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2. Die Kette der Inkas

Der deutsche Passagierdampfer ›Rheingold‹ steuerte aus dem englischen Kanal; es war das schönste Sommerwetter, die See spiegelglatt, und eben deshalb drohte die Reise gleich am Anfang langweilig zu werden. Die Passagiere der ersten Kajüte saßen auf dem Promenadendeck, man beobachtete die hier noch häufigen Schiffe, unterhielt sich, und mehr noch unterdrückte man ein Gähnen und wartete auf das Glockenzeichen, welches zur Tafel rief und wieder einmal eine Abwechslung brachte.

»Ein blinder Passagier!« erscholl da der Ruf. »Man hat in den Kohlenbunkern einen blinden Passagier gefunden!«

Solch ein Mann, der sich auf dem Schiff versteckt hat, muß natürlich zuerst vor den Kapitän gebracht werden, und da dieser verpflichtet ist, die Passagiere der ersten Kajüte als seine Gäste zu betrachten und für ihre Unterhaltung zu sorgen, wurde der entdeckte Strolch gleich auf dem Promenadendeck empfangen, um hier in Gegenwart der sich langweilenden Herrschaften examiniert zu werden. Von allen Seiten drängten sie sich schnell herbei, ein dichter Kreis war gebildet.

»Ach, das ist ja noch ein zartes Kind!« rief da auch schon eine Dame in bedauerndem Tone.

»Aber wie schmutzig!« meinte eine andre mit verzogenem Gesicht.

»Wie der Junge ausstaffiert ist!«

»Der hat doch eine Pistole im Gürtel!«

»Ja, und ein richtiges Patronenkoppel.«

»Und da in der Scheide hat er ein langes Küchenmesser stecken.«

»Und die merkwürdigen Schuhe!«

»Still, der Herr Kapitän will mit ihm sprechen!«

So scholl es durcheinander.

Es war ein halbwüchsiger, schmächtiger Junge, der von dem Heizer, der ihn zwischen den Kohlen gefunden hatte, und einem Matrosen in den Kreis vor den Kapitän geführt wurde. Man mußte sich erst an die dicke Kohlenschicht gewöhnt haben, ehe man etwas Näheres entdecken konnte. Da unterschied das Auge des Kenners zunächst, daß der ganze Anzug aus gegerbtem Leder bestand: er schmiegte sich eng an die schmächtigen Glieder an, und nicht minder auffallend war es, daß die hackenlosen Schuhe mit Perlen und ehemals bunten Stickereien besetzt waren. Um die Hüften hatte das unternehmende Bürschchen einen langen Lederriemen vielmals gewickelt; daran hing ein Futteral, aus dem der Kolben einer Pistole hervorsah – keines Revolvers, sondern einer Teschingpistole, und zwar einer fünfmillimetrigen, wie man aus den Patronen sah, die in einem Gürtel steckten, welcher quer über die Brust lief. Auf der andern Seite hing eine Lederscheide, aus welcher der hölzerne Griff eines großen Messers blickte.

Verstand man die Kohlenmaske weiter zu durchschauen, so gewahrte man ein hübsches, rotwangiges Kindergesicht, die struppigen Haare hatten offenbar eine hellblonde Farbe.

Unbefangen stand der Junge vor seinem Richter; trotzig wanderten die blauen Augen im Kreise umher, und die Dame, welche von einem ›zarten Kinde‹ gesprochen hatte, bekam einen zornigen Blick der Verachtung zugeschleudert.

Was hier vorlag, das war ja ganz klar, und der Kapitän konnte nicht lange sein strenges Richtergesicht beibehalten.

»Du bist wohl zu Hause durchgebrannt, um in Amerika Indianer zu werden?« lachte er.

Stolz richtete sich der Kleine auf.

»Nein!« rief seine helle Kinderstimme, welche Verneinung man nicht erwartet hatte.

»Was denn sonst?«

Der Kleine richtete sich noch stolzer empor.

»Indianerhäuptling!« war dann die prompte Antwort.

Nun stelle man sich den kleinen Wicht vor – ein einstimmiges Gelächter erfüllte das Promenadendeck.

Aber unerschütterlich stand der Junge in der Mitte, und jetzt war es strafende Verachtung, mit der er seine Augen umherschweifen ließ, und mit möglichst tiefer Stimme brachte er pathetisch hervor:

»Hugh, was lachen die Blaßgesichter? Der graue Bär verachtet sie!«

Das hatte nun gerade noch gefehlt. Es wurde wie in einem Tollhause gelacht. Seltsamerweise aber waren es gerade die Herren, welche über diesen Witz, den das indianerspielende Bürschchen da lieferte, am meisten lachten. Besonders unter den jüngeren der eleganten Damen gab es einige, welche gar nicht den Humor zu empfinden schienen, welche vielmehr mit dem größten, gespanntesten Interesse auf den kleinen Ausreißer herabblickten.

Woher dieses schweigende Interesse jener Damen? Was dachten sie wohl dabei? Wenn dieser abenteuerliche Junge sechs Jahre älter war, und er verstand aus sich etwas zu machen, wußte sich zu bewegen – mit dem konnten sich die romantisch veranlagten Dämchen einmal besser amüsieren als mit jenen faden Frackschwänzen, wie sie jetzt, die Hände in den Taschen, brüllend vor Lachen umherstanden.

»Der graue Bär, das bist du wohl selbst?« lachte der Kapitän.

»Mein weißer Bruder sagt es!« erklang es in unerschütterlichem Ernst zurück, was nur neues Gelächter hervorrief.

Jetzt versuchte der Kapitän wieder eine strenge Miene aufzusetzen.

»Na, nun mal Spaß beiseite! Wie heißt du? Wo bist du zu Hause? Wer ist dein Vater? Wie kommst du hier an Bord?«

Allein das Wechseln des Tones nützte bei dem phantastischen Jungen nichts, der hatte sich während seines zweitägigen Aufenthaltes im finstern Kohlenbunker schon ganz in seine Rolle als Indianerhäuptling hineingelebt.

»Ich bin der graue Bär, dem alle Siouxstämme lauschen, wenn er am Beratungsfeuer spricht,« war die stolze Antwort des Kleinen.

Der Kapitän hätte, schon zur Unterhaltung der Passagiere, auf diesen Ton eingehn, hätte den Jungen aushorchen sollen, wie er sich seinen Empfang in Amerika und die ganze Indianergeschichte dachte. Aber er fühlte sich nicht fähig, dabei ernst zu bleiben, und so konnte er jetzt auch keine ernsten Fragen stellen.

»Na,« sagte er zu den beiden Leuten, sich die Augen trocknend, »nehmt ihn mit, steckt ihn erst einmal in ein Bad, seift ihn ab. Dann wollen wir weiter zusammen sprechen. Ja, ja, Schlingel, mitnehmen müssen wir dich nun freilich, über Bord werfen können wir dich nicht, aber arbeiten mußt du für die Ueberfahrt, und von New-York aus wirst du gleich wieder nach Hause geschickt.«

Der Matrose und der Heizer wollten den Jungen bei den Armen packen.

Wohl kein einziger der Umstehenden bemerkte, was der durch die Lektüre von Indianerschmökern hirnverbrannte Junge vorhatte, daß er sich nämlich dieses Anfassen nicht gefallen lassen wollte, daß es bald zu einer Katastrophe gekommen wäre, indem der kleine Indianerhäuptling eine schnelle Bewegung nach seinem Messer machte, um dieses zu ziehen.

Es wurde dies nicht bemerkt, und das trotzige, zu allem fähige Kerlchen kam deshalb nicht zur Ausführung seines Vorhabens, weil in diesem Augenblick eine andre Hand auftauchte, eine feine, schlanke, aber muskulöse Hand, die sich schnell auf die schwarzen Finger und zugleich auf den hölzernen Messergriff legte.

»Herr Kapitän erlauben wohl, daß ich mich dieses kleinen Indianerhäuptlings annehme?«

Der Dazwischengetretene war ein feiner, schwarzgekleideter Herr, und ehe einer der Umstehenden nur einen Gedanken fassen konnte, hatte dieser den Jungen schon davongeführt, war mit ihm im Kajüteneingang verschwunden.

Und der Kapitän? Der zuckte nur die Schultern, als er sich von seinem Richterstuhl erhob.

» Well, wenn Mr. Ryland will ... ich habe nichts dagegen,« meinte er nur noch. »Er hat ja eine zweischläfige Salonkabine allein inne. Es wird wohl ein Missionar sein, und wenn er sich des Jungen annehmen will – mir kann's nur lieb sein.«

Hiermit schien die Sache erledigt. Das Verhalten des Kapitäns war aber doch recht eigentümlich. Allerdings hatte er einen Grund, gegen diesen Herrn sehr zuvorkommend zu sein.

Mr. Jonas Ryland aus New-York – so trug er sich ins Kajütenbuch ein, nichts andres – hatte in Hamburg auf dem ›Rheingold‹ schon einige Tage vor der Abfahrt für sich und einen Begleiter eine Luxuskabine bestellt, die einzige, welche es auf dem ›Rheingold‹ gab, eigentlich eine ganze Einrichtung, bestehend aus Schlafkabine, Salon, Badezimmer und eignem Klosett. Kostenpunkt für die Fahrt von acht Tagen 5000 Mark. Waren schon bezahlt.

Mr. Ryland kam kurz vor der Abfahrt des Dampfers an Bord, nicht aber sein Begleiter. Er fragte, ob er nicht eine billigere erstklassige Kabine bekommen könne, denn für sich selbst brauche er solch eine Masse kostbare Zimmer nicht. Er wolle ja gern Reugeld zahlen.

»Tut mir leid!« entgegnete der Kapitän. »Was gemietet ist, ist gemietet, und was bezahlt ist, ist bezahlt. Es müßte sich denn gerade jemand noch finden, der Ihnen die Luxuskabinen abnimmt. Sonst aber müssen Sie dieselben behalten, können sich dafür gleich in zwei Luxusbetten legen, sich bei Tafel auf zwei Stühle setzen und für zwei Personen essen.«

Dem Kapitän tat es wirklich leid, so sprechen zu müssen. Aber er mußte es eben. Er hatte die Interessen seiner Dampferlinie zu wahren, in deren Diensten er stand. Aber das tat ihm tatsächlich leid, das hätte er gern ungeschehen gemacht, daß er damals etwas barsch gesprochen hatte. Es war ein regnerischer Abend gewesen, der Fremde hatte einen alten Wettermantel getragen, sah recht verwogen aus, und wegen des um ihn herrschenden Lärmes hatte er schreien müssen, weswegen der Kapitän, obgleich er, weil er dieses Lärmen gewöhnt war, auch eine ruhige Stimme gehört hätte, ihn auch so angeschrien hatte.

» Nevermind, da behalte ich sie eben für mich selbst, es war ja nur eine Frage, es ist mir sogar viel lieber so, ich dachte nur, ein andrer Passagier könnte die Luxuszimmer wünschen, dann wäre ich gern zurückgetreten,« hatte Mr. Ryland ruhig entgegnet, und dann hatte sich aus dem Wettermantel ein so feiner, aparter Herr entpuppt. Der Kapitän war die Verlegenheit selbst gewesen.

Oder war noch etwas andres dabei, als nur die Rücksicht auf jenes Vorkommnis, daß der Kapitän den Jungen so ohne weiteres von seinem Richterstuhl hatte wegführen lassen? Ja, dem alten Seebären ging es wohl ebenso wie allen andern Passagieren. Da jener Herr sich immer schwarz kleidete, einen geschlossenen Stehkragen und einen breitrandigen Filzhut trug, hielt man ihn für einen Missionar, aber für so einen, der es nicht nötig hatte, der nur der edelsten Neigung seines Herzens folgte; danach war auch sein ganzes Benehmen geschaffen – so ernst, so würdevoll, so freundlich und doch so unnahbar – – und nun noch die drei Luxuszimmer für 5000 Mark!! – – und dabei wußten die Herrschaften selbst nicht, daß es allein diese ernsten Augen waren, die alle wie in einem Zauberbanne gefangen hielten!

Nicht anders schien es dem trotzigen Knaben zu gehn. Als er von den Matrosen unsanft gepackt worden war, hatte er doch, zu allem entschlossen, die Hand aufs Messer gelegt. Der ›Indianerhäuptling‹ wollte sich nicht wie ein Gefangener fortführen lassen, er war ein ›freier Mann‹ – aber dieser fremde Herr hatte ihn nur anzusehen brauchen, und sofort war er dem sanften Zuge der Hand gefolgt.

Erst in der Salonkabine ließ der Herr ihn wieder los, und da freilich erinnerte sich der Junge auch gleich wieder, daß er ›eigentlich‹ doch der graue Bär sei, der große Häuptling, dessen weiser Rede am Beratungsfeuer sämtliche Siouxstämme lauschten.

»Bitte, setzen Sie sich,« sagte Mr. Ryland mit zuvorkommender Höflichkeit, auf das kleine Sofa deutend.

Oder nennen wir den Herrn doch lieber gleich bei seinem richtigen Namen. Es war kein andrer als Nobody. Er hatte eine fürstliche Person nach Amerika begleiten wollen, im letzten Augenblick war daraus nichts geworden.

Aber der Junge wollte nicht Platz nehmen, und da hatte er auch ganz recht, auf solche Weise tut das kein echter Indianerhäuptling.

»Der graue Bär wird stehn, er kennt das Blaßgesicht nicht, in dessen Wigwam er geführt worden ist!« erklang es würdevoll.

Nun, Nobody verstand besser als der Kapitän, mit solch einem phantastischen Jungen umzugehn, dessen Köpfchen durch Indianergeschichten verdreht worden ist. Nur ein leises Zucken ging über seine Züge, als er sich umdrehte, aus einem Ständer eine schon gestopfte türkische Pfeife nahm, und dann ließ er sich ohne weiteres mit untergeschlagenen Füßen mitten auf dem Teppich nieder.

Nur eine einladende Handbewegung, und richtig, jetzt hatte sich der kohlenbedeckte graue Bär ihm gegenüber ebenfalls gleich niedergekauert.

Die Pfeife brannte. Nobody zog mächtig, blies eine endlose Wolke zu den Nasenlöchern heraus, und dann reichte er die Friedenspfeife dem andern großen Krieger; alles schweigend, denn schweigend muß es bei dieser feierlichen Zeremonie zugehn.

Und mit schweigender Gravität nahm der kleine Siouxhäuptling in spe die lange Pfeife, führte sie schweigend zum Munde, nahm schweigend einige Züge, wollte husten, aber der über alle menschlichen Schwächen erhabene Krieger bezwang sich, und als er das Kalumet wieder hinreichte, sagte er feierlich:

»Mein weißer Bruder ist mein Freund!«

Worauf Nobody, die Pfeife nehmend, mit gleicher Feierlichkeit entgegnete:

»Und meine schwarze Schwester ist meine Freundin!«

Der graue Bär schien plötzlich einen Hexenschuß zu bekommen, der tapfere Krieger fiel überhaupt gänzlich aus der Rolle. Der Junge neigte sich weit vor; unter der Kohlenschicht wurde das Gesicht erst purpurrot, dann ganz weiß, dann wieder dunkelrot, und so stierte er Nobody an.

»Wa-wa-was?« konnte er nur stotternd hervorbringen.

»Ja, mein Fräulein, Sie sind erkannt!« sagte Nobody, sich schon wieder von seinem kauernden Sitz erhebend. »Wie heißen Sie denn, mein Fräulein?«

Auch der rußbedeckte Junge hatte sich erhoben – nein, der graue Bär, der große Krieger und Häuptling, bewaffnet mit Donnerbüchse und Skalpiermesser – so stand er da mit gesenktem Kopfe und flüsterte verschämt:

»Ich heiße Gretchen.«

Es war ein Bild, so köstlich, daß sich Nobody schnell herumdrehen mußte, um mit Hilfe des Taschentuchs sein Lachen zu ersticken. Erst dieses indianerkriegsmäßige Auftreten des kohlschwarzen, mit Waffen bespickten Jungen, und wie das nun so zimperlich herauskam:

»Ich heiße Gretchen.«

Da wurde hinter ihm mit dem Fuße aufgestampft, und trotzig erklang es:

»Und ich gehe doch unter die Indianer und werde doch noch ein Indianerhäuptling, wenn nicht als Junge, dann als Mädchen!!!«

Nobody hatte getan, als wolle er sich nur versichern, daß die Tür geschlossen sei, und schnell wandte er sich wieder um.

»St, nicht so laut!« warnte er. »Sie können auch ganz gut als Knabe gehn, niemand ahnt, daß Sie ein Mädchen sind, und woher ich es sofort erkannt habe, das werde ich Ihnen dann sagen. Aber nur nicht so laut!«

Bessere Worte hätte Nobody gar nicht gebrauchen können, um sofort das Vertrauen des Mädchens zu gewinnen. Nun war er der alleinige Mitwisser ihres Geheimnisses, und damit hatte er gewonnenes Spiel. Es kam aber noch besser.

»Woher aber wissen Sie gerade ...«

»Weil ich ein Detektiv bin – das heißt ein Detektiv an der Indianergrenze, schon mehr Indianerspion, und meinem Auge entgeht nichts – jawohl, ich bin auch so ein halber Indianer, und so etwas gefällt mir, ich helfe Ihnen durch. Sie kommen gleich mit mir nach der Indianergrenze ...«

Ach, dieses freudige Staunen, das sich in dem schmutzigen Gesichte malte! Nobody bedauerte schon jetzt, daß er sie nicht wirklich gleich mit unter die Indianer nehmen konnte, daß er ihr das dann durch seine Ueberredungskunst austreiben mußte, um sie von einem Wahne zu heilen.

»Sie sind wirklich ...«

»Still! Auch ich will hier nicht gekannt sein. Nun, Kamerad, nicht etwas essen? Oder wohl erst schnell ein Bad? Unterdessen lasse ich geräucherten Bärenschinken und frischen Büffelrücken auftischen, denn so etwas wird's im Kohlenbunker wohl nicht gegeben haben.«

Gleich war aus dem phantastischen Mädchen wieder der Indianerhäuptling fertig, und – der darf nicht gleich schreien, wenn er einmal hungrig ist.

»Der graue Bär kennt keinen Hunger und Durst, er wird warten, bis sein weißer Bruder am Lagerfeuer ißt.«

»Dann also erst ein Bad.«

Nebenan war das luxuriöse Badekabinett; in das Marmorbecken konnte sowohl warmes und kaltes Seewasser als auch Frischwasser eingeleitet werden. Aber der graue Bär verachtete alles warme Wasser, und da hatte das Mädchen ja auch ganz recht, denn was so ein echter Indianerhäuptling ist, der darf niemals in ein warmes Bad steigen. Nur dafür sorgte Nobody, daß wenigstens kaltes Frischwasser einlief, denn Seewasser spottet aller Seife, das gibt nur eine Schmiere.

Nachdem sich Nobody überzeugt hatte, daß alles vorhanden war, ließ er sie allein, bestellte beim Steward eine ausgiebige kalte Mahlzeit, und dann setzte er sich, um einen Plan auszugrübeln, wie er diesem tollen Mädchen die Liebe für Indianer austreiben könne. Denn das mußte es, ganz heraus mußte diese Tollheit aus dem romantischen Köpfchen! Was hatte das für einen Zweck, das Mädchen wieder nach Hause zu schicken? Dann brannte es eben nochmals durch.

Nein, diese Weiber! Diese Mädels! Wenn die verrückt werden, werden sie's zuerst immer im Kopfe!

Uebrigens stand das gar nicht so ohne Gegenstück da. Nobody hatte es in seiner Jugend erlebt, in seiner Heimat. Da war in dem Städtchen ein ›Wilder West‹ mit Indianern und Cowboys aufgetreten, auch ein paar ›Roughgirls‹ waren dabeigewesen, wilde Präriereiterinnen, und da waren einige langbezopfte Bürgermädchen ganz toll geworden. Die wollten auch solche Amazonen werden; den Jungen wurden Indianergefechte geliefert, statt der Skalpe schnitten sie einander die Zöpfe ab, und weil es keine Pferde zu stehlen gab, hatten sie wenigstens Strohbauers Kuh gemaust, desgleichen Hühner und Gänse, und sie am Spieße gebraten – die Kuh freilich nicht – und das war so ein ganzes Jahr fortgegangen, bis ... na, bis die verrückten Mädels eben älter wurden und an etwas andres dachten.

Hier lag nun freilich ein ganz andrer Fall vor. Er war nur derselben Idee entsprungen. Jene Mädchen wären ja auch am liebsten gleich durchgebrannt, wenn sie nur gewußt hätten, wie nach Amerika zu kommen – aber diese Idee wirklich auszuführen, durchzubrennen, sich in einem Schiff zwischen Kohlen zu verstecken, ein Mädchen in Männersachen, um Indianerhäuptling zu werden ... nein, das war wirklich unerhört! Nobody konnte nur immer den Kopf schütteln und mußte dabei heimlich lachen.

Und dennoch! Dieses Mädchen imponierte ihm. Nicht nur deshalb, weil es die abenteuerliche Idee überhaupt ausgeführt hatte – nein, es war auch noch etwas andres dabei, was Nobody bewunderte. Ihr ganzes Auftreten war es. Der war der Kopf jedenfalls von Indianerlektüre verdreht worden, davon hatte sie auch die Ausdrucksweise, die hatte sie förmlich studiert. Aber nun so in einem Kreis von fremden Herren und Damen zu stehn, aller Augen auf sich gerichtet zu sehen und sich keck und dreist für einen zukünftigen Indianerhäuptling auszugeben, diese blumenreiche Sprache auch noch angesichts dieser fremden Leute beizubehalten, ein Mädchen, ein blondes Gretchen ...!

»Bei Gott, das ist nicht nur eine geborene Schauspielerin, sondern das Mädel hat auch Energie! Wenn es nun einmal durchaus unter die Indianer gehn will, wenn sich seine ganze Phantasie nun einmal mit den Rothäuten beschäftigt, könnte man das nicht auf eine verständige Weise ausnützen?«

Nobody dachte an einen weiblichen Indianer-Missionar. Er wußte nicht, ob es unter den Rothäuten schon eine Missionarin gäbe, und eine solche müßte allerdings viel Erfolg haben. Doch ebenso schnell hatte er diesen Gedanken wieder verworfen. Nein, nein, da gab es andre, die zu so etwas berufen waren, amerikanische Mädels, die in der Wildnis auf dem Pferde aufgewachsen waren!

Aber so ohne weiteres durfte die kleine Abenteurerin nicht wieder nach Hause geschickt werden. Erst mußte sie einmal den amerikanischen Boden betreten – gut, man ging auf ihre Ideen ein – und da brauchte man gar nicht erst in die Wildnis, nur einen Tag mit der Eisenbahn von New-York entfernt, da bekam sie schon Indianer genug zu sehen, freilich was für welche! – ein faules, diebisches, verkommenes, mit Ungeziefer bedecktes Gesindel – aber solche Indianer sollte sich die Idealistin gerade einmal ansehen – und dann nur so eine kleine Trappertour, nur eine einzige Regennacht im Freien verbringen – au au!! Dem jugendlichen Körper schadete solch eine nasse Nacht nichts, und das Herz und die Phantasie waren kuriert für immer. Nobody wollte deshalb einmal den Kapitän sprechen, wie der kleine Ausreißer an Land zu bringen war ...

Der eintretende Steward machte Nobodys Grübeleien ein Ende. Er servierte das reichliche Mahl, und als er sich wieder entfernt hatte, machte sich auch schon der graue Bär bemerkbar, der drüben genug geplätschert hatte.

Sie trat ein, frisch gewaschen – wirklich ein blondes Gretchen. Aber sie konnte auch recht gut als ein Junge durchgehn. Als Knabe war es ein hübsches Mädchengesicht, als Mädchen hatte sie frische, trotzige Knabenzüge. Nun aber diese schmächtige, schwächliche Gestalt! Wie konnte so ein Mädel nur solche Pläne fassen! Nein, die hielt nicht einmal so eine Regennacht aus.

Sie war schon wieder vollkommen kostümiert, mußte aber auch gleich ihren gelben Lederanzug gewaschen haben.

»Jawohl, den habe ich gleich mitgewaschen,« lachte sie auf Nobodys Frage.

Sie gab, als Mädchen erkannt, jetzt etwas ihre Indianerausdrücke auf, nur manchmal geriet sie noch hinein, und Nobody bediente sich jetzt des ›du‹. Es war ja auch noch ein vollkommenes Kind.

»Aber der Anzug ist ja ganz naß.«

»Was tut das?«

»Du wirst dich erkälten.«

»Ein Indianerhäuptling und erkälten!« klang es da schon wieder trotzig zurück. »Bah, in der Wildnis hat man noch etwas ganz andres auszuhalten, besonders wenn man auf der Kriegsfährte ist. Und Bob hat seinen Jagdanzug überhaupt niemals ausgezogen, Bob hat ihn auch immer gleich auf dem Leibe gewaschen.«

Bob war jedenfalls ihr Lieblingsheld aus einer Indianererzählung, und Nobody unterdrückte sein Lächeln. Sie ließ sich nicht lange nötigen, setzte sich, langte wacker zu und erzählte mit kauenden Backen. Erwähnt sei nur noch, daß sie sich beim Essen nicht der Gabel und des Tischmessers bediente, sondern ausschließlich ihres ›Skalpiermessers‹, und das war bei einem Indianerhäuptling ja auch selbstverständlich.

Gretchen Seidel hieß sie, war geboren und erzogen in Ebstorf, einem kleinen Städtchen mitten in der Lüneburger Heide, aus dem sie niemals herausgekommen. Ihr Vater war Schneidermeister gewesen, sie bekam eine Stiefmutter, und als der Vater starb, heiratete jene wieder einen Schneidermeister. Aber sie hatte es bei den Stiefeltern gar nicht so schlecht gehabt; man hatte ihr immer viel Freiheit gelassen.

»Sobald ich konfirmiert würde, sollte das natürlich aus sein. Ich sollte mit in der Schneiderstube arbeiten. Da gab's bei mir nun freilich nichts. Ich wollte Indianer werden. Und als ich nun konfirmiert wurde ...«

»Wann war denn das?«

»Na, das war doch vor ... nein, was haben wir denn heute für einen?«

»Den 17. April.«

»Und am 13. April bin ich konfirmiert worden, und an demselben Tage noch bin ich ausgerückt.«

»Wohin?«

»Nach Hamburg, um mich da auf einem nach Amerika gehenden Schiffe zu verstecken. O, ich hatte mich vorher über alles ganz genau erkundigt und dabei doch so heimlich, daß niemand auch nur eine Ahnung von meinem Vorhaben hatte.«

»Du bist mit der Eisenbahn gefahren?«

»Nu nee! Ich hatte doch schon mein Jagdkostüm hier an, als ich von zu Hause fortmachte, das war doch alles schon längst vorbereitet. Auf der Eisenbahn hätte man mich doch gleich beim Schlafittchen genommen.«

»Also zu Fuß?«

»Freilich! Abends um neun Uhr gingen meine Eltern schlafen, ich auch, stand leise wieder auf, schlich mich hinaus, wo ich den Lederanzug und meine Waffen versteckt hatte. Um zehn Uhr marschierte ich ab. Na, ich will lieber gleich sagen: ich rannte ab; denn ehe es hell wurde, wollte ich in Hamburg sein. Wenigstens in der Nähe davon. Den Weg hatte ich mir auf der großen Landkarte beim Lehrer genau angesehen. Schließlich brauchte ich auch nur die Richtung zu wissen, das genügte mir schon. Es ging immer quer über die Felder, achtmal bin ich durch Flüsse geschwommen. Einmal war der Fluß so furchtbar breit, wollte gar kein Ende nehmen. Da war ich aus Versehen in einen Teich geraten, schon mehr ein See. Es war stockfinster, dazu ein Hagelwetter. Dieses lange Schwimmen hat mich besonders aufgehalten. Trotzdem sah ich früh um fünf die Lichter von Hamburg leuchten. Ich versteckte mich am Tage über in einem Wald, vergrub mich unter das Laub, am andern Abend bin ich in die Stadt geschlichen; daß in derselben Nacht der ›Rheingold‹ abfuhr, das wußte ich auch schon; ich fand ihn, ohne fragen zu müssen, schlich mich hinauf und zwischen die Kohlen hinein. Ei, schleichen kann ich, da nehme ich's mit Bob auf.«

Fest blickte Nobody die kauende Erzählerin an.

»Wie weit ist es denn von Ebstorf bis nach Hamburg?«

»Zehn Meilen. Das heißt, in der Luftlinie.«

Das konnte wohl stimmen. Nobody hatte die Karte sehr gut im Kopfe.

»Ich bin ja auch die Luftlinie immer gelaufen,« setzte das Mädchen lachend noch hinzu. »Immer durch dick und dünn und durchs Wasser. Nur Städte und Dörfer habe ich umgangen.«

»Und du bist in derselben Nacht noch in Hamburg angekommen?«

»Noch in derselben Nacht. Früh um fünf Uhr war es.«

»Du hast zu diesen zehn Meilen Luftlinie nur sieben Stunden gebraucht?«

»Jawohl, nur sieben Stunden.«

»In der Nacht? Bei dem Regenwetter, wie es damals geherrscht hat? Bist dabei durch Flüsse geschwommen, in Sümpfe geraten u.s.w.?«

Noch fester blickte Nobody das Mädchen an. Doch das hielt unbefangen den Blick aus.

»Sie glauben's wohl nicht?« fragte sie dann treuherzig. »Ach, wenn's weiter nichts ist! Wenn man es unter den Indianern zu etwas bringen will, da muß man noch etwas ganz andres können. Der Bob hat einmal in einem Tage 80 Meilen zurückgelegt, zu Fuß, als er auf der Flucht war. Das ist freilich ein bißchen viel, man sollte es kaum glauben. Ich denke mir immer, in Amerika rechnen sie mit ganz andern Meilen. 20 Meilen, das könnte stimmen, das bringe ich auch fertig. Ja, ja, Sie brauchen mich nicht so anzusehen. Ich hab's sogar probiert, ob das stimmen könnte. Ich bin auch einmal in der Lüneburger Heide 20 Meilen weit gerannt, immer im Kreise, im großen Kreise, hatte es mir genau ausgerechnet, und habe dazu nur zwölf und eine halbe Stunde gebraucht.«

Ja, Nobody machte ein ganz seltsames Gesicht.

»Mädchen, Mädchen, sprichst du denn nur im Ernst?!« stieß er hervor.

Jetzt war es Gretchen, die ein langes Gesicht machte. Und dann lachte sie.

»Ach so. Sie denken wohl, ich kann nichts weiter, als was ich in der Schule gelernt habe, und dann vielleicht noch so ein bißchen nähen? Und da will ich nach Amerika gehn und bei den Rothäuten gleich Häuptling werden? Na, hören Sie, was denken Sie denn eigentlich von mir? Nein, ich habe alles gelernt, was Bob konnte. Der hat einmal, als ihn der weiße Wolf verfolgte – Sie wissen doch, das war der erste Häuptling von den Apachen, ein ganz tüchtiger Kerl, aber ich konnte ihn nie leiden, er hatte eine gespaltene Zunge – ja, wie der dem Bob den Skalp nehmen wollte, da mußte Bob sich einmal auf der Flucht im Wasser verstecken, in einem Flusse, und so hat er ganze acht Stunden lang in dem kalten Wasser gekauert, nur mit dem Kopfe herausgeguckt. Donnerwetter, dachte ich, ob du das auch aushältst? Das mußt du, sonst kannst du nicht Häuptling werden. Und da habe ich mich an einem Sonntage, im März war's, das Wasser bitterkalt, in den Bach gekauert, nur den Kopf heraus, und wissen Sie, wie lange ich's ausgehalten habe? Zehn Stunden lang! Jawohl, zehn Stunden lang! Wenn's sein müßte, hätte ich's auch noch länger ausgehalten. Was heißt überhaupt ausgehalten! Freilich war ich dann nicht schlecht steif gefroren, und noch lange Zeit hinterher hat's mich tüchtig abgeschüttelt. Ich bekam auch lauter rote Flecken am ganzen Körper, schlafen konnte ich auch nicht mehr, ich träumte immer, ich säße im kalten Wasser und quälte mich fürchterlich ab. Die Leute sagten alle, ich hätte das Fieber. Aber ich habe mir nichts merken lassen und sie alle ausgelacht. Und nach vierzehn Tagen war alles vorbei, und da habe ich mich gleich wieder zehn Stunden ins kalte Wasser gesetzt, und da hat's mir auch nichts mehr geschadet.«

Immer starrer ruhte Nobodys Auge auf der kleinen Sprecherin, welche auch dadurch einem ›echten‹ Indianerhäuptling alle Ehre machte, daß ihr Appetit schon mehr ... Gefräßigkeit zu nennen war.

»Es – ist – doch – nicht – möglich!« konnte Nobody nur hervorbringen.

»Was ist nicht möglich? Daß man zehn Stunden im Wasser aushalten kann? Ich habe gelesen, daß Schiffbrüchige tagelang im Wasser gelegen haben, an den Ohren Eiszapfen, und sie haben es doch überstanden, ohne daß es ihnen etwas geschadet hat. Da ist ja auch gar nichts weiter dabei, da muß man eben nur aushalten. Um unter die Indianer zu gehn, muß man noch etwas ganz andres können, da muß man wirklich etwas gelernt haben, alles, was Bob konnte. Wie der zum Beispiel schoß – passen Sie mal auf ...«

Sie hatte vom Tisch den Kork einer Limonadenflasche genommen, war schnell aufgesprungen, eilte nach der Wand, in der sich das runde Fensterchen befand, bei dieser ruhigen See geöffnet, stellte den Kork in diese Oeffung, rannte zurück durch den sechs Meter langen Salon, drehte sich an der Tür schnell um; während dieser Umdrehung riß sie die Teschingpistole aus dem Futteral, fast in demselben Augenblick knallte auch schon der Schuß, und der Kork war aus dem Fenster verschwunden. Der staunende Nobody hatte ganz deutlich gesehen, daß ihn die kleine Kugel mitgenommen hatte.

»Und das, glaube ich, kann ich auch so gut wie Bob ... kann ich hier das alte Brett nehmen?«

Es war ein kleiner, aber starker Kistendeckel, auf der einen Seite mit Buchstaben bemalt. Nobody hatte, ganz geistesabwesend, genickt; sie nahm ihn, stellte ihn gegen die Lehne des Sofas, sprang wieder an die andre Wand, zog das lange Messer, nahm die Spitze zwischen die Finger, hob den Arm etwas und zielte.

»Passen Sie auf, gerade den I-Punkt will ich treffen ...«

Schwirrend entflog das große Messer ihrer Hand, seltsamerweise aber drehte es sich nicht wiederholt um sich selbst, was eigentlich stets der Fall ist, wenn man so ein an der Spitze gefaßtes Messer schleudert, sondern es machte nur eine Dreivierteldrehung und dann durchschnitt es so, die Spitze voraus, pfeifend die Luft, ein Klapp, und es steckte im Brett, genau auf der bezeichneten Stelle, in dem Punkte über dem i.

»Nun sollten Sie mich aber erst den Lasso werfen sehen!« triumphierte da auch noch die kleine Waffenmeisterin. »Schade, daß es hier nicht geht, es ist zu eng! Mit meinem Lasso nehme ich auf zehn Meter Entfernung jede Blindschleiche vom Boden weg, sie braucht nur einmal den Kopf etwas zu heben, und das konnte nicht einmal Bob; da war ihm Biberschwanz über, nur der konnte beim Wettspiel mit dem Lasso eine Schlange fangen, und da habe ich mich so lange geübt, bis ich's auch konnte.«

Nobody war nach dem Sofa gegangen, nahm das Brett, es gehörte eine ansehnliche Kraftanstrengung dazu, um das Messer wieder daraus zu entfernen, mit solcher Wucht war es in das Holz gedrungen; er betrachtete das einfache Küchenmesser ehrfurchtsvoll, und noch ehrfurchtsvoller wandte er seinen Blick dann wieder der Kleinen zu.

»Mädchen, Mädchen – wer hat dich denn das nur gelehrt?«

»Gar niemand. Ich habe mich acht Jahre lang in so etwas geübt, bis ich alles konnte, was man braucht, um unter die Indianer gehn zu können.«

»Acht Jahre lang?« wiederholte Nobody, schon wieder ungläubig.

»Jawohl, acht Jahre lang. Ich war sechs Jahre, als ich damit anfing.«

Sie setzten sich wieder; Gretchen, um weiterzuessen, wobei sie aber immer erzählen mußte, und jetzt wurde sie durch Nobodys Fragen unterstützt, welcher ein abgeschlossenes Lebensbild bekommen wollte, das wir hier wiedergeben:

Gretchen war von klein auf ein schwächliches, aber ein sehr aufgewecktes Kind gewesen. Mit dem sechsten Jahre, als sie in die Schule kam, hatte sie schon vollständig schreiben und lesen können, und zufällig hatten ihre erste Lektüre des verstorbenen Bruders Indianerbücher gebildet. Das war aber auch ausschlaggebend für ihren ganzen weiteren Werdegang gewesen.

Sie hatte Indianerschmöker aufgetrieben, wie und wo sie nur konnte, ihre außerordentlich lebhafte Phantasie hatte sich immer mehr daran erhitzt, sie hatte mit den Jungen Indianer gespielt, und von vornherein hatte in ihr der Entschluß festgestanden: ich will auch einmal so ein rothäutiger Indianerheld werden! Acht Jahre alt war sie gewesen, als sie mit diesen Worten vor ihre Stiefeltern getreten war: Ich will Indianerhäuptling werden. Oder man hatte sie wohl einmal gefragt, was sie dereinst lernen wolle – gar nichts, Indianerhäuptling will ich werden!

Man kann sich denken, was das für ein Gelächter gegeben hatte. Das achtjährige, so überaus schwächliche Mädchen, das von jedem Windhauch umgeblasen wurde, wenigstens Schnupfen und Husten bekam. Das ganze Städtchen lachte über den kleinen ›Indianerhäuptling‹.

Und das achtjährige Kind sah ein, daß man es mit Recht auslachte – es sah ein, wie schwach es war. Aber trotzdem wollte es Indianerhäuptling werden.

Und das achtjährige Kind unterzog sich nach eigener Ueberlegung einer Kräftigungskur. Von einer systematischen Ausbildung vom Kleinen zum Großen war dabei keine Rede. Vielmehr war das dabei befolgte System ganz solch einem phantastischen Kindescharakter entsprechend. Also, wie man sagt, eine Pferdekur. Eine Anleitung dazu gaben ihr höchstens die Indianerbücher. So ein ›echter‹ Indianer schläft auf der harten Erde ebensogut wie auf dem weichen Bärenfell. Und das Kind wartete des Abends, bis die Eltern eingeschlafen waren, dann stieg es leise aus dem Bett und legte sich daneben hin auf die nackte Diele. Ein roter Jäger muß auch auf dem Schnee schlafen können. Und Gretchen verließ in der Winternacht das Haus und legte sich draußen im dünnen Hemdchen auf den Schnee hin, mit dem Vorsatz, so die ganze Nacht zu schlafen.

Was daraus wurde, das heißt im Anfang, kann man sich denken. Am andern Tage lag das schwächliche Mädchen im Sterben. Aber es wurde gerettet, und es hatte die kolossale Energie, solche haarsträubende Experimente fortzusetzen, was natürlich ganz heimlich geschehen mußte, und ... da war die Pferdekur eben gelungen! Auf diese Weise wurde aus dem einst so schwächlichen Geschöpfchen ein Mädchen, daß sich ungestraft zehn Stunden lang in ein kaltes Wasserbad setzen konnte.

Gretchen wollte ›Indianer‹ werden. Dabei blieb es. In ihren Indianerbüchern stand viel von Märschen und andern Strapazen. Das mußte sie alles aushalten können. Und sie begann sich zu trainieren. Auf der Lüneburger Heide hatte sie Platz genug dazu. Fast ist es selbstverständlich, daß das phantastische Kind immer alles übertrieb. Es marschierte und rannte, bis es mit blutrünstigen Füßen ohnmächtig zusammenbrach. Aber dem schon gestählten Körper konnten alle diese Ueberanstrengungen nichts mehr schaden, und wenn sich das Kind wieder erhob und mit den wunden Füßen den Marsch oder die Renntour fortsetzte, so kam zu der schon vorhandenen Energie der Seele neue hinzu.

Nobody, der immer nur den Kopf schütteln konnte, befühlte ihre Glieder, wie ein Sportsman ein Pferd auf Knochen und Muskeln prüft, und er durfte es, es war noch ein vollkommenes Kind. Und auch Nobody konnte sich täuschen. Fleisch hatte das schlanke Mädchen nicht viel auf dem Körper, daher waren auch keine Muskeln vorhanden, aber sonst war der Körper, der einen so schwächlichen Eindruck machte, wie von Stahl gebaut.

»Was sagten denn nun die Eltern, die andern Leute, wie du es so triebst?«

»Gar nichts. Sie lachten über mich. Ich hätte ein Junge werden sollen. Den Hans hatten sie mich schon immer genannt, daraus wurde dann der tolle Hans.«

»Und als du dich zum Beispiel damals die zehn Stunden ins Wasser gesetzt hattest – erfuhr man das?«

»Ja, es kam gleich am andern Tage heraus. Ein Hirtenjunge hatte mich dabei gesehen.«

»Und was sagten die Leute da?«

»Sie lachten. Sie konnten's nicht begreifen. Ich wäre verrückt.«

Ja, die Leute lachten. Sie lachten, lachten, lachten. Hiermit sind aber nicht jene Leute aus Ebstorf gemeint. Bei denen ist das zu verzeihen, dieses Städtchen liegt noch heute meilenweit von der Bahn entfernt. Es gibt aber auch in Großstädten genug Leute, zahllose Leute, sehr gebildete Leute, von denen man jeden Augenblick hören kann: ›Das ist mir unbegreiflich.‹ Diese Leute sind wenigstens so ehrlich, gleich selbst ihr geistiges Unvermögen einzugestehn.

Nun aber weiter: Sie mußte doch auch eine Donnerbüchse haben. Wenn kein Gewehr, dann wenigstens eine Pistole. Sie kaufte sich eine solche, diese hier. Das Geld dazu gewann sie hauptsächlich durch Sammeln von Heidelbeeren und Pilzen, nicht minder durch Fangen von Eidechsen, Schlangen, Schmetterlingen und dergleichen, wie das Kind, wenn es nicht in der Schule war, ja überhaupt schon immer ein fast vollkommenes Jägerleben geführt hatte.

Und wie schlau das zehnjährige Mädchen es angefangen hatte, um unbemerkt in den Besitz einer Schußwaffe zu kommen! Denn das Kind konnte doch nicht etwa nach Lüneburg in einen Waffenladen gehn und sich dort eine Pistole kaufen.

Erst wurde ausgekundschaftet. In Ebstorf lebte ein pensionierter Militär, der im Garten manchmal mit einer Pistole nach der Scheibe schoß. Gleich wurde Bekanntschaft mit ihm gemacht. Gretchen hatte noch keine andre Pistole gesehen, wenn sie auch wußte, daß es noch andre Konstruktionen gebe. Sie hatte doch nicht umsonst ihre Indianergeschichten studiert. Nun wollte sie aber auch gerade eine solche haben, mit welcher der alte Mann öfters ins Schwarze traf und hin und wieder sogar einen Sperling erlegte. Also Teschingpistole hieß so ein Ding, eine fünfmillimetrige, sie war in Lüneburg gekauft worden, bei dem und dem Waffenhändler, hatte zehn Mark gekostet, hundert Patronen dazu eine Mark.

Gut. Als das nötige Geld zusammen war, schrieb Gretchen einen Brief, mit recht dicker, steiler Handschrift, in dem der unterzeichnete Herr bat, der Ueberbringerin dieses für beiliegendes Geld eine fünfmillimetrige Teschingpistole mitzugeben, dazu hundert Patronen – die Patronenschachtel recht gut versiegelt.

Nobody konnte immer wieder nur staunen, was für ein raffiniertes Mädel er da vor sich hatte.

»Ich habe Patronen genug verbraucht. Dafür hole ich aber auch jeden Sperling aus der Luft herunter.«

»Und das Messerwerfen?«

»Das habe ich ebenso gelernt. Wie Bob mit dem Pferde gestürzt ist, er liegt darunter und kann sein Gewehr nicht bekommen, da schleudert er doch sein Messer in die Brust des ›Kriegsadlers‹, der ihn verfolgt, und da muß ich doch auch so etwas können. O, wenn man sich nur ein paar Wochen lang Tag für Tag in so etwas übt, da bringt man's schon zu etwas.«

»Diesen Anzug und diese Schuhe – pardon, diese Mokassins, wollte ich sagen – das hast du dir wohl alles selbst gefertigt?«

»Alles, alles!« war die stolze Antwort.

»Das ist Rehleder, sehr fein gegerbt, aber ...« Nobody befühlte das Leder, stülpte an der Jacke einen Aufschlag um, daß er das Innere zu sehen bekam, »... auf eine Weise gegerbt, die in Deutschland nicht üblich ist. Wie bist du dazugekommen?«

»Na, das habe ich einfach selbst gegerbt.«

»Selbst gegerbt? Woher hast du denn das gelernt?«

»Es gibt doch Indianerbücher genug, wo es ganz genau beschrieben ist, wie das die indianischen Squaws machen, waschen und mit Fett einreiben und mit dem Messer abschaben und immer wieder waschen und einfetten, und das habe ich so lange gemacht, bis es ganz gut wurde, und nähen konnte ich ja.«

»Woher hast du denn die Rehfelle dazu bekommen?«

Da mit einem Male wurde das sonst so kecke Mädel ganz verlegen, es wollte sprechen, konnte nicht, fing an zu stottern.

»Ich habe sie ... ich bekam sie ... herrje, wie das nun eben so ist.«

»Hast du die rohen Felle vielleicht ...« kam ihr Nobody zu Hilfe, aber vollendete ebenfalls nicht, sondern machte nur eine bezeichnende Handbewegung, so von hintenherum, was nicht mißzuverstehn war.

Da aber fuhr die Kleine plötzlich mit hochrotem Gesicht und funkelnden Augen empor.

»Stibitzt? Sehe ich etwa aus wie ein Dieb? Gewilddiebt habe ich sie!«

O, Kindermund, wie oft spricht aus dir nicht unbewußt eine Wahrheit, für die der gereifte Denker vergebens eine Erklärung sucht!

In ein und demselben Atemzuge verwahrte sich das Kind mit Entrüstung dagegen, jemals etwas gestohlen zu haben, gab aber gleichzeitig ganz offen, sogar mit Stolz zu, Wilddieberei getrieben zu haben.

Wilddieberei ist dem Gesetze nach nichts andres als ein besonderer Diebstahl. Tief im Herzen des Volkes indes schlummert die unbewußte Ueberzeugung, daß dem nicht so ist. Deshalb bringt man dem Wilddieb, der sich selbst übrigens Wildschütz nennt, sogar Sympathie entgegen, in der Literatur sowohl als in Wirklichkeit. Ganz dasselbe gilt ja vom Schmuggeln. Hier geht es sogar noch viel weiter, das ist viel alltäglicher. Stolz präsentiert die von einem Besuche aus England zurückgekommene Hausfrau ihren Gästen den köstlich duftenden Tee mit den Worten: ›Den habe ich selbst durchgeschmuggelt.‹ Stolz präsentiert der Hausherr eine Kiste Havannas: ›Und die habe ich im Aermel durchgepascht.‹ Beide haben dem Gesetze nach Diebstahl begangen, mindestens Unterschlagung. Der Moral nach sind beide Diebe, dem Herzen nach – die ehrlichsten Menschen.

Und Nobody beugte sich vor, in seinem Gesicht zuckte es, als er langsam fragte:

»Du – kleine – Hexe – hast – auch gewilddiebt?«

Na und wie! Jetzt erst kam es ans Tageslicht, was für ein Leben das Mädel eigentlich geführt hatte. Ein Jägerleben! Schon mehr die gefahrvolle Existenz eines professionellen Wildschützen! Und was sie erlegte, besonders Hasen, Rebhühner und Wassergeflügel, wurde immer gleich am Spieße gebraten. Dabei war von einer zwingenden Notwendigkeit keine Rede. Zu Hause hatte sie satt zu essen bekommen. Nur der Romantik wegen.

»Ja, nun aber wieder die Rehfelle – gibt es denn in der Lüneburger Heide auch Rehe?«

»Genug.«

»Davon ist mir wirklich nichts bekannt. Dort in deiner Gegend?«

»Jawohl. Das heißt – aber – ich meine ... Sie dürfen's nicht verraten.«

»I wo, ich verrate nichts.«

»Sagen Sie weiß Gott – aber nicht Weißkopp!« erklang es naiv nach Kinderart.

»Weiß Gott, ich verrate nichts,« entgegnete Nobody denn auch prompt.

»Die Rehe waren eingezäunt,« kam es nun etwas verschämt heraus, aber auch mit listigem Augenblinzeln.

»Aha! Wem gehörten sie denn?«

»Dem Grafen Illfeld.«

»Und in dessen Wildpark bist du nächtlicher Weile eingebrochen und hast Rehe geschossen?«

So war es. Auch hier fehlte wieder das Bewußtsein, daß dies sogar Einbruchsdiebstahl war. Ja, auch hier liegt wieder das innere Gefühl zugrunde, daß alles Wild der ganzen Menschheit gehört und speziell demjenigen, der es zu erlegen versteht, und gegen dieses Allgemeinrecht schützt es nicht, wenn jemand ein Wild auch einsperrt. Etwas ganz andres ist es, wenn jemand ein Wild seinem Willen dienstbar macht, wodurch es also zum Haustier wird; etwas andres ist es, wenn ein Wild im zoologischen Garten im Käfig gehalten wird, wo es zur Belehrung dient. Doch das ist ein Thema, auf welches man gar nicht weiter eingehn soll, es ist ein gefährliches Thema.

Daß sie ein Unrecht begangen hatte, war ihr ja auch bewußt. Sie hatte deshalb nur zwei Rehe geschossen, deren Felle sie zur Herstellung dieses Kostüms und ihres Lassos gebraucht hatte.

»Ich konnte mir doch keinen Jagdanzug aus den Fellen von Heidschnucken machen!« setzte sie zu ihrer Verteidigung noch hinzu.

Am meisten interessierte sich Nobody jetzt für die kleinkalibrige Pistole, mit welcher das Mädchen auch die beiden Rehe in der Nacht erlegt haben wollte, jedes auf den ersten Schuß, durchs Auge. Wollte? Nobody zweifelte nicht daran, er zweifelte überhaupt an gar nichts mehr. Er hatte sie ja schießen, das Messer schleudern sehen, und mehr noch vielleicht imponierten ihm diese stählernen Glieder des so schwächlich aussehenden Mädchens.

Dann kam er zu der Frage, die ihm schon lange auf der Zunge brannte. Aber auch hierzu brauchte er eine Einleitung.

»Bist du niemals bei dieser Wilddieberei erwischt worden?«

»Niemals!«

»Auch nicht, wenn du Hasen und Wasservögel schossest?«

»Auch nicht. O, ich trieb es sehr heimlich, und die Lüneburger Heide ist ja groß. Und rennen kann ich! In einer halben Stunde war ich immer schon eine Meile weit von der Stadt entfernt in der einsamen Heide, wo ich meine Sachen versteckt hatte. Niemand wußte auch nur, daß ich eine Pistole hatte.«

»Und auf deinen abenteuerlichen Expeditionen trugst du dann diesen ledernen Jagdanzug?«

»Nein. Ich ging immer in meinen Mädchenkleidern. Herhalten mußten die freilich. Diesen Anzug und die Mokassins fertigte ich nur heimlich in einem Hünengrab, das ich gefunden hatte. Der Eingang dazu war unter der Erde. Ach, war das schön, wenn ich da so in meinem Wigwam saß – so nannte ich nämlich die unterirdische Höhle, aber für mich war es ein indianischer Wigwam aus Fellen, und das kann ich mir nun alles so recht lebhaft einbilden, auch wenn ich gar keine Felle sehe, nur Erde – aber ich sehe vor meinen Augen ganz deutlich die bemalten Felle, mit den indianischen Waffen daran und ...«

»Ja, ja, ich verstehe dich schon, mein Kind, ich bin nämlich so ziemlich aus demselben Holze geschnitzt wie du. Erzähle nur weiter, wie du den Anzug nähtest! Warum zogst du ihn nicht gleich an?«

»Weil ich mir den aufheben wollte, bis ich wirklich nach Amerika unter die Indianer ginge. Ach, das war so schön, wenn ich so nähte und stickte und dabei von der Zukunft träumte! Es war mir immer, als wenn jemand mir zuriefe: ›Harre aus, hebe dir diesen Jagdanzug auf, aber sage niemandem etwas davon, dann wird dir auch alles gelingen.‹ So hörte ich immer ganz deutlich sagen.«

»So hast du also niemals davon gesprochen, daß du wirklich noch unter die Indianer gehn wolltest?«

»Niemals wieder, zu keinem Menschen! Man hatte mich doch damals, als ich acht Jahre war, ausgelacht. Und das war ganz recht. Aber furchtbar gekränkt hatte es mich doch. Da nahm ich mir vor, niemals wieder zu einem Menschen davon zu sprechen. Und ich wurde doch auch älter und verständiger und sah ein, daß ich etwas ganz Ungeheuerliches vorhatte. Das hätte mir doch gar niemand geglaubt. So etwas gab's ja gar nicht. Ich sollte also Schneiderin werden, bei den Eltern zu Hause. Ich kann nämlich auch sehr gut schneidern. Gut, dachte ich, bis zu deinem vierzehnten Jahre hältst du in der Schule aus, bis dahin lernst du alles, was du unter den Indianern brauchst, und wenn du konfirmiert wirst, wenn du also etwas werden sollst – dann wirst du auch etwas, aber nicht etwa Schneiderin, wie die sich das denken – nee, dann wirst du Indianer. Na, und am Tage meiner Konfirmation bin ich denn auch ausgerückt. Amerika wollte ich schon erreichen.«

Nobody hatte hiermit etwas zu hören bekommen, was ihm an diesem Mädchen am allergewaltigsten imponierte. Diese zielbewußte Energie war es! Mit immer leuchtenderen Augen blickte er auf das Mädchen, welches mit der tollsten Phantasie die nüchternste Energie verband. Ja, Nobody sah in diesem Kinde sich selbst wieder.

Endlich war Gretchen gesättigt, sie schob die Teller zurück.

»Aber,« sagte sie mit einem Seufzer der Erleichterung und dabei trotzig, »nach Hause zurückschicken lasse ich mich nicht wieder, so was gibt's nicht bei mir, lieber springe ich ins Wasser und schwimme nach Amerika!«

Da legte ihr Nobody die Hand aufs Haupt, dessen Haar sie sich vor der Flucht abgeschnitten hatte, und feierlich erklang es:

»Mein Kind! Wer dich jetzt noch nach Hause zurückschicken wollte, in deine alten Verhältnisse zurück, etwa gar in die Schneiderstube – der würde an dir ein Verbrechen begehn!«

 

Die Nacht war angebrochen. Der Dampfer war in ein unruhiges Fahrwasser gekommen, ein heftiger Wind hatte eingesetzt, das Schiff schlingerte stark, nur wenige der Passagiere waren von der ausbrechenden Seekrankheit verschont geblieben, und der kalte Wind hatte auch die andern von Deck getrieben.

Hinten auf diesem stand ein einsamer Mann, in einen Wettermantel gehüllt, und blickte hinab in die phosphoreszierende Flut und blickte empor zum sternenbesäten Himmel.

Fort und fort ging ihm ein Gedicht durch den Kopf, er wußte nicht, von wem es war, nicht, wo er es gelesen, er kannte sogar nur die ersten beiden Verse, und diese flüsterte er immer wieder vor sich hin.

»Kindertraum, Kinderspiel,
Wollet sie nicht verspotten ...«

Ach, wenn doch die Eltern die Spiele und die Neigungen ihrer Kinder besser beobachten und sich bei der Wahl des Berufes danach richten wollten! Na gäbe es in der Welt weniger unzufriedene und unglückliche Menschen!

Der Schreiber dieses kannte einen Mann. Er war Oberlehrer an einem Gymnasium, hatte ein sehr reiches Mädchen geheiratet, machte ein großes Haus. Sie hatten einen Sohn. Und der kleine Junge kannte kein größeres Vergnügen, als, wenn Gäste im Hause waren, bei der Tafel zu servieren, die Teller zu schwenken, herumzureichen, die Serviette unterm Arm – also den Kellner zu spielen. Dann ging er mit in die Küche, kletterte auf einen Stuhl und half, die Mayonnaise mit Petersilie und Radieschen zu garnieren. Das war ihm das liebste Vergnügen. Vor allen Dingen aber hinter dem Stuhle stehn und die Speisenden bedienen. Es wurde über den kleinen Kerl viel gelacht. ›Was willst du denn einmal werden?‹ – ›KelIner!‹ war die prompte Antwort, und es wurde noch mehr gelacht. Da sagte auch einmal ein Freund zu dem Oberlehrer: ›Laß doch den Jungen als Kellner lernen, das wird ein tüchtiger Hotelier.‹ Um Gottes willen! Kellner! Gastwirt! Weiter fehlte nichts! Bei dem wohlhabenden Gymnasialoberlehrer war es doch ganz selbstverständlich, daß sein einziger Sohn studieren mußte. Und es war auch wirklich ein aufgeweckter Junge, hatte besonders Sprachentalent. Er kam aufs Gymnasium, und wenn man ihn fragte, ob und was er studieren werde, so antwortete er mit niedergeschlagenen Augen: ›Philologie.‹ – Da mischte sich das Schicksal ein. Der Vater bekam einen Schlaganfall, verlor beim Zusammenbruch einer Bank sein ganzes Vermögen, die Verhältnisse lagen so, daß der Sohn, welcher schon die Obersekunda besuchte, fremde Unterstützung brauchte. Er bekam zum Vormund einen sehr vernünftigen Mann. ›So und so, es wäre vielleicht besser, wenn du etwas Praktisches lerntest. Hast du zu etwas Lust?‹ – ›Ach ja,‹ jauchzte da der Obersekundaner, ›ich möchte so gerne Kellner werden!‹ – Gut, er kam als Kellnerlehrling in eine große Restauration, erhielt für den Mittag das verlassenste Revier ... und nach einem Vierteljahre hatte er den andern Kellnern alle Mittagsgäste weggeholt! Alle wollten von dem schneidigen Pikkolo bedient sein! Dann nach der Lehrzeit hinaus in die Welt, nach Paris, nach London, nach Petersburg – immer Geld wie Heu verdient – und heute ist der noch junge Mensch in der italienischen Schweiz der Besitzer eines der größten Hotels, in dem Fürstlichkeiten absteigen! Und was wäre aus ihm geworden, wenn das Schicksal nicht zur rechten Zeit dazwischengeschlagen hätte? Schulmeester! Lehrer zu sein ist gewiß ein hochedler Beruf: aber man muß es auch mit vollster Hingabe sein, mit freudigstem Herzen, sonst ist man kein Lehrer, sondern eben ein Schulmeester, dessen Attribut der Stock ist. Und wie oft hätte wohl dieser hier, wenn er in der Restauration saß, nicht heimlich geseufzt: ›Ach, hätte mich mein Vater doch lieber Kellner lernen lassen!‹

Hier nun freilich lag ein ganz andrer Fall vor, eine ganz andre Neigung und Kinderspielerei. Und dennoch!

Nobody blickte zum Himmel empor. Da sah er eine große, weißleuchtende Sternschnuppe fallen, und mit dieser Sternschnuppe war ihm die Idee gekommen.

Was ist eine Idee? Wie entsteht sie? Nämlich die Idee, welche den Künstler, den Dichter, nicht minder den Kaufmann und Gewerbetreibenden zum Schaffen von etwas Großem inspiriert. Da kann auch das Genie nicht sagen: ›Ich will!‹ Da hilft es auch nichts, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen. Die geniale Idee kommt, sie ist plötzlich da, wenn man sie am wenigsten erwartet. Einen Blechkopf freilich kann der Genius schütteln, wie er will, da klingt es immer nur nach Blech.

Bei Nobody war die geniale Idee mit der leuchtenden Sternschnuppe gekommen, eine Idee, was mit diesem phantastischen Mädchen zu beginnen sei, und schnell hatte er die Idee zum kühnen Plane umgeformt – ein Plan, ganz eines Nobody würdig.

Erst aber müssen wir wissen, was Nobody zur Zeit vorgehabt hatte, ehe ihm der ›Indianerhäuptling‹ aus der Lüneburger Heide dazwischengekommen war.

Nobody hatte wieder einmal einen Brief erhalten, in dem ihm ein Schatzsucher seine Dienste anbot. Wieder einmal! Man glaubt gar nicht, wie viele Menschen es gibt, die irgendwo in der Welt einen Schatz verborgen wissen, über und unter der Erde, in Vulkanen und auf dem Meeresgrunde und Gott weiß sonstwo; es fehlt ihnen nur an den Mitteln, um dorthinzugelangen und den Schatz zu heben. Ihre Zahl ist Legion. Dabei sind die spanischen Kriegskassenschwindler noch gar nicht mit eingerechnet. Es sind überhaupt gar keine Schwindler. Höchstens die Opfer eines Selbstbetrugs. Es ist eine Manie, ähnlich wie beim Erfinden. Die deutsche Herberge in London in der Lemanstreet ist zum Beispiel ein Zusammenkunftsort von solchen verkannten Erfindern. Da gibt es keinen ehrlichen Handwerksburschen und keinen Gauner, der nicht sein Patentchen hat, d. h. seine Erfindung, für die er einen Abnehmer sucht oder doch wenigstens einen Dummen, der sie patentieren läßt. Natürlich wird da nur ganz geheimnisvoll gesprochen, nur in Andeutungen, aber auch über nichts weiter. Dann gibt es wieder andre Löcher, in denen besonders alte Seeleute verkehren, auch entlassene englische Soldaten, die in den Kolonien gedient, und die haben wieder alle irgendwo einen verborgenen Schatz, zu dem sie nur jemanden brauchen, um ihn heben zu können.

Innerhalb der letzten Woche hatte Nobody nicht weniger als achtzehn Briefe mit solchen Angeboten bekommen, an jedem Tage drei. Er war eben in den Ruf gekommen, daß er sich auf so etwas einließ, und wurde nun mit derartigen Angeboten überschwemmt. Gold, Diamanten, Elfenbein, Perlmuscheln oder doch wenigstens Perlmutter, gesunkene Schiffe massenhaft, ab und zu auch eine verschwundene Kriegs- oder andre Kasse; Salpeterlager, Guano und andern Mist – aber aus allem war bares Geld zu machen, und das war so einfach, man brauchte nur hinzugehn und das Zeug auszugraben, vorausgesetzt, daß ...

In einem der letzten Briefe nun hatte ihm ein Spanier, namens Diego Alcala, hoch und heilig versichert, er wisse ganz genau, wo seinerzeit, als Pizarro Peru eroberte, die Priester der Inkas die goldene Kette und die andern Tempelschätze im Titicaca-See versenkt hätten. Er sei in den Besitz eines Dokumentes gekommen, auf welchem die geographische Strichzeichnung und auch die Lage der betreffenden Stelle nach Breiten- und Längengraden genau bis zur Sekunde angegeben sei. Zum Heben dieser Schätze brauche man natürlich Geld und noch besondere Mittel. Er, Diego Alcala, habe gehört, daß der amerikanische Detektiv einen ganz eigentümlichen Tauchapparat besäße, und so wende er sich zunächst an ihn, ob Nobody sein Kompagnon werden wolle. Er befände sich zur Zeit in großer Not – also erst einmal 1000 Dollar Vorschuß, dann Teilung des Gewinns, der pro Mann doch so ungefähr 100 Millionen bar betragen würde, und da seien 1000 Dollar Vorschuß doch eine sehr bescheidene Forderung u.s.w.

Die Sache stimmte. Nämlich die mit der goldenen Kette und den im Titicaca versenkten Tempelschätzen der alten Inkas. Man kann in jedem Konversationslexikon darüber lesen.

Als Francisco Pizarro im 16. Jahrhundert Peru eroberte, machte er in jeder Stadt unermeßliche Beute an Gold und Silber, hauptsächlich in Cuzco, der Hauptstadt des damaligen Inkareiches. Was er aber hier fand, das sollte noch gar nichts sein gegen die Goldschätze, welche in den heiligen Tempeln von Titicaca aufgespeichert seien. So vernahm Pizarro und machte sich gleich auf den Weg nach dort.

Der Titicaca ist ein großer Landsee, auf einem Plateau 4000 Meter über dem Meere gelegen. Er enthält zahlreiche Inseln, wovon die eine, die südlichste, Titicaca heißt, und nach dieser ist der See genannt worden. ›Titicaca‹ bedeutet in der peruanischen Sprache nichts weiter als ›heilig‹ oder ›gefeit‹, ganz dem neuseeländischen ›tabu‹ entsprechend.

Pizarro fand bei seiner Ankunft in Peru ein auf einer schon hohen Kulturstufe stehendes Volk vor, das besonders in der Baukunst und nicht minder in der Goldschmiedekunst Außerordentliches leistete. Das konnte doch nicht immer so gewesen sein. Der Sage nach waren vor vielen Jahrhunderten die ursprünglichen Peruaner ein wildes, barbarisches Jägervolk, als eines Tages die Sonne, welche die Peruaner liebte und sie bedauerte, ihre beiden Kinder zu ihnen hinabschickte. Die beiden Sonnenkinder, ein Mann und eine Frau, Manco Capac und Oellotzuaca, stiegen also vom Himmel herab und betraten die Erde auf einer Insel jenes Sees. Von hier aus lehrten sie die Peruaner, die Erde zu bebauen, Wolle zu spinnen und zu weben, Metalle zu bearbeiten, Städte zu erbauen, und führten anstatt des rohen Fetischismus den Sonnendienst ein; hier auf dieser Insel erbauten sie den ersten Sonnentempel.

Sie begründeten die Dynastie der Inkas, der Sonnenkönige, und seitdem war dieser See mit seinen sämtlichen Inseln ›titicaca‹, d. h. also heilig, und nicht nur diese eine Insel, sondern alte wurden mit Tempeln besetzt. Und hier nun hatten seit Jahrhunderten die Peruaner alles zusammengeschleppt, was das Land an Schätzen barg, und was aus den Händen der Goldschmiede Bewundernswertes hervorgegangen war.

So sollte unter anderem quer vor dem Hafen der Titicaca-Insel, des Hauptheiligtums, eine goldene Kette gespannt gewesen sein, welche bei der Stärke eines Mannesschenkels 233 spanische Ellen oder rund 200 Meter lang war.

An den Erzählungen von dieser ungeheuren Goldkette muß unbedingt etwas Wahres sein. Ein spanischer Gefangener, der nach Titicaca gebracht worden und von dort wieder entwichen war, wollte sie auch gesehen haben. Wenn man außerdem bedenkt, was für andre Goldschätze Pizarro damals in diesem Lande aufgebracht hatte, so ist auch gar nichts Wunderbares daran. Als Pizarro die Hauptstadt Cuzco schon vollständig ausgeplündert hatte, bot ihm der gefangene Inka Atahualpa für seine Freilassung ein Lösegeld, und zwar wollte er das große Gemach, in dem er sich gerade befand, so hoch, wie er mit der Hand reichen könne, mit Gold füllen. Pizarro glaubte es nicht, in der Stadt war nichts mehr vorhanden. Allein die Einwohner brachten auf Befehl des Inkas noch immer angeschleppt, und am andern Tage war der ganze Saal mit goldenen Gefäßen gefüllt.

Aber der Hauptschatz sollte doch auf den Tempelinseln des Titicaca liegen. Pizarro marschierte hin. Er fand nur noch leere Tempel vor. Die Priester hatten alles schon in Sicherheit gebracht, im See versenkt, auch die goldene Kette.

Pizarro und seine Leute mögen nicht schlecht gefischt haben. Es haben noch andre Leute nach ihm jahrhundertelang gefischt. Die ›goldene Kette vom Titicaca‹ war schon zu wiederholten Malen ein Schlagwort, welches alle Abenteurer der Welt in Flammen setzte und nach Peru lockte. Man hat niemals auch nur einen goldenen Becher herausgefischt!

Aber drin in dem See liegen diese Tempelschätze heute noch ganz bestimmt – aus dem einfachen Grunde, weil die Priester gar keinen sichereren Versteck hätten finden können als den See.

Man bedenke doch: dieser See umfaßt 260 deutsche Quadratmeilen, ist also ungefähr so groß wie das Königreich Sachsen. Tief ist er überall, man hat große Flächen mit 200 und mehr Metern Tiefe gemessen. Dahinab kommt kein Taucher. Dessen Grenze ist schon vierzig Meter. Oder mit Netzen und Haken absuchen? Man stelle sich einen Blinden vor, der im Königreich Sachsen herumtappt, um einen irgendwo liegenden Goldschatz zu suchen. Das ist genau dasselbe Verhältnis.

Und nun also wollte jener Spanier, der sich Diego Alcala nannte, jedenfalls ein Abenteurer und professioneller Schatzsucher, ein altes Dokument besitzen, auf welchem genau die geographische Lage verzeichnet war, an welcher Stelle des Titicaca-Sees die Goldsachen versenkt worden seien. Woher hatte der denn dieses Dokument? Wer hatte diese geographische Ortsbestimmung denn aufgezeichnet? Vielleicht die Sonnenpriester? Nur schade, daß man damals noch gar nichts von geographischen Breiten- und Längengraden gewußt hat. Nein, mit diesem Schwindel kam der Spanier ein Jahrhundert zu spät. Jetzt dachte kein vernünftiger Mensch mehr an die goldene Kette vom Titicaca, und bei Nobody kam er da nun gerade an den Unrechten. Der war gegen diese Schatzsucher schon ganz abgebrüht.

Aber dieser Brief hatte ihm doch eine Anregung gegeben. Die großartigen Tempel auf jenen Inseln sind noch vollständig erhalten. Das muß wirklich sehenswert sein. Aber es ist äußerst schwierig, sie zu besichtigen. Weshalb, werden wir gleich sehen. Der letzte, der sie besucht und beschrieben hat, ist der Engländer Pentland gewesen, im Jahre 1844. Seitdem hat wohl schwerlich ein Mensch diese geheiligten Inseln wieder betreten. Da ist nämlich sowohl Politik, als Aberglauben mit im Spiele. Deswegen werden die Inseln mit ihren Tempeln äußerst scharf bewacht. Nun, Nobody wollte schon durchschleichen und Umschau halten.

Gedacht ... und abgereist! So hieß es bei Nobody. Er hatte in Hamburg zu tun gehabt, gegenwärtig nichts weiter vor – also schnell einmal einen kleinen Abstecher nach dem Titicaca-See gemacht! Zuvor noch möglichst viel Bücher gekauft, welche sich mit jener Gegend beschäftigen, auch ein englisches Lehrbuch der peruanischen Sprache, und dann an Bord des ›Rheingold‹, auf dem er sich sowieso wieder nach New-York hatte einschiffen wollen. Er hatte in Hamburg die Bekanntschaft einer fürstlichen Person gemacht, die in Gesellschaft des berühmten Detektivs New-York hatte besichtigen wollen – Nobody war sehr froh, daß nichts daraus wurde, so konnte er während der Ueberfahrt mit Muße studieren. Das hatte er denn auch während der ersten beiden Tage getan.

Eine nette Gegend, die sich die Sonnenkinder zum Landen auf der Erde ausgesucht hatten! Vom April bis September am Tage eine alles zerschmelzende Hitze, und in der Nacht bedeckt sich der See mit einer dünnen Eiskruste. Vom September bis April sind die Tage zu zählen, an welchen kein furchtbares Gewitter wütet, dem in der Nacht regelmäßig ein Schneefall folgt. Das macht die Nähe des Aequators bei einer Höhe von 4000 Metern, dazu noch umgeben von den mit ewigem Schnee bedeckten Gipfeln der Kordilleren. Auf der ganzen Puna, wie das Plateau heißt, dessen Mitte der Titicaca-See einnimmt, gedeiht kein einziger Baum. Alles nur Gras und Kakteen.

Aber großartig muß es doch sein, eines Gottes würdig. Donner und Blitz, Eis und Schnee, alles an einem Tage. Und gesund, gesund! Hundertjährige Greise findet man überall unter den Eingeborenen.

Die am See wohnenden Indianer nähren sich ausschließlich vom Fischfang, die weiter auf der Puna verstreuten, welche auch Pferde züchten, von der Jagd auf die hier allein noch wild lebenden Lamas, auf Huanacos und Alpacos, aus deren Haaren sie auch ein Gewebe zu fertigen wissen, auf Punahirsche und andres Wild.

Es sind zwei große Hauptstämme. Nördlich vom See wohnen die Quichuas, südlich die Aymaras. Beide behaupten, echte Nachkömmlinge der alten Inkas zu sein. Ein Stamm nennt den andern Cholos, d. h. Bastarde, und das ist es, worauf es uns hier ankommt.

Jeder der beiden großen Indianerstämme nimmt die heiligen Inseln für sich in Anspruch. Da aber nun von diesen absolut nichts zu holen ist, so bleibt jeder den Tempelinseln fern. Denn wenn nur einer wagen würde, eine Insel zu betreten, so würde sofort der blutigste Krieg zwischen den beiden Stämmen entbrennen, während sie sonst ganz friedlich zusammenleben. Da sind kleine innere Fehden viel häufiger. Aus demselben Grunde aber kann auch kein Fremder diese Inseln betreten, oder er setzt seinen Kopf aufs Spiel.

Zu welchem Staate gehört die Puna mit dem Titicaca-See? Er liegt auf der Grenze von Peru und Bolivia. Peru zählt ihn zu seinem Gebiete. Bolivia tut dasselbe, und in dieser Annahme sind beide Staaten glücklich. Wegen des Titicaca-Sees und der angrenzenden Puna ist es noch zu keinem Streite gekommen. Wie gesagt, es ist ja von dort nichts zu holen – höchstens Haue von den waffengeübten Indianern, die sich in solch einem Falle schnell verbinden würden.

 

So weit war Nobody mit seinem Studium gekommen, als der kleine Indianerhäuptling mit den blonden Haaren als blinder Passagier aus den Kohlenbunkern aufgetaucht war.

Gleich nach dem Essen war Gretchen auf dem Sofa eingeschlafen, das heißt, Nobody hatte sie aufgefordert, zu schlafen, denn die Kohlen konnten kein sanftes Ruhebett gewesen sein. Er hatte noch dafür gesorgt, daß sie, da ein baldiges Schlingern des Schiffes zu erwarten war, nicht herabfallen konnte, und hatte sich an Deck begeben.

Und jetzt hatte ihm die fallende Sternschnuppe die geniale Idee gebracht, sowohl in bezug auf den Titicaca-See, wie auf dieses Mädchen.

Er begab sich wieder hinab in seinen Salon, ließ beim Eintreten das elektrische Licht aufflammen. Gretchen lag noch so auf dem Sofa, wie er sie verlassen hatte, aber sie mußte in demselben Augenblicke, da das Licht ihre Augen getroffen, erwacht sein.

Sie sprang auf, taumelte, wurde von einer Schiffsbewegung gegen die Wand geschleudert, wankte zurück, griff mit den Händen in der Luft herum, und plötzlich wurde ihr Gesicht schneeweiß.

Nobody sah die Katastrophe kommen, er wollte verhüten, was noch zu verhüten war, um dann Reinigungsarbeiten zu ersparen, sprang hin und faßte sie am Arme.

»Schnell hierherüber!«

Aber sie riß sich von ihm los, klammerte sich nur an einem Schranke an.

»Sie glauben wohl gar, ich werde seekrank?« fragte sie trotzig; dann preßte sie die Lippen zusammen und blickte ihn mit ebenso trotzigen Augen an. Nobody hörte auch ihr energisches Zähneknirschen.

Und das Wunder geschah! Nobody hatte genug auf See gelegen, um alle Stadien dieser heimtückischen Krankheit zu kennen, bei welcher sich der Mensch nichts sehnlicher als den Tod herbeiwünscht, während er von andern ausgelacht wird. Es gibt Leute, welche wohl von der Seekrankheit befallen werden, aber nicht seekrank werden wollen – nicht wollen!!! – und kraft dieses Willens ist das furchtbare Unwohlsein besiegt, ein für allemal! Aber unter zehntausend Passagieren findet man einen, der solch eine Energie besitzt.

Dieses kleine Mädchen hier brachte es fertig.

»Ich – habe – aber – einen – merkwürdigen Traum – gehabt,« brachte sie mit bleichen, zitternden Lippen hervor, noch ein kurzes Ringen, dann war es vorbei. Schon kehrte die gesunde Gesichtsfarbe zurück.

»Bravo! Bravo!!« rief Nobody in aufrichtiger Bewunderung.

»Na, was denn?« wollte sie sich erstaunt stellen.

»Schon gut, schon gut!« lachte Nobody. »Das war wirklich eine Leistung, würdig einer Rothaut, die am Marterpfahl mit einem Spottlied auf die Feinde stirbt. Meine Hochachtung! Du mußt aber trotzdem seekrank sein, freiwillig.«

Er erklärte ihr, was er beabsichtigte. Es ging nicht anders, es mußte eine kleine Lüge angewandt werden, und schließlich war es gar keine. Gretchen sollte an Bord der Junge bleiben, Hans Seidel. Am besten war es, sie kam überhaupt niemals an Deck, und da mußte eben vorgegeben werden, der kleine blinde Passagier läge in der Salonkabine schwer seekrank, und wenn der Steward einmal drin zu tun hatte, mußte Hans auch wirklich in der Koje liegen. Alles andre wollte schon Nobody übernehmen.

»Und wenn ich nun in Amerika bin?«

»Dann kommst du mit mir unter die Indianer,« lächelte Nobody.

»Sie sagten doch, Sie wären so ein Indianeragent, von denen ich auch schon gelesen habe. Ist das wirklich wahr?«

»Hast du schon von Nobody gehört?«

Nein, diesen Namen kannte das Mädchen aus der Lüneburger Heide nicht.

Und Nobody begann zu erzählen, von sich selbst. Aber um die Ansichten des Kindes nicht zu verwirren, gab er sich nicht für einen Detektiv aus, sondern eben für einen Indianeragenten, für einen im Dienste der Regierung stehenden Indianerspion, also auch eine Art von Detektiv, und er schilderte, wie er bei sehr vielen Stämmen Nordamerikas in hohem Ansehen stehe, bei ihnen einen besonderen Ehrennamen führe, auch den Rang eines Häuptlings einnehme – und nun verstand ja Nobody zu erzählen, und mit immer leuchtenderen Augen hörte ihm das phantastische Mädchen zu.

»Ei, so ein Leben möchte ich auch führen!« rief sie zuletzt. »Das ist noch viel schöner als nur so ein Indianerhäuptling von einem bestimmten Gebiete zu sein, wo man dann nicht wieder herauskommt. Ja, so in ganz Amerika herumstreifen zu können, überall von den roten Kriegern als Freund empfangen zu werden, immer neue Abenteuer erleben, das wäre etwas für mich!«

» Well, du sollst mich begleiten. Wir fangen in Südamerika an, und dort sind die Rothäute nicht schlechter als in Nordamerika, vielleicht noch besser, und die haben sich auch noch ihre Freiheit zu wahren gewußt.«

»Jawohl, wie die Penchuenchen in den Pampas!«

»Gehn wir erst einmal zu den Nachkommen der alten Inkas.«

Und jetzt weihte Nobody das Kind rückhaltlos in seinen abenteuerlichen Plan ein, und immer mehr strahlten die Augen des Mädchens, das mit halb geöffnetem Munde lauschte, manchmal auch recht kluge Fragen stellend, und sie beide merkten nicht, wie der Tag die Nacht verdrängte und draußen ein furchtbarer Sturm die See aufwühlte und das Schiff wie eine Seifenblase tanzen ließ. –

Nobody brauchte keine Entschuldigung für seinen Schützling. Die anfangs so gute Fahrt ward die denkbar stürmischste, die Passagiere durften gar nicht an Deck kommen, und der Kapitän hatte andres zu tun, als nach dem blinden Passagier zu fragen. Der Besitz einer Salonkabine berechtigte dazu, daß die Mahlzeiten in dieser selbst serviert wurden, und so blieben die beiden ganz ungestört. Sofort begann der Unterricht in der peruanischen Sprache, Nobody war der mitlernende Lehrer, Gretchen eine ebenso fleißige, wie talentvolle Schülerin, und in den Ruhepausen konnten die beiden durch einen Zufall zusammengeführten und in gewisser Beziehung so verwandten Menschenkinder nach Herzenslust ihren bizarren Phantasien nachhängen. Wirklich, in diesem kleinen Mädchen hatte Nobody einmal jemanden gefunden, der es mit ihm im Aushecken von tollen Plänen, auf die ein andrer Mensch gar nicht kommt, aufnahm.

Es ist nicht leicht, unbemerkt von Bord eines Ueberseedampfers an Land zu kommen. Dazu gehört ein ganz raffinierter Mensch, der alle Verhältnisse und Schliche schon kennt. Der kleine Indianerhäuptling wäre mit seinen drei Talern natürlich nicht an Land gelassen worden, es war ja überhaupt noch ein unmündiges Kind, und die Entdeckung des blinden Passagiers stand im Schiffsjournal, welches sofort von der Polizeibehörde geprüft wurde, noch ehe ein Fuß von Bord kommen durfte. Aber für Nobody war ja das alles ganz Nebensache, der wußte sich auf seine Weise zu helfen.

Im Zwischendeck, wo immer eine Art von Trödelmarkt abgehalten wird, erstand er einen Knabenanzug mit langen Hosen; den mußte Gretchen anziehen, das Lederkostüm wurde in Nobodys Koffer gepackt.

Der Dampfer fuhr in den Hafen von New-York ein. Dort näherte sich schon der Zolldampfer, und wer hätte da Zeit gehabt, sich um Mr. Ryland und seinen Schützling zu kümmern! Das Dampfboot setzte die Zollbeamten an Bord, und gleich hatte Nobody den höchsten mit Beschlag belegt. Nur ein leises Wort, und der Beamte ließ sich willig beiseiteziehen, ein Flüstern, nur ein neugieriger Blick nach dem hübschen Knaben, den Nobody an der Hand hielt, ein Nicken, einige leise Worte zu einem andern Beamten, und dieser führte die beiden hinüber auf den Zolldampfer, Nobodys Koffer nachtragend. Der Zollkutter wartete nicht erst, bis die Beamten fertig waren, er fuhr gleich wieder zurück, jetzt zwei blinde Passagiere an Bord, welche ohne weiteres das Land betreten konnten. Nobody hatte diesen amerikanischen Zollbeamten, welche er alle persönlich kannte, schon ganz andre Dienste erwiesen, als daß er nicht so eine kleine Gegenleistung fordern durfte, wobei das Auge des Gesetzes einmal ein bißchen zugedrückt werden mußte. Der Kapitän würde einige Unannehmlichkeiten haben, aber das war seine Sache, und wenn es geschehen war, so war es eben vorbei.

Nobody nahm das Mädchen erst mit in ein Hotel, fast nur, um das Telephon zu benutzen, sie blieben eine halbe Stunde da, dann wurde Nobody wieder angerufen, worauf sie nach längerer Wagenfahrt, die über die Brooklyner Brücke ging, ein schloßähnliches Gebäude erreichten, das in einem mächtigen Parke lag.

Wir wollen nur mit Gretchens Augen sehen.

»Das ist deine vorläufige Heimat, hier wirst du dich erst, wie ausgemacht, zur sattelgewandten Pampasindianerin ausbilden,« hatte Nobody gesagt, als der Wagen in den Park einfuhr.

Das Haus war bewohnt, der große Pferdestall neben der Reitbahn vollbesetzt, und Nobody schien nicht der Besitzer zu sein. In einem der luxuriösen Zimmer wurden sie von einem Gentleman empfangen, Nobody schüttelte ihm die Hand, sie sprachen Englisch zusammen, der vornehme Herr streichelte dem Mädchen im Knabenanzug das Haar, lachte und sagte einige Worte deutsch – dann bekamen die beiden eine Flucht von Zimmern angewiesen, einige weibliche und männliche Diener zu ihrer Verfügung und hatten mit allen andern gar nichts mehr zu tun. Es waren zwei Mietsparteien in ein und demselben Hause mit gemeinsamer Benutzung des Gartens und von allem, was dazu gehörte.

Während das entzückte Kind in dem Park umherstrich, der dicht an das Meer grenzte, schrieb Nobody Briefe und schickte ein Telegramm nach dem andern ab. Darunter war auch ein Brief, der nach Deutschland an Gretchens Stiefvater ging. War dieser mit allem einverstanden, gab er jedes Anrecht an das Kind auf, so konnte er bei einem Lüneburger Bankier sofort 5000 Dollar erheben. Wenn nicht, so bekam er gar nichts und – es war ganz genau dasselbe. Der kleine Schneidermeister würde das Geld schon nehmen. Es machte ihn zum Hausbesitzer und in dem Städtchen zum reichen Manne.

Am andern Tage kam ein Herr, dessen bartlose Physiognomie dem Mädchen wohl auffiel, ohne daß es aber erkannt hätte, was das wohl für ein Mann sein möge. Der moderne Anzug mußte sie irreführen.

»Hier, das ist ein echter Indianer, ein südamerikanischer Penchuenche,« stellte Nobody ihn vor, »welcher, als er noch seinen Renner durch die Pampas lenkte, den Kopf von so manchem Bleichgesicht auf seine Lanze gespießt hat. Jetzt geht er dem friedlicheren Berufe eines Reitlehrers nach, er wird auch der deine sein.«

Der Reitunterricht begann sofort, und das Mädchen lernte noch andres von dem Penchuenchen, was er zwar noch konnte, worin er aber in der Weltstadt keinen Unterricht gab, so zum Beispiel das Schleudern der Bola und der Bolette. Der südamerikanische Indianer bedient sich nicht, wie sein nördlicher Bruder, des Lassos, der Wurfschlinge, sondern der Bola. Das ist ein langer Lederriemen, an dessen Ende sich drei oder mehr bleierne Kugeln befinden. Diese werden um den Kopf gewirbelt, nach dem Ziele geschleudert, wirbelnd sausen sie durch die Luft und umschlingen den Gegenstand, das Bein des verfolgten Tieres. Meist wird dasselbe dabei zerbrochen, was bei einem Wilde ja nichts zu sagen hat. Soll ein Pferd gefangen werden, das nicht verletzt werden darf, so bekommt die Wurfschleuder anstatt der bleiernen Kugeln hölzerne, wegen des Gewichtes viel größere, und das ist dann die Bolette. Von der Wurfschleuder kann ein viel ausgiebigerer Gebrauch gemacht werden als von dem Lasso, vor allen Dingen läßt sie eine viel größere Wurfweite zu, die schweren Bleikugeln ziehen die leichte Lederschnur doch nach sich. Dann gibt es noch die Brakone, eine einzelne Bleikugel an einem kurzen Riemen. In der Hand eines Pampasindianers gibt diese Waffe einer Pistole an Leistungsfähigkeit wenig nach. Auf hundert Schritte trifft er den Gegner mit der Wurfkugel zwischen die Augen, zerschmettert ihm die Stirn.

In allen diesen Künsten wurde das Mädchen unterrichtet, dem in Südamerika noch eine besondere Rolle zugedacht war. Dann erschien noch ein älterer Herr, welcher, obgleich er nie in Peru gewesen, das Peruanische wie seine Muttersprache beherrschte, er kam jeden Tag wieder, um Gretchen zu unterrichten, und als noch eine Dame zum Führen des Haushalts da war, hatte Nobody sein Haus bestellt, er nahm Abschied.

 

Mr. World war nicht im Bureau. Statt seiner saß der ehrliche Paddy, die Säbelbeine hochgezogen, auf dem Drehstuhl und studierte die Zeitung.

Die Tür wurde geöffnet, ein hochgewachsener, bärtiger Mann trat ein, das klassische Gesicht überschattet von einem verwogenen Schlapphut.

» Morning!«

Den Mann sehen und vom Drehstuhl herunter, das war bei Paddy eins. Mit einem Sprunge stand er in der offnen Nebentür, welche zum eigentlichen Bureau führte.

»Fffffffffffffffffffffff – Ffffffffffff« fing er wie eine Dampfmaschine zu zischen an, trampelte auch aus Leibeskräften mit den Füßen, aber es half nichts, er brachte das erste Wort nicht heraus. »Fffffffffffff –«

»Singen,« erscholl drüben der Männerchor des Kommis, »singen, Paddy, immer singen!«

Und Paddy hörte auf zu zischen, stellte sich in Positur und begann zu singen, die Melodie eines neuen Gassenhauers, wozu auch getanzt wurde, und auch Paddy tanzte dabei mit seinen Türkenbeinen:

»Papa, Mama,
Schrum widebum widebum,
Der Flederwisch ist da,
Schrum widebum widebum,
Der Flederwisch ist da.
Juchheirassassassa!«

Flederwisch kannte den armen Kerl zur Genüge. Daß der Stotterer jetzt, wenn er etwas zu bestellen hatte, immer singen mußte, wobei sein Sprachfehler schwand, war ihm neu, und es sah gar drollig aus, wie das Kerlchen aus voller Brust sang und dazu tanzte, aber Flederwisch verzog keine Miene.

»Wo befindet sich jetzt Nobody?«

Paddy hatte sich dem ihm wohlbekannten Besuch zugewandt.

»Nnnnnnnnnnnnnnnnnnnn ...«

»Singen, Paddy, immer singen!« erklang es drüben wieder.

Gut, konnte geschehen, und Paddy sang und tanzte den zweiten Vers nach seinem eignen Text:

»Papa, Mama,
Schrum widebum widebum,
Der ist am Titicaca,
Schrum widehum widebum,
Am Titititicaca
Cacacacacacaca
Juchheirassassassa!«

Jetzt freilich mußte sich Flederwisch das Lachen mit Gewalt verkneifen. Auch sein ehrliches Staunen war ihm dabei behilflich.

»Am Titicaca-See ist er? Was macht er denn dort?«

Paddy brauchte keine Aufforderung mehr, er begann von allein zu singen. Aber er hatte nicht etwa nötig, immer ein und dieselbe Melodie zu benutzen – nein, sein Repertoire war gar groß, und er dichtete auch aus dem Stegreif.

So tanzte er diesmal nicht, es hätte nicht dazu gepaßt, vielmehr nahm sein sommersprossiges Gesicht einen salbungsvollen Ausdruck an, er faltete die Hände über der Brust, verdrehte die Augen nach oben und begann mit näselnder Methodistenstimme:

»Und wenn ich das auch wüßt',
Hallewuuuujaaahhh,
so darf ich's doch nicht sagen,
Sonst nimmt er mich beim Kragen,
Aaaaaaaaaaameeeeeeeeeen!«

Und von drüben, wo die Schreiberseelen saßen, kam vielstimmig ein leises, melodisches Echo:

»Aaaaaaaaaameeeeeeen!«

Und der biedere Paddy hatte ganz recht, wenn er knurrte:

»Llllllllllllll...ausejungs!«

 

Flederwisch bekam sehr bald ein Schreiben zugestellt, in dem er in Nobodys neuestes Vorhaben eingeweiht wurde. Auch er sollte dabei mitwirken.

Ja, Nobody befand sich bereits am Titicaca-See, allein, als Kundschafter, um sich für die spätere, eigentliche Expedition vorzubereiten, wo er dann wieder in einer ganz andern Gestalt auftreten würde. Das war so Nobodys Eigenart, daher auch seine verblüffenden Erfolge.

Auf dieser seiner ersten Expedition nach dem Titicaca wollen wir ihn, so abenteuerreich diese auch war, nicht begleiten, sondern nur wenige Worte darüber sagen.

New-York – Colon – Panama – Arequipa. Das war die erste Reiseroute. Arequipa liegt in Peru, eine ansehnliche Stadt, zehn Meilen von der Küste entfernt, mit der Hafenstadt Quilca durch Eisenbahn verbunden. Von Arequipa nach dem westlichen Ufer des Titicaca-Sees sind es genau 24 deutsche Meilen. Das heißt auf der Landkarte, mit dem Zirkel gemessen! Nobody hatte den schneidigsten Führer, sie hatten die besten Maultiere unter sich, diese wurden nicht geschont, die Reise erlitt keine Unterbrechung, kein räuberischer Ueberfall und dergleichen – und dennoch gebrauchte Nobody zu dieser Tour von 24 Meilen nicht weniger als dreizehn Tage. Dabei ist eine Straße vorhanden, von den alten Inkas angelegt, noch ganz wohlerhalten. Die ganze Straße ist in den Felsen hineingemeißelt. Aber beim Reisen auf derselben kommen Schwierigkeiten in Betracht, welche gar nicht zu beschreiben sind. Man muß auch bedenken, daß dabei die Kordilleren in einer Höhe von 6000 Metern zu überwinden sind, und das ist noch ein tiefer Sattel – und zwar ein richtiger Sattel, auf dem ein Fußgänger, der kein Seiltänzer ist, lieber reitet. Zum Hinübergleiten, die Beine in den Abgrund hinabhängen lassend, würde er vielleicht acht Tage brauchen. Das schwindelfreie Maultier balanciert in zwei Tagen hinüber und muß in der Nacht stehend schlafen, sich dabei an eine Wand quetschend.

Als Nobody nur noch eine Meile – der Landkarte nach! – von dem Plateau der Puna entfernt war, da kam erst noch der fürchterliche ›Engpaß der fünfzehntausend Stufen‹. Es mögen noch einige Stufen mehr sein. Und was für Stufen! Das war keine bequeme Treppe! Zur Ueberwindung dieses Passes wurden drei Tage gebraucht.

Während dieses Marsches erkannte Nobody den Grund, wie es am Titicaca-See überaus reiche Silberminen geben kann; das reinste Silber liegt in den von alten Peruanern hergestellten Gängen zutage, welche nicht ausgenützt werden. Das Silber würde einfach durch den schwierigen Transport viel zu teuer.

Nun könnte ein kritisierender Leser fragen, wie denn da die alten Peruaner das Silber herabgeholt haben. Darauf wäre einfach zu antworten, daß die Inkas das Silber ja nicht als Tauschmittel, als Geld betrachteten, sondern es nur zu Kunstgegenständen verarbeiteten, und dann war damals doch auch eine ganz andre Zeit, da mußten eben Sklaven und Kriegsgefangene heran. Die Sache ist aber auch noch anders. Damals ging noch ein andrer Weg nach diesem Hochplateau, nördlich über Cuzco, ein ganz bequemer, den auch Pizarro benutzte. Den gibt es aber heute nicht mehr. Dort war auch einst ein großer Strom, der heute gar nicht mehr existiert. Die fleißigen Peruaner hatten ihn eingedämmt, während die faulen Nachkommen der Spanier nicht einmal imstande waren, die Dämme zu erhalten. Sie sind gebrochen, der Strom hat ein Gebiet von vielen hundert Quadratmeilen in einen undurchdringlichen Sumpf verwandelt. Vielleicht hatten auch schon die Peruaner solch eine Katastrophe erwartet, daß sie hier noch diesen zweiten Weg quer durch die Kordilleren angelegt hatten, ein kolossales Werk, vor dem der heutige Techniker mit all seinen Hilfsmitteln staunend steht.

Drei ganze Monate hielt sich Nobody auf dem Hochplateau auf. Er fischte mit den Seeindianern, er jagte mit den Punareitern, und keine Wachsamkeit konnte ihn daran hindern, die meisten der Tempelinseln zu besuchen, ohne daß dadurch böses Blut verursacht wurde. Niemand wußte es. Was Nobody dabei für Entdeckungen machte, werden wir später erfahren. Aber eines sei gleich hier bemerkt: selten hatte Nobody von seiner hypnotischen Kraft so viel Gebrauch gemacht, wie während dieser drei Monate zwischen den Punaindianern.

Dann schüttelte der weiße Mann, der so manchen ehrenvollen Beinamen erhalten hatte, seinen neuerworbenen Freunden die Hand, die roten Krieger bedauerten schmerzlich, daß es ein Abschied auf Nimmerwiedersehen sein sollte – und sie ahnten nicht, wie bald Nobody wieder bei ihnen sein würde, freilich in ganz andrer Gestalt und ohne sich zu erkennen zu geben.

Als der fürchterliche Paßweg überwunden war, nahm Nobody seine weitere Rücktour nicht wieder über die Landenge von Panama, sondern über San Francisco, die Pacific führte ihn quer durch das in Eis und Schnee liegende Nordamerika, und zur Weihnachtszeit war er wieder in jenem Hause, in dem er Gretchen zurückgelassen hatte.

Auch das scharfe Auge des Detektivs hätte sie bald nicht wiedererkannt. Das vor einem halben Jahre noch so magere Mädchen, deren spitze Knochen gefährlich werden konnten, hatte volle Glieder mit abgerundeten Formen bekommen – es war während des halben Jahres zur Jungfrau erblüht, und das bringt auch in den Zügen eine große Umwandlung mit sich. Nach den früheren Strapazen, die sie sich freiwillig auferlegt hatte, mochte die jetzige ruhige Lebensweise, wenn diese auch mit Sportübungen verbunden war, viel zu dieser schnellen und etwas frühreifen Entwicklung beigetragen haben. Außerdem hatte sie sich wieder das Haar lang wachsen lassen, auf Nobodys Anordnung, und da war es erst recht mit dem struppigen ›Indianerhäuptling‹ vorbei. Die knospende Jungfrau versprach eine Schönheit zu werden. Und sonst?

»Wie geht's?«

»Ich kann schon auf dem galoppierenden Pferde auf dem Kopfe stehn,« war die freudestrahlende Antwort.

Na, dann geht's ja gut, dachte Nobody zufrieden.

Aber lange war seines Bleibens hier nicht. Er hatte seine Ankunft vorher telegraphisch mitgeteilt, schon von Peru aus, und in dieser Zeit hatten die, welche damit beauftragt waren, alles schon fertig gemacht, daß Gretchen sofort abreisen konnte. Drei Monate hatte Nobody auf dem peruanischen Hochplateau verschwendet, hier hatte er keine drei Minuten Zeit.

Die Wagen des Pacificzuges, mit dem er gekommen, waren noch nicht losgekoppelt, als er schon wieder einen andern bestieg, welcher eine halbe Stunde später dieselbe Tour quer durch Amerika westwärts antrat, wieder ging es zehn Tage lang durch verschneite Prärien und vereiste Felsengebirge, diesmal aber in Begleitung eines jungen Dämchens.

Es war Weihnachtszeit, aber in San Francisco schien der ewige Frühling zu lachen; wieder wenige Tage später wurden sie unter dem Aequator auf dem Dampfer gebraten, und das blieb so, denn auf der südlichen Hälfte der Erdkugel war jetzt Hochsommer.

In Quilca stiegen sie in einem Hotel ab.

»Logiert hier ein Senor Cochrane?«

Ja, ein Herr dieses Namens hielt sich schon längere Zeit hier auf.

Er kam, ein Zeichen, und der Spanier hatte seinen Herrn und Meister erkannt.

»Nun?«

Der Spanier hatte in Nobodys Zimmer sofort eine Karte ausgebreitet, auf der um den Titicaca-See mit Tinte ein großes Quadrat gezeichnet war.

»Alles in Ordnung, das ist das Terrain!«

»Kostet?«

»Dreimalhunderttausend Peseta, billiger konnte ich den Kauf nicht machen.«

»Verflucht, das ist teuer!« brummte Nobody, als er die dargereichte Kaufurkunde nahm, auf den Namen Rodrigo Cochrane ausgestellt von der peruanischen Regierung in Lima.

Für 300.000 Peseta oder 400.000 Taler hatte Nobody ein Terrain von rund tausend deutschen Quadratmeilen erworben. Der ganze Titicaca-See samt Inseln und Tempeln und Fischen gehörte dazu, nahm davon nur den vierten Teil ein.

Ob er da billig oder teuer gekauft hatte, das kommt darauf an, von welcher Seite aus man es betrachtet. Um ein Beispiel zu zeigen, würden in den Vereinigen Staaten von Nordamerika 1000 Quadratmeilen Regierungsland zweiter Klasse – das ist solches, welches nur zur Weide dienen kann oder sonst künstlicher Bewässerung bedarf – rund fünfzehn Millionen Dollar kosten. Der Acker anderthalb Dollar, das ist eine feste Norm; erstklassiges Land zweiundeinhalb Dollar. Das ist nun freilich eine ganz andre Summe. In Brasilien dagegen würde man für 300.000 Dollar recht wohl 1000 Quadratmeilen erhalten, und zwar das fetteste Land, in dem alles wächst, was man hineinsteckt. Nur um das Wo handelt es sich. In der Nähe einer Stadt, einer Eisenbahn, eines schiffbaren Flußes und einer Küste natürlich nicht. Mitten drin in Zentralbrasilien. Und was will man denn dort mit der Ernte oder mit dem Fleische der Tiere machen? Man müßte es selber essen, man findet nicht einmal Arbeiter, und da ist keine Aussicht vorhanden, daß sich das jemals ändern wird.

Nobody hatte für diese lächerlich kleine Summe sogar reiche Silberminen erhalten, wo man das Edelmetall mit dem Taschenmesser herauskratzen konnte. Hatte alles keinen Wert. Daß bei Verwertung der Montanschätze, also beim Bergwerksbetrieb, die Regierung zehn Prozent erhielt, das war nur die übliche Klausel. Wenn nur die immer Geld brauchende Regierung von Peru recht viel solche Dumme fände!

Dann noch eins: die Regierung hatte dieses Land zum freien Wiederverkauf abgetreten ›für ewige Zeiten‹. In jenen südamerikanischen Ländern werden alle Urkunden auf ›ewige Zeiten‹ ausgestellt; diesen Ausdruck findet man immer wieder. Das haben sie England nachgeahmt. Und morgen bricht die Revolution aus, übermorgen ist aus der Republik ein Kaiserreich geworden, und alle vorher abgeschlossenen Verträge und Verkäufe sind ungültig! Außerdem hatte Peru gar kein so definitives Recht, dieses Hochplateau mit dem See zu verkaufen, auch Bolivia machte ja Anspruch darauf ...

Nobody hatte, das Dokument in der Hand haltend, zufällig zum Fenster hinausgeblickt, jetzt beugte er sich hinaus.

»Mr. Frank, ich bin da, kommen Sie herauf!«

Nach wenigen Minuten trat ein Herr mit eckigem Yankeegesicht ein. Eine flüchtige Begrüßung, und er zog bedächtig eine Brieftasche hervor.

»Ich komme direkt aus Santa Cruz.«

»Nun, Erfolg gehabt?«

»Sofort gingen sie darauf ein.«

»Kostenpunkt?«

»Hundertachtzigtausend Peseta.«

Nobody erhielt eine zweite Urkunde – er hatte auch jenes Hochplateau von Bolivia gekauft, dieses hatte es bedeutend billiger gemacht. Nun mußte er nur noch sehen, wie er mit den dortigen Indianern fertig wurde, das war der schwierigste Punkt, und das war es ja eben, weswegen dieser Besitz gar keinen Wert hatte und die Regierungen ihn um jeden Preis losschlugen.

»Meine Herren, wir gehn jetzt sofort zum Notar, um diese junge Dame, Miß Margarete Seidel, als Besitzerin eintragen zu lassen.«

 

Einige Tage später lief in Quilca ein Schiff ein, wie man ein solches hier nie gesehen hatte. Der Dampfer sah aus wie eine riesige Zigarre. Wir kennen ihn, es war die nach Art eines Torpedojägers gebaute ›Wetterhexe‹.

Sie nahm nur Kohlen ein, dann stach sie wieder in See, aber auch noch zwei Passagiere mitnehmend.

»Wird der Nordwind so bleiben?« fragte Nobody seinen Freund.

»Er fängt sich schon zu drehen an; heute abend haben wir direkten Westwind, und der steht dann einige Tage,« versicherte Flederwisch.

Als das Schiff außer Sicht des Landes war, begann an Bord ein geheimnisvolles Treiben. Aus den Luken kamen Röhren und mächtige Schläuche zum Vorschein, mit dem einen Ende blieben sie unter einem unförmlichen Gegenstand, um den ein Gerüst aufgeschlagen wurde, die verschiedensten Instrumente und Apparate wurden aufgestellt. Der Leiter des ganzen war ein Mann mit mongolischen Gesichtszügen, offenbar ein Japaner; Nobody, der besonders einen Windmesser beobachtete, führte mit ihm oft lange Gespräche.

»8 – 7 – 8 – 8,« las der Japaner an dem Windmesser ab, »jetzt verändert sich die Windstärke auch nicht mehr.«

»Dann bin ich in sieben Stunden drüben,« meinte Nobody. »Sieben Stunden und dreizehn Tage, das ist ein Unterschied!«

Der Wind hatte sich wirklich gedreht, es wehte ein frischer West. Die Nacht brach an, an Bord flammte elektrisches Licht auf, und im Scheine desselben sah man vom Deck der ›Wetterhexe‹ etwas Unförmliches aufwachsen, immer höher und immer dicker, ein Ungeheuer, eine Riesenbirne, bis gegen Mitternacht über dem Dampfer am kurzen Tau ein geschwellter Luftballon mit Gondel schwebte.

» All right?«

»Alles fertig. Bitte einzusteigen.«

Nobody, in einen Mantel gehüllt, schüttelte einigen die Hand, zuletzt Flederwisch.

»Auf baldiges Wiedersehen!«

»Ja, als Kapitän der Gebirgs-Marine,« lachte Flederwisch. »Na, Alfred, was du noch alles aus mir machen willst!«

An die Gondel trat die junge Dame, die Nobody mitgebracht hatte. Man hatte sie wenig an Deck gesehen. Auch sie war vom Kopf bis zu den Füßen in einen Mantel gehüllt. Als sie sich anschickte, in die Gondel zu steigen, glitt ihr der Mantel von den Schultern, und die Matrosen hatten einen seltsamen Anblick.

Sie sahen ein kurzes, buntes Röckchen, eine Art Mieder, alles bunt und mit Flittertand besetzt, sie sahen aufgelöste Haare, mit Korallen- und Goldschnüren durchflochten, nackte Füße, die Sandalen kreuzweise mit roten Lederriemen befestigt ...

Mehr sahen sie nicht, es war nur wie eine Vision gewesen, wie ein Bild im Kaleidoskop. Denn schnell hatte sich das Mädchen gebückt und den Mantel wieder umgeworfen, wobei sich auch zeigte, daß dieser mit Pelzwerk dick gefüttert war.

»Die sah doch gerade aus wie so eine rauchende Indianerin auf dem Zigarrenkistendeckel?« flüsterte ein Matrose.

»So gingen früher die Frauenzimmer bei den Inkas,« belehrte ein andrer Matrose.

»Guck, guck, wie die in die Gondel springt! Als wäre sie eine gelernte Seiltänzerin.«

»Na, eine gewöhnliche Dirne wird Nobody wohl auch nicht mitnehmen.«

Auch Nobody schwang sich in die Gondel.

Die Winde ließ den Ballon etwas höher schweben.

»Fertig!«

Der Japaner legte um das starke Seil einen blanken Kupferdraht, der in einen an Deck stehenden Kasten lief, legte seinen Finger auf einen Knopf.

» Time.«

» Let go!« erklang es von oben zurück.

» One – two – three!!«

An dem blanken Kupferdraht ein knisternder Funke, ein kleiner Feuerregen, ein brenzlicher Geruch, das Ende des durchgebrannten Seiles fiel zu Boden, und verschwunden war der Ballon. Wie eine Kanonenkugel war er zum finsteren Himmel emporgeschossen.

Kapitän Flederwisch blickte mit zurückgeneigtem Kopfe hinauf.

»Da geht er hin und singt nicht mehr,« sagte er.

Gott weiß, wie dieses geflügelte Wort entstanden ist, was es eigentlich bedeuten soll. Besonders von Seeleuten kann man es sehr oft hören.

»Da geht er hin und singt nicht mehr.« War der unsichtbare Ballon noch in Hörweite? Hoch oben aus der finsteren Nacht erklang noch einmal Nobodys volle, tiefe Bruststimme:

»Im tiefen Keller sitz' ich hier ...«

Es verklang wie ein Echo, nur noch einmal hörte man in den Lüften ein silbernes Lachen, und unten an Deck erscholl ein dröhnendes aus rauhen Matrosenkehlen.

 

Eine undurchdringliche Finsternis herrschte im Weltenraume, und in diesem finsteren Weltenraume erscholl irgendwo ein herzhaftes Gähnen.

»Guten Morgen! Ausgeschlafen?« fragte eine männliche Stimme.

Die Antwort blieb aus, es krabbelte und raschelte nur im finsteren Weltenraume.

»Herrje, haben Sie mich aber mit Pelzen zugedeckt, ich finde mich ja gar nicht wieder heraus!« sagte dann eine helle Stimme.

»Das war aber auch sehr nötig. Vor einer halben Stunde passierten wir den Kamm der Kordilleren in einer Höhe von 9000 Metern, ich glaube, ich habe dabei mein linkes Ohrläppchen erfroren, und das mitten im tropischen Sommer. Von meiner Nase hängen noch jetzt zwei Eiszäpfchen herunter. Ich will sie nicht abbrechen, 's wäre schade darum ...«

»Herr Nobody! Herr Nobody!!«

»Was denn?«

»Ich habe auch schon zwei Eiszäpfchen an der Nase!«

»Siehst du?« lachte Nobody.

»Wie hoch sind wir denn jetzt?«

»Ich lasse den Ballon ständig fallen, werde gleich einmal nachsehen.«

Ein Lichtstrahl blitzte auf, beleuchtete einen Barometer und erlosch wieder.

»5740 Meter über dem Meere, aber wie hoch über der Erde, zu dieser Bestimmung fehlt jeder Anhaltepunkt. Doch die Sonne muß in wenigen Minuten aufgehn, da werden wir es gleich sehen.«

»Wenn wir nun in dieser Finsternis an ein Gebirge rennen?«

»Na, so fix geht das nicht!« lachte Nobody. »Die Nähe der Erde würden wir schon am Geruche erkennen, und die eines hohen Gebirges, das mit ewigem Schnee bedeckt ist, an der Kälte.«

In der Unterhaltung entstand eine Pause. Kein Aeronaut hätte in dieser Dunkelheit bestimmen können, ob sich der Ballon bewegte oder nicht. Und wenn er von einem Orkan fortgejagt worden wäre, mit einer Geschwindigkeit von 30 Metern in der Sekunde, scheinbar hätte er doch stillgestanden.

»Lichter!« rief Gretchen.

Auch Nobody hatte schon dort unten die winzigen Feuerchen gesehen.

»Das sind Lagerfeuer von Pampasindianern.«

»Wir bewegen uns also nicht.«

»Doch! Und ich glaube sogar, sehr schnell. Die Entfernung täuscht.«

Wieder eine längere Pause. Da in der finsteren Nacht ein zuckender Blitz, im Osten ein roter Streifen, und gleich darauf rollte dort die goldene Sonnenscheibe empor.

Es war ein Anblick, der sich nicht beschreiben läßt. Ja, hinter ihnen lagen die hohen Ketten der Kordilleren, noch höher erscheinend durch eine darüber schwebende schwarze Wolkenwand mit phantastischen Zacken, unter ihnen dehnten sich die endlosen Pampas aus, vor ihnen erglänzte der Spiegel des Titicaca-Sees, alles übergossen von goldenem Morgensonnenlicht. Aber das ist keine Beschreibung, das erklärt nicht, warum das Mädchen, an dem Nobody bisher noch keine besondere Naturschwärmerei beobachtet hatte, plötzlich auf die Knie sank und zu weinen begann.

Auch Nobody brauchte lange Zeit, ehe er Worte fand, und dann war er wieder nur der praktische Erklärer. Zunächst mußte er auch eine besondere Freude haben.

»Hurra, da ist der Titicaca!!«

Der See war sein Ziel, und der Ballon wurde gerade daraufzugetrieben. Das war ein großer Zufall. Schon die Berechnung beim Aufstieg war eine ganz unsichere gewesen; nur eine kleine Winddrehung, und man hätte vielleicht zehn Meilen entfernt an den Ufern des Sees vorbeitreiben können.

Jetzt war das Ziel gesichert, der Ballon flog direkt darauf zu, verfolgt von einer schweren Gewitterwolke. Die Entfernung von der Erde betrug mehr als tausend Meter, und Nobody ließ den Ballon nicht mehr fallen, im Gegenteil, er warf noch Ballast aus.

»Wir treiben in einem heftigen Sturme, mindestens 15 Meter in der Sekunde; die deutsche Meile machen wir also in kaum 10 Minuten. Aber ohne Sorge, daß wir eine schwierige Landung haben! Der Sturm herrscht nur hier oben, dort unten ist es vielleicht ganz windstill. Die Puna liegt nach drei Seiten vollständig geschützt, nur ein Südsturm kann sich hineinverirren.«

Die Höhe war eine zu große, um mit bloßen Augen auf der Erde etwas unterscheiden zu können. Die beiden nahmen die Fernrohre zur Hand.

»Ich sehe Pferdchen,« rief Margarete, »auch Männerchen!«

»Die sind schon auf unserm Gebiet.«

»Ob die den Luftballon sehen können?«

»Sicher, wenn sie zufällig in die Höhe blicken.«

»Was die dazu sagen werden?«

»Die werden vor Staunen Nase und Mund aufsperren und dann sich wahrscheinlich zu Boden werfen, die Nase in die Erde stecken und zu ihrem Pachacamac und ihren andern Göttern beten. Na, wenn wir erst zu ihnen vom Himmel herabkommen, das wird kein schlechtes Hallo geben.«

Nobody musterte hinter sich den Horizont. Die Gewitterwolke war doch noch schneller als der Ballon, sie kam immer näher. Außerdem bilden sich ja, wenn einmal genug Feuchtigkeit in der Luft vorhanden ist, neue Wolken von selbst; der ganze Himmel begann sich zu bedecken.

Noch eine halbe Stunde, dann befand sich der Ballon über dem Wasserspiegel, und zwar nahe am Südrande.

»Ach, die kleinen Inselchen, und die kleinen Häuserchen darauf, gerade wie aus einer Spielschachtel!« jubelte Gretchen und klatschte in die Hände.

Seitdem sie wirklich eine Berechtigung hatte, sich einen ›Indianerhäuptling‹ zu nennen, hatte sie ihren blumenreichen Indianerstil ganz aufgegeben. Denn jetzt wußte sie, was für eine humoristische Rolle sie damals gespielt hatte, jetzt gab sie sich, wie sie war, und sie war doch noch immer dem Charakter nach ein naives Kind.

»Warte nur, bis wir unten sind,« entgegnete Nobody, »was das für kolossale Baukästen sind.«

»Auf welcher Insel landen wir denn?«

»Ja, wenn ich das wüßte, dann würde ich mir gleich selbst das Diplom als Meisterschafts-Aeronaut ausstellen! Wollen will ich wohl, aber am Vollbringen wird's fehlen. Wenn wir nur nicht im Wasser landen müssen.«

Er zog kräftig das Ventil, rasch fiel der Ballon schräger Richtung hinab, er stürzte förmlich, ohne daß dies in der Gondel unangenehm empfunden wurde. Die schräge Richtung ließ sehr bald nach, unten herrschte also ein viel schwächerer Wind.

Jetzt konnte man dort am Ufer des Sees die Menschlein unterscheiden, und auch sie hatten das Ungeheuer in der Luft erblickt. Plötzlich wimmelte es dort unten wie in einem aufgestocherten Ameisenhaufen, sie deuteten in die Höhe, man hörte ihr Schreien, sie verschwanden in Zelten und Erdlöchern, kamen wieder zum Vorschein, warfen sich zu Boden, heulten.

Nobody hatte keine Zeit, die aufgeregten Indianer zu beobachten. Ja, er hatte nicht einmal für das Interesse, was er dort weiter im See so wundersam golden leuchten sah – er spähte nach den kleinen Inseln hinab, auf deren einer er landen zu können hoffte, allerdings ein großes Wagestück, zu dessen Gelingen noch größeres Glück gehörte.

»Jetzt oder nie, ich riskier's!« murmelte er und zog die Ventilleine, während er mit der andern Hand nach einem Eisengewicht von zehn Kilo griff; er hatte außer Sandsäcken auch solche Gewichte als Ballast mitgenommen.

Das Manöver, welches Nobody jetzt ausführte, hätte der tollkühnste Aeronaut nicht gewagt. Er hätte eben ein Gelingen nicht für möglich gehalten.

Nobody hatte so viel Gas herausgelassen, daß der Ballon förmlich wie ein Stein hinabsauste, und zwar gerade auf eine Insel zu. Unfehlbar mußte die Gondel samt Insassen auf der Erde zerschmettern – nein, eben nicht. Nobodys Auge hatte sich nicht getäuscht; noch zwanzig Meter vor der Insel schlug die Gondel klatschend ins Wasser – in demselben Augenblick schleuderte Nobody das schwere Gewicht über Bord – noch einmal schoß der Ballon in die Höhe, befand sich plötzlich über Mauerwerk – wieder hinab, die Gondel schleifte auf der Erde, der Ballon quetschte sich zwischen zwei Säulen, kam hindurch und ... lag plötzlich in einer großen Halle festgedrückt gegen die gewölbte Decke, der Boden der Gondel nur einen Fuß vom Boden entfernt!

»Glück wie immer!« rief Nobody, als er ohne weiteres aus der Gondel heraussprang, auch ohne noch einmal Gas herausgelassen zu haben. Der Ballon war ja gefangen, durch die Decke konnte er nicht.

Nein, Nobody war gar zu bescheiden, wenn er nur von seinem gewöhnlichen Glücke sprach. Wohl war es ein Zufall, daß der Ballon gerade in diese Halle getrieben worden war, das hatte Nobody allerdings nicht berechnen können – aber sonst war es wirklich das Meisterstück einer Ballonlandung gewesen, das ihm so leicht kein Aeronaut nachgemacht hätte. Daß er keinen Moment den Kopf verlor, daran hatte es gelegen, und dann – dem Kühnen gehört eben die Welt! Und das sollte sich jetzt auch noch in einem zweiten Falle bewahrheiten, den Nobody ebenfalls nicht zu erhoffen gewagt hätte.

Er war vor die Halle getreten, blickte sich um und ...

»Die Titicaca-Insel, wahrhaftig, wir sind gerade auf der heiligen Insel gelandet!«

Auch das war ein Zufall. Nobody war zwar schon auf ihr gewesen, vor einem Monat, aber von so hoch oben aus hatte er die einzelnen Inseln nicht unterscheiden können, da sieht alles ganz anders aus. Er hatte gar keine Zeit gehabt, dieselben so genau zu mustern, hatte ja überhaupt als Landungsplatz die wählen müssen, die gerade in der Windrichtung lag.

Und als wollte der Himmel bestätigen, daß die von ihm Herabgekommenen wie dereinst die beiden Sonnenkinder als erste Inkas auf der heiligen Insel gelandet seien, so zuckte jetzt ein greller Blitz über das dunkle Firmament, begleitet von einem krachenden Donnerschlag, und das war die Ouvertüre zu dem nun folgenden Konzert gewesen. Blitz zuckte auf Blitz, die ganze Welt schien in Flammen zu stehn, ein ununterbrochener Donner ließ die Luft erzittern. Aber das fürchterliche Gewitter war von keinem Regenguß begleitet.

»Jetzt heißt es, die Trümpfe, die wir in der Hand haben, ausspielen!« rief Nobody. »Komm aufs Dach hinauf, wirf den Mantel weg, daß dich alle als Sonnentochter bewundern können!«

Gretchen präsentierte sich in ihrem phantastischen Kostüm, das zum Teil schon beschrieben wurde. Jener Matrose hatte ganz recht gehabt: sie glich einem jener Indianermädchen, wie sie häufig auf den Deckeln der Zigarrenkisten abgebildet sind, zumal sie jetzt auch noch einen bunten Federschmuck auf den Kopf setzte. Ein gelbes Röckchen, ein rotes Mieder, das Arme und Nacken freiließ und vorn etwas ausgeschnitten war, an den Füßen Sandalen, mit roten Lederstreifen befestigt, welche kreuzweise das ganze Bein umschlangen, die offnen Haare mit Korallen-, Perlen- und Goldschnüren durchflochten, auch sonst alles so bunt wie möglich und mit Flittertand behängen – jedenfalls war es eine ganz reizende Erscheinung.

Nun muß eine wichtige Einschaltung gemacht werden.

Obgleich, wie sich Nobody genau orientiert hatte, auch mit Hilfe seiner hypnotischen Kraft, unter den mehr oder weniger echten Nachkommen des alten Inkavolkes keine Sage oder Prophezeiung existierte, daß noch einmal vom Himmel Sonnenkinder herabkommen würden, um etwa das Inkareich in alter Herrlichkeit auferstehn zu lassen, so war die Erinnerung an jene alte Glanzzeit unter den jetzigen Indianern noch lebhaft vorhanden. Das zeigte ja auch schon der Streit zwischen den einzelnen Stämmen um die Echtheit der Nachkommenschaft, die Eifersucht, mit welcher sie gegenseitig die Unverletzlichkeit der heiligen Inseln überwachten.

Es wäre für Nobody ein leichtes gewesen, zumal da sich der Zufall und alle Elemente mit ihm verbunden hatten, das Mädchen und dadurch sich selbst unter den Indianern mit einem Schlage zu einer Machtstellung gelangen lassen. Sie waren vom Himmel herabgekommen, unter Blitz und Donner auf der heiligen Insel gelandet – Manco Kapac und Oellotzuaca waren von neuem erschienen, sie wären von den Indianern angebetet worden! Daran war ja gar kein Zweifel. Nobody hätte auch noch mehr Hokuspokus machen können; in der Gondel des Ballons verwahrte er auch eine elektrische Batterie, er hatte Feuerwerk bei sich und noch andres.

Allein er hütete sich vor so etwas. Soweit gingen seine Pläne nicht.

Die Zeiten haben sich unterdessen doch recht geändert. Er konnte ja hier kein Indianerreich gründen. Da wäre Politik dazwischengekommen. Und das Ende der Komödie wäre doch nur eine ungeheure Blamage gewesen. Denn da brauchte nur ein Europäer zu kommen – hier, Farbe bekennen, beweist mal, daß ihr andre Menschen seid als ich und diese Indianer! Und die Pampasindianer lassen sich schließlich auch aufklären, die können auch mit dem Luftballon fahren.

Nein, vor so etwas hütete sich Nobody. Gewiß, es war Schauspielerei und Sensation dabei, das hatte er beabsichtigt: aber es mußte alles waschecht sein. Aus diesem Grunde hatte er das sonst so herausstaffierte Mädchen auch nicht gefärbt. Ihre Haut war etwas von der Sonne gebräunt, aber nicht etwa mit Nußfarbe gebeizt. Das wäre Schwindel gewesen, da hätte man sie einmal abwaschen können.

Im übrigen werden wir bald sehen, wie Nobody auftreten wollte, und wir werden auch gleich erkennen, wie angebracht seine Vorsicht war.

Er selbst trug einen modernen, nur schon etwas strapazierten Jagdanzug, für diese Gegend der Pampas berechnet, und zeigte sich als junger, bartloser, stattlicher Mann, er zwang sich keine Maske auf, während er vor einem Vierteljahr hier als älterer Mann mit schwarzem Vollbarte erschienen war.

Sie stiegen eine steinerne Treppe hinauf, befanden sich auf dem Dach des Gebäudes, welches später noch genauer beschrieben werden soll, erkletterten einen mächtigen Quaderwürfel und konnten von hier aus nach allen Seiten freie Umschau halten.

Diese heiligste der heiligen Inseln, genau einen Quadratkilometer groß, liegt im südlichsten Teile des Sees und ist vom Ufer durch eine 800 Meter breite Wasserstraße getrennt.

Dort drüben erhob sich ein großes Zeltlager. Deutlich konnte man unterscheiden, wie die Häute der einen Zelte mit blauen, die der andern mit roten Bildern bemalt waren, meist Tiere darstellend. Die blaue Farbe führen die Quichuas, die rote die Aymaras. Aber nicht etwa, daß jede Farbe für sich stand, vielmehr waren die verschiedenartigen Zelte bunt durcheinandergewürfelt.

So groß ist eben die Eifersucht der beiden sich eigentlich hassenden Indianerstämme, welche sich als Wächter der heiligen Insel berufen glauben, daß sie die verschiedenen Gebräuche und selbst den Haß ganz außer acht lassen, daß sie sogar untereinander wohnen, nur damit einer den andern beobachten kann, ob er Gelüste zeigt, die heiligen Inseln betreten zu wollen; und so leben sie scheinbar ganz friedfertig beieinander, ein Feind geht neben dem andern dem Fischfang nach.

Dies gilt freilich nur für die Seeindianer. Wenn Pampasindianer dieser beiden verschiedenen Stämme zusammentreffen, so kommt es regelmäßig zum Kampf.

Das Zeltlager glich noch immer einem aufgestocherten Ameisenhaufen. Aus dieser Entfernung waren auch deutlich die Menschen zu erkennen, und ihre Aufregung, ihre offenbare Furcht kam nicht von dem Gewitter, daran waren die Indianer hier gewöhnt – an noch ganz andre. Sie deuteten auf die Insel, sie schrien, und als sich jetzt die beiden Gestalten, besonders das bunte Mädchen, auf dem platten Dache zeigten, da erreichte die Aufregung ihren höchsten Grad, und ... da war es auch schon!

»Manco Kapac – Oellotzuaca!!« erscholl es unausgesetzt durcheinander.

»Ja, kommt nur herüber, so gehört sich's – wir kommen nicht!« sagte Nobody.

Dann brachte er mit einem Rufe der Ueberraschung schnell das Fernrohr vors Auge.

»Was ist denn das? Unter den halbnackten Indianern sind doch einige ... wahrhaftig, das sind Gestalten, die nicht unter die Indianer gehören – und da auch ein weißes Käsegesicht – hallo, da haben wir wohl gar schon Konkurrenz bekommen! – Jetzt springt der Kerl in ein Boot ...«

Am Strande dort drüben lagen sehr viele Boote, es war ja ein Fischervolk. Sie waren mit Indianern besetzt; diese wollten offenbar herüber, aber sie wagten es nicht oder wurden zurückgehalten, man war eben unschlüssig, wie man sich zu den vom Himmel herabgekommenen Wesen stellen sollte. Das charakteristische Kleidungsstück der Indianer dieses Hochplateaus ist eine Art von Mantille oder kurzem Mantel aus Guanacofell, schon mehr Pelz. Er reicht nur bis zum Leib; legen sie ihn ab, so sind sie nackt bis auf den Schurz. Hier herrscht ja auch im Sommer wie im Winter tagsüber eine tropische Hitze. Kommt aber einmal der Wind von den schneebedeckten Gipfeln der benachbarten Berge herab, wird die Luft, einem physikalischen Gesetze folgend, herabgedrückt, so entsteht gleich eine eisige Kälte, die auch stets Schneefall bringt. Dann kauern sich die Indianer nur nieder, in jener eigentümlichen Weise, wie man es auf den altperuanischen Bildern sieht, ähnlich wie die Türken und doch wieder ganz anders; sie schmiegen sich förmlich an den Boden an, und die an sich so kurze Mantille hüllt sie vollständig ein.

So kostümiert waren auch alle jene Indianer dort – nackt in der Pelzhülle. Dazwischen waren aber auch einige – Nobody hatte ungefähr ein Dutzend gezählt – welche zwar indianische Gesichter zeigten, soweit das zu erkennen war, doch vollständige Jagdanzüge trugen. Das mußten Fremde sein. Auch sie wollten ein Boot besteigen, um nach der Insel hinüberzurudern, und zwar wurden sie dabei von einem Manne getrieben, dem man den Engländer oder den Yankee gleich kilometerweit ansah, wurden aber von den Indianern daran gehindert, ihr Boot wurde mit Gewalt festgehalten, es kamen dabei drohende Bewegungen vor.

Da stieß ein kleines Boot ab; in diesem saß allein jener Europäer, der zuerst das Wort geführt hatte. Einsehend, daß er auf diese Weise nicht zum Ziele kam, hatte er sich unbemerkt beiseite gemacht und war so in ein Boot gekommen.

Kräftig handhabte er das Ruder, unbekümmert um das, was hinter ihm vor sich ging, und da er nun einmal unterwegs war, wurde er auch nicht weiter gehindert, kein Boot eilte ihm nach.

»Gretchen, du bleibst hier oben, behältst die dort drüben im Auge und die ganze Wasserfläche. Nähert sich ein Boot, dann pfeifst du. Ich muß den Gentleman unten empfangen, daß er mir nicht an meinem Luftballon herumstänkert. Ich habe so eine Ahnung.«

Das Mädchen faßte es als eine Ehre auf, hier als Wachtposten aufgestellt zu sein, zog eine lange Knochenpfeife aus dem Busen, und Nobody begab sich hinab.

Zuerst besichtigte er noch einmal den Ballon, der wohlgeborgen war und auf diese Weise in seinem engen Gefängnis das Gas noch lange halten mußte, nahm etwas aus der Gondel, und da hörte er auch schon Schritte kommen.

Es war ein Mann mittleren Alters mit glattrasiertem Yankeegesicht. Mit seinem karierten Sportanzug – Pumphosen, Kniestrümpfe und gelbe Schnürstiefel – hätte er sich auf jeder Promenade sehen lassen können, an dem Sporthemd fehlte auch nicht die seidene Schnur, ja Nobody konstatierte, daß jener sich soeben erst rasiert und dabei auch das Pudern nicht vergessen hatte.

Jeder andre hätte ihn für einen recht harmlosen Durchschnittsmenschen gehalten. Hinter den Gläsern des Klemmers, den er trug, blickten die hellblauen, wässerigen Augen recht blöde in die Welt.

Nobody ließ sich nicht beirren, sein Urteil lautete anders:

»Der weiß, was er will, und was er will, setzt er auch durch, und zur Erreichung eines Zieles scheut er vor nichts zurück.«

Nicht wenig imponierte Nobody auch, daß jener zwischen den schmalen Lippen eine lange, schwarze Virginiazigarre hielt, die er sich erst beim Betreten dieser Insel angezündet haben konnte. Man bedenke nur, was der Mann beabsichtigte – er hatte den Ballon landen sehen, wußte nicht, mit wem er es zu tun bekommen würde, und phlegmatisch hatte er sich nach Verlassen des Bootes eine Zigarre angebrannt.

Nobody war aus der Halle getreten. Schon verzog sich das Gewitter nach Osten, im Westen begann wieder der blaue Himmel zu lachen. Der Fremde blieb in einer Entfernung von zehn Schritten stehn, nahm die lange Zigarre aus dem Munde und den Zwicker von der Nase. So stand er steif da, und zu dieser Steifheit der Bewegungen paßte auch die näselnde Stimme.

»Maximus Wilken, Philadelphia.«

»Richard Bärmann, Hamburg,« stellte sich Nobody seinerseits vor.

»Sehr angenehm!«

»Gleichfalls!«

Mr. Maximus Wilken tat einige Züge aus seiner Zigarre, dann verringerte er die Entfernung von Nobody mit bedächtigen Schritten um die Hälfte.

»Ehem. Sie sind mit dem Ballon gekommen?«

»Ja.«

»Ehem. Absichtliche Landung?«

»Absichtlich.«

»Aus welchem Grunde?«

»Aus welchem Grunde interessieren Sie sich dafür?« war Nobodys ungeschminkte Gegenfrage.

Wieder ein ›Ehem‹ und Mr. Maximus Wilken zog ein rotes Taschentuch von ungeheurem Format hervor und begann umständlich seinen Klemmer zu putzen.

»Ehem. Ich bin sehr kurzsichtig. Gestatten Sie, daß ich meinen Kneifer aufsetze?«

»Bitte sehr!«

Die wichtige Handlung des Klemmeraufsetzens wurde mit der nötigen Bedachtsamkeit ausgeführt, und daß oben das Mädchen, welches alles hören konnte, ein Kichern nicht unterdrücken konnte, war entschuldbar. Die Züge des Yankees blieben unbeweglich.

»Ehem,« fing er dann wieder an. »Es ist doch ein ganz außergewöhnlicher Fall ... und ... ehem ... wir beide sind innerhalb von einigen tausend Quadratmeilen die einzigen Europäer ... und ... ehem ...«

Nobody verstand, was jener meinte, und er mußte ihm recht geben. Wenigstens etwas wollte er aus seiner Reserve heraustreten. Auch er mußte dann ja fragen, was dieser Herr hier zu suchen hatte. Was er jetzt sagte, das hatte er natürlich mit seiner Begleiterin alles schon verabredet.

»Ich bin Aeronaut und von einer Dame beauftragt, dieselbe im Ballon hierherzubringen.«

»Welche Dame?«

»Die sich mit mir im Ballon befand. Es sollte mich wundern, wenn Sie dieselbe vorhin nicht auf der Plattform dieses Gebäudes haben stehn sehen.«

»Das war eine Indianerin.«

»Miß Margarete Seidel ist eine unverfälschte Deutsche.«

Der bedächtige Yankee brauchte nur einen Augenblick Ueberlegung und einen Zug aus der Zigarre, dann hatte er das Rätsel gelöst.

»Weshalb hat sie sich als Indianerin kostümiert?«

»Geschmacksache.«

So, nun wußte Mr. Ehem, daß seiner Neugier Grenzen gesetzt waren.

»Ich möchte die Lady sprechen.«

»Bedaure. Die Lady hat mich beauftragt, mit Ihnen zu unterhandeln.«

Auch gut. Der Yankee nahm alles geduldig hin, sein Gesicht blieb unbeweglich.

»Außerdem,« setzte Nobody noch hinzu, »sprechen Sie Deutsch?«

»Nein. Nur Englisch.«

»Und Miß Seidel spricht nur Deutsch. Eine persönliche Unterredung wäre also überhaupt unmöglich. Wollen Sie mit mir unterhandeln?«

»Unterhandeln, ehem – das ist das richtige Wort. Darf ich fragen?«

»Bitte! Und ich werde unter der Bedingung antworten, soweit ich kann, daß auch Sie dann meine Fragen beantworten, weshalb Sie sich hier aufhalten.«

»Das werde ich Ihnen alsbald ausführlich erzählen. Unser Zusammentreffen unter solchen Verhältnissen, daß Sie gerade mit einem Luftballon kommen, ist wirklich ein sehr merkwürdiges. Was beabsichtigt die Dame hier?«

»Miß Seidel ist eine sehr reiche und – und ... eine etwas abenteuerlich veranlagte junge Dame. Verstehn Sie, was ich hiermit sagen will?«

»Ich verstehe. Habe nicht gewußt, daß es auch unter den Deutschen solche Damen gibt. Aber freut mich! Und?«

»Sie hat vom Titicaca-See und seinen Inseln mit den uralten Ruinen gehört, wollte sie besichtigen. Sie hörte auch von dem schauderhaften Wege. Sie hatte eine Idee. Kann man die Kordilleren nicht mit einem Luftballon überfliegen? Sie wandte sich an mich, den sie als Aeronauten kannte. Wir haben nicht die erste Luftballonfahrt zusammen gemacht. Gewiß, das geht. Und die junge Dame kann es sich leisten. So nahmen wir einen Luftballon mit. Gestern nacht stiegen wir in Quilca auf.«

»Konnte der Ballon denn in Quilca gefüllt werden? Ich weiß zufällig, daß dieses Hafenstädtchen kein Leuchtgas besitzt. Bitte, wollen Sie versichert sein, daß ich nicht aus Neugier frage! Ich werde Ihnen dann die Erklärung für mein Interesse geben.«

»So muß ich allerdings genauer sein. Nicht direkt in Quilca stiegen wir auf. Die Dame hat eine eigne Jacht. Auf derselben ist alles vorhanden, um Wasserstoffgas zu erzeugen und den Ballon zu füllen. Dies geschah also diese Nacht in der Nähe von Quilca an Bord der Jacht.«

»Sie werden diese Gegend auch wieder im Ballon verlassen?«

»Hoffentlich werden wir es können.«

»Können Sie denn den Ballon noch benutzen?«

»Er ist unbeschädigt geblieben; natürlich muß er aber erst wieder gefüllt werden.«

»Wie wollen Sie das bewerkstelligen? Haben Sie alles Nötige mit, um den Ballon gleich wieder hier zu füllen?«

»Nein. Der Apparat und die Chemikalien wiegen viele Zentner. Die Mannschaft der Jacht wird dies alles hier heraufbringen, muß dazu natürlich den Landweg benutzen, und darüber dürften drei Wochen vergehn.«

»So! Ehem. Die Dame will nur die Ruinen besichtigen?«

»Wie ich sagte.«

»Sonst nichts weiter?«

»Was sonst?«

»Hm. Sie haben doch gewiß schon von der Kette der Inkas gehört, ehem?«

»Gewiß! Well, ich will Ihnen gegenüber ganz offen sein. Die junge Dame hat es allerdings auch auf die Tempelschätze abgesehen, welche die Priester seinerzeit in diesem See versenkt haben, und wenn wir dieselben finden sollten, nehmen wir sie natürlich mit, und eben dieser Schätze wegen, die auf dem Grunde des Sees ruhen, haben wir uns besonders auch zur Herreise eines Luftballons bedient. Ist Ihnen bekannt, daß man um so tiefer in das Wasser hinabblicken kann, je höher man sich über demselben befindet?«

 

Wie schon gesagt, war es eine Sternschnuppe, welche Nobody auf die geniale ›Idee‹ gebracht hatte. Wir müssen etwas näher auf diese Ideenverbindung eingehn.

Nobody war von vornherein entschlossen gewesen, bei einem Besuche des Titicaca-Sees auch nach jenen Schätzen zu forschen, wozu er einen von ihm selbst verbesserten Taucheranzug, wie er einen solchen schon auf der Magnetinsel benutzt, und den er unterdessen bedeutend vervollkommt hatte, mitnehmen wollte. Freilich konnte ebensogut ein blindes Huhn eine Perle finden wie ein Taucher auf dem Grunde des mächtigen Sees jene Schätze. Nobody wollte auch einige Indianer dieser Gegend hypnotisieren, es war ja möglich, daß hier ein Geheimnis gewahrt wurde – aber gesetzt den Fall, er bekam wirklich die Stelle beschrieben, so bot es doch immer noch die größten Schwierigkeiten, den Schatz zu heben. Er wollte wohl die Inseln besuchen, keine Bewachung der Heiligtümer sollte ihn daran hindern, da wollte er sich schon durchschleichen – aber daß er dann unbemerkt die Hebungsarbeiten vornehmen konnte, daran zweifelte auch Nobody, obgleich er doch sonst alles fertig brachte. Er hatte sich eben schon sehr gut darüber orientiert, wie scharf diese Inseln und der ganze See von den hiesigen Indianern bewacht wurden.

Da sah er, nach der Unterredung mit dem abenteuerlichen Mädchen, die leuchtende Sternschnuppe fallen. Und die Idee war da.

Manco Kapac und Oellotzuaca – die beiden ersten Inkas sind vom Himmel herabgekommen – das müssen wir auch – auf welche Weise? – Natürlich mittels eines Luftballons!

Das war die Ideenverbindung, und alles andre kann sich der Leser selbst erklären. Nobody glaubte also ein sicheres Mittel gefunden zu haben, unangefochten die heiligen Inseln besuchen zu können, obgleich er, wie schon ausführlich erklärt wurde, nicht beabsichtigte, das Mädchen und sich selbst anbeten zu lassen, überhaupt einen Humbug zu treiben.

Nun aber weiter!

Es dürfte im Binnenlande nicht so allgemein bekannt sein, daß man um so tiefer in ein Gewässer hinabblicken kann, je höher man sich darüber befindet. Das Wasser scheint sich zu klären, durchsichtiger zu werden. Allerdings hat das eine Grenze, gar zu hoch darf man nicht stehn, auch darf das Wasser nicht direkt schlammig sein. In einem Schwimmbad, welches eine Galerie hat, kann man die Probe machen. Steht man unten, so ist der Grund an der tiefen Stelle nicht zu sehen, oben von der Galerie ist er und jeder im Wasser befindliche Gegenstand deutlich zu erkennen.

Die Seeleute haben von alters her dieses optische Gesetz zu benutzen verstanden. Wenn ein Schiff im Hafen oder an einer seichten Stelle einen Anker verloren hat, so sucht man ihn erst von einer Raa aus zu erspähen, meist mit Erfolg. Besonders auch die amerikanischen Austernfischer suchen auf diese Weise den Meeresboden ab, ehe sie das Schleppnetz auswerfen. Jetzt geht man sogar mit dem Gedanken um, die Schiffe mit Fesselballons auszustatten, eben aus diesem Grunde, jedes Taucherschiff hat schon einen.

Damals aber dachte man noch nicht an die Benutzung von Ballons zu diesem Zwecke. Das war bei den Seeleuten nur so eine Art von ›Hausmittel‹, Nobodys Idee war wirklich Original.

Die Sternschnuppe hatte ihn also auf den Luftballon im allgemeinen gebracht, dann hatte er daran gedacht, diesen gleich zum Absuchen des Seebodens zu benutzen. Uebrigens ist schon etwas angedeutet worden – Nobody hatte doch im See bereits etwas golden glänzen sehen – da er aber selbst zu seiner Begleiterin hiervon nichts gesagt hatte, wollen auch wir der Erzählung nicht vorgreifen. – –

»Ich weiß es, wie man aus der Höhe in tiefes Wasser hinabblicken kann,« entgegnete der Yankee auf die an ihn gestellte Frage. »Aber Sie können sich die Mühe ersparen.«

»Welche Mühe?«

»Den ganzen ungeheuren See nach dem Schatze vom Ballon aus abzusuchen. – Sie können auch gleich den schweren Gasapparat an Bord des Schiffes lassen.«

»Was wollen Sie damit sagen? Wieso könnte ich mir diese Mühe ersparen?«

»Weil mir die Stelle bekannt ist, wo die Inkapriester die Kette und die Tempelschätze versenkt haben.«

Nobody war natürlich nicht wenig überrascht, wenn ihm davon auch nichts anzumerken war. Und dieser Yankee sah gar nicht danach aus, als ob er ein Phantast sei. Aber was beabsichtigte der eigentlich?

»Dann sind Sie wohl der einzige Mensch, der dieses Geheimnis kennt?«

»Nicht doch. Ich habe dieses Geheimnis erst gekauft.«

»Von wem?«

»Wollen wir uns nicht setzen?« fragte Mr. Wilken, veränderte zum ersten Male seine Stellung, setzte sich auf einen behauenen Block, wie solche hier zahlreich umherlagen, und Nobody ließ sich ihm gegenüber nieder.

»Ich habe einen besonderen Grund, mich Ihnen zu offenbaren, welchen Sie dann von allein als richtig anerkennen werden. Ich will mich so kurz wie möglich fassen. Ich bin in Philadelphia, wenn nicht in ganz Amerika, als ein Mann bekannt, der sich in jedes Geschäft einläßt, mit dem Geld zu machen ist – sagen wir: in jedes abenteuerliche Unternehmen. Mein letztes Werk war die Wasserversorgung der Stadt Breston ...«

»Ah, das waren Sie?!« rief Nobody in aufrichtiger Ueberraschung.

»Das war ich. Breston litt immer unter Wassermangel, ein Mensch, der sich Ingenieur nannte, behauptete, Breston besitze eine reiche Wasserader, man müsse nur bohren. Es war schon genug gebohrt worden, bis 600 Meter tief, immer ohne Erfolg. Jener Mensch war ein Phantast, der mit der Wünschelrute arbeitete. Er wandte sich auch an mich, ich hörte ihn geduldig an – es war doch etwas daran, was mich stutzig machte. Kurz, ich nahm die Bohrungen wieder auf – aber, um mich gegebenenfalls nicht zu blamieren, unter dem Namen einer fingierten Firma – bei 750 Meter Tiefe entsprang der Erde ein dicker Wasserstrahl. Dies nur nebenbei. Es ist vier Monate her, ich bohrte noch, als mich eines Tages in meiner Wohnung ein Mann aufsuchte. Ein Spanier mit einem Abenteurergesicht, zerlumpt, verhungert. Er wollte einen Plan des Titicaca-Sees besitzen, in dem die Stelle eingezeichnet sei, auch mit genauer geographischer Ortsangabe, wo die Priester seinerzeit die goldene Kette und die andern Tempelschätze versenkt hätten.«

Der Erzähler machte eine Pause, als erwarte er jetzt eine Zwischenfrage, und Nobody hatte denn auch nicht schlecht aufgehorcht.

»Bitte, wie hieß der Mann?«

»Aus welchem Grunde interessieren Sie sich für seinen Namen?«

»Ich dürfte den Mann kennen oder doch von ihm gehört haben. Hieß er vielleicht Diego Alcala?«

Der Yankee zog nur die Brauen etwas hoch, nichts weiter.

»Stimmt! Woher kennen Sie ihn?«

»Hat der Mann Ihnen vielleicht gesagt, daß er sein Geheimnis schon einmal einer andern Person angeboten hatte, erst kurz vorher?«

»Ja. Dem New-Yorker Detektiv Nobody.«

»Dieser Nobody ist mein Freund, er erzählte mir von dem Briefe des Spaniers mit seinem Angebot.«

» Well,« fuhr der Yankee gleichmütig fort, »Nobody hat ihm nicht geantwortet. Nach einiger Zeit wandte sich Alcala an mich. Den Plan wollte er mir nicht zeigen. Nun, ich weiß solche mißtrauische Leute zu behandeln. Fort konnte ich damals auch gar nicht, ich beschäftige mich niemals gleichzeitig mit zwei Unternehmungen. Ich unterhielt den Mann inzwischen. Uebrigens traute ich ihm; denn alles, was er mir erzählte, hatte Hand und Fuß.«

»Wieso?«

»Zuerst lachte ich ihn aus, nannte ihn einen Narren. Wer sollte denn die geographische Ortsbestimmung mit Breiten- und Längengraden bis zur Sekunde aufgenommen haben? Etwa die Priester der Inkas?«

»So fragte Nobody auch.«

»Und deshalb also wollte Nobody gar nichts von dem Manne wissen?«

»Nobody läßt sich überhaupt auf so etwas nicht ein, hat's nicht nötig.«

»Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Alcala erzählte mir eine ganz glaubwürdige Geschichte. Haben Sie gehört, wie vor zwei Jahren ein französischer Gelehrter den südamerikanischen Kontinent mit dem Luftballon durchqueren wollte?«

Wie Schuppen fiel es plötzlich von Nobodys Augen. Mit einem Male wußte er, woher die geographische Ortsbestimmung stammen konnte.

»Dr. Jérôme Girard!« rief er. »Er stieg mit seinen beiden Begleitern in Lima auf, wollte über das unbekannte Brasilien hinwegfliegen. Man hat von ihm und seinen beiden Begleitern nie wieder etwas gehört.«

»Es war noch ein vierter dabei, ein Führer, eben Diego Alcala, welcher sich zeit seines Lebens in Südamerika herumgetrieben hat.«

»Und der Ballon ist über den Titicaca-See hinweggegangen?«

»So ist es. Und da sahen sie in der Tiefe des Sees die Tempelheiligtümer liegen. Alcala spricht von ganzen Bergen von Gold. Aber den gelehrten Geographen war die Erforschung Brasiliens wichtiger als alles Gold der Welt. Nur die geographische Lage wurde bestimmt, was leicht geschehen konnte, da der Ballon bei dem schwachen Winde ganz langsam flog. So konnten sie den Schatz ja auch noch später heben; aber daraus sollte nichts werden. Der erschöpfte Ballon mußte in einer wilden Gegend landen, die Insassen der Gondel wurden von Botokuden angegriffen und erschlagen. Nur Diego Alcala entkam. Er nahm jene Zeichnung mit. Ein Jahr lang ist er unter unsäglichen Gefahren im Innern Brasiliens umhergeirrt, ehe er wieder bewohnte Gegenden erreichte. Der Zufall führte ihn nach New-York, ein Schiff brachte ihn hin, von dort wendete er sich schriftlich an jenen Nobody, von dem er schon gehört hatte, besonders auch, daß derselbe einen Tauchapparat besitze; da er keine Antwort erhielt, kam er zu mir. Nun, solche Tauchapparate kann ja jetzt jeder bekommen, die sind schon im Handel.«

Hätte der Spanier von seiner Luftballonfahrt gesprochen, Nobody würde dem Briefe mehr Beachtung geschenkt haben, dann würde auch er wohl ... doch solche Erwägungen hatten jetzt keinen Zweck mehr.

»Haben Sie den Plan gesehen?«

»Ja. Ich zählte dem Spanier tausend goldene Adler bar auf den Tisch, außerdem machten wir einen Kontrakt, nach dem wir den Gewinn teilten; für diesen Preis ging der Plan in meinen Besitz über. Als die Wasserbohrung von Erfolg gekrönt war, machte ich mich auf die Reise nach hier.«

»Diego Alcala begleitete Sie?«

»Selbstverständlich.«

»Er ist also ebenfalls hier?«

»Nein.«

»Wo befindet er sich denn jetzt?«

»Wir hatten eine sehr stürmische Seefahrt, Alcala wurde von einem Brecher über Bord gespült.«

Fest blickte Nobody den Sprecher an. Er hätte viel darum gegeben, wenn er diesen Mann jetzt hätte hypnotisieren können, um von ihm die Wahrheit über Alcalas Ende zu erfahren. Aber Nobody wußte sofort bei jeder Person, der er ins Auge sah, ob sie leicht oder schwer zu hypnotisieren sei, und so erkannte er auch ohne weiteres, daß dieser Yankee zu jenen seltenen Ausnahmen gehörte, welche seinem magnetischen Blicke trotzten. Er wußte es, er brauchte es gar nicht erst zu probieren.

»So! Da haben Sie also die Expedition zu Lande allein angetreten?«

»In Arequipa engagierte ich zehn Mestizen – oder Chulos, wie man hier die Mischlinge nennt. Ich bin mit allem versehen, was ich brauche, auch mit zwei solchen Tauchapparaten, deren Brauchbarkeit ich schon in Philadelphia probiert habe, ich habe Geschenke für die Indianer massenhaft bei mir ... und nun sitze ich hier fest.«

»Weshalb heben Sie die Schätze nicht, wenn Sie deren Lage kennen?«

»Die Sache hat einen Haken.«

»Welchen? Aha, Sie haben wohl die geographische Ortsbestimmung, aber Sie selbst können die Berechnung nicht ausführen.«

»Doch, ich verstehe mit dem Sextanten umzugehn, habe Logarithmentafeln und alles bei mir; aber jener Spanier hat mir etwas verschwiegen oder wußte es selbst nicht. Ich bin nun schon vierzehn Tage hier, und die Indianer lassen mich nicht auf die Inseln, nicht einmal auf den See, das ist alles heilig bei ihnen, wir können nicht einmal in ein Boot kommen. Wir werden wie Gefangene bewacht.«

»Ja, ja, das ist so. Darüber hätten Sie sich vorher auch orientieren können. Sie und Ihre Leute werden als Gefangene behandelt?«

»Das nicht. Ich könnte jederzeit den Rückweg antreten. Nur in ein Boot lassen sie uns nicht, darin werden wir überwacht, auf welcher Seite des Sees wir uns auch befinden mögen.«

»Sie sind doch jetzt im Boot herübergekommen.«

»Ich benutzte die allgemeine Verwirrung. Ich riskierte es auf die Gefahr hin, eine Bleikugel nachgeschossen oder nachgeschleudert zu bekommen. Aber ich mußte Sie unbedingt sprechen.«

»Ja, mein Herr, weshalb eigentlich wollten Sie das? Warum erzählen Sie mir das alles, machen mich zum Vertrauten Ihres Geheimnisses?«

Die Zusammenkunft der beiden hatte an einer Stelle stattgefunden, von welcher aus das jenseitige Ufer nicht zu erblicken war. Aber die Stimmen der aufgeregten Indianer waren bis hierher hörbar.

»Manco Kapac! Oellotzuaca!« erscholl es jetzt lauter denn zuvor.

»Hören Sie?« fragte der Yankee.

»Ich höre.«

»Wissen Sie, was diese beiden Namen bedeuten?«

»Gewiß weiß ich es. Das waren die Namen der ersten beiden Inkas, eines Mannes und einer Frau, welche einst hier auf diese Insel vom Himmel herabkamen und zu Wohltätern der alten Peruaner wurden.«

»Eine ähnliche Rolle wollen Sie jetzt mit der jungen Dame spielen?«

»Wer sagt Ihnen das?«

»Natürlich! Weswegen hätte sich denn sonst die Dame so kostümiert, und Sie wären doch auch ein ... wären sehr unvernünftig, wenn Sie die Vorteile, die Sie nun einmal haben, nicht ausnützen wollten.«

»Ja, mein Herr, ich frage Sie nun noch einmal: Was bezwecken Sie eigentlich mit Ihrem Besuche?«

»Mich mit Ihnen zu verbinden. Die Indianer werden Sie als einen Gott anbeten. Ihnen wird man keine Schwierigkeiten in den Weg legen, sämtliche Inseln zu besuchen und sich auf dem ganzen See nach Belieben zu bewegen, Taucherarbeiten zu betreiben und so weiter. Und ich kenne die Stelle, wo die Tempelschätze versenkt sind. Well, machen wir Kompanie gegen Teilung des Gewinnes. Sie nehmen mich unter Ihren Schutz, ich führe Sie nach jener Stelle.«

Nobody nahm einen möglichst abweisenden Gesichtsausdruck an.

»Ich habe keine Ursache, auf dieses Kompaniegeschäft einzugehn,« sagte er kalt; »denn ich hätte nicht den geringsten Vorteil davon, nur Sie hätten ihn. Sie vergessen wohl, daß in drei Wochen der Apparat dasein wird, um den Ballon wieder zu füllen, und daß ich dann in der Lage sein werde, jene Stelle im See selbst ausfindig zu machen.«

Der Yankee warf den Zigarrenstummel fort und stand langsam auf.

» Well! Ehem! Well! In diesem Falle werde ich die Quichuas und die Aymaras aufklären, was ein Luftballon ist, und daß sie es mit irdischen Menschen zu tun haben, welche nur die Tempelschätze der alten Inkas entführen wollen, und Sie können sich darauf verlassen, daß ich meine Sache gut machen werde. Dann wollen wir einmal sehen, wie weit Sie mit dem maskierten Mädchen und mit Ihrem Ballon kommen.«

Na endlich! Endlich zeigte sich dieser Yankee in seiner wahren Gestalt.

Auch Nobody war aufgestanden.

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können,« sagte er ruhig, »und im übrigen fordere ich Sie hiermit auf, sich von dieser Insel zu entfernen.«

»Ich darf mich ebensogut oder ebensowenig hier aufhalten wie Sie,« meinte Mr. Maximus Wilken und zog schon wieder sein langes Zigarrenetui.

»Verlassen Sie diese Insel oder ich gebrauche mein Hausrecht!«

»Was wollen Sie gebrauchen?«

»Mein Hausrecht. Ich stehe hier im Namen von Miß Seidel, und Miß Margarete Seidel hat diesen ganzen See nebst Ufer in einer Breite von vierzig englischen Meilen von der Regierung gekauft, und ich fordere Sie hiermit auf, dieses Terrain mit Ihren Leuten bis morgen mittag verlassen zu wollen. Befinden Sie sich bis dahin noch innerhalb dieser Grenzen, so habe ich nach den Gesetzen dieses Landes das Recht, Sie wie einen tollen Hund niederzuschießen. Verstanden?«

Einer Bewegung der Ueberraschung war der phlegmatische Engländer doch fähig, und dann lachte er höhnisch auf.

»Na, wenn die Indianer zu hören bekommen, daß Sie sich als Eigentümer ihres Landes aufwerfen wollen, dann habe ich überhaupt keine Konkurrenz zu fürchten; denn dann wird Ihr Kopf und der jener Dame bald auf den Lanz ...«

Mitten im Worte brach er ab.

Nobody hatte schon immer bedauert, zu der Besprechung gerade diese Stelle gewählt zu haben, von der aus er das Indianerlager nicht überblicken konnte. Denn dort mußte doch etwas Besonderes vor sich gehn. Einmal wurde gemurmelt, dann geschrien, dann war wieder alles totenstill, dann wieder ein jubelndes »Hau, Hau!«, das Beifallszeichen dieser Pampasindianer, dann wieder Totenstille, dann neuer Jubel, und so ging das abwechselnd immer weiter. Offenbar wurden dort beratende Reden gehalten.

Nun, man konnte ja den Erfolg abwarten, und Nobody wußte oben auf dem Dache die Wächterin, die würde schon rechtzeitig melden, wenn ein Eingreifen ihres erfahrenen Begleiters notwendig war.

Jetzt mit einem Male war wieder nach einem vorhergehenden Lärmen solch eine Totenstille eingetreten, in dieser erfolgte ein scharfer Knall, ein Gewehrschuß, und das Seltsamste war eigentlich, daß auch nach diesem Schuß die Totenstille noch anhielt.

In demselben Augenblick, da der Schuß fiel, machte Nobody einen Sprung, und dieser war nötig, um ihn seitwärts von der Mauer zu bringen, die bisher die Aussicht verdeckt hatte. Er warf nur einen Blick nach dem Indianerlager, dann sah er schnell hinauf nach der Erhöhung des Daches – und wahrhaftig, er durfte seinen scharfen Augen trauen, das Mädchen in dem bunten Röckchen, den Kopf mit einer Federkrone verziert, welches dort drüben vor den Zelten am Ufer stand, von einem Halbkreis halbnackter Rothäute umringt, das war wirklich keine andre als seine Begleiterin, welche heimlich ihren Wachtposten verlassen und das Boot des Yankees benutzt hatte, um auf eigne Faust sich nach dem Indianerlager hinüberzubegeben. Nobody hatte von seinem Standpunkte aus davon nichts bemerken können.

Sie stand mit zurückgeneigtem Oberkörper da, den silberbesetzten Kolben ihrer Büchse, eines Geschenkes Nobodys, des besten, was er hatte auftreiben können, an der Wange, den Lauf direkt nach oben gerichtet, und alle Indianer blickten mit zurückgeneigtem Kopfe gleichfalls gen Himmel.

Nobodys Augen folgten derselben Richtung, er sah hoch oben im wieder blaugewordenen Aether einen dunklen Punkt schweben, jedenfalls ein Raubvogel.

»Sie wird doch nicht ...« dachte er erschrocken, gar nicht wagend, den Gedanken auszudenken.

Er kannte die ans Wunderbare grenzende Treffsicherheit dieses Mädchens, er kannte die Leistungsfähigkeit der Pirschbüchse – aber der im Aether kreisende Vogel war eben nur ein Punkt, die Höhe gar nicht zu taxieren, und Nobody wußte, was es bei den Indianern heißt, einen Schuß vorher ankündigen und dann nicht treffen, mit so etwas muß man äußerst vorsichtig sein, da sind die südamerikanischen Indianer nicht minder empfindlich als die nordamerikanischen, solch ein Fehlschuß kann den berühmtesten Jäger um den ganzen Respekt bringen, er wird als Prahlhans gleich aus der Liste der Krieger gestrichen.

Der Schutz war also soeben erst gefallen, die Laufmündung rauchte noch, in atemloser Spannung blickte alles nach oben. Konnte denn überhaupt eine Kugel so hoch gehn? Unmöglich!

Da in der Höhe ein schriller Laut, der Punkt im Aether schwankte, und dann kam es wie ein Stein herabgestürzt.

Und da brach ein Jubel los, der gar nicht zu beschreiben ist.

» Kalan, Kalan!! – Getroffen, getroffen!! – Wa menkere! – Ohne zu zielen!«

Das waren die Rufe, welche aus dem allgemeinen Lärmen am deutlichsten hervorklangen, und der amerikanische Detektiv verwandelte sich in einen enthusiastischen Jäger, der ein deutsches ›Hurra!!‹ hören ließ.

Der Adler war in nicht allzuweiter Entfernung vom Ufer in den See gestürzt, und schon vorher, als man nur die Richtung des Falls erkannte, waren die Rothäute im Nu in die Boote gesprungen, ein Wettrudern zwischen einem Dutzend Boote, bedeutend größer als die nordamerikanischen Kanus, entspann sich, und wiederum war ein Wunder dabei: in friedlichem Wetteifer ruderte in ein und demselben Boote der rot tätowierte Indianer neben dem mit blauen Totems angemalten. Sie waren in die Fahrzeuge gesprungen, wie sich eben die Gelegenheit geboten hatte – ein Ereignis, welches unter den sich hassenden Stämmen, wenn sie auch manchmal, wie hier, dicht beisammen wohnten, sonst ganz ausschlossen war.

Das erste Boot hatte den Vogel erreicht, er wurde emporgehoben.

» Matu ne kalani, der Kopf ist ihm abgeschossen!« erklang es abermals jauchzend, und › matu ne kalani!!‹ wurde auch am Ufer in unzähligen Wiederholungen gejubelt.

Die Boote erreichten wieder das Ufer; der Vogel ward von einigen alten Indianern besichtigt und dann dem buntgekleideten Mädchen zu Füßen gelegt, und wiederum war eine Totenstille eingetreten, in schweigendem Staunen blickte alles auf das fremde Mädchen.

Gretchen hielt offenbar eine Ansprache, sie hatte ja dank ihres vortrefflichen Lehrmeisters in dem einen halben Jahre das Peruanische vollkommen beherrschen gelernt; was sie sagte, konnte Nobody nicht verstehn, nur der Erfolg ihrer Rede war ersichtlich. Wieder brach, als sie geendet, wobei sie nach der heiligen Insel gedeutet hatte, ein unermeßlicher Jubel aus, sie wurde auf eine Art von Tragbahre gehoben und so nach den Booten, obgleich es nur wenige Schritte bis dahin waren, getragen, und es schien kein Zufall zu sein, daß die vier Träger zum Teil Quichuas, zum Teil Aymaras waren. Eine Bootsflotille strebte der heiligen Insel zu, voran im Triumph das phantastische gekleidete Mädchen, nicht anders als eine Königin – die Huldigungsfahrt der Kleopatra.

Nobody wandte sich an den neben ihm stehenden Yankee.

»Haben Sie es gesehen?«

Mr. Maximus Wilken mußte es wohl gesehen haben, er hatte sogar seinen Kneifer aufgesetzt, und er wußte sofort, was jener meinte, schien auch die Sitten der Indianer zu kennen, das zeigte seine Antwort.

»Hm. Ehem. Das war ein verteufelt glücklicher Sackschuß,« knurrte er.

»Sackschuß oder nicht – nun gehn Sie hin und sagen Sie, daß die vom Himmel Herabgekommenen auch nur irdische Menschen, sogar Betrüger seien – gehn Sie hin, aber hüten Sie sich, daß Sie nicht selbst gelyncht werden! Denn wer andern eine Grube gräbt, fällt gewöhnlich selbst hinein.«

Der Yankee zuckte nur die Achseln, wandte sich um und schlug sich seitwärts zwischen die Mauern, er mußte vorläufig noch auf der Insel bleiben, denn das Mädchen hatte ja sein Boot benutzt, und das war der Grund, weshalb sich auch Nobody nicht von dem Eingange zu jener Halle, die den Ballon barg, entfernte. Er fürchtete, der Yankee könnte sich mit bübischer Hand etwas an dem Luftballon zu schaffen machen.

Mehr als der Klang von Stimmen verriet das Plätschern der Ruder und ein Knirschen auf dem Sande, daß die Boote an der Insel gelandet waren. Zuerst kam Gretchen allein, und zwar hatte sie eine recht würdevolle Haltung angenommen.

»Die Tochter des Blitzes heißt ihren weißen Bruder willkommen, sie führt ihm ihre roten Krieger zu,« sagte sie in feierlichem Tone.

Aber das hielt nicht lange an, gleich brach aus ihr wieder der mutwillige Backfisch hervor. Sie lachte, und dann erzählte sie:

»Seien Sie mir nicht böse – Ihre Unterredung mit dem Herrn dauerte mir zu lange, Sie wurden ja gar nicht fertig, und das war so langweilig, und die Indianer winkten mir immer, ich winkte auch, und weil die nicht kommen wollten, habe ich des Herrn Boot genommen und bin hinübergefahren.«

»Gretchen, das war sehr unvorsichtig!« sagte Nobody etwas vorwurfsvoll.

»Ach was! O, ich habe aber auch verstanden, mich gleich einzuführen. Ich war noch ein gutes Stück vom Ufer entfernt, da sah ich einen alten Indianer stehn, einen Häuptling, die Pfeife im Munde, er vergaß sie vor Staunen ob meiner Erscheinung herauszunehmen – › Se tu talameio!‹ rief ich ihm zu – ›Paß auf, deine Pfeife!‹ – und schrum! hatte ich sie ihm mit einer Wurfkugel aus dem Munde gerissen. Die Indianer hatten wohl gemerkt, was ich beabsichtigte, ich hatte die Bleikugel am Riemen auch lange genug um den Kopf wirbeln lassen, ehe ich sie abschwirren ließ, und ich sage Ihnen, die Kerls sperrten Maul und Nase auf, und ich lachte aus vollem Halse.«

Und so war es weitergegangen. Während sich Nobody mit dem Yankee eine Viertelstunde lang unterhalten hatte, immer in der festen Ueberzeugung, Gretchen befände sich oben auf der Plattform des Hauses, hatte sie sich unterdessen bei den Indianern einzuführen gewußt, nach dem Geschmacke einer Rothaut, hatte ihnen alle ihre Künste vorgemacht, in denen sie es zur Meisterschaft gebracht, hatte sogar inzwischen ein halbwildes Pferd gebändigt und von dessen nacktem Rücken herab mit unfehlbarer Sicherheit die Bola, die Bolette und die Brakone geschleudert, hatte auch das Messer geworfen, was bei den Indianern ein noch größeres Staunen hervorgerufen hatte, da diese hier eine solche Verwendung des Messers noch gar nicht kannten.

Aber diese kriegerischen Uebungen hatten auch eine Unterbrechung erlitten.

»Kennen Sie die Geschichte,« fragte Gretchen, »wie die beiden Kandidaten ihre Antrittspredigt halten wollen, wie der eine nichts gelernt hat ...«

»Ja, ja, ich kenne sie,« lachte Nobody, nun auch schon wissend, wohinaus Gretchen wollte, was sie hinter seinem Rücken getan hatte.

Die Geschichte ist folgende. Zwei Kandidaten der Theologie haben sich um die Pastorstelle einer Dorfkirche beworben, sie werden aufgefordert, eine Predigt zu halten, der beste, der am meisten zu Herzen spricht, wird dann von den Bauern gewählt. Auf der Reise nach jenem Dorfe treffen die beiden zufällig in einem Gasthause zusammen, in dem sie übernachten. Aber sie kennen sich nicht, wissen nicht, daß sie Nebenbuhler sind. Ihre Schlafkammern liegen nebeneinander, nur durch eine dünne Bretterwand getrennt. Der eine, Müller, hat sich sorgfältig eine Predigt einstudiert, eine so rührende, daß er bestimmt weiß, wenn er auch an zweite Stelle kommen sollte, die Bauern werden ihm unbedingt den Vorzug geben. Und noch einmal hält er in seiner Kammer mit lauter Stimme die Antrittspredigt. Drüben ist der andre Kandidat, Schulze, ein leichtsinniger Studiosus, der noch keine Ahnung hat, was er morgen von der Kanzel herab sagen soll. Was hört er da drüben? Ist das nicht eine Predigt? Jawohl, und was für eine schöne! Schnell Papier und Bleistift zur Hand und alles nachstenographiert, was der da drüben spricht, bis zum Amen. Schulze lernt die ganze Nacht auswendig, reist ganz früh ab – wer zuerst ankommt, predigt auch zuerst – und wie nun der fleißige Müller in der Kirche sitzt, hört er den Nebenbuhler von der Kanzel herab seine eigne Predigt halten, so daß er nun nichts mehr auf dem Repertoire hat! – –

Nobody hatte sich eine wohlgesetzte Rede einstudiert, die er, wenn er vom Himmel herabkam, den Indianern halten wollte, hatte sie in Gegenwart Gretchens wiederholt gehalten, immer wieder daran verbessernd.

»Du hast doch nicht etwa ...?«

»Ich habe!« nickte Gretchen gravitätisch. »O, mir flossen die Worte wie Honigseim mit Schmierseife von den Lippen.«

»Was hast du gesagt?«

»Na, eben alles das, was Sie immer hergebetet haben. Ich konnte es ja so auswendig, daß es mir schon zum Halse raushing. Wie wir keine Götter seien, sondern ebenfalls Menschen, und wenn auch unsre Hautfarbe anders sei, so wären wir doch alle zusammen Brüder und Schwestern, erst recht unter den Indianern selbst dürfe keine Uneinigkeit herrschen, sie wären allesamt echte Nachkommen der alten Inkas, und wenn sie einig seien, würden wir ihnen auch genug Fleisch und andres geben, daß sie nie mehr Hunger zu leiden brauchten ... und so weiter und so weiter – alles habe ich ihnen gesagt.«

»Und was sagten sie da?«

»Hau, hau! haben sie gebellt, und vor Freude haben sie sich auf die Schenkel geklatscht. Na, ich hatte sie ja sowieso in der Tasche. Was ich ihnen da vormachte, das hat ihnen ganz schrecklich imponiert.«

»Hast du ihnen auch gesagt, daß dieses ganze Land dir gehört?«

»Natürlich, das war doch auch in Ihrer Predigt drin.«

»Daß du es von den Regierungen der Republiken Peru und Bolivia gekauft hast?«

Gretchen machte ein erstauntes Gesicht.

»Nee, davon hatten Sie doch auch niemals etwas gebetet! Dieses Land hier gehört mir, ihr seid meine Untertanen, und damit basta!«

»Und da?«

»Na, da heulten sie wieder vor Vergnügen wie die jungen Hunde. Natürlich, wenn man so vom Himmel herunterplatzt, da ist es doch ganz selbstverständlich, daß man wie die liebe Allmacht selbst angebetet wird, wenn man ihnen auch gleich sagt, daß man es gar nicht haben will. Sie sehen ja, ich bringe mein ganzes Volk gleich mit, und wenn es unter den Roten und Blauen noch eine Eifersucht gibt, so ist es nur deshalb, weil sie sich streiten, wer von ihnen uns auf der heiligen Insel bedienen darf.«

»So hast du ihnen auch gesagt, daß wir auf den heiligen Inseln wohnen werden?«

»Alles, alles.«

»Daß wir die goldenen Tempelschätze der Inkas heben wollen?«

»Alles, alles.«

»Und?«

»›Juhu, hau, hau!‹ haben sie geschrien. »Es ist doch überhaupt ganz selbstverständlich, daß das alles jetzt mir gehört – den Indianern wenigstens ist es selbstverständlich, das habe ich deutlich gemerkt.«

»Ehem,« ließ sich eine Stimme vernehmen, und Nobody drehte sich um.

»Mr. Maximus Wilken,« sagte er scharf, »am Strande befinden sich jetzt Boote. Benutzen Sie eins, um die Insel wieder zu verlassen, und bis zum Abend werde ich Sie und Ihre Leute vom Ufer dieses Sees aus nicht mehr erblicken können. Good bye!«

Der Yankee blieb die Antwort schuldig. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und schlenderte in der Richtung des Strandes davon. Nobody blickte ihm nach.

»Wir werden uns doch wohl wiedersehen,« murmelte er, »und nicht im guten, oder ich hätte einmal einen Menschen falsch taxiert. Der gibt nicht so ohne weiteres sein Ziel auf.«

»Erst hinterher,« plauderte das Mädchen weiter, das diesem Abschiede gar keine Beachtung geschenkt hatte, »forderte man mich auf, ich sollte doch auch einmal mit meinem Donnerrohr schießen. Na, da konnte man ja von mir etwas zu sehen bekommen, das hatte ich mir auch mit Absicht bis zuletzt aufgespart. Ich blickte mich nach einem Ziele um, da sah ich hoch oben über mir einen Vogel schweben, nur wie einen Punkt ...«

»Kind, Kind, da hast du aber viel aufs Spiel gesetzt! Du konntest doch gar nicht visieren, wußtest nicht einmal, ob die Büchse auch so weit trug. Und weißt du, was geschehen wäre, wenn du den Vogel nicht beim ersten Schusse heruntergeholt hättest?«

»Freilich, es war auch nur ein Sackschuß, aber ... aber ... ich wußte eben bestimmt, daß ich den Punkt treffen würde, ich wußte es, hob das Gewehr und platzte los – und da kam er herab.«

Man mag daran glauben oder nicht – jeder Jäger, jeder Schützenbruder kennt solche Sackschüsse, d. h. Schüsse, Treffer, die man mit einem Sacke über dem Kopfe, mit einer Binde vor den Augen abfeuern könnte. Eine innere Stimme flüstert einem zu: »Schieße, du triffst!« – Man braucht diese innere Stimme, die Sokrates seinen ›Dämon‹ nannte, gar nicht zu hören – man weiß, daß man trifft – und man trifft! Dabei ist nicht gerade gesagt, daß man ins Schwarze treffen muß. Man könnte die Stelle auf der Scheibe genau bezeichnen, in welche die Kugel einschlagen wird.

»Man hat mir auch schon einen Namen gegeben,« triumphierte das Mädchen heiter. »Einer der Häuptlinge hielt eine Rede, gar nicht so dumm, das hatte alles Hand und Fuß, ebenso alles doppelten Sinn. Früher wären die Wohltäter der armen Indianer als Kinder der Sonne gekommen, aber sie hätten nicht standhalten können vor den weißen Kindern des Wassers, die auf schwimmenden Häusern gekommen seien, und der Blitz sei stärker als die Sonne und stärker als das Wasser. Das wußte der alte Häuptling alles so zu beweisen, daß man es fast glauben möchte ...«

»Und da haben sie dich Metatetle genannt, die Tochter des Blitzes!«

»Woher wissen Sie ...?«

»Ich habe dieses Wort vorhin wiederholt rufen hören, und außerdem kann ich mir das auch so lebhaft denken.«

»Ja, und Sie werden mich fernerhin also Metatetle nennen oder meinetwegen auch nur Meta, was dann nur ›Blitz‹ bedeutet, den ich ja bei mir führen soll ...«

»Oder einfach auf gut deutsch Blitzmädel,« mußte Nobody einschalten.

»Oho! Mal keine Beleidigung! Und Ihnen hat man auch schon einen Namen gegeben.«

»Mir? Mich kennen sie doch gar nicht. Was denn für einen?«

Das Mädchen mußte erst eine krampfhafte Anstrengung machen, um ihr Lachen zu unterdrücken, ehe sie ernsthaft fortfahren konnte.

»Ich habe den Indianern doch gesagt, daß wir mit dem Luftballon gekommen sind, und ihnen so ein bißchen erklärt, was ein Luftballon ist, so ein großer Sack, der mit Luft gefüllt ist, aber mit einer besonderen Luft, welche fliegt. Dann habe ich doch auch von Ihnen gesprochen, Sie seien so einer, der den Luftballon lenken und durch die Luft stiegen kann, und gleich hatten Sie Ihren Namen bekommen – › Aroakepelotle‹ heißen Sie jetzt.«

» Aroakepelotle,« wiederholte Nobody. »Was ist denn das? Aroakan ist fliegen – aroakep das Partizip davon, also fliegend – lotle ist der Sack ...«

»Der fliegende Sack!!« lachte jetzt das Mädchen aus vollem Halse, und Nobody, der ›fliegende Sack‹, stimmte herzlich mit ein.

»Wo bleiben denn aber deine Untertanen?« fragte er dann.

»Ich muß sie erst holen, die wagen doch die heilige Insel nicht zu betreten, dazu brauchen sie erst meine Erlaubnis. Ja, jetzt kann ich mich wirklich einen Indianerhäuptling nennen!«

Und sie holte sie, brachte in ihrer Begleitung zuerst einen alten Häuptling, der seine ruhige Würde zu bewahren wußte, während die ihm folgenden Indianer mit sichtlicher Scheu ihren Fuß auf die seit Jahrhunderten nicht betretene, geheiligte Erde setzten.

Wir wollen die bei der Begrüßung stattfindenden Zeremonien nicht beschreiben. Zwischen Nobody und einem Häuptling der Quichuas, wie einem der Aymaras, fand eine Unterredung statt, welche viele Stunden währte. Das wollen wir dem Leser ersparen, es würde auch gar zu viele Seiten füllen.

Kommen wir noch einmal auf jene Anekdote zurück. Jede Erzählung muß doch einen moralischen, einen befriedigenden Schluß haben, sonst taugt sie nichts, und wenn der arme Student durch einen leichtsinnigen Pfiffkopf um die Frucht seines Fleißes geprellt worden, das wäre doch nicht schön gewesen, dann hätte ja das Böse über die Tugend gesiegt – wie es zwar oft genug im Leben geschieht, aber in der Fabel darf so etwas nicht vorkommen, und schließlich bleibt es doch immer auch im Leben wahr: zuletzt triumphiert die Tugend doch noch über das Böse, trotz alledem.

Nein, so begaunert sollte der ehrliche Müller von dem genialen Leichtfuß nicht werden. Auch Müller war nämlich ein Pfiffkopf, der besonders die Bauern zu nehmen wußte. Als Schulze mit Müllers Predigt fertig war, die wirklich eine großartige Wirkung erzielt hatte, da mußte also Müller zum Wettstreit die Kanzel besteigen, und da verkündete er der Gemeinde, er habe sich zwar eine Predigt einstudiert, aber die sei lange nicht so gut wie die seines Vorgängers, und so könne er nicht umhin, sein Herz triebe ihn dazu, dieselbe Predigt noch einmal zu halten. – Und so geschah es. Er haspelte dieselbe Predigt, seine Predigt, noch einmal ab, Wort für Wort dasselbe, und ... die Bauern waren einfach baff, und, wie die Bauern nun einmal sind, sie staunten am meisten über dieses Gedächtnis. – ›Den müssen wir haben, der so eine Predigt Wort für Wort gleich noch einmal halten kann, das ist ein gescheiter Kerl!‹ – So wurde also Müller zum Pastor erwählt, und der andre mußte mit ›keuhle Feut‹ abziehen.

Es wäre unverantwortlich gewesen, wäre zu dem Anfang der Erzählung nicht auch der Schluß hinzugefügt worden. Nobody aber hatte nicht nötig, die ihm von Gretchen geraubte Rede noch einmal zu halten. Die beiden, das Blitzmädel und der fliegende Sack, waren ja auch keine Konkurrenten, arbeiteten vielmehr in Kompanie.

In der stundenlangen Unterredung erläuterte Nobody nur noch, und es waren zwei gar intelligente Häuptlinge, welchen er seine Pläne auseinandersetzte. Wir wollen uns nun mit einigen Worten mit diesen Südamerikanern beschäftigen, welche hier für uns in Betracht kommen – mit den südwestamerikanischen Indianern der Pampas und der Punas.

Sie stehn den nordamerikanischen Rothäuten, den Lieblingen unsrer Jugend, an nichts nach, weder an Tapferkeit, noch an Ausdauer, noch an Spürsinn, noch an Treue für den Gastfreund, noch an todesverachtendem Trotz am Marterpfahl – kurz, an allen jenen Tugenden, welche den nordamerikanischen Indianer zum Helden der lesewütigen Jugend machen. Diesen südamerikanischen Pampasindianern fehlt nichts weiter als ein Fenimore Cooper, der sie verherrlicht. Dann würden unsre Jungens nicht mehr ›Sioux und Mohikaners‹ spielen, sondern ›Penchuenchen und Quairibis‹, und das mit Recht, denn diese südamerikanischen Indianer sind noch ganz andre Kerle, vor allen Dingen bessere Jäger und Fährtensucher als die nordamerikanischen.

Ein erwachsener Mann, welcher sich dafür interessiert, hat schon deshalb mehr Hochachtung vor den südamerikanischen Indianern, weil sie sich bis auf den heutigen Tag ihre Unabhängigkeit zu wahren gewußt haben, und dann, weil sie die Weißen überhaupt nicht brauchen. Uebrigens hängt eins mit dem andern eng zusammen. Die Tage der letzten amerikanischen Rothaut sind gezählt. Das hilft nun alles nichts. Und der Sioux oder Pawnee, oder wie er nun heißen mag, von heute kann ohne Gewehr und Decke gar nicht mehr existieren. Das wird ihm von der Regierung der Vereinigten Staaten alles kontraktmäßig in das Indianerterritorium geliefert. Der heutige rote Krieger hätte keinen Tomahawk mehr, wenn derselbe nicht in einer Maschinenschmiede hergestellt würde.

Ganz anders in den niedrigen Pampas und auf der hohen Puna Südamerikas. Von hier ist nichts zu holen, was den Europäer reizen könnte. Hier weiden keine unübersehbaren Herden von Büffeln, zwischen die der Jäger bloß immer so hineinzuschießen braucht, um den niedergemetzelten Tieren nur die wohlschmeckende Zunge und das beste vom Rücken auszuschneiden, auch gibt es hier keine Wälder, in denen es wie in Nordamerika von jagdbarem Wild aller Art wimmelt. Hier braucht jeder Stamm ein unermeßliches Gebiet, und gar schwer ist es, den Hunger der Frauen und Kinder zu stillen; da gibt es haarsträubende Ritte hinter jedem einzelnen Wilde her, da müssen der Hirsch und die Antilope noch ganz anders beschlichen werden als in den hohen Prärien, und eben aus diesem Grunde sind die südamerikanischen Indianer noch ganz andre Jäger, Reiter, Läufer und Fährtensucher als die nordamerikanischen. Was solch ein Penchuenche an einem Tage zu Fuße zurücklegt, nur eine Kokanuß dabei kauend, das glaubt man nicht, wenn man nicht einmal Zeuge davon geworden ist.

Der Tabak hat sich die ganze Welt erobert. Das ist aber auch das einzige, was der Punaindianer, bei dem wir jetzt speziell bleiben wollen, von den Weißen braucht. Schußwaffen sind natürlich seine höchste Schwärmerei, eine Donnerbüchse und ein recht schöner Revolver das Ideal seiner Träume, aber er kann sie schließlich entbehren.

Diese hier am See lebenden Indianer waren so arm, daß sie sich nur selten einmal den Genuß einer Pfeife Tabak leisten konnten. Wild gab es in der Nähe des Sees fast gar nicht mehr, oder die Jagd lohnte sich nicht. Sie waren nur auf den Fischfang angewiesen, und auch der fiel kümmerlich genug aus, obgleich der Titicaca-See von Fischen wimmelt. Wohl hatten sie immer genug Fische zu essen; aber um gegen getrocknete Fische Tabak, Waffen, Pulver und Blei eintauschen zu können, hätten sie ihre Lamas, vorausgesetzt, daß sie solche besaßen, hochbepackt jeden Monat einmal den schrecklichen Weg nach der Küste hinabschicken müssen, wo die Fische doch auch schon billig genug waren. So trieben sie nur einen Tauschhandel mit den von der Jagd lebenden Stämmen. Diesen lieferten sie getrocknete Fische und erhielten Felle und etwas getrocknetes Fleisch dafür, und schon wegen dieses Tauschhandels mußten sie Tag und Nacht dem Fischfang obliegen, welcher ausschließlich mit Angel, Wurfspeer oder Harpune und mit der Brakone, der Schleuderkugel, betrieben wurde. Das beste Fischgerät, das Netz, kannten sie nicht, was uns nicht zu wundern braucht, da den alten Germanen ursprünglich das Fischnetz ebenfalls unbekannt war, seine Erfindung wurde einem Gott zugeschrieben und als ein hochwichtiges Ereignis gepriesen.

Dann gab es noch Wassergeflügel; aber in sehr spärlicher Menge. Es wurde nur als Leckerbissen betrachtet; denn es waren nur solche Zugvögel, welche sich einmal vor Müdigkeit hier niederließen, um gleich weiterzuwandern. Es behagte ihnen nicht, weil sie an den Ufern des Sees das ihnen unbedingt notwendige Schilf vermißten.

Schutz gegen die nächtliche Kälte gewährte den Indianern das Fell der Guanacos und der Lamas. Aber das hatte wiederum einen bösen Haken. Guanacos sind nicht zu zähmen, sie kommen nur in den Hochgebirgen der Kordilleren vor, und es ist eine gar schwierige Jagd. Für die Zucht der Lamas ist die Puna scheinbar die geeignetste Gegend; aber gerade hier grassiert unter diesen Herdentieren eine böse Krankheit, welcher die Lamas manchmal ausgesetzt sind. Es ist ein Hautausschlag; zuerst verlieren die Tiere die Wolle, die Haut wird wie Leder, die Lamas gehn regelmäßig zugrunde, gleich die ganze Herde, das Fleisch ist nicht mehr genießbar, nicht einmal das durchlöcherte Fell ist zu gebrauchen. Das einzige Gegenmittel ist Fett, mit dem die erkrankten Tiere eingerieben werden. Vielleicht, man könnte es annehmen, springt die Haut in der überaus trocknen Luft, welche auf dem Hochplateau herrscht, auf, und so entsteht eine Entzündung. Es mag aber auch eine andre Ursache vorliegen. Nicht jedes Fett ist als Heilsalbe verwendbar. Fischtran zum Beispiel nützt gar nichts, ebensowenig das ausgelassene Fett von vierfüßigen Tieren, das heißt von denen, welche auf der Puna vorkommen. Auch das Fett der Wasservögel hat wenig Erfolg. Am wirksamsten ist das der Raubvögel, speziell das des Kondors. Die Lamas, welche monatlich nur einmal mit Kondorfett eingerieben werden, bleiben von dieser Krankheit verschont. Tschudi, der berühmte Amerikaforscher, hat dies als Tatsache bestätigt, hat ein ganzes Buch darüber geschrieben, ohne die Ursache dieser Krankheit und der seltsamen Wirkung, welche gerade das Fett des Kondors dagegen ausübt, gefunden zu haben.

Aber wie sollten die Punaindianer diese Raubvögel in genügender Anzahl erlegen? Selbst mit den besten Gewehren wäre ihnen wenig geholfen. Nur die ältesten Leute konnten sich noch erinnern, daß man früher Lamas gehalten hatte, welche Milch, Fleisch, Wolle und Felle spendeten, und die Erzählung der Alten klang wie ein Märchen, wie ein Märchen vom verlorenen Paradies. Die letzte große Epidemie hatte sämtliche Lamas auf der Puna hinweggerafft. Nur in den östlichen Kordilleren wurden sie noch gezüchtet, hier dagegen machte man gar keinen Versuch mehr. –

Nobody kannte dies alles bereits. Er hatte sich jetzt nochmals ausführlich darüber berichten lassen.

»Ich habe ein Mittel gegen den Zibot, welcher eure Herden vernichtet hat.«

Da der weiße Mann kein Fett von Raubvögeln meinen konnte – hatten sie doch zur Genüge über die Schwierigkeit der Beschaffung desselben gesprochen – so waren die ungläubigen Gesichter der beiden Häuptlinge begreiflich.

Nobody zog aus der Tasche ein Blechschächtelchen, öffnete es und ließ die beiden ein flüssiges, weißes Fett sehen.

»Was ist das?«

»Das Fett eines Tieres, welches ihr nicht kennt, und für welches ihr daher auch keinen Namen habt.«

»Eines Vogels?«

»Eines vierfüßigen Tieres.«

»Und das soll den Zibot vertreiben?«

»Handelt euch aus den Bergen von euren roten Brüdern Lamas ein, und keins wird mehr am bösen Zibot sterben. Nehmt ihnen nur die Milch und die Wolle, und jedes Jahr wird sich die Anzahl verdoppeln, bis auf eurem Gebiet Tausende von Lamas weiden werden.«

Alle Indianer besitzen eine lebhafte Phantasie, und der weiße Mann sprach so zuversichtlich – die beiden konnten kaum ihre Erregung unterdrücken.

»Wieviel Fische kostet die Medizin?«

»Sie kostet euch gar nichts.«

»Gar nichts?«

»Ihr züchtet die Tiere selbst, deren ausgelassenes Fett die Medizin ergibt.«

»Woher bekommen wir diese Tiere?«

»Meine Freunde, welche in drei Wochen kommen, bringen einige mit, und diese Tiere sind äußerst fruchtbar, sie verfünffachen sich jedes Jahr, und ihr Fleisch könnt ihr essen.«

»Wir sind zu arm, um von den Kimoros lebendige Lamas eintauschen zu können.«

»Metatetle wird euch begleiten, und Metatetle ist reich.«

Die beiden ernsten roten Männer, welche nach jeder Frage und Antwort eine lange Pause machten, hingen wieder ihren Träumen nach.

Dann blickten sie empor. Es war plötzlich dunkel geworden, in der Luft erscholl ein eigentümliches, melodisches Singen. Ein ungeheurer Schwarm von Schwänen, die Sonne verdunkelnd, kam von Süden hergeflogen. Man konnte deutlich bemerken, wie sich die weiße Wolke senkte, die Vögel beabsichtigten, sich an dem Wasserrande niederzulassen; aber sie taten es nicht, jäh stiegen sie wieder empor. Der Strand, nur mit kurzem Grase bewachsen, behagte ihnen nicht, sie konnten sich nicht verstecken.

Einige Schüsse fielen, Nobody unterschied auch den Knall von Gretchens Büchse. Die Schwäne waren noch nicht über dem Wasser gewesen, ein halbes Dutzend stürzte auf die Steppe nieder, die Kinder eiferten im Wettlauf, um sie zu holen, und mit den nur lahmgeschossenen großen Vögeln gab es noch manchen Kampf.

Des Mädchens Hinterlader holte noch einige herab, die wenigen Indianer, welche alte Donnerbüchsen besaßen, kamen gar nicht mehr zum Schuß, schnell schwebte die weiße Wolke davon.

Man brauchte kein Gedankenleser zu sein, um zu wissen, was die beiden Häuptlinge dachten, wie sie so melancholisch den Schwänen nachsahen. Was bedeuteten die wenigen Schwäne, die sie erbeutet hatten, für den Stamm von vielen Hunderten von Männern, Frauen und Kindern? Wo lag das glückliche Wasser, an dem sich die Vögel niederließen, um wenigstens ihren Durst zu löschen? Warum ließ Pachacamac, der doch seine roten Kinder, die er geschaffen hat, lieben muß, nicht auch hier Schilf wachsen?

An dieses dachten diese Indianer allerdings nicht, sie kannten ja gar kein Schilf. Aber sie wußten doch den Grund, weshalb die Wandervögel nicht in ihrem Gebiete blieben.

»Nächstes Jahr wird es an den Ufern von Schwänen, Gänsen, Enten und andern Wasservögeln wimmeln,« sagte Nobody.

Wieder nur begreiflicher Unglauben.

»Dann mußt du das Gras hoch wachsen lassen, so hoch wie ein Mann.«

»Ich werde es so hoch wachsen lassen.«

»Wenn du das kannst, dann bist du ein Gott.«

»Ich bin ein Mensch wie ihr; aber ich habe viel gelernt, und der Gott, den ihr anbetet, und den auch ich anbete, nur daß ich für ihn einen andern Namen habe, dieser Gott hat mir befohlen, zu euch zu gehn und euch zu zeigen, wie man die kranken Lamas gesund machen und die öden Ufer des Sees mit Vögeln beleben kann und noch vieles andre mehr. Zeigt mir die Angeln, mit denen ihr Fische fangt!«

Der weiße Mann, der so gut die Sprache der Eingeborenen redete, wollte noch nie hier gewesen sein, er ließ sich Angelgerätschaften zeigen. Die Angelhaken waren teils besondere Fischgräten, teils kunstvoll aus Knochen geschnitzt. Für große Fische wurden sie an dünnen Lederschnuren, für kleinere an zusammengedrehten Pferdehaaren befestigt.

Bisher hatte sich der weiße Mann immer nur in Versprechungen ergangen, in für die Indianer ganz ungeheuerliche Versprechungen. Jetzt zog er eine Schachtel aus der Tasche, zeigte den Indianern stählerne Angelhaken der verschiedensten Größen und Formen, ohne dabei ein Wort zu sagen.

Er brauchte auch gar keine Erklärung zu geben. Obgleich kein einziger dieser von aller Welt abgeschlossenen Indianer jemals solch einen modernen Angelhaken aus Metall gesehen hatte, wußten sie doch sofort, was das war, sofort erkannten sie die Bedeutung; ihre sonst so ehrlichen Physiognomien, die etwas von Melancholie hatten, nahmen einen förmlich habgierigen Ausdruck an, sie boten dem weißen Manne für solch einen kleinen Angelhaken ein ganzes Zelt, einer verstieg sich sogar bis zu Frau und Tochter, was Nobody dem Manne gar nicht so übelnahm; es waren eben Indianer, und es ist nicht im Altertum geschehen, auch nicht im Mittelalter, daß Fürsten mit weißer Haut ihre Landeskinder kompagnieweise verschacherten, um Geld für ihre Maitressen zu haben, und als Nobody den Indianern die Angelhaken schenkte und sagte, sie würden bald so viel bekommen, wie sie haben wollten, da kannte ihr Entzücken keine Grenzen, auch die würdevollste Rothaut fiel aus der Rolle.

Darauf brachte Nobody mehrere Bündel eines durchsichtigen Garnes zum Vorschein, jedes Knäuel hatte eine andre Stärke, wiederum sagte er dabei kein Wort, und wiederum wußten die Eingeborenen sofort, was das war, um was es sich handelte. Sie bestrichen die Angelschnuren aus Lederriemen doch nicht umsonst mit einem weißen Ton, die weißen Pferdehaare, welche sie von den Jagdstämmen eintauschten, waren doch nicht umsonst die teuersten. Augenblicklich tauchten sie das englische Seegarn ins Wasser und gewahrten mit staunender Freude, daß es hier so gut wie unsichtbar war, augenblicklich stellten sie Festigkeitsproben an, und wenn ihnen das dünnste Garn, das sie zu zerreißen suchten, das Fleisch der Hände bis auf die Knochen durchschnitt, so schrien sie nicht vor Schmerz, sondern vor Freude.

Dann sah Nobody den Yankee mit seinen Chulos abziehen.

»Wir werden uns wiedersehen,« murmelte der Nachblickende abermals, »und solltest du mich wirklich hier in Ruhe lassen, was ich aber nicht glaube, so werde ich dich noch dereinst in Philadelphia aufsuchen, um mit dir weiter über den Verbleib jenes Spaniers zu sprechen, der über Bord gewaschen sein soll. Mir kommt diese Sache doch nicht so ganz geheuer vor.«

Der Yankee hatte, um die Freundschaft der Indianer zu gewinnen, reiche Geschenke an Tabak, Waffen, Schmuckgegenständen, Zucker und andern Sachen, welche Herz und Magen eines Indianers erfreuen, mitgebracht gehabt. Dankbar hatten dieselben alles angenommen. Als sie aber hörten, daß es der weiße Mann auf die heiligen Inseln abgesehen, hatten sie alles wieder zurückgegeben, bis auf den wenigen Tabak, den sie schon verraucht, und auch den hatten sie durch einige Felle ersetzt.

Bei dem andern weißen Manne, der mit dem Mädchen gekommen, war es etwas ganz andres. Den hatte ihnen Pachacamac geschickt, das war der zweite Manco Kapac, alles stand ihm offen, sie ordneten sich ohne weiteres seinem Willen unter.

Nobody richtete sich in einem Tempel auf der Titicaca-Insel häuslich ein, nachdem er mit Kennerblick zwei junge Indianer ausgesucht hatte, einen Quichua und einen Aymara, die ihn bedienen sollten; mit diesen hauste er allein auf der Insel. Denn noch in derselben Stunde, da Mr. Wilken nach Westen zog, brach eine stattliche Anzahl von Quichuas und Aymaras nach Osten auf, um von den am Abhange der Kordilleren hausenden Kimoros Lamas einzuhandeln, und an der Spitze des Zuges befand sich das buntgekleidete Mädchen, aus der Gondel des Ballons reichlich mit geeigneten Tauschobjekten versehen.

Es war ein weiter Weg, zumal da er zu Fuß zurückgelegt werden mußte. Diese Seeindianer haben keine Pferde. Dasjenige, auf welchem Gretchen ihre Reiterkunststücke zum besten gegeben, hatte zu Wilkens Karawane gehört.

Das abenteuerlustige Mädchen wollte doch nicht die alten Tempelruinen studieren, auch die goldenen Schätze konnten sie gar nicht reizen – sie hatte eben unter die Indianer gewollt, Abenteuer wollte sie erleben. Und Nobody wußte sie unter ihren roten Begleitern gut aufgehoben. Aufgehoben? Das hätte er dem Mädchen nicht sagen dürfen! Wie kann man denn auch einen Indianerhäuptling oder eine Amazone ›aufheben‹.

Nobody hatte sein eignes Boot aus Leder mit, dessen Form durch ein dünnes Holzgerippe bestimmt wurde; die stärkste Bambusstange der Gondel ergab den Mast, das war alles danach eingerichtet. Das Boot wurde mit Proviant und andern Sachen bepackt, und staunend sahen die auf der Insel Zurückbleibenden und die Indianer am Ufer den weißen Mann mit geschwelltem Segel abfahren; denn sie kannten kein Segel, und da war das wiederum so eine Art von Zauberei.

Ja, Nobody hatte es vom Ballon aus in der Tiefe des Sees golden leuchten sehen. Aber wo? Er konnte es nicht mehr sagen. Alle seine Sinne waren zu sehr mit der schwierigen Landung beschäftigt gewesen. Dann muß man bedenken, daß er sich da noch immer einige hundert Meter über der Erde befunden hatte, in der Nähe einer Insel war es jedenfalls nicht gewesen, und da konnte man sich aus solcher Höhe gleich um Kilometer irren.

Er mußte warten, bis Flederwisch kam, vom Ballon aus war jene Stelle sofort wieder zu erspähen. Jetzt hatte Nobody ein andres Ziel im Auge, etwas noch Edleres als Edelmetall und Edelgestein wollte er suchen.

Vom günstigen Winde immer nach Norden getrieben, kam er im Laufe des Nachmittags an vielen größeren und kleineren Inseln vorüber, alle dicht besetzt mit noch wohlerhaltenen Tempeln und andern Gebäuden, Priester- und Arbeiterwohnungen und dergleichen. Nobody legte an keiner an, er konnte der Wissenschaft auch keinen Dienst erweisen; diese Ruinen aus der alten Inkazeit sind schon sehr genau beschrieben worden. Erwähnt sei nur, daß es immer viereckige Gebäude sind, etwas pyramidenartig, aber bei weitem nicht so wie bei den ägyptischen Pyramiden. Staunenswert sind die kolossalen Steinquader, aus welchen die Tempel aufgeführt sind, und wer es nicht weiß, der begreift nicht, wie die alten Peruaner, die keine Winden und dergleichen besaßen, diese gewaltigen Blöcke dahinaufgebracht haben. Da ist, wie auch beim Erbauen der ägyptischen Pyramiden, die schiefe Ebene angewendet worden. An der emporwachsenden Mauer wurde Erde aufgetragen, immer höher und immer länger, auf dieser schiefen Fläche wurden die Blöcke hinaufgewälzt. Dann, wenn das Gebäude fertig war, trug man die Erde wieder ab.

Als die Sonne unterging, nahm Nobody dieselbe noch einmal mit dem Sextanten auf, danach die geographische Lage berechnend, dann steuerte er der nächsten Insel zu, schlief in der Nacht auf einer Steinplatte und setzte am folgenden Morgen seine Segelpartie fort.

Das Aussehen der Inseln begann sich zu ändern.

Die Tempel wurden seltener. Auf einigen Inseln, gerade auf sehr großen, stand nur ein kleines Häuschen.

Wir werden gleich sehen, was die alten Peruaner auf diesen Inseln getrieben haben, auf welchen jetzt nur das kurze, harte Ichy-Gras der Puna wächst.

Es war gegen Mittag, als Nobody zum letzten Male die Sonne aufnahm. Wenn er allein war, legte er sich keinen Zwang an, und er zeigte eine auffallende Unruhe.

»Dort ist sie,« murmelte er, nach Norden spähend, wo wieder eine Insel auftauchte. »Ob es geglückt ist? Ja, weshalb nicht? Wenn es aber nun doch nicht der Fall ist? Dann wäre ich um alle meine Hoffnungen betrogen.«

Er nahm das Fernrohr. Es blieb die ziemlich umfangreiche Insel mit einem kleinen Haus darauf. Nobody machte ein sehr enttäuschtes Gesicht.

»Nichts zu erkennen. Nein, es ist nicht geglückt. Ich müßte es schon sehen. Oder doch noch nicht? Da – da!« jauchzte er plötzlich auf. »Vögel, wahrhaftig, Vögel!!«

Nun, Vögel konnte er an andern Stellen des Ufers und auf andern Inseln auch sehen, wenn auch nicht so massenhaft wie an beschilften Seen, und das waren hier auch nur wenige.

Nobody mußte aber doch irgend einen Grund haben, sich so zu freuen. Kein Lüftchen wehte mehr, es wäre Zeit zur Siesta gewesen, am Nachmittage würde sich der gewöhnliche Südwind auch wieder einstellen; doch Nobody mußte hin nach jener noch weit entfernten Insel, er griff zu den Rudern, das an sich leichte Boot war durch die vielen Ballen schwer geworden, und Nobody arbeitete unter der glühenden Sonne, daß ihm der Schweiß wirklich wie Wasser vom ganzen Leibe floß.

Jetzt konnte er es schon mit bloßen Augen erkennen, und seine sehnsüchtige Hoffnung hatte ihn nicht betrogen.

»Hurra, es ist gewachsen!!«

Nämlich das Schilf, welches dort einen Teil der Inselküste bedeckte. Das war Nobodys Werk, das hatte er gesät, auf die Gefahr hin, dabei zu ertrinken, von den das Ufer des Festlandes bewachenden Indianern gelyncht zu werden.

Als er vor einem halben Jahre zum ersten Male nach dem Titicaca aufgebrochen war, hatte er Schilfsamen mitgenommen. Das war natürlich nicht so von ungefähr gewesen. Die letzten Tage in New-York hatte Nobody alle Reiseberichte gelesen, welche es über den Titicaca-See nur gibt, und sein rastloser Kopf hatte simuliert und simuliert. ›Ist da nicht etwas zu machen? Wie kann ich es machen?‹

Ueber das Fehlen der Wasservögel am Titicaca-See berichten schon Reisende aus dem siebzehnten Jahrhundert. ›Das kommt daher, weil kein Schilf vorhanden ist.‹ So sagte jeder. Nobody aber konnte nicht verstehn, wie jemand, der am Titicaca-See gewesen ist, so etwas so leichthin sagen kann. Es war eben Nobody – der Nobody, der schon als Junge die Haare an einem Pferdeschwanz gezählt hatte.

Und der Detektiv wurde zum Botaniker, der nebenbei auch Geographie nach den Witterungsverhältnissen trieb. Freilich mußte das bei ihm fix gehn. In einer durchstudierten Nacht hatte er herausgebracht, daß für den Titicaca dreierlei Schilfsorten in Betracht kamen: eine, die an den Gebirgsseen des Himalaja vorkommt, eine, die in Patagonien gedeiht, und dann wollte er es auch mit einer mexikanischen Schilfart versuchen. Das größte Zutrauen hatte er zu der patagonischen.

In den botanischen Versuchsstationen ist alles zu haben. So dachte wenigstens Nobody. Jawohl, selectrus hopax spacii, und wie das Zeug alles hieß, wurde auch gezüchtet. Aber Samen gab es nicht, nicht für einen Dreier und nicht für drei Dollar, und noch weniger wurden die reifen Samendolden verkauft. Die waren ja der Stolz des botanischen Gartens!

Nobody hätte sie ja schließlich bekommen, aber da wäre trotz aller hohen Gönner erst eine ewige Schreiberei nötig gewesen, dann hätte er doch auch seine Absicht kundtun müssen, und das wäre nun das letzte gewesen, was er getan hätte. Nobody wußte einen kürzeren Weg, der zum Ziele führte. Als Nobody hatte er sich schon bei seinem ersten Bittgesuch nicht zu erkennen gegeben, und jetzt zog er einen andern Anzug an, setzte eine andre Visage auf, ging nochmals in den botanischen Garten und ... mauste dasjenige, was er gerne haben wollte!

Und dann, auf der andern Hälfte der Erdkugel, auf dem Hochplateau von Peru, war er von Insel zu Insel geschwommen, um hier auf dieser mit liebevoller Hand den Schilfsamen der Erde anzuvertrauen.

Jetzt sah er den Erfolg. Der selectrus hopax spacii aus Patagonien hatte sein Vertrauen getäuscht, der war nicht aufgegangen; mit dem mexikanischen war auch nicht viel los; aber der vom indischen Himalaja war prachtvoll gediehen, weit über manneshoch, hatte sich durch Wurzelausläufer schon weit ausgebreitet, und ... unter seinem Schutze fütterte ein Wildentenpaar seine hier ausgebrüteten Jungen groß!

Doch der schwimmende Detektiv und Botaniker hatte noch andres bei sich gehabt als nur Schilfsamen.

Nobody betrat das Land, aus dem Boote eine Hacke mitnehmend. Weshalb schlug sein Herz so erwartungsvoll? In der Nähe des kleinen Hauses konnte man am Boden eine Stelle bemerken, die vor einiger Zeit jedenfalls aufgewühlt und vom Grase befreit worden war. Wohl war sie wieder mit Gras bedeckt, das aber einen ganz andern Eindruck machte als das ringsum stehende, es war jünger, und dazwischen erhoben sich kleinere und größere Blattbüschel.

Und der Schatzgräber begann zu hacken – vorsichtig, ganz vorsichtig – und er beförderte aus dem Schoße der Erde einen goldenen ... nein, eine rote Möhre, ein prachtvolles Geschöpf, dem alsbald eine dicke Runkelrübe folgte, und nun ein kleiner Ruck, ein langgezogenes ›Aaaahhhh!‹, wozu Nobody auch allen Grund hatte, denn seine erhobene Hand hielt nichts weniger als einen Kartoffelstrunk mit großen, dick und voll angesetzten Knollen, und dabei sah er aus, wie ein andrer Mensch aussieht, wenn er das große Los gewonnen hat.

»Aaaaahhhh! Eine ganz neue Sorte Erdäppel. Nobodia Titititikakakakja.«

Es war noch nicht alles. Als er um das kleine Haus herumgegangen war, stand er vor einer Quadratrute Land, das mit meterhohen, grünen Halmen bedeckt war, an denen Aehren hingen, der Reife nahe, und ein neuer Freudenlaut entschlüpfte Nobodys Lippen.

Korn und Weizen waren nicht aufgegangen, oder das junge Grün war der nächtlichen Kälte erlegen. Aber der Hafer war prächtig gediehen – der Hafer, dem der Gebirgsschotte seine Bärenknochen und seine Muskelkraft verdankt.

Weshalb sollen Kartoffeln, Rüben und gewisse Getreidearten nicht auch auf der Puna gedeihen? Die Kartoffel ist überhaupt ein peruanisches Gewächs, oder vielmehr, die alten Peruaner haben zuerst die Kartoffel kultiviert, aus einer besonderen Art des giftigen Nachtschattens haben sie die genießbare Kartoffel zu züchten verstanden, welche dann später nach Europa gekommen ist.

Man hat auf den Inseln des Titicacasees genug Steinplatten gefunden, in welche menschliche Figuren eingemeißelt sind, wie sie verschiedenen Beschäftigungen nachgehn. Die menschlichen Figuren sind recht unbeholfen – wie Kinder sie zeichnen, mit viereckigen Oberkörpern und statt der Arme und Beine nur Striche – aber man kann doch deutlich erkennen, was sie treiben, daß sie z. B. Kartoffeln hacken und Kraut abschneiden, und so ist weiter zu schließen, daß hier auf diesen Inseln, auf denen immer nur ein kleineres Haus steht, dereinst solcher Gemüsebau getrieben wurde, für die Priester die tägliche Nahrung liefernd. Wohl auch Hülsenfrüchte, besonders Bohnen, wurden gebaut, dann eine Getreideart, die mit der Hirse Aehnlichkeit zu haben scheint.

Warum waren jetzt auf der Puna diese nährenden Pflanzen nicht mehr vorhanden? Ihre Kultur war einfach verloren gegangen. Wenn man eine Kartoffel steckt und kümmert sich nicht mehr darum, so findet man nach drei Jahren keine Knollen mehr daran, die kultivierte Pflanze verwandelt sich wieder in den knollenlosen Nachtschatten, das kräftiger gedeihende Unkraut zieht alle Nahrungsstoffe an sich, die Kulturpflanze wird selbst wieder zum sogenannten Unkraut, die Pflanze, wenn sie nicht ursprünglich hier zu Hause ist, verschwindet auch ganz, und so hatte auch hier das einheimische Ichygras alles wieder erstickt, und niemand war gekommen, um die Eingeborenen auf dem weltverlassenen Plateau von neuem zu beglücken.

Nobody war auf das platte Dach des Hauses gestiegen; hier stand er lange, lange Zeit, und immer verklärter ward sein Auge, sein ganzes Antlitz, und wir brauchen wohl nicht die Gedanken näher zu erläutern, die ihn beschäftigten, die ihn beseligten, als er so seine Blicke über die weitere Umgegend schweifen ließ; er sah in die Zukunft, und was er dachte, das machte sich zuletzt in den Worten kund, welche feierlich über seine Lippen kamen:

»Da ich nicht selbst ein Gott bin, so bin ich doch ein Werkzeug Gottes!«

 

Wir kommen nun zu dem eigentlichen Abenteuer, welches Nobody am oder im Titicaca-See erlebte, ein ganz seltsames, ans Wunderbare grenzende Abenteuer, über welches Nobody niemals etwas veröffentlicht, niemals etwas gesprochen hat, auch nicht zu seinem besten Freunde. Desto ausführlicher hat er es in seinem Tagebuche behandelt, und da der Bearbeiter desselben aus einem besonderen Grunde, der dem Leser bald einleuchten wird, in bezug auf dieses merkwürdige Erlebnis jede Verantwortung ablehnen möchte, so soll diesmal mit Nobodys eignen Worten erzählt werden.


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