen, als ich selbst, und gerne will ich dir daher über diesen Gegenstand das Wort überlassen.

Ein Nachtwächter, der in den abgelegenen Teilen der Stadt eben die Stunde ausrufen wollte, sah zwei lange, magere, steife Wesen an sich vorüberschweben. Das kleinere dieser beiden Wesen ging voraus, das größere kam hintendrein und hielt das kleinere an den Haaren gefaßt, wobei der Führer geächzt, der Gefühlte aber geschwankt haben soll. Der Nachtwächter murmelte: »Alle guten Geister loben Gott den Herrn,« und rief die Stunde in einem andern Gäßchen. Am Morgen erzählte er jedem, der es hören wollte, von der grauslichen Erscheinung, die er gehabt.

Wir aber ahnen, wer diese beiden Gestalten waren.

Durch die breite Hauptstraße der Residenz bewegte sich um die gleiche Nachtstunde eine stumme Prozession.

Im ersten Gliede wurde ein Schluchzender unter den Armen geführt. Die andern folgten gleichsam als Leidtragende.

Der Schluchzende war der Pfarrer von A...berg.

Sein Wilhelm ging nebenher und war in großer Not. Die Begleiter trösteten ihn jedoch. »Es sei nur ein, kleiner Zirkumflex,« sagten sie, »der bis morgen früh vorüber sein werde.«

Hiermit verzog es sich jedoch bis tief in den Tag hinein, und die Sonne stand schon hoch über den rauchenden Schornsteinen, an deren Fuße die gastfreundlichen Hausfrauen der Hauptstadt von der gehabten Last und Hitze jetzt wieder ausatmen durften, als ein bequemer Wagen Vater und Sohn der Heimat zu durch das östliche Tor entführte.

Beide sahen nachdenklich aus.

Wo die große Südstraße sich nach Ost und Westen teilt, sah Wilhelm am späten Nachmittage die beiden Ladstöcke auftauchen, die in seines Vaters sowie in seinen eigenen jungen Lebenslauf so bedeutendes Zündkraut eingetrieben hatten. Sie schienen einen Botenwagen, der eben am Horizont verschwand, benutzt zu haben, waren am Fuß einer Anhöhe abgestiegen und schickten sich nun an, einen holprigen Fußweg zur Rechten einzuschlagen, an dessen Spitze ein baufälliger Wegweiser, aus einem kleinen Gebüsch hervortretend, die westliche Richtung nach Y...burg, den Weg zum Käsebraten, bezeichnete.

Ehe sie jedoch denselben vollends erreichen konnten, drohte sie schon der schnelle Wagen der in glücklicherer Lebensstellung befindlichen beiden Reisenden einzuholen. Der Hufschlag und das Rollen der Räder bewog den Pfarrer von Y...burg, sich umzusehen. Als er die weiland befreundeten Gestalten erkannte, deren Begegnung ihm bevorstand, warf er aus den zusammengezogenen buschigen Augenbrauen einen wilden Blick auf sie und riß seinen Erzeugten mit sich in das Gebüsch. Wilhelm jedoch, der sich aus dem Wagen beugte, sah im Vorüberfahren, wie die Büsche sich teilten und Eduard den Kopf daraus hervorstreckte. Derselbe drückte die Lippen zusammen und riß sie wieder auseinander, wie man wohl zu tun pflegt, wenn man einen Kuß in die Ferne senden will. Wilhelm aber verstand ihn besser: das Zeichen bedeutete ein B, den Anfangsbuchstaben des Namens, den sie sich zum Losungswort erkoren hatten.

Schöne Stunde, wirst du jemals wiederkehren, durch den nie veraltenden Zauber dieses Namens heraufbeschworen?

Zugleich aber war Wilhelm noch Augenzeuge eines weiteren Schauspiels geworden. In der Lücke des Gebüsches war eine lange, knöcherne Hand erschienen, die dem armen Eduard eine wohlbemessene Ohrfeige gab.

Der Wagen war längst vorbeigerollt, und Wilhelm lehnte schwermütig wieder in seiner Ecke. Er gedachte der arithmetischen Genauigkeit seines Freundes, und bange Ahnungen erfüllten seine treue Seele. Ob sein Vater die Erscheinung gleichfalls gesehen habe, wußte er nicht und hielt es jedenfalls für geratener, mit ihm nichts darüber zu reden.

Jetzt bog der Wagen nach Osten auf die kleinere Straße ab, die sich den heimischen Bergen näherte.

Der Pfarrer von A...berg hatte sich bis gestern abend unausgesetzt darauf gefreut, auf der Rückreise womöglich das vielbesprochene Felsengesicht zu beaugenscheinigen. Der Moment war jetzt gekommen, die Witterung konnte nicht günstiger sein. Instinktmäßig griff er in die Wagentasche, in welcher sich sein Butzengeiger befand, und holte denselben hervor. Kaum aber hatte er ihn erblickt, als sein Aussehen sich veränderte. Er wurde rot und blaß, ein Schauer überlief ihn, die Erinnerung schien mit tausend Freuden und Qualen in ihm aufzugehen, er steckte das Fernrohr wieder an seinen Ort und legte sich mit einem tiefen Seufzer in die Wagenecke zurück.

Er hat das Felsengesicht, die vornehmste Merkwürdigkeit seiner Gegend, in diesem Leben nicht mit Augen gesehen! Er mußte sich mit dem bloßen, ungeformten Material begnügen, das ihm von der künstlerischen Bearbeitung durch die Ferne keinen Begriff gab, und mit einer Beschreibung, an die er nicht denken konnte, ohne daß ihm ein Stich durch das Herz ging.

Inzwischen brachte er den ersten Abend, den er wieder im häuslichen Kreise verlebte, so heiter zu, als seine Erschöpfung von der Reise es nur gestatten wollte. Er mußte seiner Frau von dem glücklichen Examen, das Wilhelm gemacht, und von der schmeichelhaften Aufnahme bei den Verwandten in der Residenz so viel erzählen, daß ihm keine Zeit blieb, der Schattenseiten seiner Begebnisse zu gedenken.

Am andern Morgen jedoch hatte Wilhelm, der sich bei seinem Vater auf dessen Studierzimmer befand, abermals einen Anblick, der ihm durch die Seele schnitt.

Mit dem neuerdings gewohnten neunten Glockenschlage ging der Pfarrer so instinktmäßig wie gestern an die Beschäftigung, die ihm zur andern Natur geworden war. Er schritt zu der Schublade, in welche das Fernrohr von den sorgsam auspackenden Händen der Pfarrerin gleich nach seiner Ankunft wieder zurückgebracht worden war. Behaglich schob er es auseinander und trat zum Fenster. Hier aber, die Richtung vor Augen, in welcher Y...burg lag, erwachte er plötzlich wie aus einem Traume. Sein lachendes Antlitz umwölkte sich, niedergeschlagen ließ er den Tubus sinken, ohne nur einmal hinein gesehen zu haben. Dann schüttelte er den Kopf, schob das Instrument langsam zusammen, legte es wieder in die Schublade und verließ das Zimmer.

Der gute Sohn sah ihm traurig nach. Er konnte sich denken, daß der Vater jetzt zur Mutter hinabgehen werde, um sein gepreßtes, getränktes Herz bei ihr auszuleeren.

Wilhelm konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich zu vergewissern, wie der Pfarrer von Y...burg in der sonst von beiden Seiten jeden Morgen so sehnlich erwarteten optischen Begrüßungsstunde sich verhalte.

Er holte daher das Fernrohr und blickte hinab.

Der Pfarrer von Y...burg stand so gleichmütig wie immer an seinem Fenster und sah herauf, als wenn nichts vorgefallen wäre.

Bei näherer Rekognoszierung entdeckte Wilhelm jedoch, daß der Wegelagerer an seinem Fernrohr eine sonderbare Vorrichtung angebracht hatte, welche an der einen Seite ein gutes Stück weit über dasselbe herausragte. Wilhelm sah genauer hin und zerbrach sich den Kopf; doch wurde er seiner Sache immer gewisser und konnte zuletzt nicht mehr zweifeln, daß es ein – Scheuleder war. Er hatte Verstand genug, um sich zu sagen, daß niemand im Ernste daran denken könne, einem Fernrohr durch eine Augenklappe die Beschränkung aufzuerlegen, welcher man ein Pferdsauge unterwirft, daß also die angebliche Vorkehrung nichts anderes sei, als ein Werk schwarzer Bosheit und phantastisch abgefeimter Tücke, ein Symbol, durch welches der Unhold den Bewohnern des Pfarrhauses von A...berg insinuieren wolle, daß sie aus dem Fokus seines Blickes ausgeschlossen seien und sich nicht beigehen lassen dürfen, denselben auf sich zu beziehen, mit einem Worte, daß er wieder, wie ehevordem, an ihnen vorüber sehe.

Wilhelm war jetzt doppelt froh, daß sein Vater nicht hingeblickt hatte. Dieser Anblick würde ihm vollends das Herz abgedrückt haben.

Sehnsuchtsvoll spähte er an allen sichtbaren Teilen des Hauses und seiner Umgebung herum, allein von Eduarden war nichts: wahrzunehmen.

Während er noch mit dem Tubus am Fenster stand, trat sein Vater wieder ins Zimmer.

»Du kannst ihn behalten, kannst ihn mit ins Kloster nehmen,« sagte er mit weicher Stimme.

Wilhelm wußte, daß dem König von Thule jener goldene Becher nicht lieber sein konnte, als seinem Vater dieses Instrument. Er nahm das Geschenk mit unaussprechlicher Wehmut in Empfang, trug jedoch Sorgfalt, es mit guter Art sogleich aus dem Studierzimmer zu entfernen, um den geliebten Vater vor dem teleskopischen Dolchstoße zu bewahren, der ihm von Y...burg aus zugedacht war. Nein, Meuchelmörder du selbst! dir sollte nicht die Genugtuung werden, mit diesem Stoße getroffen zu haben.

Wilhelm begrub in seinem Herzen, was er gesehen hatte. Nicht einmal seiner Mutter sagte er etwas davon.

Zwischen Morgen und Abend war, wenigstens von Morgen aus, und das seitens des Pfarrers von A...berg unbedingt, der Vorhang für immer gefallen. Er hat diesseits nicht wieder durch seinen Butzengeiger hindurchgeschaut, niemals, niemals, niemals!

Die Folgen dieser Entsagung blieben nicht aus. Man hätte ihm ebensogut ein Glied unterbinden können. Er lebte noch ein paar Jährchen fort, wie er gelebt hatte, menschenfreundlich, wohlwollend, heiter; aber in seiner Maschine war ein verborgenes Rädchen gebrochen. Erst litt er an periodischen Augenentzündungen, worin sich die wie durch eine Erkältung zurückgeschlagene Lebhaftigkeit seiner expansiven Augen krankhaft kundgab. Sie waren begleitet von intermittierendem Herzklopfen. Dieses weite Herz krampfte sich oft zusammen, weil ihm in dieser Welt ein Fleck zugeschlossen war, für den es nicht mehr schlagen durfte, wohin es nicht mehr schreiben konnte, woher es keine Briefe mehr empfangen sollte! Der sorgsamsten Pflege und rationellsten Behandlung gelang es zwar, diese Affektionen zu heben, aber das Übel zog sich jetzt tiefer in den Organismus zurück, wo es eine Zeitlang versteckt lauerte, um dann mit einer alle Wissenschaft überflügelnden Heftigkeit hervorzubrechen. Die bewährtesten Ärzte wurden gerufen. Leider konnten sie über die Prognose nicht einig werden. Der eine suchte die Krankheit in der Milz, der andere in der Leber, der dritte fand sie in den Nieren, der vierte im Pankreas. Da der Patient sich im voraus die Sektion verbat, so ist diese Streitfrage ungelöst geblieben, und die Jünger der Divinationskunst haben alle recht behalten.

Er erlebte nicht mehr die erste Predigt seines Wilhelms!

»Multis ille bonis flebilis occidit!« rief dieser in der Traueranzeige, die er in die große Landeszeitung einrücken ließ.

Armer Pfarrer von A...berg, die Stunde ist gekommen, da wir dir Valet sagen müssen. Wir können jedoch nicht von dir scheiden, ohne deinem tragischen Geschick noch eine kurze Betrachtung gewidmet zu haben.

Unglückliches Tubusspiel, das dir nie hätte einfallen sollen!

Wir meinen nicht das einfach-kindliche Spiel, dem du in deinen glücklicheren Tagen um die achte Morgenstunde obzuliegen pflegtest; denn »hoher Sinn liegt oft im kind'schen Spiel«. Nein, wir meinen das Doppelspiel, das dich verleitete, eine lang erprobte Gewohnheit abzudanken und von der achten Stunde zur neunten herabzusteigen, vom Monologe zum Dialoge fortzuschreiten! Hat keine Ahnung dir zugeflüstert, daß ein Tubus nicht die Laterne des Diogenes ist, daß unter den Rosen deiner Entdeckung eine Schlange nisten könnte?

Warum aber auch, so muß bei diesem Totengerichte gefragt werden, warum mußtest du dich verführen lassen, deinen Dekan, dem du als deinem Vorgesetzten ernstere Ehrerbietung schuldig warst, zu harcelieren und ihm auf den Zahn des Humors zu fühlen? Denn ohne diesen, mit aller Schonung sei es bemerkt, doch immerhin vielleicht etwas losen Scherz wäre jener Abend nicht so sehr in die Länge gezogen, wäre der folgende Morgen nicht um eine Stunde verkürzt, wäre somit eine weisliche Weltordnung, die zwei so heterogene Individuen, um sie auseinander zu halten, mit der einzigen ihnen gemeinsamen Neigung auf verschiedene Stunden angewiesen hatte, nicht freventlich durchbrochen wurden. Ach, auch einem so reinen Gemüte, wie dem deinigen, war es nicht gegeben, ganz ohne Verschulden durch dieses sündige Leben zu gehen, und »alle Schuld rächt sich auf Erden«. Allein du hast die deine genug, ja mehr als genug gebüßt, und darum sei dir die Erde leicht!


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