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Die Julandia

Die Nordsee in dunkler Dünung tönte über den Watten.

Der alte Schiffer Sören Mathiessen starrte mit zornigem Blick unter buschig gewölbten Brauen auf den Sohn Jeß, der am Fenster stand mit feindselig gebogenen Lippen, die verkniffenen Augen auf das Fahrzeug geheftet, das draußen im breiten Priel lag.

»Du fährst!« rief der Vater plötzlich hart und fordernd in die Stille der kleinen Stube, in der alte rote Möbel sich an niedrige blaue Wände lehnten.

Der Sohn zuckte mit den Schultern und sagte mit wegwerfendem Trotz, wobei sein Blick gleichmütig über die Nordsee schweifte, die sich jenseits von Deich und Priel in bleigraue Unermeßlichkeit dehnte:

»Ich fahre nicht! Ich will morgen mit dem Postschiff nach Husum und übermorgen nach Nordstrand. Das kann ich nicht ändern.«

Der Alte fuhr auf. Seine harten Lippen im bartlosen, von tiefen Furchen zerrissenen Gesicht preßten sich noch fester aufeinander. Sie zuckten ein wenig unter der Anstrengung, mit der er versuchte, den Groll niederzuzwingen. Die Augen, hellblau, von den Brauen beschattet, füllten sich mit Traurigkeit. Wie fremd war ihm plötzlich der Sohn, der hoch und schlank, von der Mittagssonne überflutet, verstockt vor dem kleinen Fenster stand.

»Jeß,« sagte der Alte nach einer Weile schwer, »seit hundert Jahren sitzen die Mathiessens auf Pellworm. Tüchtige Fahrensleute, einer nach dem andern. Willst du verrotten?«

Es war wieder still in der Stube. Man hörte die Katze, die auf der Ofenbank mit dem Wollknäuel spielte. Der Pendelschlag der roten Standuhr, die ihre blauen Zeiger rastlos über ein buntgemaltes Ziffernblatt wandern ließ, zerhackte die Schweigsamkeit.

Plötzlich fuhr Jeß herum.

»Ich bin jung!« schrie er, und seine Fäuste, die in den Hosentaschen steckten, zitterten.

»Du kannst nach Nordstrand zum Bier und nach Husum zum Tanz, wenn wir zurück sind.«

»Ich habe mein Wort gegeben!« schrie Jeß.

»Die Arbeit geht vor!« Sein breites Gesicht, das ein langes Seemannsleben verwittert hatte, zeigte Strenge und Unerbittlichkeit.

Die Stirn des jungen Menschen färbte sich rot. Er schien eine Weile hart mit sich zu kämpfen. Dann warf er den Kopf trotzig in den Nacken, so daß sein dichtes blondes Haar in der Sonne funkelte, und sagte rauh, dem Blick des Vaters ausweichend: »Fahr allein!«

Er wandte sich um und ging aus der Stube. Die alte Tür, ein wenig schief in den Angeln, fiel hart ins Schloß. Das Modell der »Julandia«, das sauber geschnitzt mit vollgetakelten Masten über dem runden Tisch hing, schwankte.

»Jeß!« rief der Alte.

Er hörte, wie die Treppe knarrte, wie Jeß die Tür zu seiner Kammer öffnete und wie ein Stuhl gerückt wurde. Er stand sekundenlang reglos am Tisch. Dann fuhr er mit braunverbranntem Handrücken über die kleinen Augen, als wollte er den blendenden Sonnenstrahl wegwischen, der sie traf. Dann schritt er plötzlich schwerfällig zum Fenster, alt und müde. Er riß es auf.

»Ekke!«

Hinter einem schwarzen Holzschuppen voll Schiffsgerät, Tonnen und altem Tauwerk tauchte ein hagerer, weißhaariger Mann auf, breite silberne Ringe in den Ohren.

»Wir reisen, sobald die Flut da ist, Ekke.«

Der hagere Knecht nickte gleichmütig und schritt breitbeinig zum Priel hinab, wo die »Julandia«, ein stattlicher Zweimastschoner, reglos im schwarzen Brackwasser lag. Er ging über die Laufplanke auf Deck bis zum Klüverbaum, legte die Hand über die Augen und spähte über die See. Sie schwankte in schwacher Dünung. Schaumstreifen blitzten weiß in der Sonne. Die Flut kam herauf.

Aus dem Niedergang vorm Großmast tauchte weißblond ein Knabenkopf.

»Schall dat nu losgahn, Ekke?«

Der Knecht nickte.

»Man to!« schrie er heiser, und machte sich daran, Segel zu setzen.

Der Junge sprang auf Deck. Doch ehe er half, steckte er die Nase in den Wind.

»Dat briest bannig!« schrie er mit frischem Mund und lachte.

»Lot man briesen,« brummte der Knecht. Über seinem grauen Kopf rauschte das Großsegel mächtig empor.

 

Vierundzwanzig Stunden später verließ die »Julandia« den Hafen von Husum, wo sie Stückgut für Amrum und Föhr eingenommen hatte. Blank unter Sonne rollte geschmeidig die Dünung. Nordwestlich, dicht über der Kimmung, schwammen in fahlblauer Luft kleine, schwarze Wolken, an den Rändern zerfasert, wie Rauch aus einem Dampfer, der längst unter dem Horizont getaucht war. Der lange Knecht am Bugspriet, eine Ölkanne in der Hand, da er das Ankerspill schmieren wollte, steckte plötzlich den hageren Kopf in den Wind und lauschte gespannt in die Ferne. Silbern in seinen Ohren blitzten die Ringe. Der Junge, der eine Pütze Wasser aus der See geschlagen hatte, um das Deck zu scheuern, das noch schmutzig war von den Stiefeln der Husumer Schauerleute, blickte aufmerksam in das Gesicht des langen Ekke. Dann blinzelte er besorgt zu den dunklen, krausen Wölkchen über der Kimmung.

Hörte Ekke Sturm singen in fernen Lüften?

Die Nordsee war blank unter herbstblauem Himmel. Schön und schmiegsam rollte die Dünung an Pellworm und Nordstrand vorbei. In der Luft war ein Ton, so weich, daß man unmöglich an böses Wetter denken konnte. Doch Heini Potts roter Mund verzog sich immer bedenklicher, je länger er in das reglose Gesicht des langen Ekke schaute. Der Alte stand reglos. Das dünne Haar über der eingesunkenen Schläfe wehte schwach im Wind.

Dori dimmi! Der alte Ekke war ein Fahrensmann von sechzig Jahren. Er verstand mehr von Wind und Wetter und See als alle Schiffer an der Wasserkante von Husum bis Cuxhaven. Er konnte den Sturm singen hören, wenn er noch tagelang entfernt war oder noch tief eingegraben lag in unergründlichen Kesseln weit hinter der Kimmung.

Hörte Ekke den Sturm singen?

Beklommen fragte der Junge: »Ekke! Mensch! Wat luerst du?«

Ekke beugte sich und goß Öl aus seiner Kanne in die Düsen des Ankerspills. Er murmelte zwischen den Zähnen, mit einem schiefen Blick zum Schiffer hinüber, der sich wuchtig gegen das Helmholz des Steuerruders lehnte: »Junge, Junge, mi dücht, dat gifft 'n bösen Wind!«

Kaum hatte er das gesagt, spürte Heini Pott, wie der Wind, der sein Gesicht traf, kälter und schärfer wurde, und wie es in den Rändern der sich bauschenden Segel zu schwirren begann.

»Sturm?«

Die Augen des Jungen wurden rund. Der alte Ekke lachte gleichmütig auf. Heini Pott sah die morschen Zähne, braun von allem Prien, den er in seinem langen Leben gekaut hatte. Er goß die Pütze über das Deck, warf sich auf die Knie und begann zu scheuern, bis sein Gesicht rot wurde vor Hitze und naß von Schweiß.

»Ach wat, Sturm,« dachte er tapfer und dann ein wenig beklommen: »Wenn der Sturm kommt, den Ekke singen hört, sünd wie all lang to Hus.«

Der Wind wehte frisch in immer gleicher Stärke. Vorm Bug rauschte die See schön und feierlich wie Orgelgetön in der Kirche. Sie machten gute Fahrt.

Am nächsten Tag, als sie aus Amrum ausfuhren, um den Rest der Fracht nach Föhr zu bringen, war die See unruhig, doch nicht rauh. Die Dünung rollte stark mit weißen Schaumlinien. Ganz fern, im grau verhangenen Himmel, in der Richtung der Doggerbank, hingen Wolkensäcke dicht über der See, fast unbeweglich. Die beiden alten Schiffer standen beim Steuer, blickten über die See mit aufmerksamen und ernsten Gesichtern. Dori dimmi, dachte Heini Pott und blickte bang in das schwarze Gewölk, das drohend über der See lag, wie ein plumpes, unförmiges Tier auf der Lauer.

Als sie sich dem kleinen Hafen von Wyk auf Föhr näherten, die Segel straff gebauscht, sahen sie, wie auf dem kleinen grauen Stationshaus neben dem Leuchtturm die Sturmwarnung gehißt wurde.

»Schwerer Sturm aus Nordwest,« entzifferte der hagere Ekke, mit Lippen, die sich kaum bewegten.

Er hat ihn singen hören, dachte Heini Pott, sah ihn an und fühlte, wie ein Grauen über seinen Nacken lief, und wie sein Herz dumpf weh tat, als würde es von einer Faust zerdrückt.

Da fielen die Segel. Der Anker rasselte. Die Trossen wurden festgemacht, und in eiliger schweigsamer Arbeit holten die Männer die Fracht ans Land.

Noch ehe Dunkelheit aus den Wolken fiel und aus der See emporquoll, machte sich die »Julandia« auf die Heimfahrt. Pellworm war nicht weit. Der Sturm lag noch tief versteckt in fernen Abgründen. Die »Julandia« war ein starkes und tüchtiges Schiff, seit zwanzig Jahren bewährt in Sturm und Not. Was konnte geschehen?!

Der Knecht setzte die Positionslaternen. Weit griff ihr Schein über das dunkelnde Meer. In den Segeln begann es zu knattern. Wind aus Nordwest faßte sie hart an. Dann lagen sie straff gebauscht, an den Rändern schwirrend, zwischen Mast und Gaffeln und Tauen.

Der alte Schiffer Sören Mathiessen ging schwer, eine erloschene Tabakspfeife im Mund, an Heini Pott vorbei, um das Steuer zu nehmen. Heini wollte ihn fragen: »Gifft dat Sturm, düsse Nacht, Käppen?« Doch er schwieg, als er das erstarrte Gesicht des Alten sah und die Augen, die stark und streng unter zusammengezogenen Brauen geradeaus gerichtet waren. Er blickte ihm erschrocken nach. Da murmelte Ekke und drückte den Block des Großschots hart in die Eisenklammern:

»Er denkt an Jeß! Der tanzt diese Nacht in Nordstrand!«

Der Junge blickte steif zum Schiffer. Der stand am Steuer, breit, wuchtig, die großen braunen Hände ins Helmholz des Ruders geklammert. Weit hinter ihm brannten flackernd die Lichter von Föhr. Aus dem großen, runden Auge des Leuchtturms stieg Blitz um Blitz.

Um Mitternacht auf hoher See begann der Wind zu jaulen. Ungestüm brach sich der Schoner, die Segel zum Zerreißen gespannt, stark nach Steuerbord übergeneigt, durch die hochlaufende See, blaß bespült vom Mondlicht, das durch Wolken dunstete. Wasserschleier sprangen am Bug empor, zerflatterten wild und stürzten auf das Deck wie zersplitterndes Glas. Schwarze Wogen, fahlweißen Schaum auf den Stirnen, schwerflüssig wie Blei, verfolgten das fliehende Schiff.

»Verdammt,« murmelte der Schiffer Mathiessen. Das Helmholz bebte in seiner knochigen Hand.

Er hatte gehofft, noch vor Ausbruch des Sturmes den Hafen von Pellworm zu erreichen, doch der starke Nordwest trieb ihn unaufhaltsam nach Südost der Hallig Nordstrand entgegen.

»Großsegel herunter!« schrie er. Der heulende Wind zerschlug seine Stimme. Mit unsäglicher Mühe bändigte und barg Ekke, die Lippen hart aufeinander, das wütende Segel. Der Junge hockte hoch im schleudernden Mast, keuchend, Schweiß auf der Stirn, bebend vor Kälte, und reffte das Segel am Topp. Nur das Sturmsegel knatterte noch im Winde. Doch es reichte nicht aus, das Schiff in Kurs zu halten.

Immer schwächer wurde der Feuerschein, der von Pellworm her über die See spülte. Die »Julandia« tanzte wie in einem kochenden Brei. Der ungeheuerlich tobende Wind riß dunkle Täler und wälzte Wasserberge auf, deren Gipfel weißgischtend zersprangen. Plötzlich ging ein Ruck durch das Schiff. Es schütterte und krachte in allen Planken. Ein Wasserberg schwoll mächtig auf vor dem Bug und wusch, während das Fahrzeug, wie von einem Wirbel erfaßt, hin und her geschleudert wurde, wühlend über das Deck. Um sich zu halten, klammerten sich die Männer an die krachenden Masten. Der Junge schrie. Ein Fetzen des zersprengten Sturmsegels hatte sein Gesicht blutig gerissen.

Der Schiffer schickte den Knecht an die Pumpe, denn es gurgelte drohend unten im Schiff. Der Wind war jäh umgeschlagen und trieb sie westlich. Es war nichts zu machen. Hilflos war die »Julandia« preisgegeben den Stößen der tönenden Luft und den Peitschenhieben der Wogen.

»Rungholtsand!« schrie der Knecht. »Der Wind schmeißt uns auf Rungholtsand!«

Er rannte taumelnd nach vorn und warf das Lot. Doch eine Sturzwelle, hart und kantig wie ein Glasblock, riß ihn zurück. Er stolperte über den Schiffsjungen, der jammernd auf den Planken lag und mit nackten Armen den Fuß des Besanmastes umklammerte. Da knirschte es unterm Kiel. Es schütterte und krachte im Holz, als stürzte ein Haus. Dann lag das Schiff fest auf Rungholtsand, reckte sich auf, schüttelte sich, wehrlos wie in Ketten. Wasserberge sprangen backbord auf Deck, stürzten gurgelnd durch alle Luken und bohrten die »Julandia« tief in den Sand. Auf Deck war kein Halten mehr.

»In die Masten!« schrie Schiffer Mathiessen. Er mußte brüllen, um den heulenden Sturm zu übertönen. Mühsam, hin und her geschleudert, enterten die Männer, triefend vom Wasser, die Masten hinauf. Der Knecht Ekke zog den Jungen hinter sich her, der, halb bewußtlos, kaum Arme und Beine regen konnte und qualvoll vor sich hinstöhnte. Sie banden sich mit zerrissenen Tauen an die Toppen und hockten auf den Gaffeln, vom Winde gepeitscht, von Regenböen geschlagen, und starrten in die Finsternis. Schwach und fern blitzten die Feuer von Föhr und Amrum, von Nordstrand und Pellworm.

Plötzlich schrie Mathiessen unheimlich, wie aus gemarterter Seele:

»Jeß!«

Es war ein ganz kurzer, rauher Aufschrei, den der Sturm jäh verschlang. Er schreckte den Jungen auf, der neben ihm in den Tauen hing. Der Knabe sah plötzlich, gleichsam wie in einem lärmerfüllten Traum, den blonden Jeß. Er sah ihn tanzen in der kleinen Wirtschaft von Nordstrand, fern von Sturm und Todesnot. Er stöhnte laut. Dann kam die Ohnmacht über ihn.

Ungezählte Wogen brachen über das Deck der »Julandia«. Schaum sprang um die Masten fahlweiß, irr, wie huschendes Geisterlicht.

 

Jeß Mathiessen, am Fenster des Gasthauses in Nordstrand, preßte die Stirn gegen die Scheibe und horchte in den Sturm. Das Licht, das gelb und schwach nach draußen fiel, wurde zermalmt von Finsternis. Jammervoll ums Haus schrie der Wind. Er schrie so laut, daß die Musik der Spielleute und das Gelärm der Tanzenden oft nicht mehr war wie Möwengekreisch, vom Brausen des Sturms überbrandet.

Ein Mädchen, hoch und blond, heiß vom Tanz, rasch atmend, legte ihre Hand auf seine Schulter.

»Du wolltest mit mir tanzen, Jeß, warum tanzt du nicht mehr?«

Jeß wandte den Kopf. Seine Stirn war blaß. Unruhig flackerte der Blick. Seine Stimme war barsch:

»Laß!«

Ein langer, lachender Mensch kam heran und zog das Mädchen mit sich fort in den Tanz.

Jeß drückte aufs neue die Stirn gegen die Scheibe. Dumpf von Gedanken gequält, durchbohrte er die Finsternis.

Er sah die »Julandia«, wie sie auf wogender See verzweifelt kämpfte in furchtbarer Not und sich nicht wehren konnte, weil die Mannschaft nicht vollzählig war. Es fehlte einer. Es fehlte Jeß, der Sohn.

Er preßte die Fäuste gegen die Schläfen und stöhnte. Hinter ihm schrien Klavier und Geige, schleiften und lachten die Tanzenden, klirrten die Gläser.

Er hielt es nicht aus. Schwer durchschritt er den Saal, quer durch die Tanzenden. Er sah Paare an den Wänden. Sie hatten sich bei den Händen gefaßt. Ihre Gesichter waren blaß, und die Augen standen voll Angst. Andere schlichen zur Tür hinaus, scheu, geduckt, als drückte sie eine Not. Einer, ein junger, blonder Schiffer, die blaue Seemannsmütze tief im Nacken, schrie den Spielleuten ein paar heftige Worte zu. Das Klavier brach ab, der Geiger spielte noch zwei schrille Töne, dann schrie der blonde Schiffer durch den Saal mit schwerem Ernst in der Stimme.

»Es ist Sturm! Schiffe sind draußen!«

Da verstummten die Tanzenden, wurden blaß und sahen sich an. Der Sturm wütete um das Gasthaus. Die Fenster klirrten. Da gingen sie alle hinaus.

 

Unerträglich langsam krochen die Stunden der Nacht dem Morgen entgegen. Schiffer Mathiessens Sohn lehnte vor dem Bootsschuppen der Rettungsstation von Nordstrand. Mit unverminderter Kraft tobte der Sturm. Geisterstimmen heulten aus tief jagenden Wolken. Es war, als kämen Schreie zerfetzt über die See. Manchmal schrie Jeß, um sich aus Angst zu befreien. Er hörte aus der Finsternis die Stimme des Vaters:

»Jeß! Wir ertrinken! Warum bist du nicht da?«

Jeß stöhnte. Immer aufs neue schlug es hart in sein Herz: »Draußen im Sturm ist die ›Julandia‹ in Not!«

Als der frühe Tag mit glanzlosem Licht die Luft über Rungholtsand giftig erhellte, sah er, wie drüben, einige Seemeilen entfernt, ein gestrandetes Schiff zerbrochene Masten in die eisgraue Luft streckte. Die Leute von Nordstrand standen zuhauf auf dem Deich. Einer mit einem Fernglas erkannte, daß es die »Julandia« war. Man sah nur den Bug, der aus der hochlaufenden See tauchte, und zerbrochene Masten, in denen Menschenleiber hingen, unheimlich deutlich in blasser Luft.

Jeß erwachte aus der Erstarrung. »Rettungsboote klar!« schrie er verzweifelt.

Schon rollte aus dem Schuppen ein Fahrzeug. Unmöglich, es zu Wasser zu bringen. Die See schlug kochend den Strand hinauf.

Da schrie einer: »Die Pellwormer fahren aus!«

Alle blickten hinüber. Der kleine starke Dampfer der Rettungsstation von Pellworm kämpfte sich aus dem Hafen heraus und arbeitete schwer gegen die Wogen. Zuweilen verschwand er hinter Wasserschleiern. Doch man erkannte, daß er vorwärts drang, unendlich langsam in großem Bogen, denn der Wind drückte ihn Nordstrand entgegen.

Die Leute auf dem Deich standen reglos, mit hängenden Armen, eingebannt in Furcht und Entsetzen. Keiner sprach. Keiner schrie. Keiner sah, wie Jeß Mathiessen in wilder Hast das Motorboot aus dem Schuppen zerrte und zum Strand riß. Ein verzweifelter, fast wahnsinniger Drang, zu helfen und zu retten, gab ihm übermenschliche Kraft. Es gelang ihm, mit einer breit zurückflutenden Woge zu Wasser zu kommen. Der Motor knatterte, die Schraube peitschte das Wasser. Das Boot sprang von Welle zu Welle, wurde zu Tal gezerrt und über Berge gestoßen, von Sturzwellen überflutet und zuweilen um und um gewirbelt wie ein Stück Holz. Die Besatzung des Dampfers warf ihm Tauwerk zu. Es war schwierige und gefährliche Arbeit. Endlich war er an Bord.

Mit triefenden Kleidern und nassem Haar rannte Jeß nach vorn, beugte sich weit über die Reling und starrte nach Rungholtsand hinüber, wo zwei schwarze zerbrochene Masten aus gischtigem Wasser ragten, an denen drei Menschen hingen, gleich schaukelnden Bündeln.

Der Führer auf der Kommandobrücke, ein baumlanger Friese in Ölrock und Südwester, schrie hinab:

»Dein Vater, Jeß!«

Jeß antwortete nicht. Er trommelte mit den Fäusten auf die Reling. Er schrie unablässig, von Angst gequält und vom Gewissen gemartert:

»Vorwärts! Vorwärts!«

Der Führer auf der Brücke stemmte sich schwer ins Steuerrad.

»Wir kommen ran, Jeß! Wir kommen ran!«

Als Antwort warf der Sturm eine Sturzwelle über den kleinen Dampfer, so daß er sich duckte wie ein begossener Hund und wieder aus der See tauchte, von Wasserschleiern überströmt wie von Tränen. Mit immer neuer Wut rollte die See von Rungholtsand her, als wollte sie in wachsendem Zorn ihre Opfer gegen die Retter verteidigen. Eine Stunde lang dauerte der Kampf. Manchmal kamen sie so dicht an Rungholtsand heran, daß die Männer glaubten, es sei Zeit, das Boot auszusetzen. Sie erkannten deutlich die Menschen in den Masten: den Jungen, dem der Kopf auf der Brust lag, den Schiffer Sören Mathiessen, der stumm, mit weitaufgerissenen Augen, die Arme ausgebreitet wie ein Gekreuzigter an der Gaffel hing, und den hageren Knecht Ekke, der, im Tauwerk verstrickt, unablässig verzweifelte Hilferufe aus heiserer Kehle stieß. Schon hockte Jeß Mathiessen im Boot, das zu Wasser gelassen werden sollte und wie toll an den Trossen zerrte. Er hörte, wie die See im Bauch des gescheiterten Schiffes wühlte und scharrte. Er sah erstarrenden Blutes die Männer in der Takelage, hörte den Schrei des alten Ekke und das hilflose Stöhnen des Jungen, der das Gesicht erhoben hatte, das von blutigen Rinnsalen gezeichnet war. Der Schiffer Mathiessen hing reglos zwischen Mast und Gaffeln.

»Vater!« schrie Jeß.

Da gelang es endlich, das Boot aufs Wasser zu bringen. Fünf Mann saßen darin, Jeß am Steuer. Kaum schlug es aufs Wasser, flog es davon wie ein Pfeil, abgeschnellt von der Sehne eines Bogens. Dann wurde es zurückgestoßen und herumgewirbelt, so daß es nicht mehr von der Stelle kam. Keuchend lagen die Männer in den Riemen. Die Muskeln strafften sich zum Zerspringen. Wasser stürzte ins Boot. Unermüdlich arbeitete der Mann an der Pumpe. Die See spielte mit dem Boot wie mit einer Boje, die sich von ihrer Verankerung losgerissen hatte. Es schien, als wollte sie es packen und mit einem einzigen Ruck auf Rungholtsand schleudern.

Ekke hörte auf zu schreien. Mit verglasten Augen und erstarrtem Mund verfolgte er stumm, vor Frost zitternd, das schleudernde Boot. Da gelang es Jeß, der aufgereckt mit zusammengebissenen Zähnen vorn im Boot stand, ein Tau zu werfen, dessen Eisenhaken sich krachend in den schwarzen Bug der »Julandia« bohrte. Er schrie wild. Nun konnten sie sich heranarbeiten. Nun konnte das ungeheure Werk gelingen.

Jeß war der Erste an Bord. Keuchend, mit blutenden Händen und zerbissenen Lippen kletterte er den Großmast hinauf. Nun waren die brennenden Augen des Sohnes dicht vor dem grau versteinten Gesicht.

»Vater!« schrie er wild und besinnungslos.

Der Vater öffnete die Augen. Sie waren glanzlos, von Blut unterlaufen. Aber sie erkannten den Sohn.

»Jeß!« stöhnte er fast unhörbar und dann noch einmal, seltsam zitternd, wie erschüttert von Angst und Liebe: »Jeß!«

Dann schloß er die Augen, und die Muskeln des Gesichts wurden schlaff.

Mit bebenden Händen löste der Sohn den Vater aus seiner Verstrickung, glitt mit dem schweren, fast leblosen Körper den Mast hinab und barg ihn im Boot. Dann holten sie den Knecht, der unverständlich, mit irren Augen vor sich hinredete. Der Junge schlang den Arm um den Hals des Matrosen, der ihn rettete, und schlief ein mit einem tiefen Seufzer.


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