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Die Gallionsfigur

Nach dreitägigem Nordweststurm schwemmte die Flut eine Gallionsfigur den Strand von Hallig Hooge hinauf. Jan Karst fand sie. Er nahm sie mit nach Hause und reinigte sie von Tang und Schlamm.

Der alte Wattenfischer Sören Karst sagte:

»Ich glaube, sie stammt von der dänischen Galeasse, die gestern ohne Masten mit zerbrochenem Heck am Hörner Sand auflief.«

Behutsam trug der junge Sohn die Figur in seine Kammer, legte sie lang auf den Tisch und betrachtete sie ernst, die Augen versonnen. Sie war arg mitgenommen von Sturm und See. Sie hatte Risse und Sprünge und die Farben waren vom Salzwasser zerfressen. Doch die Frau, die sie darstellte, war so schön, wie er nie eine gesehen, obwohl er vielen Mädchen und Frauen begegnet war, wenn er auf den Märkten von Husum und Büsum mit dem Vater Schollen und Porren verkaufte. Ihr Gesicht war zart. Ihr Haar, ein Kranz aus Flechten, war bernsteingelb. Ein Lächeln bog den schöngeschwungenen Mund, so voll von Güte, wie er es nie gesehen bei Mutter oder Schwester. In langen Falten floß das blaue Kleid, golden gegürtet über den Hüften. Die weißen nackten Arme lagen mit zarten Händen gefaltet im Schoß. In den Saum des Kleides waren drei gleiche Buchstaben geschnitzt. Dreimal ein E.

Jan Karst kam nicht los von dieser Figur. Sie war wie Traum. Seine blauen Augen fingen ihn auf und trugen ihn tief in die Seele. Nachts, wenn er schlief, sah er träumend, wie auf ruhloser See vorn am Bug eines Schiffes die blaue Gestalt auf- und niedertauchte, immer das gleiche Lächeln im zarten Gesicht, bis der Sturm kam, der sie dem Bug entriß und tief niederdrückte ins donnernde Meer ohne Erbarmen.

 

Viele Jahre vergingen. Jan Karst wurde Fahrensmann wie sein Vater. Die Gallionsfigur hing in der Kammerecke über dem Bett Jan Karsts. Er sah sie oft an mit einer Sehnsucht, für die er keinen Namen wußte.

Er war sechsundzwanzig Jahre, als er, zum erstenmal, nach dem Tode des Vaters den Hafen von Esbjerg anlief, um die Fische zu verkaufen, die so dicht in der Bünn des Ewers lagen, daß sie fast erstickten. Die Nordsee unter hohem blauem Himmel war voll Glanz. Die kleinen Häuser um den Hafen von Esbjerg, spitz, gebrechlich, hatten besonnte Gesichter und schienen zu lächeln.

Jan Karst stand auf Deck und verkaufte den Frauen, die über die Laufplanke kamen, Porren und Schollen. Stieg um Stieg, fünfzehn Stück eine Krone. Plötzlich war ein junges Weib in blauem Kleid vor ihm. Schmale Hände, deren Haut ihm durchsichtig erschien, hielten ein Marktnetz.

»Für eine Krone,« sagte sie lächelnd.

Dem Fischer Jan Karst fuhr es ins Herz, als hörte er zart den Klang einer Glocke. Er schaute auf und erschrak von ihrem Lächeln gebannt. Er vergaß die Schollen, die zwischen seinen Fingern mit den Schwänzen schlugen. Das Mädchen wurde rot unter seinem Blick, bis zu den gelben Flechten, die wie ein Kranz den Kopf umkreisten. Frauen, die ihn umstanden, stießen ihn an, ungeduldig und lachend. Da wurde er wach, senkte den Kopf und gab ihr die Schollen ins Netz.

Dann ging sie davon, biegsam und leicht über die Brücke zum Kai. Er sah ihr nach. In der Sonne funkelte über weißem Nacken ihr Haar.

Mittags sah er sie wieder. Gemächlich überschritt er den Marktplatz von Esbjerg. Sie stand in der offenen Tür eines Krämerladens. Er blieb vor ihr stehen und staunte sie an. Sie hob die Brauen und wollte gehen. Rasch zog er die Mütze, bekämpfte Verwirrung und sagte in Eile:

»Sie sehen aus genau wie eine Gallionsfigur, die vor vierzehn Jahren der Sturm auf unsere Hallig geworfen. Der Holzschnitzer muß sie nach Ihrem Gesicht geschnitten haben. Es kann nicht anders sein.«

Sie lachte ein wenig und schüttelte den Kopf. Es funkelte ginstergelb im Haar.

»Ach,« sagte sie, »vor vierzehn Jahren ging ich noch nicht zur Schule.«

Jan Karst nickte mit ernstem Gesicht. »Im Saum ihres blauen Kleides sind Buchstaben eingeschnitzt. Dreimal ein großes E.«

Das Mädchen schaute ihn an. In ihren Augen stand plötzlich Verwunderung. Sie sagte mit Staunen:

»Meine Mutter als Mädchen hieß Elva Elversen und wohnte in Esbjerg.«

Er schwieg eine Weile und blickte sie an, groß und verwundert. Dann murmelte er und sein Gesicht war seltsam bewegt:

»Die drei Buchstaben auf dem Kleid bedeuten: Elva Elversen aus Esbjerg. Es kann nicht anders sein.«

»Das ist sehr sonderbar.«

Sie schaute an ihm vorbei. Ihr blauer Blick verlor sich in der Weite des Himmels. Dann sagte sie leise:

»Ich möchte es sehen.«

Jan Karst entgegnete rasch, umfing sie mit brennendem Blick und fühlte sein Blut, das heiß aus dem Herzen sprang:

»Es hängt in meiner Kammer. Ich heiße Jan Karst und wohne auf Hallig Hooge mit meiner Mutter. Die Fahrt ist nicht weit.«

Aus dem Laden rief eine Stimme, barsch und laut:

»Elva.«

Das Mädchen erschrak und lief in die Dämmerung des Ladens. Eine Sekunde lang, dunkel im Schatten, sah Jan ein graues Gesicht mit verdrossenem Mund über struppigem Bart.

»Elva,« murmelte Jan, »wie ihre Mutter.«

 

Vier Jahre gingen hin. Wenn Jan die Gallionsfigur betrachtete, die noch immer über seinem Bett hing, dachte er an das Mädchen in Esbjerg und an die Zartheit ihres Lächelns. Wenn er auf See war, wußte er nicht, wohin er seine Sehnsucht wandern lassen sollte, zum Bild in der Kammer oder nach Esbjerg. Er wurde mit der Zeit ein verträumter und versonnener Mensch, verschlossener und einsamer wie alle anderen auf Hallig Hooge.

Eines Tages, während er in der Dämmerung mit der alten Mutter beim Abendbrot saß, betrat ein Mann die Stube, sonderbar anzusehen. Er trug Schifferkleidung, doch seine Gestalt und sein Gesicht hatten nichts Seemännisches. Ein großer Kopf saß tief, fast ohne Hals zwischen breiten Schultern, die wie Höcker waren. Sein bartloses Gesicht, grau und unregelmäßig, voll von Falten, schien eingeschlossen von Leid. Der große Mund war schwermütig gebogen und die Augen, klein, brauenlos, ruhten müde und glanzlos in dunklen Höhlen. Sein Haar war dünn und grau.

»Entschuldigen Sie,« sagte er leise, mit einer Stimme, die ohne Klang war. »Ich bin ein dänischer Schiffer und habe eine Galeasse gehabt, die vor achtzehn Jahren auf der Höhe von Hallig Hooge untergegangen ist. Wir wurden damals von einem englischen Trawler an Bord genommen. Nun traf ich vor wenigen Wochen einen Schiffer von Hallig Hooge, der erzählte mir, daß damals eine Gallionsfigur an den Strand geschwemmt sei.«

Er schwieg und atmete tief und blickte mit einem Glanz von Spannung in müden Augen die beiden Menschen an.

Jan Karst sagte erstaunt:

»Ja, ich habe die Gallionsfigur gefunden. Ich war zwölf Jahre alt.«

Über das Gesicht des Alten lief eine Zuckung. Er streckte den Kopf vor.

»Haben Sie das Bild noch?«

»Sie können es sehen.«

Sie stiegen hinauf zur Kammer.

Der Alte stand lange vor der Figur. Reglos, ohne ein Wort. Sie lächelte zart wie vor achtzehn Jahren. Die schmalen Hände lagen gefaltet im blauen Schoß.

Da sagte der Schiffer, ohne den Blick zu wenden:

»Die Gallionsfigur ist Strandgut. Sie gehört Ihnen. Doch ich möchte Sie bitten ...« Er verstummte.

Jan Karst sah die tiefe Bewegung im alten Gesicht und den Schein von Glück, der die Müdigkeit seiner Augen durchbrach. Doch Last und Not der eigenen Seele fühlend, wußte er nicht, was er entgegnen sollte. Endlich sagte er stockend:

»Ich muß Ihnen die Figur wohl geben. Doch ich kann mich nicht so rasch von ihr trennen. Wenn Sie wiederkommen, in drei Tagen um diese Zeit, dann sollen Sie es haben.«

Er blickte schmerzlich zu Boden. Plötzlich aufschauend, fragte er rasch und hob die Hand zum blauen Saum:

»Heißen diese Buchstaben Elva Elversen aus Esbjerg?«

Der Alte blickte betroffen auf.

»Ja,« sagte er, »Elva Elversen, Esbjerg.« Sein altes Gesicht schloß sich ungestüm auf. Seine Stimme klang erregt wie eine rauhe und schmerzliche Liebkosung.

»Ich werde wiederkommen.«

Er ging rasch hinaus.

Jan sah, wie er durch die Dämmerung zum Postschiff schritt, müde, mit großem Kopf zwischen den höckrigen Schultern. Noch am selben Tage schrieb Jan einen Brief an die Tochter Elva Elversen in Esbjerg.

 

Sie kam frisch und unbefangen, lebendiger als damals, gleichsam erwacht. Jan sah einen goldenen Ring an ihrer linken Hand. Er führte sie in die untere Stube, wo die alte Mutter, schmal, gebrechlich, weißes Haar unter der schwarzseidenen Haube, im Ohrenstuhl neben dem Beilegeofen saß.

Das Mädchen legte Hut und Schleier ab und fragte gespannt nach der Gallionsfigur und nach dem alten Schiffer, von dem Jan geschrieben hatte. Jan sah sie unverwandt an. Wie das junge Lächeln ihr Gesicht hell machte. Was für funkelnde Lichter in ihren gelben Flechten tanzten.

Ehe Jan antworten konnte, klopfte es und der alte Schiffer trat ein. Er konnte den Gruß, den er sagen wollte, nicht herausbringen. Er schaute gebannt auf das junge Weib. Dann fuhr er mit magerer Hand über Stirn und Augen, als wollte er ein Traumbild davonjagen, das ihn narrte. Er murmelte fassungslos:

»Elva Elversen?«

Das Mädchen sagte leise mit Ergriffenheit, und umfing sein erregtes Gesicht mit dem lichten Blau ihres Blicks:

»Elva Elversen war meine Mutter.«

Der Alte schloß eine Sekunde lang die Augen und atmete tief. Dann stiegen sie hinauf.

Die Gallionsfigur lag auf dem kleinen Tisch in Jans Kammer. Der alte Schiffer, dessen großer Kopf noch tiefer zwischen den Schultern zu sitzen schien, versank im Anblick des Bildnisses. Jan Karst vergrub den Blick im Antlitz des Mädchens, in dem die Gallionsfigur, die achtzehn Jahre lang über seinem Bett gehangen, selige Lebendigkeit geworden. Es war wie ein Traum.

Endlich fragte das Mädchen, zögernd, das Herz voll Ahnung:

»Kannten Sie meine Mutter?«

Der Alte hob den Kopf.

»Ja,« sagte er, »ich sah sie in Esbjerg, als sie so alt war wie Sie. Sie war verlobt und glücklich. Ich ein ruhloser Seemann. Ich fühlte, daß ich sie nie wiedersehen durfte. Ich bat einen Freund, der ein Holzschnitzer in Flensburg war, mir ihr Bild als Gallionsfigur zu schnitzen. So flog sie vor meinem Schiff her durch Stille und Sturm und ich war glücklich und einsam.«

Seine Augen, versonnen, wanderten durchs Fenster. Die Nordsee lag grau unter eiligen Wolken.

Das Mädchen saß im Stuhl, die Hände im Schoß gefaltet, die Augen fest auf den alten Mann gerichtet. Sie schien zu träumen. Auf ihren Lippen lag ein Lächeln, halb traurig, halb glücklich.

Da hob der Alte das Bild vom Tisch, reichte dem jungen Fischer die Hand, sagte ein Wort des Dankes und ging hinaus.

Die jungen Menschen schauten sich an. Sie sah den Schmerz um seinen Mund. Da sagte sie leise:

»Sie haben das Bild sehr geliebt?«

»Ja, sehr.«

Er sah sie brennend an. Ihre Stirn färbte sich rot.

 

Er stand noch am Tisch, mit schweren Gliedern, die Augen halb geschlossen, als das Postschiff längst auf der grauen Nordsee war.

Die Dämmerung kam. Von draußen tönte die polternde Stimme des greisen Schifferknechts:

»Jan!«

Jan fuhr auf. Ja, richtig, sie wollten diese Nacht mit ihrem Ewer zur Doggerbank.


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