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Hafenlegende

In der kleinen Matrosenschenke am Hafen von Husum, die heute verschwunden ist, da sie einem mächtigen Lagerspeicher weichen mußte, saßen wir auf einem alten schwarzen Roßhaarsofa vor einem Tisch im Winkel der Stube. Eine Lampe, die über uns hing, spülte trübes Licht in die Dämmerung.

Die Schenke, deren braune Balkendecke gebogen war von der Last der Jahrhunderte, war voll von Schiffsvolk aus den Fahrzeugen im Hafen, Friesen und Norweger, Jütländer und Isländer, die Wacholderschnaps tranken wie Wasser. Undeutlich durchwogen von Tabaksrauch an lehmgelben Wänden sah man Stahlstiche von alten Schiffen.

Ein junges Weib brachte uns Grog. Graugekleidet durchschritt sie die rauchige Luft der Stube. Sie war schlank und straff gewachsen mit runden, weichen Schultern und schmalen, biegsamen Hüften. Um ein ebenmäßig geformtes Gesicht, das sehr bleich war, ein wenig gelblich wie Elfenbein, mit den reglosen und herben Zügen nordischer Verschlossenheit, ruhten festgeflochtene Zöpfe, weißblond, wie gebleichter Flachs, weizengelb in der Tiefe, wenn das trübe Licht der Lampe sie traf. Diese blassen und schmalen Lippen waren fest geschlossen. Kaum sichtbare Fältchen, die aus der schwachen Biegung der Mundwinkel sich ins weiße Kinn gruben, gaben dem jungen Gesicht schwermütige Reife.

Als sie wieder beim Schenktisch stand hinter dichtem wolkigem Rauch, einem Schattenbild gleich, sagte halblaut der Halligmaler, der neben mir abwesend im Grogglas rührte und unverwandt zu ihr hinüberschaute:

»Es ist erstaunlich, wie sehr sie ihrer Mutter gleicht.«

Es war, als spürte sie unsern Blick, denn langsam und lauschend hob sie den Kopf. Wir sahen das blasse, unter Schleiern vergrabene Blau ihrer Augen unter der hohen Stirn, die fast ohne Brauen war.

Ich wußte, daß ihr Vater vor Jahresfrist gestorben war und daß der Halligmaler, der neben mir saß, das graubärtige Kinn des mageren Gesichts in die hohle Hand gestützt, die Mutter dieses Mädchens geliebt hatte, stumm aus der Entfernung, ehe sie für immer aus der düsteren Hafenschenke verschwand.

»Ja,« sagte er plötzlich leise und fuhr mit der schmalen blassen Hand langsam über die gefurchte Stirn und in das dünne graue Haar, das im Licht der Lampe glomm, wie Spinnweben in der Sonne, »es ist, als ginge ihre Mutter leibhaftig hin und her hinter dem Schenktisch und durch die Gaststube, ein seltsames Spiel der Natur, Wiederkehr von Form und Wesen, die nicht ihresgleichen hat.«

Er trank, schwieg lange und begann plötzlich, den alternden Blick mit einem Rest müder Sehnsucht auf das vorhanglose Fenster gerichtet, das tiefschwarz war vom Glanz der Nacht, von sonderbaren Dingen zu reden, die in dieser Hafenschenke geschehen waren, vor Jahren und Jahren.

»Es ist fast ein Menschenalter her, da wehte tagelang ein Sturm auf der Nordsee, wie man ihn seitdem nicht wieder erlebt hat. Kein Schiff, das draußen war, kam ohne Schaden davon. Galeassen und Kutter, zerbrochen und von der Mannschaft verlassen, trieben noch viele Wochen lang auf den Hügeln der Nordsee, die sich nicht beruhigen wollte, bis die elenden Wracks vom steifen Nordwest an den Strand von Schleswig und Jütland geschwemmt wurden. Die Seeleute, die sich nach Todesnot in den Hafen von Husum retteten, betranken sich nächtelang in den Schenken. In der letzten Sturmnacht, als diese Kneipe von zechenden Janmaaten dicht besetzt war und der Nordwest um das Haus keuchte, als wollte er es zerstampfen, ging plötzlich die Tür auf und zwei Seeleute kamen herein, die wie Isländer aussahen, denn sie trugen die Tracht der Schiffer des hohen Nordens. Ein älterer Mann mit schwarz wucherndem Bart um ein graues, knochiges Gesicht und schwarzen, stechenden Augen unter einer kantigen Stirn, und ein junger zarter Mensch mit ungewöhnlich weißem Gesicht unter schwarz glänzendem Südwester und mageren Gliedern unter zerrissenem Ölzeug. Sie traten zum Wirt. Der Ältere erzählte barsch, daß sie sich nach langer stürmender Drift in den Hafen gerettet und nun ein trockenes Zimmer wünschten, um auszuschlafen. Der Wirt, ein wortkarger und innerlich einsamer Mann, der ohne Frau in dieser Schenke hauste, brachte sie schweigend hinauf über eine knarrende Stiege in das Giebelzimmer über der Gaststube. Ich saß, da ich täglich in dieser Sturmzeit hierher kam, um Studien zu machen, an diesem Tisch und sah, seltsam ergriffen, den hilflosen Blick, den der junge Mensch aus gramvollem Gesicht durch die von Lärm und Tabaksdampf erfüllte Stube sandte, ehe er hinter dem Älteren herschritt. So sehr traf mich Bangigkeit und Sehnsucht dieser blaßblau verschleierten Augen, daß ich mich nicht von meinem Platz rühren und nicht aufstehen konnte, als der letzte Gast in früher Morgenstunde die Schenke verließ. In mir war schwer und undeutlich das Gefühl, als müßte ich warten, in einer unerklärlichen Bangigkeit warten, um diesem jungen Menschen zu helfen, der rätselvolle Not zu schleppen schien.«

Der Halligmaler schwieg eine Weile und schloß sekundenlang die Augen. Dann fuhr er fort und seine Stimme klang leise und erregt durch den Lärm der Seeleute:

»Als wir allein waren, der Wirt schweigsam hinter der Tonbank, Gläser spülend, ich reglos an diesem Tisch, hörten wir plötzlich aus der Giebelstube Geräusch von Schritten und Stimmen. Wir blickten beide zur Decke und horchten, ein wenig erschrocken, denn die Schritte waren schwer und polternd und die Stimmen laut und streitend. Dann wurde es eine Weile totenstill. Die Fensterscheiben klirrten unterm Nordwest. Nach zwei endlosen Minuten hörten wir ein rauhes und kurzes Gebrüll, wie aus der Gurgel eines Raubtiers, dann langgezogen den gellenden Schrei einer Weiberstimme und endlich dumpf den Fall eines Körpers. Dann war es wieder unheimlich still. Draußen heulte der Sturm. Wir starrten uns an mit aufgerissenen Augen und fühlten, wie das Blut stockte, das zum Herzen strömen wollte.

»Was ist das?« murmelte der Wirt mit blassen Lippen und setzte das Glas hin, das er wusch.

Ich fühlte eiskalt ein Grauen zwischen den Schulterblättern. Da kam es mit schwerem Schritt die Stiege hinab. Die Stufen krachten, daß es aufreizend durchs Haus lief. Die Tür zur Schenkstube wurde aufgemacht. Schwerfällig, den Kopf unterm breitrandigen Südwester mit düster flackernden Augen weit vorgestreckt, schritt der ältere der beiden Seeleute durch die von einer einzigen blakenden Öllampe karg erhellte Wirtsstube, in der Reste grauen Tabaksrauchs hingen wie Nebelfetzen, und verschwand ohne Gruß, ehe wir ihn anrufen und festhalten konnten.

Der Wirt, sehr bleich, nahm die Lampe aus dem Messingring. Forderte mit verstörtem Blick mich auf, ihm zu folgen. Klomm vor mir die steile Treppe hinauf, zögernd, als schleppte er Angst schwer hinter sich her. Im Giebelzimmer sahen wir, wie der junge Mensch steif ausgestreckt auf dem Fußboden lag, totenbleich, langes, helles Haar über der Stirn, in dem es gelb schimmerte vom Spülicht der Lampe.

»Ein Weib!«

Ich kniete rasch hin und betrachtete in großer Erregung die bläulichen Lippen, die sich kaum merklich bewegten. Als der Wirt mit der Lampe näher herankam, sah ich auf der weißen Mattigkeit des entblößten Halses blaue Abdrücke von Fingern.

»Bei Gott,« rief der Wirt, »wahrhaftig ein Weib!«

Ich beugte den Kopf, um dem Schlag des Herzens zu lauschen und spürte unter meinem Ohr die weiche Rundung junger Brust. Sie lebt.

Wir hoben sie aufs Bett. Als sie stärker zu atmen begann, mit Lippen, die dunkel wurden vom zuströmenden Blut, liefen wir die Stiege hinab, rannten, vom gleichen Gedanken gejagt, zum Hafen und spähten, auf den von Gaslichtern trübe beflammten Kajen hin- und herlaufend, durch die Masten und Rahen der Fahrzeuge, die im harten Nordwest klapperten und dükerten. Nirgends der Schiffer, den wir suchten. Undurchdringlich, ein schwarzer Block, lagen Meer und Himmel hinter dem aufgewühlten Hafen. Das Feuer des Leuchtturms, der von der Molenspitze aus gelbe Dolchstöße durch die Nacht zu schleudern versuchte, zerbrachen in der Finsternis.«

Der Halligmaler schwieg einige Minuten, den Blick unverwandt auf das junge Weib gerichtet, das schweigsam, mit unbewegtem Gesicht den Seeleuten die Getränke brachte. Dann fuhr er fort, ganz langsam, als wälzten sich die Worte nur schwer aus der Tiefe der Brust:

»Es dauerte Tage, ehe das junge Weib sich erholte. Wochenlang ging sie umher, ohne Bewußtsein, wie in Betäubung, man konnte sie nicht fortschicken. Dann begann sie zu arbeiten, als sei sie Magd im Hause, und der Schenkwirt, der einsam war, beschloß, sie zu behalten. Sie arbeitete treu und stumm.

Wenn man sie fragte, woher sie mit dem großen finsteren Mann gekommen sei, verschloß sich ihr Gesicht und sie sagte, während ihr verdunkelter Blick die Richtung nach Norden suchte: »Von einer einsamen Insel, auf der blaue Eisvögel über endlose Schneefelder fliegen.« Ihre Stimme hatte, wenn sie von dieser Insel sprach, einen schweren und rätselvollen Klang. Niemand erfuhr, ob Heimweh sie bedrückte oder Liebesnot.

Eines Tages, als ich allein war mit ihr in dieser Stube, fragte ich sie und sah sie dabei so fest an, daß sie nicht aus dem Bann meines Blickes herauskommen konnte, und mit erstarrendem Gesicht antworten mußte wie eine Kreatur, die keinen Willen mehr hat:

»Wer war der schwarzbärtige Mann, mit dem du in dieses Haus gekommen bist?«

Sie schaute mich hilflos an und begann zu zittern. Dann entgegnete sie und, ich sah die Anstrengung, mit der sie die Worte heraufholte:

»Es war Reyvik, meines Vaters Bruder.«

»Was wollte deines Vaters Bruder von dir?«

Sie schloß furchtsam die Augen, als wollte sie meinem harten Blick entweichen. Dann sagte sie tonlos und ihr Kopf sank ein wenig nach vorn:

»Er schleppte mich auf sein Schiff und in seine Kammer, aber ich wehrte mich und schlug nach ihm und schrie ... denn ich liebte Josse, der sein Sohn war.«

Sie schwieg und ich sah, wie es unter den flachshellen Wimpern feucht wurde von Tränen. Sie wandte sich um, ging bis in die Mitte der Stube und blieb stehen, reglos, viele Minuten lang, das Gesicht unbewegt dem Fenster zugewandt, den Blick nach Norden. Dann ging sie an die Arbeit, stumm hingegeben ihrem Schicksal. Monate gingen hin. Als der Wirt, vom Begehren gepackt, sie fragte, ergab sie sich schweigend. Sie gebar ein Mädchen. Doch sie blieb schweigsam, schön und allen fremd, wie ein Mensch, den die Not stummer Sehnsucht in Einsamkeit hüllt.«

Die dunklen Augen des Halligmalers verloren sich in der Finsternis, die schwer vor den Fenstern lag. Sein Gesicht war voll Gram. Ich spürte, daß es der Gram unendlicher Sehnsucht war, die noch heute unzerstörbar seine einsame Seele füllte. Ich entsann mich der Bilder, die er gemalt hatte und erkannte plötzlich, daß viele Frauen seiner reifen Kunst die Züge des jungen Weibes trugen, das in der Schenke zwischen den Seeleuten hin und her ging, das geheimnisvolle Abbild der Mutter.

»Was ist aus der schweigsamen Frau geworden?« fragte ich leise.

Der Maler sprach, ohne den Blick von der Finsternis zu lassen, die wie ein schwarzes faltenloses Tuch über Meer und Himmel hing:

»Zehn Jahre gingen hin. Da erschien eines Nachts ein seltsames Fahrzeug im Husumer Hafen, mit den bizarr geformten Segeln der Schiffer aus Island oder Grönland. Um Mitternacht trat ein Seemann in die Schenkstube, groß und gebräunt, mit kantigem Schiffergesicht und hellem Haar unterm schwarzen Südwester. Er sah das Weib hinterm Schenktisch und trat rasch zu ihr hin.

»Josse,« schrie sie erschreckt, und ihre Hände fuhren mit gespreizten Fingern an die Schläfen, die sich jäh mit brennendem Blut füllten. »Josse,« schrie sie zum zweitenmal, hell und zitternd und zum drittenmal »Josse,« und im Klang ihrer Stimme war ein Jubel so leuchtend, so überkochend von Glück, wie ich ihn nie aus dem Munde eines Weibes gehört habe.

Ich wußte sogleich und das Blut brauste in meinen Schläfen, daß es Josse war, Reyviks Sohn, Josse, der unablässig im Spiegel ihrer Sehnsucht gestanden hatte und nun übers Meer gekommen war, um sie zu fordern. Ich rannte aus der Schenkstube, suchte den Wirt und fand ihn endlich im Keller, wo er Rum in Flaschen zapfte, den ein Seemann mit in den Proviant nehmen wollte. Als wir die Schenkstube betraten, waren die beiden Menschen verschwunden, der fremde Schiffer und die Frau. Auf der Tonbank neben benutzten Gläsern lag ihr kleines weißes Tuch.

 


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