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8. Der Champion der Königin

Es ist ein gar ernstes Kapitel, welches die eine Periode in Nobodys Leben beschließen soll. Besonders der Anfang ist sehr ernst.

Wir haben Nobody fast immer nur als einen sehr heiteren Charakter kennen gelernt. Der Schein trügt. Nobody konnte manchmal auch recht melancholisch sein, und das war besonders in letzter Zeit sehr oft der Fall.

In New-York erwarteten Nobody schon wieder zahllose Aufträge. Er suchte sich den interessantesten Fall heraus. Zwar war es nichts Neues, nichts Sensationelles – es handelte sich nur um den Angestellten eines Pariser Bankhauses, der mit einem Geldbetrage durchgebrannt war, nur mit 6000 Francs.

Das französische Bankhaus war sich über die Person des amerikanischen Detektivs offenbar ganz im unklaren, wenn es sich wegen solch einer Lappalie an ihn wendete und ihm den vierten Teil des Geldes versprach, welches er dem flüchtigen Diebe wieder abnehme.

Lächerlich! Die hatten ja gar keine Ahnung, wer dieser amerikanische Privatdetektiv eigentlich war.

Nobody konnte sich vorstellen, wie sie auf diese Idee gekommen waren. Die französische Polizei hatte den Dieb nicht fassen können, vielleicht hatten sich die Geschädigten auch schon an ein Privatinstitut gewendet, ebenfalls ohne Erfolg, da hatte einer gesagt: In New-York soll doch so ein scharfer Detektiv sein, Nobody heißt er, der macht eine Spezialität daraus, durchgebrannte Kassierer zu verfolgen, und er verlangt nur einen Anteil von dem Gelde, das er dem Flüchtigen wieder abnimmt; wir wollen doch einmal an ihn schreiben, und wenn wir ihm den vierten Teil bieten, so kann er doch zufrieden sein, es kostet uns doch nur einen Brief für fünf Sous.

Ohne Zweifel waren da auch Stimmen laut geworden, welche behaupteten, daß dieser Nobody ja gar nicht existiere, das sei doch nur eine Romanfigur, speziell für so ein amerikanisches Sensationsblättchen zurechtgeschnitten.

Andre hatten vielleicht nun schon etwas mehr von diesem Detektiv gehört, sie wetteten, daß der Brief nicht als unbestellbar zurückkäme – kurz und gut, es wurde einmal an den mysteriösen Nobody geschrieben, nur des Spaßes halber, es kostete ja nur fünf Sous.

Nobody hatte ähnliche Fälle noch genug auf Lager, und noch ganz andre! Da war ein Kassierer mit anderthalb Million Dollar durchgebrannt, die geschädigte Firma versprach dem Jäger klipp und klar fünfmalhunderttausend Dollar, wenn er den ungetreuen Menschen überhaupt nur dingfest mache, daß er bestraft werden konnte. Das war doch etwas ganz andres!

Nein, Nobody nahm den Pariser Fall auf, der ihm höchstens 1500 Francs einbringen konnte, wahrscheinlich aber gar nichts, denn 6000 Francs sind doch bald verjubelt.

Ist das nicht merkwürdig? Nicht, wenn man die näheren Verhältnisse und besonders Nobodys Charakter kennt.

Mit der Abfassung des betreffenden Briefes war ein ebenso schreibseliger wie gewissenhafter Mann beauftragt worden, er schilderte ganz ausführlich, wie das fünfzehnjährige Bürschchen, ein Lehrling, das Geld unterschlagen hatte, sprach sehr viel von dem Jungen selbst, erzählte einige Geschichtchen von ihm, und wie schlau er das dann angefangen hatte ...

»Wenn das alles wahr ist, dann wissen die ja gar nicht, was für ein Genie sie im Geschäft gehabt haben! Dieser fünfzehnjährige Junge ist ja ein wahrhaft genialer Gauner, und vielleicht weiß der selber noch nicht, wie weit er es noch einmal in der höheren Gaunerei bringen kann!«

Er zog durch sein schon erwähntes Auskunftsbureau eine telegraphische Erkundigung ein, der Hauptsache nach stimmte alles, und noch an demselben Tage reiste Nobody über den Ozean nach Paris.

Nun versteht wohl der geneigte Leser, was bei Nobody entschied, ob er einen Fall annahm oder nicht. Nur das Interesse an der Person und dann noch die Aussicht, dabei Abenteuer zu erleben.

»Sie sind wirklich der Nobody? Sie existieren also wirklich? Und Sie sind wirklich gekommen?«

So wurde der Detektiv von dem Chef des französischen Bankhauses empfangen, und der reiche Monsieur schien Lust zu haben, mit dem berühmten amerikanischen Detektiv, der also wirklich existierte, erst etwas in der Gesellschaft zu renommieren, worauf sich Nobody nun freilich nicht einließ.

Die Verfolgung des Diebes interessiert uns nicht. Wir können aus Nobodys Leben nur immer die bemerkenswertesten Fälle herausnehmen. Jedenfalls hatte sich Nobody nicht getäuscht; mit was für einem geriebenen Kopf er es zu tun hatte, das wurde dadurch am besten bewiesen, daß der halbwüchsige Junge überhaupt merkte, wie jemand hinter ihm her war, und so mußte Nobody das Wild zwei Monate lang jagen, bis er es endlich in Warschau zur Strecke gebracht hatte, und schließlich entging ihm dennoch die Beute, auf welche er es hauptsächlich abgesehen gehabt hatte, nämlich dieser talentvolle Junge selbst – als er sich gestellt sah, schoß er sich eine Kugel, durch den Kopf. –

Wenn Nobody auf der Reise war, so ließ er sich keine Geschäftsbriefe nachschicken. Der Brief, den Nobody in Warschau erhielt, konnte überhaupt nur von seiner Frau sein. Gabriele teilte ihm darin mit, daß Marguerite eines sanften Todes gestorben sei.

Es war schon längst zu erwarten gewesen. Marguerite, die einst den früheren Prinzen Alfred und den späteren Nobody mit ihrer Liebe verfolgte, hatte die Schwefelinsel nicht wieder verlassen. Allerdings war sie erst eine Gefangene gewesen, dann aber, als Nobody ein Mittel gefunden hatte, um sie gehn zu lassen, ohne sie fürchten zu müssen, war sie freiwillig in dem Hause geblieben, das man ihr auf der Insel zur Verfügung gestellt hatte, einer Prinzessin würdig. Marguerite litt an einer inneren Krankheit, sie siechte langsam dahin, sie wußte es, und – wie es so oft geht – sie war fromm geworden, eine Betschwester, welche vor allen Dingen immer Gabrieles Gesellschaft aufsuchte, um dieser Vorschläge zu machen, wie man den gottlosen Nobody bekehren könne.

Für Gabriele bedeutete ihr Tod die Erlösung von einer Geißel. Für Nobody bedeutete Marguerites Tod noch etwas ganz andres. Nicht allein, daß er diesem Weibe auch als Frömmlerin niemals getraut hatte – nein, es war noch etwas ganz andres dabei, worüber aber Nobody sich selbst keine Rechenschaft geben konnte. Er fühlte nur, er ahnte es, daß der Tod der Jugendgeliebten für sein Leben eine ganz besondere Bedeutung habe, darin eine Umwälzung hervorbringen müsse.

Während Nobody den Brief noch in der Hand hielt, sah er im Geiste vor sich jene Eilande, welche auf der Karte den unschönen Namen Schwefelinseln führen. In welcher Beziehung stand Nobody zu diesen Inseln? Eigentlich in gar keiner mehr, oder nur so weit, weil seine Frau und Kinder darauf wohnten und er diese manchmal besuchte, bei ihnen verweilte. Sonst kümmerte sich Nobody gar nicht mehr um diese Inseln, auf denen Kapitän Flederwisch das Ideal zu verwirklichen suchte, was ihm in Südamerika gescheitert war, er baute da nach Herzenslust, ganz nach seinen eignen Plänen, und eben deshalb ließ ihn Nobody, der sich nicht als ungewünschter Ratgeber hätte aufdrängen können, ganz allein gewähren, und der Freundschaft zwischen den beiden tat dies auch keinen Abbruch.

Weshalb lebte Gabriele auf den Schwefelinseln? Ja, lieber Gott, irgendwo mußte sie mit den Kindern doch wohnen! Und man darf nicht glauben, daß sie ein einsames Leben geführt hätte! Auf den Schwefelinseln ging es vielmehr immer recht lebhaft zu, Gesellschaft gab es genug, und Gabriele bedurfte dieser nicht einmal, denn die freie Zeit, welche ihr die Erziehung der beiden Söhne ließ, widmete sie ausschließlich der Kunst, der Bildhauerei. Auch hierzu war die Schwefelinsel sehr geeignet, man hatte auf ihr ein Lager des feinkörnigsten Marmors entdeckt, und schon manche Statue war unter ihrem Meißel hervorgegangen.

War Gabriele glücklich? Sie versicherte es stets, auch wieder in diesem Briefe, welcher mit den Worten schloß:

»... und auch Heinrich und Alfred schicken an ihren Papa tausend Küsse.«

Nobody starrte unverwandt auf den Brief. Bei dem Worte ›Küsse‹ war die Tinte ausgelaufen. Was war da drauf getropft? Nobody wußte es ganz bestimmt. Eine Träne war es gewesen!

Nein, Gabriele war nicht glücklich! Auch das wußte Nobody ganz bestimmt, hatte es schon immer gewußt. Aber das hing nicht damit zusammen, daß er so selten bei Frau und Kindern weilte, im Jahre durchschnittlich nur vier Wochen, deswegen sprach ihn sein Gewissen frei. Gabriele hatte gewußt, daß sie einen ruhelosen Detektiv heiratete, darüber hatten die beiden sich schon vorher ausgesprochen, und sie war mit allem einverstanden gewesen, sie mußte sich vorstellen, als Gatten einen Seemann zu haben, der alljährlich nur einmal nach Hause kommt, und wie viele Berufe gibt es nicht, bei dem genau dasselbe der Fall ist; man denke nur an einen Geschäftsreisenden, den seine jährliche Tour durch ganz Europa und in andre Erdteile führt, und Gabriele nahm die lange Trennung noch ganz besonders leicht, weil sie arabisches Blut in ihren Adern hatte, und die Araberin ist zum stillen Gehorsam – oder sagen wir: zur stillen Duldung geboren.

Nein, das war es nicht! Was war es sonst? Die beiden hatten noch nie darüber gesprochen, Gabriele behauptete ja stets, ganz, ganz glücklich zu sein; aber Nobody glaubte zu wissen, er glaubte es, was ihr fehlte. Die Anerkennung war es, die ihr fehlte.

Anerkennung! Ein großes Wort von tiefster Bedeutung. Freilich für den, welcher noch niemals Anerkennung gesucht hat, ohne sie zu finden, nicht leicht zu erklären.

Was geschah mit den Marmorwerken, welche nach Tonmodellen unter dem Meißel der Künstlerin entstanden? Gabriele stellte sie in ihrer eignen Wohnung auf, auch auf den öffentlichen Plätzen der schon mit Straßen bedeckten Insel, beschenkte ihre Freunde damit.

Ihre Sujets wählte sie mit Vorliebe aus der biblischen Geschichte. Waren es wirkliche Kunstwerke oder nur Dilettantenarbeiten? Lord Hannibal Roger versicherte auf Ehre, noch nie ein herrlicheres Kunstwerk gesehen zu haben, als z. B. die Gruppe der drei Apostel; das sei ein Meisterwerk, welches es mit der klassischen Bildhauerarbeit aufnehme. Und auch Nobody konnte nur staunen darüber, was seine Frau mit ihren zarten Händen aus einem rohen, ungefügen Block alles zu schaffen vermochte, wie sie dem harten Steine Leben gab! Aber in Wirklichkeit verstand Lord Roger von der Bildhauerei ebensowenig wie Nobody.

Auf der Insel gab es nur einen einzigen Menschen, der hier ein Urteil fällen konnte. Es ist schon früher erzählt worden, wie Nobody zur Ausbildung seiner Frau aus Rom einen Künstler herbeigerufen hatte, welcher als Lehrer an der Akademie für Bildhauerei angestellt gewesen war. Und Professor Bersoli hatte für Gabrieles plastische Werke immer nur Tadel und nichts als Tadel, und es kam ihm gar nicht darauf an, mit einem Hammerschlage die Statue, an welcher seine Schülerin ein ganzes Jahr lang Tag für Tag gearbeitet hatte, und die von allen, die davon etwas verstehn wollten, für ein unvergleichliches Kunstwerk gehalten wurde, wieder zu zertrümmern.

Es gab eine Zeit, da Nobody den italienischen Professor gehaßt hatte. Einmal hätte er ihn gleich ohrfeigen mögen. Und dieser Kerl, der so unerbittlich streng kritisierte und alles, was ihm von seiner Schülerin nicht ganz gefiel, gleich wieder vernichtete, hatte selbst noch nicht einmal irgend etwas in der Kunst geleistet, kein Bildwerk war von ihm ausgestellt, er hatte überhaupt noch gar keins gemeißelt, noch gar nichts! Wie konnte der Kerl denn da Professor an der römischen Bildhauerakademie gewesen sein?

Gabriele freilich wußte ihrem Manne bald ein andres Bild von diesem ›Kerl‹ beizubringen. Der schaffende Künstler und der theoretische Kunstlehrer sind eben zwei ganz verschiedene Personen. Ein Lehrer an der Kunstakademie braucht kein genialer Maler zu sein, seine Gemälde sind vielleicht sogar recht stümperhaft, er beherrscht eben die Technik nicht; aber er ist ein Meister der theoretischen Perspektive oder der Schattenlehre. Ein Klaviervirtuose, wie Rubinstein, ist gewöhnlich ein herzlich schlechter Lehrer; dann gibt es wieder an Konservatorien Lehrer, mit deren Fingertechnik es nicht weit her ist, und doch drängen sich die zukünftigen Virtuosen, welche das Höchste in der Kunst erreichen wollen, zu ihrem Unterricht, um von ihnen in die Tiefen der Harmonie und des Kontrapunktes eingeweiht zu werden.

Professor Bersoli nun lehrte die Gesetze des sogenannten ›goldnen Schnittes‹. Unter dem goldnen Schnitt versteht man eine Proportion, ein Verhältnis, in dem einzelne Teile zueinander stehn, ursprünglich beim menschlichen Körper, dann aber auch bei Gebäuden, überhaupt bei allem, was mit der Plastik und Malerei zusammenhängt. Der goldne Schnitt ist eine Linie, die man an einem menschlichen Körper zieht, und ist sie nicht anzubringen, oder fügen sich die einzelnen Verhältnisse ihr nicht, so entspricht das Ganze nicht den Gesetzen der harmonischen Schönheit. Dies mag genügen. Zuerst angewendet worden ist der Ausdruck von dem Altmeister Albrecht Dürer, welcher bewies, daß nach diesem Gesetze alle Künstler des griechischen Altertums gearbeitet haben.

Professor Bersoli nun war ein derartiger Kunstenthusiast, daß, wenn es nach ihm gegangen wäre, es auf der Erde nur Landbauern, Steinbrecher und Künstler gegeben hätte, denn alles, was nicht zur direkten Ernährung des Menschen diente, hielt er für vollkommen überflüssig. Ackerbau und Viehzucht genügten, schon die Mühle und die Bratpfanne verachtete er, und da er von der Kunst nur die Plastik, und von dieser wiederum nur die Bildhauerei gelten ließ, so hätten die Menschen nur in Höhlen zu wohnen brauchen, und sonst wäre die ganze Erde mit Statuen bespickt gewesen.

Er speziell beschäftigte sich nur mit dem goldnen Schnitt. Er schrieb über denselben ein Werk, für welches er jährlich drei Liter Tinte verbrauchte, er prüfte jeden Menschen, ob er nach dem goldnen Schnitt gebaut sei; jedem Bauer bewies er, daß auch die Aehre nach demselben geformt sei, er sprach überhaupt nur vom goldnen Schnitt, und so hieß er auf der Insel schon längst nur noch der Professor Goldschnitt.

Einige unter Gabrieles Meißel hervorgegangene Statuen hatten also vor seinen strengen Augen bestanden. Sie blieben auf der Insel. Wo sollten sie auch sonst hin? Lord Hannibal Roger hatte eine erwerben und nach England schicken wollen, aber er hatte vergebens Summe auf Summe geboten, Gabriele war nicht zu bewegen gewesen, ihre Arbeit von der Insel zu lassen, und Lord Roger hatte sein Ehrenwort geben müssen, keine heimliche Entführung in Szene zu setzen.

Weshalb diese Weigerung der talentvollen, jedenfalls genialen Künstlerin?

Nobody wußte den Grund, aber er vermochte ihn nicht in Worte zu kleiden.

Anerkennung! Ach, Anerkennung!! Gibt es wirklich einen fühlenden Menschen, der nur aus eigner Freude etwas schafft, von dem er glaubt, daß es etwas Großes, etwas Unsterbliches ist? Sollte er nicht im Innersten seines Herzens wenigstens eine Hoffnung haben, daß er vor der Menschheit Anerkennung findet, und sei es auch erst nach seinem Tode? Denn wo bleibt denn sonst die Schaffensfreudigkeit?

Anerkennung! Und sie fehlte auch unserm Nobody, und deshalb fühlte er so oft, besonders in letzter Zeit, eine innere Leere.

Ja, er hatte als Detektiv viel vollbracht, er hatte Reichtümer erworben, er hatte manchen warmen Händedruck bekommen, er hatte Tränen der Dankbarkeit weinen sehen, und das, was er vollbracht, war nicht nur von Hunderttausenden, sondern von Millionen von Menschen mit Interesse gelesen worden, und es würde noch gelesen werden, aber ...

»Drrrr Nobody, welcher ist ein so großer Hokuspukusmacher.«

So hatte ihn damals der afrikanische Diamantenkönig Veit Lazar seinen Gästen vorgestellt.

»Sie sind wirklich der Nobody? Sie existieren also wirklich?«

So hatte ihn vor zwei Monaten der Chef des Pariser Bankhauses empfangen.

Genügen diese zwei Beispiele? Versteht nun der Leser das, was Nobody selbst nicht mit Worten erklären konnte, weshalb er sich manchmal so unbefriedigt fühlte?

Dann nur noch eins: wenn Nobody tot war, ja, wenn er nur von seinem Detektivberufe zurücktrat, wenn eine Zeitung sich nicht immer mit ihm beschäftigte – dann gehörte Nobodys Person wirklich der Mythe, der Sage an, sowie schon jetzt von hundert Lesern neunzig überhaupt gar nicht an seine Existenz glaubten!

»Das muß anders werden, ich muß mir eine reellere Stellung im Leben schaffen!«

So hatte Nobody gar oft schon gedacht, aber der Plan war noch nie zur Ausführung gekommen, er hatte noch gar keinen gefaßt, denn das war eine gar schwierige Sache, hier wollte auch Nobodys phantastische Erfindungskraft versagen. –

Jetzt aber beschäftigte ihn vor allen Dingen der Brief, auf den aus Gabrieles Augen eine Träne getropft war, und er wußte ein Mittel, um ihr glückliche Stunden, glückliche Tage bereiten zu können, es war sein eignes Glück, und schon in der nächsten Minute war Nobody reisefertig.

»Ach, könnte ich mich doch auf den Telegraphendraht setzen und als Depesche über Land und durch Meere fliegen,« seufzte er, als er sich nach dem Bahnhof begab.

Aber er war ein irdischer Mensch, er mußte Eisenbahn und Dampfschiff benutzen, und während der langen Reise faßte er wieder einmal einen Plan, wie er seinem Leben eine ganz andre Richtung geben wollte – einen Plan, welcher, obgleich Nobody doch offenbar an eine solide Lebensstellung dachte, wieder einmal so ganz dem abenteuerlichen Charakter dieses Mannes entsprach.

Seine Heimat war Deutschland. Und die Heimat bleibt die Heimat – Nobody sehnte sich nach ihr.

Dem Vaterlande hätte er so gern seine Kraft, sein Talent gewidmet. Er wollte nach Deutschland gehn und im Staatsdienste vom untersten Detektiv anfangen, seinetwegen als Schutzmann. Und dann wollte er sich schnell bis zur höchsten Stellung, die in diesem Berufe möglich war, emporschwingen.

Das heißt, dieser Plan war ebenso schnell wieder von ihm verworfen. Nein, Deutschland war nichts für ihn, die Heimat mußte er aufgeben. Da war schon ein fast unüberwindliches Hindernis, daß er unter keinen Umständen unter seinem richtigen Namen auftreten wollte – Prinz Alfred konnte doch nicht als Schutzmann an der Ecke stehn! – und in dem soliden Deutschland hätte er unter einem falschen Namen gleich mit einer Lüge angefangen. Es war auch noch verschiedenes andre dabei. Die Rangstufe, welche er im Kriminalwesen erreichen konnte, war beschränkt – schadete nichts, von unten anfangend, wollte Nobody es bis zum Justizminister, bis zum Gouverneur bringen, als August Schulze; daran zweifelte er nicht, und er wollte den Posten, den er bekleidete, voll und ganz ausfüllen, aber ... ob ihm solch eine feste Stellung auch wirklich auf die Dauer behagte? Ob er das aushielt? Ob er nicht eines Tages alles an die Wand warf und ... heidi, als lustiger Vagabund über die Berge ging?

Nein, das mußte reiflich überlegt werden, das mußte etwas ganz Extraordinäres sein. Noch einmal Schiffbruch wollte Nobody nicht erleiden. – –

Als er die Schwefelinsel betrat, hatte er die extraordinäre Idee noch nicht gefunden. Da aber dachte Nobody auch nicht mehr daran, jetzt brachte er das Glück mit, und er kümmerte sich auch sehr wenig darum, was unterdessen auf den Inseln alles passiert war, was Flederwisch unterdessen alles geschaffen hatte, mehr oder weniger Geniales, mehr oder weniger Verrücktes – Nobody widmete sich ausschließlich seiner Frau und balgte sich mit dem kleinen Heinrich und dem noch kleineren Alfred am Boden herum.

Doch der Tag kam, an dem Nobody einmal von der Zukunft begann.

»Willst du nicht einmal eins deiner besten Kunstwerke hinausschicken in die Welt, Gabriele?«

»Weshalb?« fragte sie gelassen.

»Nun, weil ... weil ...«

»Bitte, laß mir noch ein Vierteljahr, dann werde ich mich hierüber entscheiden, da muß ich erst noch des öfteren mit Professor Bersoli sprechen.«

»Willst du denn immer hier auf dieser Insel bleiben, Gabriele?«

Ruhig schaute sie den Frager an.

»Ja, weshalb nicht?«

»Fühlst du dich glücklich hier?«

»Vollkommen.«

Es war dem nicht so, sie sprach die Unwahrheit.

»Wollen wir uns nicht vielleicht in der Nähe von Paris häuslich niederlassen, Gabriele? Ich kaufe dort ein hübsches Landgut, du kannst dir eine passende Gesellschaft wählen ...«

»Ich folge dir überallhin, wohin du willst, und nur, wenn du nichts andres vorhast, bleibe ich hier auf dieser Insel, wo ich mich ebenfalls glücklich fühle. Auf mich brauchst du also keine Rücksichten zu nehmen.«

Hierin sprach sie wohl die Wahrheit. Nur ein Land durfte ihr Nobody nicht als zukünftige Heimat vorschlagen, er wußte es, und er vermied, auch nur von diesem Lande in ihrer Gegenwart zu sprechen.

Hiermit war aber auch diese Unterredung beendet, gleich mit der Einleitung. An Frankreich dachte Nobody übrigens auch gar nicht, er hatte nur einmal hören wollen, was sie dazu sagte.

Es wird wohl alles beim alten bleiben, dachte er seufzend, beim berühmten Unbekannten und bei der Bildhauerin auf der Schwefelinsel im chinesischen Meere.

Noch ein humoristischer Zwischenfall sei erwähnt, welchen Nobody während seines diesmaligen Aufenthaltes auf der Schwefelinsel herbeiführte.

Professor Bersoli hatte Nobody von jeher als das Ideal eines Mannes bezeichnet, an dessen Körper man die Gesetze des goldnen Schnittes studieren könne; noch mehr als am Körper vielleicht an dem klassischen Gesicht, besonders der Winkel, welchen die Nase mit der Stirn bildete – das sei das harmonische Verhältnis des goldnen Schnittes, und Professor Goldschnitt hatte denn auch schon genug an Nobody herumgemessen, wirklich mit Zirkel und Meßband, und dann das Exempel mit Hilfe der Logarithmentafeln gemacht. Aber diese zeitweiligen Messungen genügten ihm nicht, er hätte diesen goldnen Nasenschnitt für sein Leben gern ständig vor Augen gehabt – kurz, Professor Goldschnitts sehnlichster Wunsch war schon immer gewesen, von Nobodys Zügen eine Maske zu besitzen, d. h. von seinem Kopfe einen Gipsabdruck zu nehmen.

Aber die Herstellung eines solchen von einer lebenden Person ist mit großen Schwierigkeiten verknüpft, ein tadelloser Abdruck ist unmöglich. Einem Toten kann man wohl Gips oder Wachs oder eine andre weiche, nach und nach erhärtende Masse aufs Gesicht legen; aber ein lebender Mensch würde doch dabei ersticken, oder er muß in den Mund eine Röhre nehmen, durch die er atmen kann, und diese Röhre stört dann natürlich den ganzen Gesichtsausdruck, außerdem ist das doch auch eine ziemlich gefährliche Geschichte, und der römische Professor schien da schon einmal etwas Böses erlebt zu haben, daß er nichts von solch einer Röhrenmaske wissen wollte.

Während Nobodys Abwesenheit nun hatte Professor Goldschnitt eine wirklich hochwichtige Erfindung gemacht, die Frucht eines zeitraubenden Studiums mit chemischen Experimenten – er stellte eine weiche Masse her, welche, auf das Gesicht gebracht, das mit einer besonderen Flüssigkeit eingepinselt war, augenblicklich erhärtete; länger als zehn Sekunden dauerte die Prozedur niemals, und so lange kann wohl jeder den Atem ohne Beschwerde anhalten. Schon vielen Insulanern waren auf diese Weise Masken abgenommen worden, alle waren tadellos gelungen.

Gut! Nobody war damit einverstanden. Er mußte sich auf einen Tisch legen, sein Gesicht wurde mit einem Rahmen umgeben, erst mit Baumöl eingepinselt, dann mit einer andern Flüssigkeit, welche das Geheimnis des Erfinders war, und als alles so weit fertig, hielt der Professor seiner Schülerin erst einen langen Vortrag über den goldnen Schnitt von Nobodys Nase, Stirn und Mund, dann wurde sein Gesicht nochmals eingepinselt, und dann – bruch, klatsch! – hatte ihm Professor Goldschnitt einen zähen Kleister ins Gesicht gewichst.

»Eins, zwei, drei,« begann der Professor zu zählen, »vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn ... danke!«

Richtig, die Maske konnte sofort abgehoben werden; dort, wo sie auf dem Gesicht gelegen hatte, bildete sie eine vollständig harte Kruste, und nur noch wenige Minuten, dann war auch das Aeußere hart, die hohle Form konnte mit Gips ausgegossen werden, welche Prozedur der Professor denn auch gleich vornahm.

Es gelang tadellos, jetzt war die Maske also schon fertig; vorsichtig wurde dieselbe, welche Nobodys ideale Züge tragen mußte, aus der hohlen Form genommen, und ... wie vom Donner gerührt stand der Professor Goldschnitt da.

»Wawawawawas ist denn das?« stotterte er.

Die Maske zeigte nämlich eine verdrehte Nase, aus dem schiefen Munde guckte die Zunge hervor, und da war nun freilich wenig von der Harmonie des goldnen Schnittes zu bemerken.

»Ach, das tut mir leid,« bedauerte Nobody mit dem ernsthaftesten Gesicht von der Welt, während Gabriele ihr Lachen mit dem Taschentuch zu ersticken suchte. »Das tut mir wirklich leid. Ich bin jedenfalls etwas erschrocken, als Sie mir den Kleister ins Gesicht klatschten, und diesen Ausdruck nehmen meine Züge immer an, wenn ich unbewußt erschrecke. Machen wir es doch noch einmal!«

Die Prozedur wurde wiederholt, diesmal steckte Nobody unter dem Kleister nicht wieder die Zunge zum schiefen Maule heraus, verdrehte seine Nase nicht, machte auch keine andern Kapriolen, und so bekam Professor Goldschnitt von Nobodys Gesicht eine Maske, mit der er zufrieden war, die ihn sogar glücklich machte.

Die erste Maske aber, bei welcher der goldne Schnitt so schief geraten war, nahm Nobody mit und hing sie in seinem Raritätenkabinett auf, und auf der Insel wurde dieser Vorfall noch lange belacht.

 

Die Post hatte für Nobody mehrere Briefe gebracht, welche von dem Sekretär in New-York, der sämtliche Briefe erbrach und las, für würdig gehalten worden waren, daß man sie dem Chef nachschickte.

Dieser fand sie jedoch nicht für so sehr wichtig, nur beim Lesen des einen bemächtigte sich seiner eine große Erregung, der sich auch Nobody hingeben konnte, wenn er allein war; unwillkürlich preßte er dabei die Hand auf das klopfende Herz, und etwas Gutes mußte es sein, was ihm da mitgeteilt wurde, denn das sonnigste Lächeln des Glückes verklärte seine schönen Züge.

Noch einmal wurde der Brief gelesen, dann wandte er sich hastig der Tür zu und ging mit schnellem Schritt durch die Korridore des geräumigen Hauses. Gabrieles Atelier war sein Ziel.

Unterwegs aber erstarb das sonnige Lächeln, es machte dem Ausdruck der Sorge Platz, und dann, als er das Atelier betrat, hatte er sich vollständig wieder in seiner Gewalt, seine Züge waren unbeweglich.

»Gabriele, hier ist ein Brief, der dich interessieren wird. Ich habe dir doch mein Abenteuer auf der Magnetinsel ausführlich erzählt, wie ich dann speziell die Kohlensäurequelle eingehend untersuchte und meine Beobachtungen und Mutmaßungen schriftlich niederlegte. Ich ließ die Broschüre bei Patterson in New-York erscheinen, sie fand ihren Weg auch nach England – hier, die Universität Oxford will mich zu ihrem Ehrendoktor ernennen.«

Gabriele ließ das Modellierholz sinken, mit dem sie an einer Tonstatue gearbeitet hatte; mit offenbarem Staunen blickte sie den Sprecher an.

»Und das sagst du so gleichgültig, Alfred?! Ist denn das nicht eine der höchsten Ehren, die einem Menschen zuteil werden können, zum Ehrendoktor einer Universität ernannt zu werden? Und nun gar von der altberühmten englischen Universität!«

In Nobodys Augen blitzte es wie freudig auf, aber noch beherrschte er sich.

»Ja, ja, das ist schon der Fall. Aber ich muß natürlich auch hin nach Oxford, man wird viel Geschichten mit mir machen, und da die Königin die Protektorin der Universität Oxford ist, werde ich auch dieser mit viel Zeremonie vorgestellt. Zuletzt will man mich gar für immer in England festhalten. Was würdest du dazu sagen?«

Noch ein starrer Blick, dann trat Gabriele auf ihn zu, legte ihm beide Hände auf die Schultern und blickte lächelnd zu ihm empor.

»Kannst du denn wirklich glauben, du böser Mann, ich würde dir nicht auch nach England folgen? Oder du denkst wohl gar, ich habe noch einen Haß gegen England, weil dort meinem unglücklichen Vater ein so großes Unrecht widerfuhr? Ach, ich bin nicht mehr die Wüstenräuberin mit weltenumstürzenden Plänen, als Künstlerin, und mehr noch als Mutter, bin ich eine ganz, ganz andre geworden.«

Jetzt erst, als er die geliebte Frau an sein Herz drückte, brach bei Nobody der helle Jubel hervor.

Zwischen den beiden hatte immer ein Irrtum bestanden, wenn derselbe auch nicht in das Familienglück eingegriffen hatte, und dieser war auch nur Nobodys Schuld, indem er nämlich immer geglaubt, Gabriele trüge noch einen Haß gegen England im Herzen, weswegen er niemals auch nur davon gesprochen hatte.

Jetzt aber war dieser Irrtum beseitigt, nun war Nobodys Zukunftsplan auch sofort fertig, denn von jeher war es sein Wunsch gewesen, sich in England niederzulassen, er hatte es nur wegen seiner Frau nicht getan. Daß er England dem freien Amerika vorzog, wo in New-York doch auch seine Zeitung erschien, dazu hatte er die verschiedensten Gründe, von denen wir nur den hervorheben wollen, daß in Amerika allein das Geld herrscht – oder sagen wir gemäßigter: daß in Amerika allein der Großkaufmann Ansehen genießt. Denn was ist in Amerika ein General, was der höchste Beamte, was der erfolgreichste Gelehrte? Verstände Edison seine Erfindungen nicht so geschäftlich auszunützen, daß sein Einkommen Millionen beträgt, als grübelnder Erfinder spielte er in Amerika nicht solch eine Rolle.

»Ich habe die Broschüre unter dem Pseudonym Alfred Willcox herausgegeben, und diesen Namen werde ich nun auch als Mitglied der menschlichen Gesellschaft beibehalten. Denn als Nobody gehörte ich eigentlich gar nicht der Gesellschaft an, der Nobody war doch nur ein Schatten, eben ein Niemand. Ich werde mir in England, womöglich in der nächsten Nähe von London, ein Landgut kaufen, nicht nur so einen kleinen Ruhesitz, sondern eine Farm von einigen tausend Ackern. Ich habe von jeher Neigung zur Landwirtschaft gehabt, und verlaß dich darauf, auch darin werde ich etwas leisten, eine Musterwirtschaft werde ich einrichten, das nötige Geld habe ich ja dazu, und dann paß auf, was der Gutsbesitzer Alfred Willcox, Ehrendoktor der Universität Oxford, und seine Gattin in London für eine Rolle spielen werden. Mich soll es gar nicht wundern, wenn man mich schon nach einem Jahre zum englischen Baronet gemacht hat.«

Wir sehen also, daß auch Nobody nicht frei von Eitelkeit war. War dies aber wirklich der Fall? Ist dies wirklich Eitelkeit zu nennen? Wollen wir dabei doch bedenken, daß Nobody durchaus keinen Grund hatte, seinen prinzlichen Titel zu verleugnen! Nein, hier lag etwas ganz andres als Eitelkeit vor. Den Prinzentitel hatte er freiwillig abgelegt, denn den hatte er nur ererbt, ihn sich nicht verdient; der Ehrendoktor aber erfüllte ihn mit dem Stolze des berechtigten Erfolges, das machte ihn wahrhaft glücklich.

»So willst du deinen Detektivberuf ganz aufgeben?«

»O nein. Mir kommt es sogar vor, als wäre das geradezu eine Sünde – eine Unterlassungssünde. Denn ein gnädiger Gott hat mir ein großes Talent gegeben, hat mich mit allem ausgestattet, was man dazu braucht, um böse Elemente in der menschlichen Gesellschaft zu bekämpfen und unschädlich zu machen, um Verbrechen zu verhüten und den Täter der irdischen Gerechtigkeit zu überliefern. Ich habe schon viel Segen gestiftet. Darf ich diese meine Gaben aus Neigung zur Bequemlichkeit unbenutzt lassen? Nein, das darf ich nicht! Außerdem gestehe ich ja immer ganz offen, daß ich einen unbändigen Hang zum abenteuerlichen Leben habe. Bin ich deswegen zu schelten? Gewiß nicht. Ich soll diese abenteuerliche Neigung nicht einmal bekämpfen. Denn auch das hat mir Gott mit auf die Welt gegeben, auf daß ich meine Detektivtalente auch mit steter Freudigkeit ausüben kann, ohne die vielen Unannehmlichkeiten sehr zu empfinden; ein gütiger und allweiser Gott ist es gewesen, der mir auch die Unempfindlichkeit verlieh, so daß ich auf einem Schneelager ebenso sanft schlummere wie in einem Himmelbett, und ... ein allgütiger Gott hat mir auch eine Frau geschenkt, welche für mich unsteten Gesellen paßt, daß sie durch meine unruhige Lebensweise nicht unglücklich wird.«

Zärtlich drückte Nobody ihre Hand, und er hätte gleich noch etwas andres sagen sollen: und ein weiser Gott gab mir ein, jetzt diese Worte zu dir zu sprechen. Denn bessere Worte hätte Nobody gar nicht wählen können.

»Ich werde,« fuhr er fort, »von jetzt an ein Doppelleben führen, ganz meinem Geschmack entsprechend. Als Dr. Willcox bin ich der solide Bürger und Landwirt, der zugängliche Gesellschaftsmensch, der sich an deiner Seite des Lebens freut – als Nobody bin ich der geheimnisvolle Unbekannte, der ab und zu in dem dunklen London auftaucht, um zu enthüllen und zu richten. Ja, es war schon immer meine Absicht, mir für meine Tätigkeit als Detektiv ein spezielles Feld zu suchen, dem ich dann meine ganze Kraft widme. Welche Stadt eignet sich hierzu besser als London? In dieser uralten Stadt mit ihren sechs Millionen Menschen vergeht kein Tag, an dem nicht ein Verbrechen geschieht, und ich werde als unsichtbarer Schatten in alle Geheimnisse der Riesenstadt dringen, über und unter der Erde, und ich werde unsäglich viel Gutes stiften können. Denn das ist etwas ganz andres, als wenn ich mich auf der andern Hälfte der Erdkugel aufhalte und zufällig höre, daß in London irgend etwas passiert ist, was ich als Detektiv enthüllen kann, schnell einmal dorthin rutsche. Jetzt werde ich meine ganze Kraft auf die Sechsmillionenstadt konzentrieren, und kein Jack der Aufschlitzer würde wiederkommen, um allen Bemühungen der Polizei zu spotten. Verlaß dich darauf, Gabriele, es würde mir ein leichtes sein, in kurzer Zeit an der Spitze der Sicherheitswache dieser Riesenstadt zu stehn, also als Polizeidirektor. Ob ich diese Stellung wirklich erstreben werde, weiß ich jetzt allerdings noch nicht. Ich möchte doch lieber unabhängig bleiben, und es genügt, daß der Name Nobodys, der sich jetzt ständig in London aufhält, unsichtbar und überall zu gleicher Zeit wie ein Schreckwort wirkt, das jeden professionellen Verbrecher von seiner geplanten Tat abhält. Trotzdem ist es natürlich nicht ausgeschlossen, daß sich meine Tätigkeit auch noch nach den fernsten Weltteilen erstreckt. Fällt irgendwo etwas vor, was mich interessiert, kann Nobody ja nach wie vor zur Stelle sein.«

»Wirst du dann auch noch deine Berichte in ›Worlds Magazine‹ veröffentlichen?« fragte Gabriele.

»Ja. Jedenfalls. Diese Zeitung ist für mich eine Goldquelle, die ich zum eignen Nutzen und zum Segen für andre nicht aufgeben sollte. Doch darüber können wir noch später sprechen. – Und du, Gabriele? Willst du nun nicht endlich mit deinen Werken an die Oeffentlichkeit treten? Sprich nicht – du bist eine gottbegnadete Künstlerin! So viel verstehe ich denn doch auch davon. Willst du mich mit den Kindern nicht gleich nach England begleiten?«

Aber Gabriele war hierzu noch nicht zu bewegen, und sie führte einen Grund an. Sie erbat sich nicht etwa Bedenkzeit, sondern nur eine Frist von einem Vierteljahre. Denn sie hatte gerade eine Statue unter dem Meißel, diese wollte sie noch auf der Insel vollenden, wozu sie ein Vierteljahr gebrauchte, und außerdem konnte ein Weib gar nicht der Festlichkeit in den Räumen der englischen Universität, auf der es noch heute wie in einem mittelalterlichen Kloster zugeht, beiwohnen.

Nobody erkannte die Richtigkeit ihrer Weigerung an, und so reiste er einige Tage später allein ab, beseelt vom reinsten Glücksempfinden und von den schönsten Hoffnungsträumen.

Wir wollen nicht dabei verweilen, wie Nobody auf der Universität Oxford zum Ehrendoktor geweiht wurde, wir können es nicht, denn alles, was mit dieser englischen Hochschule zusammenhängt, ist so altertümlich, daß schon die Beschreibung der einfachsten Zeremonien einen dicken Band füllen würde. Jedenfalls wurde dabei der höchste Pomp entwickelt, und der Ehrungen, die der neue Doctor honoris causa empfing, waren vielleicht mehr als bei der Krönungsfeierlichkeit eines Königs. Dagegen muß erwähnt werden, daß der Doktortitel zwar auf den Namen Alfred Willcox übertragen wurde, daß aber sonst dieser Name gar nicht gebraucht wurde, sondern er war und blieb allein der Nobody.

Das ist ja auch ganz begreiflich. Die Universität hatte sich zur Ermittelung des Verfassers der Broschüre an jenen amerikanischen Verleger wenden müssen, und wollte Nobody als der eigentliche Urheber gelten, so mußte er sich doch auch jenem Verleger zu erkennen geben, außerdem war doch auch Nobody auf der Magnetinsel des schlafenden Todes gewesen, hatte die Entdeckung der Strandpiraten herbeigeführt, den schlafenden Tod besiegt, nicht Alfred Willcox – kurz, das Pseudonym ließ sich nicht wahren, er hätte eigentlich Dr. Nobody heißen müssen, nicht Dr. Willcox. Mr. World ließ es sich nicht nehmen, in seiner Zeitung zu berichten, daß ›sein‹ Nobody von der Universität Oxford den Doktorhut bekommen hätte, denn da hörte doch einmal der Zweifel auf, ob dieser Nobody auch wirklich existiere, und in Oxford selbst wurde Nobody von Professoren, Studenten und der ganzen Bevölkerung vielleicht mehr als jener mysteriöse Detektiv bewundert denn als der Verfasser jener Broschüre. Unser Held war also denn doch gar zu bescheiden, wenn er glaubte, als Nobody ein Nichts zu sein.

Dann kam der Tag, an welchem sich der neue Ehrendoktor im Schlosse zu Birmingham der Königin Viktoria von England vorstellen mußte.

Diese Vorstellung bei der Königin, welche für gewöhnlich nicht anders als eine reiche Privatperson lebte, war überaus einfach. Nobody wurde von einem Kammerherrn empfangen, dem es, obgleich doch sicher instruiert, wiederum passierte, daß er nicht Willcox, sondern Dr. Nobody begrüßte, dieser führte ihn einem zweiten Herrn zu, der ihn dann zur Königin geleiten würde, und dieser Herr selbst wurde mit den Worten vorgestellt:

»Sir Thomas Clapton, Champion Ihrer Majestät der Königin von Großbritannien und Irland.«

Der Champion der Königin! Mit Interesse betrachtete Nobody den Mann, einen Kollegen, der es vom bescheidensten Polizeiagenten bis zur höchsten Ehrenstellung gebracht hatte, die ein Kriminalbeamter in England erreichen kann.

Wir müssen uns mit dem Worte ›Champion‹ etwas näher befassen.

Unter einem Champion versteht man heutzutage einen Mann, welcher es in irgend etwas, hauptsächlich in einem Sport, zur Meisterschaft gebracht hat, also Champion-Boxer, Champion-Ringer, Champion-Schwimmer &c.

Früher war das anders. Ursprünglich, im Mittelalter und noch eher, hießen in England diejenigen Männer ›Champions‹, welche, wie es damals üblich, bei Zweikämpfen vor Gericht die Stelle eines dabei Beteiligten einnahmen, wenn dieser selbst sich für zu schwach hielt, was das Gericht auch billigte, indem man an eine Entscheidung Gottes glaubte.

Ein Champion ist also kein Meister, sondern ein Verteidiger, und zwar ein Verteidiger der Ehre, und das kann man auch noch heutzutage annehmen, indem solch ein Champion im Wettspiel irgend einen schon einmal gewonnenen Ehrenpreis zu verteidigen hat.

Die Gesetze, wie sie noch heute bestehn, hat England von seinem ersten König bekommen, von Wilhelm dem Eroberer. Der englische König ist für alles, was er tut, nicht verantwortlich, dafür hat er seine Minister; infolgedessen hat der englische König sich in die Regierung gar nicht hineinzumischen, in allen inneren und äußeren Angelegenheiten entscheidet allein das Ober- und das Unterhaus, weswegen man England getrost eine Republik nennen kann, die nur zur Repräsentation einen König unterhält, jedenfalls eine ideale Regierungsform. Und trotzdem steht der englische König auf solch einer erhabenen Höhe daß er überhaupt gar nicht beleidigt werden kann. In England gibt es daher keine Strafen für Majestätsbeleidigungen. Und ist das nicht wiederum etwas sehr Schönes? Ist das nicht ganz richtig? Wie kann sich eine königliche Majestät beleidigt fühlen, wenn irgend ein versoffener Kerl in der Kneipe sie beschimpft, wie kann der König indirekt einen Strafantrag stellen, daß dieser versoffene Kerl deshalb zur Verantwortung gezogen wird? Das gereicht dem Lump doch nur zur Ehre! Und eben weil der englische König so schutzlos jeder Beleidigung preisgegeben ist, eben deshalb tritt die ganze Nation kampfbereit zur Wahrung seiner Ehre ein, eben deshalb ist in England das Verhältnis zwischen Volk und König ein so überaus herzliches, und der Kerl, der diesen zu beleidigen wagt, wird augenblicklich verhauen – und damit genug!

Nun soll aber auch der englische König eine persönliche Ehre zu verteidigen haben, nämlich die, der König von England zu sein. Zu diesem Zwecke erwählte Wilhelm der Eroberer einen Königs-Champion, und jeder König nach ihm sollte einen solchen haben.

Bei Beginn des Turniers sprengte ein Ritter in die Schranken, der Königs-Champion, welcher jeden ausländischen Ritter, der seinen Herrn nicht als König von England anerkenne, aufforderte, eine Lanze mit ihm zu brechen.

Obgleich nichts davon bekannt ist, daß im Laufe der Jahrhunderte, während welcher Turniere abgehalten wurden, jemals der Königs-Champion einen Waffengang gemacht hätte – den König während eines Volksfestes nicht als solchen anzuerkennen, das ist wohl auch ein Ding der Unmöglichkeit! – so ist es dennoch selbstverständlich, daß zum Königs-Champion nur der sattelfesteste Ritter genommen wurde, der aus jedem Kampfe als Sieger hervorgegangen wäre.

Die Ritter verschwanden, mit ihnen die Turniere, aber der Königs-Champion blieb, nur in einer andern Gestalt. Aus dem gepanzerten Lanzenbrecher wurde ein persönlicher Sicherheitswächter, der den König zu Wagen und zu Pferd überallhin begleitete, ständig in seiner Nähe war, um über seine Sicherheit zu wachen. Aber auch das ging vorüber. Denn heutzutage arbeitet die Sicherheitspolizei doch besser als ein einzelner Mann, und wenn sich die Königin resp. der König nach London begibt, so wird eben die ganze Maschinerie der Polizei aufgeboten, um einem etwa geplanten Attentat zuvorzukommen, und ein am Hofe angestellter ›Geheimer‹ kann doch auch besser beobachten als ein öffentlich bekannter ›Champion‹.

So war aus dem ritterlichen Königs-Champion zuletzt ein Kammerherr geworden. Trotzdem hielt man noch darauf, daß dieser wenigstens aus den Kriminalbeamten gewählt wurde, was auch bei Sir Thomas Clapton der Fall war.

Der junge Detektiv, in einer ganz, ganz bescheidenen Stellung, noch ohne jedes Verdienst, war zufällig hinter eine anarchistische Verschwörung gegen das Leben der damals noch jugendlichen Königin Viktoria gekommen, hatte sich um die Ermittlung der sämtlichen Mitglieder der Bande wirklich sehr verdient gemacht, dabei war es ihm hoch anzurechnen, daß er seine Entdeckung nicht der Oeffentlichkeit preisgab, das wurde damals alles im stillen abgemacht; denn es ist doch nicht gerade hübsch, wenn es heißt, daß die Landesmutter vor Unzufriedenen geschützt werden mußte; aber eine hohe Auszeichnung mußte der junge Mensch doch haben, und da die Königin Gefallen an ihm fand und der Posten eines Königs-Champions gerade unbesetzt war, so ernannte sie ihn zu einem solchen, wozu es aber nötig war, daß sie ihn erst in den Adelsstand erhob, zum Baronet – und zum Ritter des Hosenbandordens!

Denn nach dem englischen Adelsgesetz ist es unbedingt notwendig, daß der Königs-Champion mindestens englischer Baron und Ritter des Hosenbandordens ist, und zwar der Waffenmeister desselben, der › Master des armes‹, wie der halb englische, halb französische Titel lautet, wie der Eroberer Englands ja auch ein Normanne, also ein Franzose war.

Ueber diesen Hosenbandorden, richtiger Orden des blauen Hosenbandes, müssen nun noch einige Worte gesagt werden.

Auf einem Hofballe, wahrscheinlich im Jahre 1346, verlor die Geliebte des Königs Eduard III., die Gräfin Salisbury, ihr blauseidenes Strumpfband. Der König, neben ihr stehend, sah es, bückte sich schnell und hob beim Aufnehmen des Strumpfbandes versehentlich auch das Kleid der Gräfin mit in die Höhe, was die vertrauten Umstehenden zu scherzhaften Spötteleien veranlaßte, worüber die schamerfüllte Gräfin natürlich sehr gekränkt war.

Da hielt der König das Strumpfband hoch und rief: Honny soit qui mal y pense! – Ein Schurke, wer schlecht davon denkt! – Und dann setzte er hinzu, daß er dieses Strumpfband noch zu Ehren bringen wolle, daß die, welche jetzt darüber gespottet hätten, sich noch glücklich schätzen würden, es tragen zu dürfen.

Allein so schnell ging es mit der Gründung des Ordens nicht. Weil die Hofdame ihr Strumpfband verloren und der König es ungeschickt aufgehoben hatte, deshalb konnte doch nicht gleich ein Ritterorden gestiftet werden – ja, es wäre wohl gegangen, warum nicht; aber Eduard III. war ein ebenso ritterlicher wie geistreicher Mann.

Bei Crecy war es. Den Engländern stand eine Entscheidungsschlacht mit den Franzosen bevor, und für die Engländer sah es sehr faul aus. Da befestigte Eduard das Strumpfband, welches er, auf eine Gelegenheit wartend, immer bei sich getragen hatte, an seiner Lanzenspitze; mit dem Schlachtruf ›Sankt Georg!‹ führte er seine Truppen in den Kampf – und siegte!

So wurde der Ritterorden vom blauen Hosenbande gegründet, geweiht dem Sankt Georg, und alljährlich am 23. April, am Sankt Georgstage, wird in der Kapelle von Windsor, in welcher das von Rubens gemalte Bild des heiligen Streiters hängt, Kapitel gehalten, d. h. das Ordensfest begangen.

Das Ordenszeichen besteht in einem Kniebande aus dunkelblauem Samt, auf dem in Gold die Worte gestickt sind: › Honny soit qui mal y pense‹, reich mit Brillanten verziert. Dann gibt es noch zwei andre Abzeichen, von denen das eine eine dunkelblaue Schärpe ist, quer über der Brust zu tragen, unten an der Seite hängt ein diamantenbesetztes Schild mit dem heiligen Georg; außerdem tragen die Ritter noch auf der linken Brust einen silbernen, achtstrahligen Stern mit dem roten Kreuze Sankt Georgs, umgeben von dem blauen Hosenbande mit jenem Motto, und die Verleihung dieses Sternes bedeutet die Aufnahme in den Ritterorden. Die Ordenstracht selbst, wie sie bei dem Kapitelsfest getragen wird, besteht in einem rotsamtnen, mit Gold besetzten und mit weißem Atlas gefütterten Oberkleide mit weißen Aermeln, weißen Unterkleidern oder vielmehr Trikots, dergleichen Schuhen mit blauen Schleifen, einem dunkelblauen, weißgefütterten Mantel mit goldenen Schnüren und Quasten, einem schwarzen Samtbarett mit weißen Federn. An der Seite hängt ein prachtvolles Schwert.

Es ist der vornehmste Orden Englands, der ganzen Welt. Mitglieder können nur englische Lords und von Ausländern nur gekrönte Häupter werden, denen die Dekorationen und Insignien durch eine eigne Gesandtschaft übermittelt werden.

Betreffs der Mitglieder gibt es nur eine einzige Ausnahme, ebenfalls schon bestimmt von Eduard III., wie überhaupt die Ordensregeln bis auf den heutigen Tag noch um keinen Punkt verändert worden sind, und nun kommen wir wieder auf den Königs-Champion zurück.

Natürlich ist der Orden in Rangstufen eingeteilt, jeder Ritter bekleidet irgend ein Amt. Da gibt es einen Großmeister und mehrere Meister, einen Prälaten, einen Kanzler, einen Wappenkönig, welch letzterer die Insignien unter sich hat, einen sogenannten ›Schwarzstab‹, weil er bei den Feierlichkeiten als Zepter einen schwarzen Stab führt, und unter anderm gibt es auch einen Waffenmeister, der die Waffenschränke unter sich hat und bei der Einweihungszeremonie dem neuerwählten Mitgliede das Schwert umgürtet.

Nun war es auch Eduard III., welcher zur Verteidigung der Ehre des englischen Königs zum ersten Male den Champion einführte, und er bestimmte, daß diesen Posten stets der Waffenmeister des Hosenbandordens einnehmen sollte, und in Anbetracht dessen, daß zu der Fähigkeit, Schwert und Lanze zu führen, kein adliger Name und klingender Titel gehört, sondern daß allein die Tüchtigkeit den ritterlichen Mann macht, sollte bei der Wahl des Waffenmeisters niemals auf die Geburt gesehen werden. Es brauchte also kein englischer Lord, kein Regent zu sein, sondern zum Waffenmeister sollte immer der Mann Englands erwählt werden, der am besten Schwert und Lanze zu schwingen verstände, ein wirklicher Meister der Waffen, am fähigsten, die Ehre des Königs zu verteidigen, ganz gleichgültig, welchem Stande er entsprossen, wenn er nur ehrbar und seinem König treu ergeben.

So ist nun hiermit wohl klar, welche Ehre dem jungen, unbekannten Detektiv erwiesen worden war, zum Danke dafür, daß er das Leben der Königin aus drohender Gefahr gerettet hatte. Freilich haben sich die Zeiten unterdessen geändert. Sir Thomas Clapton konnte wohl schwerlich ein Roß tummeln, war kein Meister der Fechtkunst, was früher für den Champion unumgänglich notwendig war – immerhin, er hatte die Königin beschirmt, gerettet, hatte dem ganzen Volke einen unschätzbaren Dienst erwiesen – der einst unbekannte Detektiv, mit dem kein wohlgenährter Konstabler getauscht hätte, war schon seit vierzig Jahren der Waffenmeister des Hosenbandordens, war seitdem innerhalb des Ordens der Vorgesetzte von so manchem Kaiser und König gewesen, die vor ihm die Knie hatten beugen müssen. – –

Nobody kannte alle diese Verhältnisse, und nun sah er den Mann, dem diese hohe Ehre widerfahren, den Champion der Königin, und ... Nobody war grenzenlos enttäuscht!

Ein altes, dürres Männchen – auf den schmalen Schultern wackelte vor Altersschwäche ein Greisenkopf, die Kniehosen zeigten ein Paar Storchbeine!

Doch schnell hatte sich Nobody von seiner Enttäuschung erholt. Seine lebhafte Phantasie war daran schuld gewesen. Er befand sich in einem mit altertümlichen Waffen geschmückten Saale; an den Wänden reihten sich Ritterrüstungen – und nun der Champion der Königin, der Meister der Waffenmeister ... hatte Nobody vielleicht geglaubt, er würde einen kolossalen Ritter in gepanzerter Rüstung mit herabgelassenem Visier zu sehen bekommen?

Ja, du lieber Gott, die Zeiten ändern sich eben! Aus dem gewaltigen Kämpen war ein erster Kammerherr geworden, der ständige Gesellschafter der Königin. Und die alte Königin Viktoria war zuletzt sehr, sehr einsam geworden, sie brauchte einen Mann, dem sie vertrauensvoll ihr Herz ausschütten konnte. Und sie war eine gar gute Frau, die Königin Viktoria von England, sie hat auf ihre alten Tage viel durchmachen müssen. Denn sie hat den Burenkrieg nicht etwa gewollt, und die sich dem Tode nahefühlende Frau soll viel von Blut geträumt haben, an welchem sie unschuldig war, und für welches sie sich dennoch bald vor dem höchsten Richter verantworten zu müssen glaubte. Es soll damals eine bittere Zeit für die Umgebung der Königin gewesen sein!

»Dr. Nobody?«

»Dr. Alfred Willcox,« erlaubte sich Nobody zu korrigieren.

»Ich weiß,« lächelte Sir Clapton; »aber Ihre Majestät wünschen vor allen Dingen den berühmten amerikanischen Detektiv Nobody zu sehen.«

Es gab im königlichen Schlosse von Birmingham keine Zeremonie. Wenigstens bei dieser Gelegenheit fehlte sie gänzlich. Die Königin von Großbritannien und Irland saß am Fenster im Lehnstuhle, und der kleinen, sehr beleibten Frau saß im Lehnstuhle Nobody gegenüber, und er mußte von seinen Abenteuern erzählen, immer erzählen, und im Eifer des Erzählens schlug er die Beine übereinander, und dann machte er einen Witz, daß die Landesmutter von Großbritannien und Irland sich vor Lachen den königlichen Leib hielt.

Drei ganze Tage lang erzählte er so, nur von seinen Abenteuern. Dazwischen mußte natürlich auch einmal geschlafen und gegessen werden. Dem Gaste waren im königlichen Schlosse drei Zimmer angewiesen worden. Teils speiste Nobody allein, teils mit einigen Herren des Hofstaates, unter denen dann Sir Clapton stets vertreten war. Zum Tee wurde er regelmäßig zur Königin befohlen, und war da noch ein dritter dabei, so war es wiederum nur Sir Thomas Clapton, der auch sonst manchmal, im Hintergrunde sitzend, den abenteuerlichen Erzählungen des Detektivs lauschte.

Die Königin hatte solch außerordentliches Interesse an diesen Erzählungen, daß sie erst am dritten Tage an die Frage dachte, wer Nobody denn eigentlich sei; denn das sei doch nur ein angenommener Name.

Bisher hatte Nobody als neuer Doktor nur zu einem einzigen Menschen über seine Vergangenheit gesprochen, er hatte es tun müssen; denn natürlich kann doch nicht jeder zum Ehrendoktor einer Universität ernannt werden, und hätte er sich auch noch so sehr um die Wissenschaft verdient gemacht; seine Vergangenheit und sein Lebenswandel müssen doch einwandfrei sein. Aber es hatte genügt, daß er sich dem Rector magnificus als einstiger deutscher Fürstensohn, der mit dem englischen Königshause nahe verwandt war, offenbarte, und dieser durfte es auf Nobodys Bitte geheimhalten, dessen Zeugnis, daß der Vorgeschlagene zur Annahme der Doktorwürde würdig sei, genügte ebenfalls.

Und jetzt erfuhr es die Königin, wen sie als ihren Gast bei sich habe. Ihr Staunen war natürlich groß, allein nur eine Stunde brauchte Prinz Alfred von sich zu sprechen, was ihn bewogen habe, die Heimat, Titel und alles aufzugeben, dann kam wieder der Nobody daran, der über seine Fahrten und Abenteuer berichten mußte.

Es war am vierten Tage, welcher genau so verlaufen zu wollen schien, wie die drei vorhergehenden, und wenn das so fortging, dann konnte das gut werden. Nobody hatte soeben eine Erzählung beendet, als die Königin die Frage stellte:

»So haben Sie niemals einen Mißerfolg gehabt? Es ist Ihnen niemals ein Uebeltäter, auf den Sie es abgesehen hatten, entgangen?«

»Nein, niemals, so weit es im Bereiche der Menschenmöglichkeit lag. Es ist mir wohl manchmal die Polizei oder ein andrer zuvorgekommen, aber wenn dies nicht der Fall war, dann habe ich stets ein Resultat erzielt.«

»Haben Sie auch manchmal den Auftrag bekommen, eine verschollene Person aufzufinden?«

»Majestät,« lächelte Nobody, »ich muß gestehn, daß ich da sehr vorsichtig bin. Einen Fall, den ich für hoffnungslos erachte, nehme ich nicht so leicht an. Wenn eine Person schon seit vielen Jahren verschwunden ist, die Verwandten wissen gar nicht, wo sie sich zuletzt aufgehalten hat, so ist das ...«

»Ich verstehe, ich verstehe,« fiel ihm die Königin ins Wort. »Ich meine auch etwas andres. Haben Sie etwa schon einen anonymen Briefschreiber herausgefunden?«

Der Gedankenleser wußte, an was jetzt hinter der hohen Stirn gedacht wurde, und er sagte direkt:

»Wenn Majestät einen Fall für mich haben, so bitte ich, ihn mir anzuvertrauen.«

»Ja, ich möchte allerdings Ihren Scharfsinn einmal auf die Probe stellen.«

»Bitte, Majestät, und ich werde alle meine Kräfte einsetzen, um die Aufgabe zu lösen.«

»Es hat nichts mit einem anonymen Briefe zu tun, es ist etwas ganz andres, auch etwas ganz Harmloses. Sie haben doch von dem ersten Preis der Londoner Kunstausstellung gehört, wie die Preisrichter einstimmig ihr Urteil gefällt haben, wie ich selbst das preisgekrönte Objekt in der Auktion erstanden habe, daß aber niemand weiß, wer der Künstler eigentlich ist, so daß ich auch nicht weiß, an wen ich die 16.000 Pfund zu zahlen habe?«

Nein, Nobody wußte noch gar nicht, daß in London eine Kunstausstellung stattgefunden hatte.

»Aber alle Zeitungen sind doch voll von dem rätselhaften Falle, daß der Urheber des preisgekrönten Kunstwerkes nicht aufzufinden ist!«

»Majestät verzeihen, das wird sich zugetragen haben, während ich mich an Bord befand; denn ich komme von China und habe mich vom Schiff direkt nach Oxford begeben. Handelt es sich um ein Gemälde?«

Die Königin, an deren Stuhl ein Krückstock lehnte, hatte eine Bewegung gemacht, als wolle sie sich erheben, was ihr nicht gelang.

»Ja,« sagte sie dann ernst. »Sie sollen es sehen. Bitte, geben Sie mir Ihren Arm.«

Ein zweiter Versuch, aufzustehn, war ihr gelungen; Nobody gab ihr den Arm und führte sie der Tür zu, oder vielmehr er selbst ließ sich führen, nur daß er sie stützte.

»Schon wie es ankam, das war ganz geheimnisvoll. Fuhrleute brachten es auf einem Wagen, wohlverpackt in einer Kiste, welche die Adresse des Kunstvereins und den geforderten Vermerk ›Zur Preisbewerbung‹ trug. Vorher schriftlich angemeldet war es nicht worden, man glaubte ein Begleitschreiben in der Kiste zu finden; aber dem war nicht so. Keine Zeile, keine Initialen, durch welche man auf den Künstler hätte schließen können, gar nichts. Nun, der Künstler wollte eben anonym bleiben, um sich keinem Mißerfolg auszusetzen, und eine Gegenbestimmung existierte nicht. Man erkannte sogleich den hohen Kunstwert, es bekam eine bevorzugte Stellung, und es war eigentlich von vornherein ausgemacht, daß es den ersten Preis erhalten würde. So geschah es denn auch. Ich hatte die Kunstausstellung besucht, ich war entzückt, ich wollte es erwerben. Bei der Auktion ... Sie wissen doch, daß nur unter der Bedingung ausgestellt werden durfte, daß die noch unverkauften Kunstgegenstände dann verauktioniert würden – ja, es wurde stark geboten, Lord Woreland wollte es durchaus haben, er hätte nicht nachgelassen, doch als er hörte, daß es mein Vertreter war, der mit ihm konkurrierte. Da trat der Lord zurück, und so wurde es mir für 16.000 Pfund zugesprochen. Ach, bei dem Transport der Kiste wäre hier oben bald ein Mann zerdrückt worden. Es ging noch glücklich ab.«

Man wolle bedenken, daß es eine schon sehr alte Dame war, welche so sprach. Sie sprang oft von einem Thema aufs andre über. Aber hatte Nobody denn wirklich richtig gehört?

»Von der Kiste wäre er bald zerdrückt worden?« wiederholte er.

»Ja, er glitt auf der Treppe aus.«

»Ist es denn so groß?«

»In Lebensgröße.«

Dennoch konnte sich Nobody nicht zusammenreimen, wie das in einer Kiste verpackte Bild, doch sicher auf Leinwand gemalt, bald einen Menschen hätte zerquetschen können.

»Und es ist noch nicht einmal fertig,« keuchte Majestät, als sie einige Stufen überwinden mußte, »kaum der vierte Teil – nur der Oberkörper – und der Künstler ist durchaus nicht zu ermitteln. Das wäre eine Aufgabe für Sie!«

»Nanu!« dachte Nobody. »Ein Gemälde, welches noch gar nicht fertig ist, erst zum vierten Teile, und es hat den ersten Preis bekommen? Was muß denn das für ein Bild sein? Da bin ich aber gespannt!«

Sie hatten den Kunstsaal des Schlosses erreicht, angefüllt mit Gemälden, Statuen, Porzellan und andern Kunstgegenständen, und kein Gemälde war es, sondern eine Marmorstatue, auf welche die Königin jetzt deutete.

»Da, das Tagesgespräch der ganzen Kunstwelt! Sehen Sie nur den Kopf an, was diese Züge alles ausdrücken! Und diese klassischen Linien des Oberkörpers! Wir wissen auch gar nicht, was es ist; es wird nur mit Sicherheit angenommen, daß es den barmherzigen Samariter vorstellen soll, wie er sich niederbeugt, um die Wunden des von Räubern überfallenen Mannes zu verbinden!«

So hatte die Königin immer von einer Statue gesprochen, während Nobody glaubte, es sei ein Gemälde gemeint. Der Irrtum war dadurch entstanden, daß die Königin, als Nobody gefragt hatte, ob es ein Gemälde sei, die Frage überhört und ihren nächsten Satz dann mit einem »ja« begonnen hatte, dann hatten die beiden niemals das Wort Statue oder Gemälde gebraucht, sondern immer nur von einem »es« gesprochen, und dabei ist zu bedenken, daß sie sich der englischen Sprache bedienten, welche bei Gegenständen keinen Geschlechtsunterschied kennt.

Es war die Figur eines Mannes, der sich mit ausgestreckten Armen herabbog. Nur der Oberleib war fertig, der Unterleib endete im unbehauenen Marmorblock. Ueber das Kunstwerk können wir hier nicht sprechen. Jedenfalls schwärmten alle Kunstverständigen von dieser erst zum kleinsten Teile vollendeten Statue als von einem unvergleichlichen Meisterwerke, dabei handelte es sich um keinen gliederprächtigen Apoll, sondern um einen alten, hageren Mann, was gewiß etwas ganz andres ist. Und seltsam war es, wie alle Kritiker darüber einig waren, daß es nur der barmherzige Samariter sein könne, obgleich das Objekt, dessentwegen er sich niederbeugte, doch fehlte. Nur allein diesem mitleidigen Gesichtsausdruck wollte man dies entnehmen.

»Nun, Dr. Nobody, da ist gleich eine Aufgabe für Sie. Wer ist dieser gottbegnadete Künstler, der sich durchaus nicht zu erkennen geben will? Wo wohnt er? Spüren Sie sein Versteck auf, damit wir ihn bitten, daß er dieses Meisterwerk vollendet, daß wir ihm die Ehren erweisen können, die ihm gebühren. Schaffen Sie diese Möglichkeit, und Sie sollen meiner Dankbarkeit sicher sein.«

Weshalb blickte Nobody mit so stieren Augen nach der Statue? Weshalb nahmen diese Augen dann einen so grenzenlos erstaunten Ausdruck an? Und weshalb verklärte sich sein Antlitz dann zu solch einem Lächeln des Glücks, dem sich nur etwas Unglauben beimischte, als sei das Glück zu groß, um es fassen zu können?

Langsam löste er seinen Arm aus dem der Königin, um auch diesen, wie den andern, nach der Marmorstatue ausstrecken zu können.

»Ich kenne diese Statue!« hauchte er.

»Wie? Sie kennen diese Statue schon?« wiederholte die Königin ungläubig. »Dann kennen Sie auch den Urheber? Wer ist es?«

»Meine Frau!«

Es wäre nicht nötig gewesen, daß er gleich an dem rotgeäderten Marmor, wie er wohl einzig auf jenen Inseln vorkam, erkannt hatte, wo dieses Werk nur entstanden sein konnte – er hatte auch das Modell unter den Händen Gabrieles entstehn sehen, und es sollte wirklich den barmherzigen Samariter vorstellen.

Viktoria aber hatte jetzt nur eins gehört.

»Ihre ... Frau?!« staunte sie. »Wie? Sie sind verheiratet?!«

Die aufklärende Fortsetzung der Unterhaltung fand in einem Seitenkabinett statt, welches hauptsächlich altertümliche Waffen enthielt. Nobody hatte noch nicht gesagt, daß er verheiratet sei, und hier in diesem Gemache erzählte er sein Abenteuer in Aegypten, mit dem Wüstenräuber, wie er sich dann auf den Schwefelinseln angesiedelt habe; er erzählte von seinen früheren Plänen, von dem Schicksale des Vaters seiner Frau, von Gabriele, von sich selbst – und immer ernster ward das Gespräch, und immer leidenschaftlicher sprach Nobody, er schüttete der Königin sein ganzes Herz aus, und immer teilnahmvoller hörte die Königin zu – und Nobody gestand, wie unglücklich er sich manchmal fühle, wie leer es in seinem Innern aussehe.

Wir haben Nobody schon öfters anders kennen gelernt denn als eisenharten Detektiv; wir wissen, wie leicht er lachen und auch weinen konnte – und da, er wußte selbst nicht, wie es gekommen war, lag er vor der Königin plötzlich auf den Knien und bedeckte weinend sein Gesicht.

»Gewähren die Gnade Ew. Majestät mir in diesem Lande eine Heimat, mir und meiner Frau, und Ew. Majestät werden keinen treueren Untertanen haben als mich!«

So rief er, während zwischen seinen Fingern Tränen hervorperlten. Es hatte ihn etwas überwältigt, er wußte dann selbst nicht, was es eigentlich gewesen war. Alles, alles, was den unbekannten Heimatlosen bisher bedrückt hatte, machte sich mit einem Male Luft.

Eine Pause entstand, nur von dem Schluchzen des auf den Knien liegenden Mannes ausgefüllt. Da fühlte Nobody, wie seine Brust berührt wurde; dann erhielt er einen leichten Schlag auf seine Schulter, und wie er das Auge aufhob, streifte sein Blick erst einen großen, achtstrahligen Stern, der juwelenschimmernd plötzlich an seiner Brust haftete, und dann sah er die Königin vor sich stehn, ein Schwert in der Hand, mit dem sie die Schulter des Knienden berührt hatte, und feierlich erklang es:

»Sir Alfred Willcox, Baronet von Kent, stehn Sie auf als mein Champion!«

 

»Bei Gott, das habe ich nicht gewollt!« Mit diesem Ausrufe empfing Nobody den ihn in seinem Salon besuchenden Sir Clapton. Der sonst so kaltblütige Nobody war noch halb betäubt, denn er kannte die englischen Verhältnisse zu genau, um nicht zu wissen, was ihm soeben zuteil geworden. Mit der Ernennung zum englischen Baronet, zum Ritter des Hosenbandordens und zum Champion der Königin war es nämlich noch längst nicht abgetan; wir werden gleich sehen, was hier vorlag.

Die alte Königin selbst war von dem großen Moment so erschüttert gewesen, daß sie nur noch eine entlassende Handbewegung gemacht; Nobody hatte sich in seine Gemächer begeben, wohin ihm Sir Clapton sofort gefolgt war, und so stand Nobody noch ganz unter dem ersten Eindruck.

»Bei Gott, das habe ich nicht gewollt!«

»Aber Ihre Majestät hat es gewollt,« lächelte der alte Kammerherr, als er einen Stuhl nahm. »Majestät hat ein ganz besonderes Wohlgefallen an Ihnen gefunden. Am zweiten Tage, nachdem Majestät Sie kennen gelernt, war schon beschlossen, daß der berühmte Detektiv Nobody als Sir Willcox fernerhin meine Stelle eines Königs-Champions einnehmen solle; Majestät hatte schon immer den Stern des Hosenbandordens bei sich, wartete nur auf eine passende Gelegenheit, um denselben Ihnen anzuheften. Da wären Sie auch ein Baron Willcox geworden, nur ein Titularbaron ohne Land und Leute. Als Sie aber am dritten Tage offenbarten, daß Sie fürstliches Blut in Ihren Adern hätten, da ging das nicht mehr, da war bereits das Herzogtum Kent für Sie bestimmt. Ja, Herr Doktor, ich spreche im Ernst. Es kann ja auch gar nicht anders sein. Als Baronet von Kent sind Sie auch der Herr des Herzogstums von Kent. Zum Herzog kann man Sie natürlich nicht gleich machen, auch nicht zum Lord, das muß alles Stufe nach Stufe gehn. Aber daran kann es ja nicht fehlen. Sie kennen doch die Verhältnisse des Herzogtums Kent?«

Das Herzogsgeschlecht der Kents war vollkommen ausgestorben; die Landschaft Kent, eine der größten und reichsten Englands, an dessen Grenze London liegt, war unter der Regierung der Königin Viktoria an die Krone zurückgefallen, wurde von dieser verwaltet, aber eigentlich nicht als Eigentum, sondern nur als sogenanntes Lehen, bis wieder ein Herr dafür gefunden war.

»Daß Sie nur den Titel eines Baronets von Kent führen, hat aber nichts zu sagen,« fuhr Sir Clapton fort. »Ich weiß ja schon alles. Die herzoglichen Güter fallen Ihnen zu. Sie werden in Maidstone, der Hauptstadt von Kent, residieren.«

Nobody machte mit den Schultern eine Bewegung, als sei er bereit, das Unvermeidliche auf sich zu nehmen. Aber sein ganzes Aussehen strafte ihn Lügen, nämlich daß ihm dies doch nicht so ganz gleichgültig war, ihn vielmehr mit dem freudigsten Glück erfüllte. Nur einen Augenblick wurde dasselbe durch einen Gedanken getrübt.

»Ich müßte dann Hofdienste verrichten, doch nicht etwa als ... Kammerherr?«

Kammerdiener – hätte er beinahe gesagt.

Ueber Sir Claptons schmale Lippen spielte ein feines Lächeln.

»Haben Sie keine Sorge! Die Königin will gerade, daß Sie vollkommen frei sind, um fernerhin als Detektiv wirken zu können. Die Sache ist folgende: Vom Ritterorden des Hosenbandes kann laut der Statuten nur der Waffenmeister freiwillig austreten, indem angenommen wurde, daß diesen Rang der beste Mann, der beste Fechter einnehmen soll, und eine derartige Waffenfertigkeit läßt doch mit dem Alter nach. Ich überlasse Ihnen gern meine Ordenszeichen, ich bleibe deshalb, wer ich bin, ich bleibe der befreundete Kammerherr der Königin, der Gott ein noch recht langes Leben schenken möge, und das mir anvertraute Schwert wird ein Würdiger an seiner Seite tragen. Soviel Sie auch durch Einrichtung Ihres Auskunftsbureaus und überhaupt durch Ihr Genie als Detektiv bisher leisten konnten, so waren Sie doch immer ein Privatmann, dem alles, was mit dem Staate zusammenhing, verschlossen blieb. Sie durften bisher nicht einmal einen Konstabler bitten, etwa die Verfolgung eines über die Straße rennenden Mannes aufzunehmen, und ich weiß wohl, daß Sie der staatlichen Polizei sogar verhaßt waren, daß man Ihnen überall Hindernisse in den Weg zu legen suchte, in jedem Lande. Wissen Sie, was Sie jetzt sind? Ich behaupte: als Champion der Königin, den man richtiger, wie es auch häufig der Fall ist, Champion-Detektiv nennen sollte, den Meister der Detektivs, sind Sie der mächtigste Mann in England, in den meisten Staaten der Erde – als Kriminalbeamter, als geheimer Detektiv! Ohne Angabe irgend eines Grundes, nur unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß es sich um die Sicherheit der Königin handelt, steht Ihnen in England alles, alles offen! Jede Tür muß sich Ihnen öffnen, kein Lord, kein Justizminister, kein Klub kann Ihnen den Eintritt verweigern. Der Polizeidirektor von London ist in Ihren Händen nur ein gehorsames Werkzeug. Zu jeder Kerkerzelle haben Sie Tag und Nacht Zutritt. Und ist das etwa nichts für einen Detektiv? Und eine fast ähnliche Machtstellung können Sie im Auslande durch geschicktes Auftreten einnehmen. Denn Sie sind zugleich der Waffenmeister des Hosenbandordens. Es gibt in Europa nur sehr wenige Staaten, deren Regenten nicht Ritter dieses Ordens sind. Sie aber sind der Waffenmeister! Bedenken Sie das! Unser Bündnis ist das denkbar engste; die Mitglieder dieses Ordens sind durch Schwüre für Tod und Not zusammengeschweißt, unverbrüchlich muß die Treue gehalten werden, und wer da spöttisch sagt, wie sich denn die Könige gegenseitig bekämpfen könnten, der ist ein Narr. Der Krieg ist ein ritterliches Handwerk, und Helden können sich im Kampfe knochentiefe Wunden schlagen, und sie bleiben dennoch treue Freunde. Sie werden eine geheime Legitimation erhalten, und wohin Sie auch kommen mögen, der Herrscher des Landes, wenn er ein Ritter des Hosenbandordens ist, wird Sie stets als Gastfreund begrüßen, ja, sogar als seinen Vorgesetzten; jede Gesandtschaft steht zu Ihrer Verfügung, und da ist es doch ganz selbstverständlich, daß Sie auch jedesmal der Herr über die dortige Polizei sind. – Als Detektiv Ihnen diese Machtstellung zu geben, das ist es, was Ihre Majestät die Königin gewollt hat, und um Sie kennen zu lernen, um Ihren Charakter zu studieren, ob Sie auch solch einer Machtstellung würdig sind, deshalb hat Ihre Majestät sich drei Tage lang mit Ihnen unterhalten. Sind Sie mit solch einem Posten zufrieden?«

Ja, das war allerdings etwas für unsern Nobody!

 

Vier Wochen später traf Gabriele, von Nobody in neckischer Form telegraphisch davon benachrichtigt, daß der marmorne Oberkörper eines Mannes in der Kunstausstellung den ersten Preis erhalten habe, und wahrscheinlich habe ein Bildhauer ihr dieses Sujet gestohlen, denn er habe das Modell doch schon bei ihr gesehen, in London ein. Jetzt freilich gab es bei ihr kein Zögern mehr.

Die Aufklärung erfolgte. Gabriele hatte beschlossen, sich an der lange vorher angesagten Londoner Kunstausstellung mit einem Werke von ihrem Meißel zu beteiligen. Der Erfolg sollte entscheiden, ob sie dann in die Oeffentlichkeit treten würde oder nicht. Professor Goldschnitt hatte dazu die Gruppe der drei Apostel bestimmt. Damals arbeitete Gabriele gerade an der Statue des barmherzigen Samariters, und da mit einem Male, wie Professor Goldschnitt so mit untergeschlagenen Armen die erst halbvollendete Statue längere Zeit betrachtet hatte, wollte er plötzlich von den drei Aposteln nichts mehr wissen; zum Schrecken Gabrieles bestand er darauf, daß dieser Marmorblock mit dem nackten Oberkörper nach London müsse – müsse, müsse, müsse!!! – denn bei dem exzentrischen Kunstprofessor gab es ja keine Gegenmeinung, und so blieb Gabrielen gar nichts andres übrig, als ihm nachzugeben; der Professor hätte sich vor ihren Augen den Schädel eingerannt, und er schwur, es dennoch zu tun, wenn sie auf diesen Oberkörper, auf diesen Kopf nicht den ersten Preis erhielte.

Daß sie da etwas ganz Bedeutendes geschaffen hatte, wußte Gabriele ja selbst, vielleicht war sie nur in ihrer Bescheidenheit etwas kurzsichtig, und dann der Gedanke, daß diese erst begonnene Statue, deren Unterkörper noch im rohen Marmorblock steckte, auf der Kunstausstellung, an der sich die größten Meister beteiligten, besondere Beachtung ...

Gut, sie fügte sich, wenn auch mit ängstlichem Herzen. Die Statue wurde eingepackt und einem in Nobodys Diensten stehenden Detektiv mitgegeben, der gerade nach London reiste. Die Ablieferung sollte ganz anonym geschehen.

Sollte der enthusiastische Kunstprofessor nicht auch ein ganz geriebener Geschäftsmann gewesen sein? Sollte er nicht gewußt haben, wie man den ... Rummel macht? Vielleicht kennt der geneigte Leser die Erzählung des amerikanischen Humoristen Mark Twain, wie ein junger Bildhauer, der trotz allen Genies zu keinem bekannten Namen kommt, eine von ihm gefertigte Statue in einem römischen Garten vergräbt; er läßt sie finden, ausgraben, die Kunstkenner sind voll Entzückens über den antiken Fund, alle Zeitungen sprechen davon, bis der junge Bildhauer endlich hervortritt: ich bin derjenige, welcher, hier sind Beweise und Zeugen! Und nun ist er natürlich ein gemachter Mann.

Daß jemand wagte, ein ganz unvollendetes Werk zur Preisbewerbung einzuschicken, das war ja etwas Unerhörtes! Da mußte das Ding auch gleich eine ganz bevorzugte Stellung im besten Lichte erhalten! Und nun kam auch noch das Geheimnis mit dem unbekannten, nicht zu ermittelnden Verfertiger und Absender dazu!

Das heißt, ein ›Ding‹ war es nicht. Der Preis war ehrlich gewonnen. Der Witz lag nur darin, der Statue einen guten Platz zu verschaffen – worauf manchmal allein alles ankommt – und die gebührende Aufmerksamkeit darauf zu lenken.

Jener Detektiv hatte gleich nach der Ablieferung eine Mission zu erfüllen gehabt, war in eine schwierige Lage gekommen, hatte Gabriele nicht von ihrem Erfolge benachrichtigen können, und so war es ihr Gatte selbst, der ihr die frohe Botschaft zutelegraphierte.

Die junge Künstlerin wurde mit wahrhaft königlichen Ehren empfangen, spann sich doch auch noch ein andrer Nimbus um sie. Jedenfalls war ihr Ruf als Bildhauerin nun begründet.

Und wenige Tage später erhielt der Ehrendoktor der Universität Oxford in der Sankt Georgs-Kapelle zu Windsor von der Hand der Königin den zeremoniellen Ritterschlag und ward zugleich als Waffenmeister des Hosenbandordens aufgenommen.

Die Orgel spielte; in ihrer prächtigen Ordenstracht nahmen die Ritter ihre Plätze ein, und in den Logen saßen die Damen und die andern Zuschauer.

Nobody blickte empor, wo er seine Gabriele wußte; ihre Augen fanden sich in seligem Glücke. Sie hatten beide gefunden, was sie gesucht, was sie bisher vermißten: Anerkennung!

Vor dem Altar hing das Wappenschild des neuen Ritters und englischen Barons. Noch war es verhangen, noch hatte Nobody selbst es nicht gesehen.

Der Zeitpunkt kam, da die Hülle fiel. Auf dem ehernen Schilde sah man einen schwergepanzerten Ritter mit eingelegter Lanze gegen einen unsichtbaren Gegner lossprengen, und hinter ihm, fast noch unter den Hufen des Streitrosses, kniete eine Frau, ein kleines Kind in den Armen, daneben stehend zwei halbwüchsige Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, die Hände bittend erhoben, und hinter diesen ein sich auf den Stock stützender Greis. Mit allen Mitteln hatte der Kunstschmied den Eindruck der Armut hervorgebracht, selbst bei dem Ritter, der nur in eine schwarze Eisenrüstung gehüllt war, kein wallender Helmschmuck und nichts – aber arm konnte er wohl nicht sein, denn die Spitze seiner Lanze und die Hufe seines Streitrosses bestanden aus Diamanten.

Die Devise lautete: Ich helfe den Schwachen.

Die Orgel spielte, und dann sprach der Ordenskaplan über die Bedeutung dieser Devise und über die Bedeutung dieser harten, unverwüstlichen Diamanten, die der Ritter nur dazu gebrauchte, um zur Verteidigung der Armen und Schwachen jeden Gegner zu fällen.

Nobody hörte nichts davon, sein Herz war so übervoll, und er brauchte auch nichts davon zu hören – es war ein stilles Gelübde, als er flüsterte:

»Ich helfe den Schwachen!«


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