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2. Auf der Teufelsinsel

Wieder einmal!

Und diesmal war es dazu noch eine furchtbare Tragödie, deren Spuren schleunigst beseitigt werden mußten, um Monte Carlos ›guten Ruf‹ nicht ganz und gar zu schänden. In die Zeitungen kam es allerdings doch.

Wir wollen etwas erzählen, was den Beamten, welche für die Aufklärung solcher Fälle zu sorgen haben, nicht vollständig zu Ohren kam.

Wer hätte noch vor zwei Monaten zu glauben gewagt, daß der Gutsbesitzer Ernst von Marbach, Hauptmann der Reserve, solch einer entsetzlichen Tat, dem Leichtsinn entsprungen, fähig sei! Das aber eben ist das Werk des Spielteufels! Wen er einmal gepackt hat, den läßt er nicht mehr los, und den kann er im Nu verwandeln.

Er war ein vermögender Mann gewesen. Das kleine Gut bewirtschaftete er nur zu seinem Vergnügen, und er hatte sich dort ein recht schönes Leben zu zimmern verstanden. Er war zum zweiten Male Witwer. Alle Kinder aus seiner ersten Ehe hatte er verloren – darüber war er nun schon hinaus – und aus seiner zweiten Ehe hatte er nur eine Tochter.

Johanna war auf dem einsamen Gut von Hauslehrern erzogen worden. Der alt werdende Vater mochte sich weder von seinem Heim noch von seinem einzigen Kinde trennen. Und auch als Hannchen zur Jungfrau erblüht war, sehnte sie sich nicht nach dem geräuschvollen Leben, sie war glücklich auf dem idyllischen Gütchen und vermißte nichts. Einmal gab es doch auch hier gesellige Freuden, die Nachbarn kamen manchmal zusammen, und dann machte der Vater jedes Jahr, wenn die Ernte geborgen war, mit ihr eine große Reise, sie bekam die Welt zu sehen, und drittens war das Mädchen überhaupt eine anspruchslose sinnige Natur.

Vor vier Jahren hatten Vater und Tochter die Riviera besucht. In Monte Carlo gingen sie natürlich auch einmal ins Kasino. Sie setzten auch einmal, verloren einige Goldstücke und freuten sich darüber.

Dann beobachtete der Vater einige Stunden das Spiel, notierte, rechnete zu Hause, und dann sagte der Artilleriehauptmann, der ein gar kluger mathematischer Kopf war, im überzeugendsten Ton:

»Da muß man ja immer gewinnen! Paß auf, Hannchen, ich werde es dir beweisen!« Und er spielte zwei Tage, er verdoppelte immer den Einsatz, allerdings nicht bei jedem Verlust – das machen nur die Narren, und der Artilleriehauptmann war, wie schon gesagt, ein gar kluger Kopf – nein, er wartete gewisse Serien ab, er hatte sich sein eigenes System ausgeklügelt – und in diesen Tagen hatte er richtig 3.000 Francs gewonnen! Dann aber hörte er auf, er hatte ja nur die Richtigkeit seines Systems beweisen wollen, und die gewonnenen 3.000 Francs zahlte er in die Armenkasse. So skrupulös in Gewissensfragen war dieser Mann.

»Es ist mir unbegreiflich, warum nicht alle Leute so spielen, dann ist die Bank des Verderbens doch in einer Woche bankrott! Die Leute sind eben blind!»

So sagte er verächtlich, und dann reiste er ab und zeigte seiner Tochter andere herrliche Gegenden, und Hannchen war so stolz auf ihren klugen Papa.

Im nächsten Jahr besahen sie sich England und Schottland, im zweiten Böhmen, im dritten gingen sie bis in die Pyrenäen – und dann kam das Jahr, das vergangene, welches dem Mann noch im späten Alter soviel Sorge brachte – und zuletzt seinen völligen Ruin.

Zuerst nahte sich die Sorge in Gestalt eines jungen Mannes, welcher um die Hand der Tochter bat. Hannchen liebte ihn mit aller Kraft der ersten Liebe, und er war ein angehender Klaviervirtuose, der nichts sein eigen nannte, als seine gelenkigen Finger. Ach, du lieber Gott! Wenn er wenigstens ein angehender Dichter gewesen wäre! Der hätte noch die Landwirtschaft erlernen und sich nebenbei einen berühmten Namen machen können. Aber der Klaviervirtuose hier wollte mit seiner Frau in der Welt herumgondeln! Nein, nein, nein! Nein, daraus durfte nichts werden. Dazu war des Vaters Liebe zu seinem einzigen Kinde zu egoistisch.

Es gab viele bittere Stunden mit vielen Tränen – bis die gehorsame Tochter den Worten der Vernunft Gehör schenkte und ihrer ersten Liebe entsagte.

Wehe dieser egoistischen Vernunft! Es rächt sich alles schon auf Erden!

Daß das Mädchen beschloß, nun gar nicht zu heiraten, das war bei Hannchens Charakter eigentlich ganz selbstverständlich. Der Vater dachte hierüber zwar ganz anders, wäre aber in seiner egoistischen Liebe damit zufrieden gewesen, wenn sie nicht heiratete.

Da machte das Bankhaus, in welchem Ernst von Marbach sein Vermögen angelegt hatte, vollständig bankrott. Keinen Pfennig bekam er heraus, hatte vielmehr noch einige Verpflichtungen zu erfüllen. Auch der eben eingezahlte Erlös der Ernte ging mit drauf. Er hatte gebaut, hatte Zahlungen zu leisten – er mußte die erste Hypothek aufnehmen.

Noch immer konnte er recht behaglich von dem Ertrage des Gutes leben, die Zinsen der Hypothek waren mit Leichtigkeit aufzubringen, aber die richtige Freude fehlte jetzt, es war nicht mehr ›Sein Gut‹, die Hypothek wurmte ihn.

Ja, sie ›wurmte‹ ihn. Das heißt, sie fraß ihm wie ein Wurm am Herzen.

Was ist denn da weiter dabei, eine Hypothek auf seinem Gut zu haben? Aber der alte Mann glaubte immer, die ganze Welt deute mit dem Finger auf ihn und sage: der da hat eine Hypothek aufgenommen. – So geht's im Leben.

Wie konnte er sie tilgen? Gar keine Aussicht dazu vorhanden!

Da will es ein böser Geist, daß sich der alte Mann erinnert, wie er vor vier Jahren in Monte Carlo 3.000 Francs gewonnen hat. Er fängt an zu rechnen, rechnet Tag und Nacht – ja, sein System ist richtig! Wenn er ganz vorsichtig spielt, so muß er bei einem Kapital von 10.000 Francs jeden Tag mindestens 1.000 Francs gewinnen, die schlägt er zum Spielkapital, und auf diese Weise muß er in einem Jahr mindestens 70.000 Francs gewonnen haben.

Zuerst aber braucht er die 10.000 Francs. Soviel bekommt er auf sein Gütchen nicht mehr geliehen, und da schlägt er es für 15.000 Mark los.

Wenn man diese Handlungsweise mit unparteiischen Augen von der richtigen Seite betrachtet, so ist hierbei von einem Leichtsinn gar keine Rede. Denn der kluge Mathematiker war von der Unfehlbarkeit seines Systems vollkommen überzeugt.

Nun reist er mit seiner Tochter nach Monaco. Wie es ihm erging, wurde schon geschildert, wir brauchen uns dabei nicht länger aufzuhalten.

Wenn Johanna auch schon viel von der Welt gesehen hatte, so war sie doch noch, und trotz ihrer einundzwanzig Jahre, unerfahren wie ein Kind. Und das Vertrauen zu ihrem Vater kannte keine Grenzen. Wenn ihr guter Papa hier spielte, so war das für sie vollständig gerechtfertigt. Sie wußte, daß den Vater ein großer Vermögensverlust betroffen hatte, aber nicht, daß es das letzte war, mit dem er spielte. Als der Vater zuerst wieder so gewann, freute sie sich, und dann, als er immer und immer verlor, war sie nur deshalb traurig, weil sie den Vater über sein Unglück so niedergeschlagen sah.

Vielleicht aber ging ihr auch schon eine Ahnung auf, wie es mit dem Vater stand, eine Ahnung ohne Erkenntnis, gerade darum, weil sie noch ein unschuldiges Kind war. Der erkünstelte Gleichmut gegen das fortwährende Verlieren konnte sie nicht mehr täuschen, und sie wagte nicht, ihre fürchterliche Ahnung in Worte zu kleiden, hatte überhaupt keine dafür.

»Gehen wir bald wieder nach Hause, Papa?« fragte sie höchstens einmal. »Ich sehne mich wieder so nach unserem Gütchen.«

Wie dem Vater bei solchen Fragen zumute gewesen sein mag!

Gestern hatte er auf einmal einen Hundertfrancsschein auf die Null gesetzt und – »Papa!« hatte sie mit ängstlichem Schreck gerufen. Denn so hatte er noch niemals gespielt, gleich so viel planlos auf eine Nummer zu setzen! Und er hatte auch gar kein Geld mehr vor sich liegen!

»Komm, Hannchen, wir wollen nach der Post gehen, dann reisen wir gleich ab,« hatte er also beim Aufstehen gesagt, was auch noch von anderen gehört worden war.

»Wieder ein Todeskandidat,« ließ sich ein erfahrener Stammgast von Monte Carlo vernehmen. So dachten auch noch andere, welche nur mit scheinbarem Interesse dem Spiele zuschauten, welche vielmehr die Spieler beobachten müssen, wofür sie bezahlt werden, und einer von diesen heftete sich denn auch gleich den Hinausgehenden unbemerkt an die Fersen.

»Hast du denn kein Geld mehr, um die Fahrt zu bezahlen, Papa?« hörte der Spion draußen die junge Dame verwundert fragen.

»Oh doch, natürlich – aber Kind, wo denkst du hin!« lachte der Vater. »Ich muß nur erst das Geld abwarten, welches ich telegraphisch hierherbestellt habe, sonst könnte es verloren gehen, verstehst du?«

Die Tochter mußte vor der Post warten, der Vater ging allein hinein, der Spion folgte und ... der alte Herr fragte überhaupt gar nicht, ob Geld für ihn angekommen sei, sondern er kaufte nur eine Briefmarke, ohne sie zu benutzen, verweilte einige Zeit in dem Gebäude, und als er dann wieder herauskam, sagte er zu seiner Tochter:

»Ja, Hannchen, ich habe das Geld bekommen, morgen früh reisen wir.«

So weit war er also innerhalb von vier Wochen schon gesunken, nur durch das Spiel! Er belog grundlos die eigene Tochter!

Der Spion aber wußte nun alles. Der alte Herr war eben fertig. Der hatte aus seiner Heimat keinen Pfennig mehr zu erwarten. So etwas kennt man doch hier.

Ja, was sollte man dann aber mit ihm tun? Man konnte ihn doch nicht in die Gummizelle sperren. Der Mensch ist frei, auch in Monte Carlo. Und nun etwa gleich zu sagen: hier hast du 500 Francs, mach daß du fortkommst, erschieße dich anderswo – so schnell ist man hier nicht.

Der Mann brauchte sich ja auch durchaus nicht zu töten. Vielleicht offenbarte er sich heute bei Anbruch der melancholischen Nacht seiner Tochter, und dann wurde ein neuer Lebensplan gefaßt, und die beiden mußten doch schon gehört haben, daß sich die Bankverwaltung gegen unglückliche Spieler stets nobel gezeigt hat.

Sie wurden also beobachtet, daß man, falls etwas passieren sollte, sofort zur Stelle war, um alles schnell zu vertuschen.

Die beiden wohnten in der Pension Blond, gleich neben dem Hotel London. Die Wirtin erfuhr auch nichts, obgleich diese, wie ja alle Zimmervermieter, auch so halb und halb mit zur Polizei gehörte.

Gegen sieben Uhr betraten Vater und Tochter das Haus. Letztere machte erst Toilette, das wußte man, dann wurde das Abendessen auf das Zimmer des alten Herrn bestellt. Diesem war nichts anzusehen, die Tochter sah sogar heiter aus.

Gegen halb neun hatte das gerufene Mädchen abräumen müssen. Die beiden schienen noch zusammen sitzen bleiben zu wollen. Eine halbe Stunde später wurde die Milchglasscheibe der Zimmertür der Mademoiselle hell, gegen zehn Uhr verlöschte das Licht wieder. Beide mußten schlafen gegangen sein.

Kurz darauf hörte man im ganzen Hause einen schweren Fall, dem wenige Sekunden später ein gellender Schrei aus weiblichem Munde folgte.

Im Hause war alles noch wach. Auf dem Korridore hielt sich gerade ein Dienstmädchen auf, es bezeichnete mit Gewißheit Monsieur Richters Zimmer als dasjenige, aus welchem der Schrei gekommen war.

Beide Türen waren von innen verschlossen. Auf das Klopfen öffnete niemand, nichts war zu hören. Gerade diese Tür besaß keine Glasscheibe, und ehe man die an der Zimmertür des Fräuleins einschlug, schickte man nach der Polizei.

Die Dienstboten wurden unterdessen von Madame Blond in Schach gehalten, die übrigen Pensionäre, welche etwas gehört hatten, bekamen eine harmlose Erklärung.

Unten stand schon ein geheimer Polizist in Zivil, der nur darauf wartete, gerufen zu werden. Also doch! Noch ehe das Schloß aufgesprengt worden war, erschien auch schon einer der in Diensten des Kasinos stehenden Ärzte, als hätte er ebenfalls nur darauf gewartet, in dieses Haus geholt zu werden. Die Tür war aufgesprengt, drinnen brannte eine Lampe, und – da war es eben geschehen, auf dem Boden lagen gleich alle beide.

»Vorsicht, Blausäure!« flüsterte der Arzt, die Luft durch die Nase ziehend, sprang schnell nach den Fenstern und stieß sie auf. Tot! Wo Blausäure, der wirksamste Bestandteil des Zyankalis, angewendet wird, da gibt es keine Rettung mehr.

Sie waren alle beide nicht zum Schlafen gegangen. Beide waren noch so angezogen, wie man sie zuletzt gesehen hatte, die Betten waren unberührt, die Verbindungstüre zwischen den Schlafzimmern stand offen.

Der alte Herr hatte das Gift aus einem Fläschchen im Sitzen eingenommen, war mit dem Stuhl umgefallen; die Tochter lag neben ihm, das Fläschchen noch in der starren Hand, der letzte Rest hatte sich über ihr Kleid ergossen.

Was die beiden vorher ausgemacht hatten, ob das Mädchen das Gift freiwillig genommen oder ob es ihr beigebracht worden – das war hier der Polizei alles ganz gleichgültig. Und wenn auch der Verdacht vorgelegen hätte, der Selbstmörder hätte an der Tochter erst noch einen Mord begangen – hier wurde einfach ein Doppelselbstmord angenommen.

Nur fort damit, fort damit, daß diese garstige Geschichte aus der Welt kam. Und nun wurde auch noch ein niederträchtiger Trick ausgeführt.

»Aah, der heißt ja gar nicht Felix Richter, der hat sich ja unter einem falschen Namen angemeldet!«

So erklang es, als man aus der Tasche des Toten Papiere zog. Als ob die Polizei dies nicht schon längst gewußt hätte! Und in den Papieren, die man in der Hand hatte, stand vielleicht gar nichts davon, daß dieser Mann eigentlich anders hieß. Es war eben nur ein Vorwand gewesen. Denn jetzt hatte die Polizei augenblicklich das Recht, auch Schlösser zu erbrechen. Aber nicht nach Papieren wurde gesucht – ja auch – nämlich nach Papiergeld, daß die beiden nicht auf Kosten des Kasinos begraben werden mußten.

Man fand, alles zusammen, eine Kleinigkeit von 20 Francs, und die würde morgen in geheimer Sitzung die Wirtin beanspruchen, desgleichen die Wertsachen und die Garderobe, denn die Pension für diesen Monat war noch nicht bezahlt.

Daß der Tote gar kein Vermögen mehr zu Hause hatte, das wurde hier auch noch mit einigen Worten erörtert. Einen Brief hatte er nicht zurückgelassen.

Selbstmörder dürfen auf dem Friedhof von Monte Carlo nicht beigesetzt werden. Ja, wenn genügend Geld vorhanden ist, und wenn der Betreffende still aus dem Leben gegangen ist, dann kann man die Todesursache mit einem Schlaganfall bemänteln, und wenn die Leiche nicht nach der Heimat transportiert werden soll, was schweres Geld kostet, so findet sie dennoch ein ehrliches Begräbnis.

Aber hier? Gleich zwei Personen am Schlagfuß gestorben? Das ging natürlich nicht! Und nicht einmal Geld vorhanden? Fort damit, fort damit, wohin sie gehörten!

Und so schnell als möglich mußten sie unter die Erde kommen, denn die Todesursache, welche die Blausäure erzeugt, ist die sofortige Zersetzung des Blutes, das äußert sich sehr schnell auf den ganzen Körper, und hier im Süden war es schon recht warm.

 

Heute wird dem Fremdem, der in Monte Carlo nach dem Friedhof der Selbstmörder und der Namenlosen fragt, im Gebirge ein sonnenverbranntes Stückchen Land gezeigt, auf dem sich die schmucklosen Erdhäuschen mit Holzkreuzen erheben. Dieser Begräbnisplatz existierte damals noch nicht, da wurde den Selbstmördern ein idyllischeres Fleckchen angewiesen.

Die Küste des kleinen Fürstentums bildet zwei Buchten, welche von dem mächtigen Felsvorsprung, auf dem die alte Stadt Monaco mit Schloß und Kathedrale liegt, voneinander getrennt werden. Links ist die Hauptbucht, in die größere Schiffe einlaufen können, auf der anderen Seite von den vorspringenden Terrassen des Kasinos begrenzt. Die kleinere, rechte Bucht wird im Westen ebenfalls von einem ins Meer hineinragenden Felsen eingeschlossen, auf welchem das übelberüchtigte Gasthaus ›Arche Noah‹ liegt. Dieses befindet sich aber schon auf französischem Gebiet. Unten am Felsen ist die Grenze gezogen.

In dieser westlichen Bucht nun, noch etwas weiter draußen am Meere, 3-400 Meter von der Küste entfernt, sieht man heute eine Menge wilder Felsblöcke aus dem Wasser emporragen – eine Klippenformation. Damals aber war das noch eine Insel, bewaldet mit Zypressen und anderen Bäumen, ein alter Turm aus der Sarazenenzeit erhob sich darauf, und hier wurden die Selbstmörder und Namenlosen begraben, die das große Erdbeben, welches die Riviera heimsuchte, die ganze Insel mit allem, was sich darauf befand, vernichtete, nur diese enggedrängten Felsklippen stehen lassend.

Das heißt, diese Veränderung war eigentlich keine Neubildung, sondern das Fundament der Insel hatte schon immer so ausgesehen, schon längst war alles durch und durch ausgewaschen gewesen, auf den durchhöhlten Felsenriffen lag nur noch eine hohe Schicht von losen Steinen und Erde, von den Baumwurzeln zusammengehalten, und diese lockere Schicht nun wurde von der hohen Meeresflut, welche das Erdbeben begleitete, einfach weggespült.

Einmal hatte das doch kommen müssen, das hatte man schon immer gewußt, niemand wollte sich auf der dem Untergange geweihten Insel ansiedeln, deshalb hatte man das sonst so reizende Eiland bereitwillig jenen Toten überlassen, deren Gräber von keinem Leidtragenden besucht werden.

Ile de Castelle hieß die Insel nach der alten Turmruine.

Man hatte auf der Insel noch keinen Geist beobachtet, zur mitternächtigen Stunde noch keine weiße Gestalt bemerkt, kein schauerliches Seufzen und Klagen gehört, es gingen keine grausigen Erzählungen über sie, aber ... es niemand darauf wohnen mögen, wenn sie auch auf soliderem Untergrunde geruht hätte, und diesen Wunsch würde wohl auch kein nervenstarker Freigeist gehabt haben.

Es war fast ganz selbstverständlich, daß sie im Volksmunde nur die Teufelsinsel genannt wurde, Toteninsel genügte noch nicht, und da hatte ja auch wirklich der Teufel seine Opfer liegen.

Es wohnte aber doch jemand darauf, der alte Totengräber und Wächter, und wenn der gestorben wäre, so hätte es schwer gehalten, einen anderen für dieses Amt wiederzufinden. Er führte den schönen Namen Hydrian, ein alter, schwachsinniger, halb tauber Mann. Die Insel war eben seine Heimat geworden, er verließ sie nie, schlief in der ersten Etage des Turmes, und sein Essen wurde ihm täglich von dem Manne gebracht, welcher drüben am Strande Boote verleiht und ein paar Badehütten unterhält – Guiseppe Cigalgi heißt er, der Sohn eines verarmten Edelmannes, er lebt noch heute dort unten am Strande von Monaco.

 

Es war früher Nachmittag.

Die x-beinige Ordonnanz hinter sich, verließ der Maskierte die Blumengärten des Boulevard de l'Ouest, ging an der Villa Bellando vorbei, bog um die Gasanstalt und schritt nun angesichts der Teufelsinsel noch fünf Minuten auf dem öden, sandigen Meeresstrande hin, bis er den Felsen der Arche Noah erreichte, wo einige Badehütten standen und Boote angekettet lagen.

Zwei große, prachtvolle Neufundländer schlugen an, ein halbes Dutzend winziger Köter ahmte das Bellen der Eltern piepsend nach, wollten dem Fremden entgegeneilen, fielen aber beim Gehen noch um.

Aus einem der Boote stieg ein junger Mann, der das Fahrzeug gesteuert hatte, gebot den Hunden Ruhe und erwartete auf dem Strande die Ankunft des Besuches.

Es war ein höchstens siebzehnjähriger Jüngling, als ursprünglicher Neapolitaner aber schon weit gereift, schon mit einem schwarzen Flaum auf der Oberlippe, ein kleines, zierliches Kerlchen, aber sehnig und mit runden Muskeln, alles wie von Künstlerhand aus Aronzo gegossen, und der Anzug verbarg nicht viel von seinen Gliedern, denn die blauen Hosen waren bis an die Oberschenkel aufgekrempelt, das weiße Baumwollhemd stand weit offen und zeigte die braune, hochgewölbte Brust, dazu auf den schwarzen Locken eine bunte Zipfelmütze – ein neapolitanischer Fischer, wie ihn nur ein idealistischer Maler darstellen kann.

»Bist du der Mann, welcher nach der Ile de Castelle übersetzt?« redete ihn der Maskierte an.

»Si, si, Signore.«

»Ich möchte mir die Insel ansehen.«

»Nicht heute, Signore, morgen.«

»Warum nicht heute?«

»Heute ist das Betreten der Insel nicht erlaubt.«

»Ja, aber warum denn gerade heute nicht?«

»Die Polizei, welche mich hier als Fährmann angestellt, hat es mir verboten, heute einen Fremden überzusetzen, und ich habe zu gehorchen, ohne nach dem Grunde zu fragen.«

»Hm,« brummte der Maskierte. »Weißt du, wer ich bin?«

Bei diesen Worten zog er ein goldenes und auch noch reich mit Juwelen besetztes Etui aus der Tasche, entnahm ihm für sich eine Zigarette und hielt eine zweite dem barfüßigen Fischerjüngling hin.

Es war ganz eigentümlich. Dieser arme, halbnackte Junge konnte seine adlige Geburt nicht verleugnen, schon wie er so unbefangen dastand, und selbst dadurch, wie er angesichts des maskierten Mannes nicht das geringste Staunen, noch viel weniger Neugier zeigte, schon das verriet seinen Stolz, denn er war sich seines gräflichen Standes wohl bewußt – hinwiederum war er dem vornehmen Fremden gegenüber sehr höflich, keine Spur davon, daß er sich beleidigt fühlte, weil er von oben herab mit ›du‹ angeredet wurde, und jetzt nahm er dankbar und sogar mit einer kleinen Verbeugung, wie sie so graziös eben nur ein Italiener fertig bringt, die ihm in der Hand angebotene Zigarette an.

Das war eben kein falscher Stolz, der Graf war sich auch bewußt, jetzt der arme Ruderknecht zu sein, und beides wußte er zu vereinen.

»Grazia, Signore. Ja, ich weiß, Sie sind der Kapitän von der Heliotrop. Eine wunderschöne Jacht, habe noch nie ein Schiff mit edleren Linien gesehen, noch nie etwas Herrlicheres. Bitte, hier ist Feuer.«

Die Augen hinter den Löchern waren mit einem Ausdruck auf den Jüngling gerichtet, welcher verriet, daß die Maske jetzt ein sehr überraschtes Gesicht verdeckte. Doch der Kapitän verbarg seine Verwunderung, von einem halbnackten Fischerknecht hier mit solchen Worten und solchem Benehmen empfangen zu werden, er behielt seinen einmal angeschlagenen Ton bei.

»Danke, mein Lieber. Dann ist dir vielleicht auch bekannt, daß ich einen Passepartout vom Fürsten von Monaco besitze, und daß sämtliche Behörden den Befehl haben, mir auf meine Bitten zu Diensten zu sein. Ich komme doch nach der Insel hinüber. Ich müßte nur erst noch einmal nach Monaco hinauf, und diesen Weg könntest du mir ersparen.«

Der Jüngling überlegte einen Augenblick.

»Sie haben recht,« sagte er dann, immer mit seiner stolzen Zuvorkommenheit, »Sie würden die Erlaubnis doch erhalten. Wollen Signor entschuldigen, ich bin hier vom Magistrat angestellt und habe die mir gegebenen Anweisungen zu befolgen, wofür ich bezahlt werde. Bei Ihnen kann ich eine Ausnahme machen. Einen Augenblick, das Boot ist gleich fertig.«

Er schritt dem kleinen Hafen zu, in dem die Boote schaukelten. Der Maskierte blickte der jugendlichen Gestalt sinnend nach.

Als er gerufen wurde, begab er sich schnell hin und stieg ein, Wilm ihm nach. Die Sitze der kleinen Jolle waren mit Polstern belegt worden, und vorwärts, im Stehen rudernd, daß er keinen Steuermann brauchte, lenkte Giuseppe das Boot zwischen den Klippen, welche den kleinen Hafen bildeten, hinaus und trieb es dann mit kräftigen Schlagen der Insel zu.

»Warum darf denn die Insel gerade heute ausnahmsweise nicht betreten werden?« fragte der Kapitän einmal unterwegs.

»Weil sich zwei unbeerdigte Leichen darauf befinden,« lautete jetzt die offene Antwort.

»Ah so. Selbstmörder?«

»Ja, ein alter Mann und ein junges Mädchen.«

»Wann sind sie herübergebracht worden?«

»Heute bei Sonnenaufgang.«

»Wann werden sie begraben?«

»Morgen früh, noch bei Dämmerung, das ist so Vorschrift, da ist es auch am stillsten.«

»Wo liegen die Leichen jetzt?«

»Unten im Turm.«

»Ist der Turm offen?«

»Er hat gar keine Tür. Kannten Sie die beiden Toten?«

»Ich? Ganz und gar nicht. Ich fragte nur so. Ich wollte nur die Insel selbst als eine Sehenswürdigkeit besichtigen.«

»Es findet sich selten einmal jemand, der an dieser Sehenswürdigkeit Geschmack findet.«

Das Boot hatte die felsige Insel, an deren Vorsprüngen es tüchtig schäumte, bald erreicht.

»Dort sitzt der alte Hydrian und angelt wie gewöhnlich,« sagte Giuseppe. »Gehen Sie nur auf der Insel umher, wie es Ihnen beliebt, ich spreche schon mit dem Alten, er würde Sie auch gar nicht verstehen, er ist fast taub.«

Er lenkte die Jolle in eine kleine Bucht, in der das Wasser ruhiger war, befestigte sie und ging stracks nach dem alten Manne, welcher mit einer Angelrute auf dem vorspringenden Felsen saß und das Boot gar nicht bemerkt hatte.

Der Kapitän stieg aus und brauchte nur wenige Schritte zu machen, so befand er sich in einer vollkommenen Wildnis.

Ja, hier war es schön! Man wurde sehr an die Machchia, den korsikanischen Buschwald erinnert, und das ist ja auch die eigentliche Vegetation der ganzen Riviera, die Palmen und alle die anderen tropischen Gewächse, das ist alles nur künstliche Kultur, allerdings zum Teil schon von den alten Römern hier eingeführt, und diese Gegend ist ja durch ihre wunderbar geschützte Lage ein offenes Treibhaus. Myrten, Mastixsträucher, immergrüner Kreuzdorn, Ligusterbüsche, Erdbeerbäume, Johannesbrot, alles durchschlungen von Lianen – das ist der Charakter der Machchia auf Korsika, und hier kam noch der angeflogene Same aller jener prachtvollen tropischen Pflanzen hinzu, welche drüben am Strande in Gärten und Anlagen gezogen wurden, und zu dieser Zeit blühte und duftete alles – wie im Paradiese!

Von einem Wege war nichts zu sehen. Man mußte sich durchwinden, ohne daß dies Schwierigkeiten hatte. Was heute niedergetreten wurde, war morgen schon wieder mit neuer Kraft entstanden. Es wurde hier ja auch gut gedüngt – mit den Leichen der Selbstmörder.

Von ihren Gräbern war nichts zu sehen. Man konnte sie nur da vermuten, wo die Spitzen der Gräser und die Blumen kleine Wellenlinien beschrieben, und die am Boden wuchernden Schlingpflanzen nahmen auch öfters eine so regelmäßige Gruppierung an – da hatten sie die kleinen Holzkreuze überzogen.

Von dem Matrosen gefolgt, strebte der Kapitän der Richtung des Turmes zu, der hier in der Mitte der Wildnis aber nicht mehr zu sehen war.

Plötzlich wurzelte sein Fuß am Boden. Er hatte vielleicht inmitten dieses Frühlings vergessen, daß er sich auf einer Insel befand, auf welcher der Tod regierte, und nun trat ihm dieser sichtbar vor Augen – in Gestalt zweier zur Aufnahme frisch bereiteten Gräber.

Lange Zeit stand der Kapitän stumm vor ihnen, in Gedanken versunken, und dann ließ sich ein schluchzender Laut vernehmen, und der geheimnisvolle Mann nahm die schwarze Seidenmaske ab, um sich mit dem Taschentuche die Augen trocknen zu können, und das Schluchzen wiederholte sich.

»Kapitän!!« warnte der Matrose erschrocken. »Wenn wir beobachtet werden!!«

Es dauerte nur einen Augenblick, so hatte sein Herr die Maske schon wieder vorgebunden oder vielmehr nur vorgelegt, aber sie mußte recht festsitzen, es hatte dabei geknackt, als wenn eine starke Feder einschnappe.

»Es ist eines jeden Menschen Los, und ich wünschte nicht, anderswo begraben zu werden als hier,« murmelte er, als er seinen Weg fortsetzte.

Der dicke Turm, in der zweiten Etage abgebrochen, war erreicht. Der weite Eingang wurde von keiner Tür verschlossen. Nachdem der Maskierte einmal tief Atem geholt hatte, trat er ein. Wilm blieb in der Tür stehen, blickte ab und zu auch zurück, ob sie beobachtet wurden, aber das war nicht der Fall.

Der völlig nackte Raum enthielt nichts weiter als eine breite, hölzerne Pritsche, gleich zur Aufnahme von mehreren Toten bestimmt, bedeckt mit einer dünnen Seegrasmatratze, und auf dieser, dicht an der Wand, lag im Leichenhemd der unglückliche Mann, der noch im spätesten Alter nach einem makellosen, ehrenhaften Leben als Spieler ein jämmerliches Ende genommen hatte, auch noch das unschuldige, jugendfrohe Kind mit sich in den selbsterwählten Tod nehmend. Ein böser Dämon mußte ihn betört haben, eine andere Erklärung war gar nicht möglich.

Der Kapitän hatte den breitrandigen Filzhut abgenommen, aber nicht wieder die Maske. Beim Anblick des Toten selbst schien er weniger erschüttert zu sein als bei dessen frischem Grabe.

»Ich habe ihn ja kaum gekannt,« erklang es nach einer Weile leise hinter der Maske. »Aber ... Wilm, warum konnten wir denn nicht einen einzigen Tag eher kommen? Es wäre alles nicht geschehen!«

Der bebrillte Matrose hob mit einem tief-philosophischen Gesicht die Schultern.

Wolle der geneigte Leser nun einmal auf die Antwort und auf die Ausdrucksweise dieses dickbäuchigen Matrosen mit den krummen Beinen achten, daß er sich derselben bei Gelegenheit erinnern kann.

Umsonst wird dieser Rat natürlich nicht gegeben, der Grund hierzu wird später einleuchten, und dem Leser dürfte eine große Überraschung bereitet werden.

Vorausgeschickt sei nur, daß die beiden dennoch einen heimlichen Beobachter in der Nähe hatten, welcher die Worte des maskierten Kapitäns sowohl, wie auch die nachfolgende Antwort des Matrosen erlauschte.

»Das ist Schicksal, Kapitän,« entgegnete also der kleine Dickwanst mit einem philosophischen Gesicht. »Wer sterben soll, der muß sterben, und es gibt Menschen, welche zum Hängen geboren sind. Kapitän, glaubt mir's oder glaubt mir's nicht – ich war mal auf 'nem spanischen Segelkasten – wir hatten kein Trinkwasser mehr – und da habe ich ein halbes Dutzend brave Jungens des Durstes sterben sehen – und, Kapitän, da auf einmal stellt sich's heraus – es springt einer aus Verzweiflung über Bord, um sich lieber abzusaufen, ehe er vor Durst verreckt – ›Wasser, Wasser!!‹ schreit er unten in einem fort, und wir sehen ihn trinken – und da stellt sich's heraus, daß wir mitten auf süßem Wasser sind – wir sind schon zwei Tage auf dem Amazonenstrome! – und wir wissens nicht! – Wir sterben vor Durst! – Und das ist ein Faktum, Kapitän! – Und diese Jungens waren eben zum Verdursten geboren – auf dem größten Strome der Welt hat sich ihr Schicksal erfüllt!! Schicksal, Kapitän, Schicksal!«

Der Kapitän bewegte sinnend das Haupt auf und nieder.

»Ja – ja, Wilm, du hast recht!« erklang es in dem Tone der tiefsten Überzeugung. »Jeder Mensch hat sein Schicksal, das sich an ihm erfüllen muß!«

Und dieser Wahlspruch, dieser Glaube an ein unumstößliches Kismet – das ist die Quelle, aus welcher alle Abenteurer ihre unverwüstliche Sorglosigkeit und ihren tollkühnen Wagemut schöpfen!

Der Kapitän blickte auf.

»Wo ist denn nun aber Hannchen? Ihretwegen komme ich ja herüber, sie möchte ich noch einmal sehen, um Abschied für immer von ihr ...«

Da kam von Wilms Lippen ein zischender Laut, und mit einem Satze, den man den X-Beinen nimmermehr zugetraut hätte, war er ins Gebüsch gesprungen und stand plötzlich vor einem Manne, der sich hinter einem Baume versteckt gehalten hatte.

Es war ein noch junger Mann, in einen einfachen Straßenanzug gekleidet.

»Hallo, wer seid Ihr denn? Wie kommt Ihr hierher?«

Auch der Kapitän war herbeigeeilt, alle beide standen in drohender Stellung vor dem fremden Manne, welcher aus dem handgreiflichen Grunde ziemlich verlegen wurde, weil er wirklich gelauscht hatte und das Spionieren sonst nicht in seinem Charakter lag.

»Wie kommen Sie hierher?« stieß jetzt auch der Maskierte hervor. »Haben Sie gehört, was ich soeben sagte?«

»Seid Ihr nicht Steuermann auf Mr. Carnegies Jacht?« setzte der Matrose hinzu.

Der junge Mann hielt es für das beste, ganz bei der Wahrheit zu bleiben, und wiederum lag es in seinem Charakter, gleich zu bekennen, daß er wirklich den heimlichen Beobachter und Lauscher gespielt hatte, wodurch der üble Beigeschmack abgeschwächt wurde, und überhaupt handelte es sich um einen Zufall, da hätte auch jeder andere Mensch die Gelegenheit benutzt, um einem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

Er stellte sich vor, sein Name war Starke, und der Matrose hatte sich nicht geirrt, er war seit einem halben Jahre zweiter Steuermann auf Carnegies Jacht.

Heute hatte er Urlaub genommen, um sich Monaco und Umgebung anzusehen, war gegen Mittag an Bord zurückgewesen, hatte Lust zu einer Segelpartie gehabt, hatte von seiner Jacht ein kleines Boot genommen und war allein hinausgefahren. Angesichts dieser Insel hatte er den Gedanken gehabt, ihr einen Besuch abzustatten. Daß hier die Selbstmörder bestattet wurden, wußte er wohl, aber nicht, daß man eine Erlaubnis brauchte, um das Eiland betreten zu dürfen, und ebensowenig hatte er schon von dem Doppelselbstmorde gehört, und daß sich zwei unbegrabene Leichen darauf befänden.

Nun, er näherte sich also der kleinen Insel von der offenen Seeseite, suchte einen günstigen Landungsplatz, legte bei – dort unten lag sein Boot – und drang in die Wildnis.

Wie er sich dem Turme genähert hatte und einmal stehen blieb, um die Szenerie zu genießen, sah er plötzlich den maskierten Kapitän kommen, der sich gestern verjüngt hatte, und der schon seit acht Tagen in aller Munde war, in Begleitung seiner Ordonnanz.

Man konnte es dem jungen Mann wahrhaftig nicht verdenken, wenn er nicht gleich vortrat und mit einer Vorbeugung seine Anwesenheit meldete, sondern wenn er sich hinter einem Baumstamm, hinter dem er gerade stand, regungslos verhielt, um zu beobachten, was die beiden eigentlich hier auf der Toteninsel wollten.

So hatte Starke ganz offen erzählt.

»Sie haben auch gehört, was ich sagte?«

»Ja.«

»Fatal, mir sehr fatal. – Ja, Herr, ich habe aber gar kein Recht, Ihnen etwa Vorwürfe zu machen – mißverstehen Sie mich um Gottes willen nicht – vielmehr könnten Sie Rechenschaft von mir fordern, wie ich dazu komme, an Sie solche Fragen zu stellen. Doch gestatten Sie mir – wissen Sie, wer ich bin?«

»Der Kapitän der Motorjacht Heliotrop.«

»Na ja, aber ... Sie wissen doch, was ich meine?«

Man sah es den Augen an, daß hinter der Maske gelächelt wurde, und der junge Steuermann lächelte ebenfalls, als er die Schultern hob.

»Keine Ahnung.«

»Nicht? Und doch könnten Sie nicht nur eine Ahnung haben, sondern es genau wissen, wer sich hinter dieser schwarzen Maske versteckt.«

»Ich?!« erklang es jetzt in leichtbegreiflichem Staunen.

»Ja, weil Sie Steuermann auf Carnegies Jacht sind.«

Der junge Mann war nicht so auf den Kopf gefallen, um diese Andeutung nicht sofort zu verstehen.

»Was, Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Mr. Carnegie in dieser ... Komödie ebenfalls eine Rolle spielt?«

»Sssssst!« warnte der Maskierte. »Ich habe nichts gesagt. Ja und nein. Er ist nur Zuschauer, hat aber das Theaterstück schon vorher im Manuskript gelesen. - Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, Mr. Starke: bleiben Sie jetzt bei uns, wir verlassen zusammen die Insel, dann sprechen wir weiter darüber. Ich will Ihnen einen Blick hinter die Kulissen verschaffen.«

Der Kapitän wandte den Kopf nach dem Turm und setzte mit noch leiserer Stimme, als er bisher gesprochen, hinzu, und diese Stimme zitterte etwas:

»Ja, ich habe die beiden Toten gekannt. Kommen Sie!«

Sie gingen zurück zum Eingange des Turmes, der Kapitän trat wieder in die Tür. Starke blickte nur hinein.

»Ja, wo ist aber ... die andere Leiche?!« ließ sich der Kapitän nach einer Weile vernehmen.

»Vielleicht oben,« meinte Wilm.

»Die Leichen sollen doch hier unten liegen.«

»Das sagte der Ruderknecht. Der weiß es nicht anders. Geht doch mal hinauf, Kapitän.«

Der Maskierte stieg denn auch die steinerne Wendeltreppe hinauf, Wilm folgte, und der Steuermann schloß sich ihnen an.

In der ersten Etage glaubte man sich in einer schmutzigen Lumpenkammer zu befinden. Nur gewisse Anzeichen verrieten, daß hier das ›Schlafboudoir‹ des alten Hydrian war, die aufgehäuften Lumpen stellten sein Bett vor. Monsieur Hydrian konnte sich aber auch anderswo hinlegen, sein Bett war überall.

Die nächste Treppe endete in einem deckenlosen Raume, in welchem eine blühende Vegetation wucherte.

Die ungemein dicke Mauer, deren Durchmesser mehr betrug, als der innere Raum, besaß auch Schießscharten, und durch eine solche sah der Kapitän den Totengräber. Er saß angelnd noch an derselben Stelle, Giuseppe war bei ihm und legte manchmal die Hände trichterförmig vor den Mund, um dem Schwerhörigen etwas ins Ohr zu schreien.

Das Geräusch der Brandung war ziemlich stark, auch wehte ein kräftiger Wind von hier gerade nach jener Richtung, deshalb gingen die geschrienen Worte trotz der nur kleinen Entfernung ganz verloren.

Die drei stiegen wieder hinab.

»Hier im Turm befindet sie sich nicht.«

»Vielleicht ist sie schon begraben.«

»Das soll doch erst morgen früh geschehen.«

»Ja, das alles sagt nur immer der Fischer, der sonst gar nichts auf der Insel zu suchen hat. Wir müssen einmal den Totengräber selbst fragen.«

»Gut,« entgegnete der Kapitän auf diesen Vorschlag des Matrosen, »besorge du das! – Mr. Starke, würden Sie nicht den Matrosen begleiten und Ihre Anwesenheit auf der Insel gleich anmelden?«

Der Steuermann fühlte sofort heraus, daß der Kapitän allein zu sein wünsche, und folgte dem Vorausgegangenen, konnte ihn aber nicht mehr einholen.

Wilm hatte sich schnell seitwärts in die Büsche geschlagen. Es waren ja auf der kleinen Insel nur wenige Schritte, so hatte er sein Ziel erreicht, mußte aber erst noch, um zu dem Angelnden zu gelangen, über eine vegetationslose Klippenformation klettern, eine ganz gefährliche Klettertour, und der folgende Steuermann amüsierte sich, wie sich der x-beinige Matrose derselben unterzog – wie diese Beinchen von Stein zu Stein zirkelten – es sah großartig aus – gerade wie ein Taschenkrebs, der Cancan tanzt.

Der Steuermann war also zurückgeblieben, betrat auch die nackten Klippen nicht sofort, ward daher nicht gleich entdeckt und so Zeuge einer köstlichen Szene.

»Nun will ich mal euch besuchen,« fing Wilm an, und er sprach ein recht gutes Französisch. »Vom Fischen verstehe ich nämlich auch etwas. Der Kapitän läuft noch herum. Den Toten habe ich mir besehen, den alten Mann mit dem weißen Barte. Ich habe schon viele Leichen gesehen. Wo ist denn nun aber das Mädel? Die soll doch recht hübsch gewesen sein. Ist die schon in der Erde?«

»Nein,« entgegnete Giuseppe, »die liegt noch im Turme aufgebahrt.«

»Nee, die ist nicht drin.«

»Gewiß, sie liegt auf der Pritsche.«

»I wo, gar keine Spur davon.«

»Ich habe sie doch heute früh dort liegen sehen.«

»Mann, und ich bin doch nicht blind!! Heute früh mag sie dort gelegen haben, aber jetzt liegt sie nicht mehr dort. Auf der Pritsche liegt nur der Alte.«

Giuseppe wandte sich dem Totengräber zu, der eben seine Angelgerätschaften zusammenpackte.

»Liegen die beiden Toten unten im Turm?« brüllte er ihm ins Ohr.

Der Alte nickte nur.

»Der Signor sagt, auf der Pritsche läge nur ein Toter, der Mann!!« fuhr Giuseppe im Brüllen fort.

Der Alte streckte zwei Finger aus, ohne ein Wort zu sagen.

»Neee!« fing aber Wilm jetzt zu schreien an, dem Alten einen einzigen Finger vorhaltend. »Es ist nur einer!!«

Der Alte sagte noch immer nichts, er zog die Hand zurück und zeigte wiederum zwei Finger, und da sagte auch der dicke Wilm nichts mehr, er holte mit dem ganzen Arme aus, als wolle er einen Zentnerblock fortschleudern, und zeigte einen Finger, und jetzt wurde der Alte ärgerlich und wies mit Wucht seine zwei Finger vor, und jetzt holte der dicke Matrose aus, als wolle er einen Zweizentnerblock fortschleudern, und hielt dem Alten den einen Finger unter die Nase, nun fing aber auch der erboste Totengräber an auszuholen, und es schien ganz, als wolle er dem Gegner mit Vehemenz die Augen ausstechen ...

Der zusehende Giuseppe brach in ein schallendes Gelächter aus, Wilm ward sich der Situation bewußt und stimmte mit ein, und aus dem Gebüsch echote das Lachen.

Da verstummte Giuseppe plötzlich, er hatte den Fremden bemerkt.

»Wer ist denn das?!«

Der dicke Matrose, der schon einige Proben von einer großen Energie gegeben hatte, wußte die Vorstellung auf ein Minimum abzukürzen.

»Der ist in einem Boote nach der Insel gekommen – auf Wunsch des Herrn Kapitäns – gehört mit zu uns – basta! Himmelbombenelement noch einmal!« fuhr er dann ärgerlich fort. »Wenn wir so dabeibleiben, dann haben wir uns morgen früh endlich die Augen ausgestochen! Nein, auf der Pritsche liegt nur eine Leiche, und das ist der Alte!«

Der Totengräber packte seine Sachen vollends zusammen und trat den Rückweg an. Er kletterte über die schwierigen Felsen schneller, als er dann durch den Busch humpelte.

Der Maskierte stand seitwärts vom Turm und schnitt mit dem Taschenmesser in die Rinde eines Baumes, der Kommenden nicht sonderlich achtend, bis ein gellender Schrei erklang.

Hydrian war es, der ihn ausgestoßen hatte. Wie vom Donner gerührt stand der Alte in der offenen Turmtür und stierte mit weit hervorgequollenen Augen nach dem Toten, und dann stieß er jenen Schrei aus, drehte sich um und stürzte auf den schnell herbeikommenden Kapitän zu.

»Wo habt Ihr die Leiche hingetan? Macht mich nicht unglücklich! Wo habt Ihr das Mädchen versteckt?!« rief er im jammerndsten Tone, gebärdete sich überhaupt von vornherein wie ein Wahnsinniger, packte zuletzt sogar den Kapitän an und schüttelte ihn.

Er mochte bereits daran denken, daß er durch diesen nichtswürdigen Streich, den ihm jemand spielen wollte, seinen Posten und damit auch seine Heimat verlieren könne.

Des Kapitäns Schreck ob dieser Anschuldigung war ersichtlich und begreiflich, er ließ sich geduldig abschütteln. Er brauchte auch einige Zeit, ehe er überhaupt verstand, um was es sich hier handelte.

»Bei Gott,« rief er dann, die Hand beteuernd aufs Herz legend, »wenn die Leiche des jungen Mädchens verschwunden ist – ich weiß nichts davon!«

Der Alte aber, der wirklich wahnsinnig geworden zu sein schien, fuhr fort, ihn mit Anschuldigungen zu überhäufen und ihn abzuschütteln – bis sich wiederum Wilm einmischte, seinem fassungslosen Herrn zu Hilfe kam.

Mit einem Griff hatte er den Alten von jenem losgerissen und hielt ihn nun seinerseits wie mit eisernen Zangen gepackt.

»Ruhe nun!!« donnerte er ihn an. »Wenn die Leiche des Mädchens nicht hier ist, so muß sie eben anderswo sein – helft mit suchen, dazu seid Ihr hier angestellt. Verstanden?!«

Das wirkte. Das war sogar ein schlauer Einfall des Matrosen gewesen, in solch drohendem Tone den Wahnwitzigen an seine Pflicht zu erinnern.

Der Totengräber ließ ab von dem Kapitän, er suchte mit, blickte unter die Matratze und wühlte oben zwischen seinen Lumpen ... aber wo sollte man denn allen Ernstes die Leiche suchen, von welcher jene behaupteten, sie hätte hier gelegen?!

»Mr. Starke, wissen Sie etwas von dem Verbleib der Leiche?« wandte sich der Kapitän an den Steuermann.

Nein, dieser wurde vielmehr, als er den ganzen Sachverhalt nun erfuhr, daß also die Leiche des jungen Mädchens verschwunden war, nur noch perplexer als die anderen.

»Zuletzt nimmt man jetzt an, weil ich die Insel heimlich und ohne Erlaubnis betreten habe, ich hätte einen Leichenraub begangen,« meinte er in Vorahnung böser Verwicklungen.

Die Gegend, die ganze Insel wurde abgesucht, am sorgfältigsten spähte der dicke Matrose den Boden ab, begab sich auch an die Küste, wo des Steuermanns kleines Boot lag und traf dort mit diesem zusammen.

»Hört,« flüsterte Starke vertraulich, »zu eurer Komödie gehört doch nicht etwa, daß ihr die Leiche des Mädchens beseitigt habt?«

Dieser Verdacht lag gar nicht so fern, der Kapitän hatte doch verraten, daß er das Mädchen gekannt hatte. Auf diese Verdächtigung hin aber wurde der kleine Dickwanst wieder einmal saugrob, wenigstens anfangs, dann wußte er den Steuermann durch wenige Worte zu überzeugen, wie grundlos solch eine Annahme sei.

»Laßt nichts von dieser Eurer sinnlosen Vermutung merken,« warnte er, »sonst drehen wir den Spieß herum, und dabei dürftet Ihr den kürzern ziehen. Ihr versteht doch! – Nein,« setzte er dann ruhig hinzu, »wir sind ebenso unschuldig wie Ihr, hier liegt ein Rätsel vor. Werden's aber schon lösen.«

Sie begaben sich wieder nach dem Turme zurück.

»Ich muß gleich die Polizei benachrichtigen,« sagte Giuseppe, dessen große Augen noch größer geworden waren, und er machte, daß er fortkam.

Dieser Jüngling hatte schon einige Bravourstückchen in Sachen des Mutes geleistet, so war er im offenen Boot bis hinüber nach Afrika gesegelt, und an Gespenster glaubte er natürlich auch nicht – aber mit verschwundenen Toten wollte er lieber nichts zu tun haben, diese Sache war ihm zu neu.

Schon nach einer Viertelstunde kehrte er zurück, begleitet vom Polizeidirektor selbst und noch von einer ganzen Menge Herren, auch in Uniform.

Die Anwesenheit des maskierten Kapitäns und des Steuermanns war mit einigen Worten erledigt.

Man sah es den Herren an, daß keiner ernstlich auf den Verdacht kam, einer der fremden Besucher der Insel könne das Verschwinden der Leiche verschuldet haben. Für den jungen Steuermann bot schon der Name ›Carnegie‹ die weitestgehende Garantie, und dann befanden sich gar tüchtige Detektivs darunter, welche in den Augen der Menschen zu lesen wußten, und wenn ein Unschuldiger bei einer verfänglichen Frage errötet und verlegen wird, das hat für einen tüchtigen Detektiven eben nichts zu sagen, der kennt schon seine Leute, so wie die Zollbeamten die ihren.

»Die Herren können sich wohl vorstellen,« sagte der maskierte Kapitän, »wie furchtbar unangenehm es mir ist, daß gerade ich diese Entdeckung herbeiführen mußte. Wenn hier kein Irrtum vorliegt, wenn die Leiche des Mädchens wirklich hier gelegen hat, dann – könnte es sich nicht vielleicht um einen Scheintod gehandelt haben? Das Mädchen ist wieder zu sich gekommen, hat den Turm und die ganze Insel verlassen.«

»Monsieur Hydrian, wann haben Sie die Leiche des Weibes zuletzt hier liegen sehen?« examinierte der Polizeidirektor. »Und wann Sie, Monsieur de Cigalgi?«

Zuerst gab der letztere an, daß es heute früh um acht Uhr gewesen sei, als er dem Totengräber das Essen gebracht hatte. Da habe er einmal in den Turm geblickt, dort neben dem alten Manne habe sie gelegen, vorn auf der Pritsche.

Nachdem man dem Totengräber lange genug ins Ohr geschrien hatte, brachte man aus ihm heraus, daß auch er die Leichen seit dieser Zeit nicht wiedergesehen hatte. Er hatte heute früh die Gräber ausgeworfen und seine Polenta dort auf der Klippe verzehrt.

»Monsieur Doktor Torre, sind Sie überzeugt, daß die junge Dame wirklich tot gewesen ist?« fragte der Polizeidirektor.

Der ebenfalls anwesende Arzt, welcher den Tod der beiden Selbstmörder konstatiert hatte, war ein cholerischer Charakter, und seitdem hier das erstemal das Wort ›Scheintod‹ gefallen war, gebärdete er sich vollends ganz unwirsch.

»Ja, natürlich war sie tot!!« rief er jetzt aufs heftigste.

»Sie kann doch nur scheintot gewesen sein.«

»Scheintot – scheintot,« echote der Arzt in seiner nervösen Weise höhnisch nach, »bei Blausäure!! Wissen Sie denn überhaupt, mein Herr, was Scheintod ist? Wissen Sie denn überhaupt, was Cyanwasserstoff ist?«

Der Arzt brauchte sich hier auch gar nicht viel sagen zu lassen, und es war in Monaco gar nicht so leicht, seine Autorität anzufechten, da brauchte er seinen anderen Kollegen, die vielleicht auch noch mit ihm verschwägert waren, die Paten seiner Kinder usw., nur ein Frühstück zu geben.

Das sind ja eben die Mißstände, welche solch ein winziges souveränes Fürstentum mit sich bringt.

»Haben Sie denn eine Probe gemacht, daß der Tod wirklich von Blausäure herrührte, Monsieur Doktor?« wagte der Polizeidirektor noch einmal schüchtern zu fragen, welcher, ein Junggeselle, im Hotel Des Quatre Saisons speiste, dem allerbilligsten, weil er eben nicht glänzend gestellt war, während der Kasinoarzt, der auch seine Privatpraxis hatte, in einem der vornehmsten Hotels gleich ganz wohnte.

»Probe – Probe!« höhnte der nervöse Arzt denn auch wieder. »Wissen Sie denn überhaupt etwas, wie man auf Cyanwasserstoff prüft? Lackmuspapier und der spezifische Geruch genügten mir. In die Retorte konnte ich die Leichen natürlich nicht erst stecken, wenn sie gleich beseitigt werden sollten! Dafür machen Sie, wenn Sie etwas dagegen einzuwenden haben, gefälligst die Direktion des Kasinos verantwortlich, aber nicht mich! Es war Blausäure! Da, der Alte geht ja schon in Verwesung über!«

Allerdings, es roch hier bereits recht unangenehm. Die Leiche des alten Mannes war schon in Zersetzung begriffen.

Und nun kam auch noch unaufgefordert der Totengräber dem Arzte zu Hilfe. Er behauptete, die Leichen hätten bereits heute früh starke Spuren der Verwesung gezeigt, also auch die des jungen Mädchens, deshalb eben habe er sich nicht mehr um die Toten gekümmert.

Denn deswegen mußte der Alte ja hier auf der Insel ganz wohnen, er hatte die aufgebahrten Toten zu beobachten, falls doch einmal etwas passierte. Wenn aber erst die Zersetzung beginnt, dann kann von einem Scheintode nicht mehr die Rede sein, und der Alte hatte Erfahrung, und er war Beamter, er hatte auch einen Diensteid ablegen müssen, seine Aussage war kompetent!

Dann war die Leiche also gestohlen worden. Der Totengräber konnte darüber nichts angeben.

»Ich kann nicht hören, schon damals nicht, als ich hier als Wächter angestellt wurde, ich hab's gleich gesagt,« knurrte der alte Hydrian.

Der Alte war eigentlich gar nicht so dumm. Natürlich, das war jetzt auch noch die Schuld der vorgesetzten Behörde; warum hatte sie als Leichenwächter einen tauben Menschen angestellt?

Wie und warum die Leiche gestohlen worden war, das zu erforschen, war jetzt Sache der Kriminalabteilung und ihrer Detektivs.

Vor allen Dingen mußte sofort das Protokoll aufgenommen und nach Paris an das fürstliche Sekretariat geschickt werden.

Schon der damalige Fürst von Monaco, der Vater des jetzigen, hatte nämlich sein Sekretariat oder sein Ministerium, das alle Regierungsgeschäfte erledigt, in Paris, wo es auch noch heute ist.

Alles, was in Monaco passiert, muß nach Paris berichtet werden, und bittet jemand um die Schankkonzession, so wird dies im fürstlichen Sekretariat zu Paris entschieden.

Warum dies so ist, das ist ein Geheimnis. Ob da vielleicht auch die französische Regierung etwas mitzureden hat? Niemand weiß es. Die Monacascogner lachen darüber, wenn man solch eine Vermutung ausspricht. Der Fürst von Monaco ist vollkommen unabhängig, er will es eben so haben – fertig!

Und dennoch ... ganz merkwürdig ist es auch, daß dieser Minister niemals, niemals nach Monaco kommt; man kennt wohl seinen Namen, in Wirklichkeit aber ist er eine unsichtbare, mysteriöse Persönlichkeit.

Dieser geheimnisvolle Herr, der im Namen des Fürsten von Paris aus regiert, versteht von seinen Beamten keinen Spaß! Mit dem Protokoll war keine Minute zu verlieren, mit dem nächsten Zuge mußte es fort, und der kam in zehn Minuten, und wurde er verpaßt, so konnte der Polizeidirektor glücklich sein, wenn er mit einem tüchtigen Rüffel wegkam.

Bereits in fünf Minuten war das Protokoll aufgesetzt und von den Beamten unterschrieben fort nach dem Bahnhofe! Nach diesem Bericht war die Leiche der jungen Selbstmörderin, von der man schon gestern nacht nach Paris gemeldet hatte, von der Ile de Castelle entwendet worden. ›Die Leiche hat sich schon im Zustande der Verwesung befunden‹ – die Recherchen über ihren Verbleib sind eingeleitet.

Ja, wo nun aber mit den Recherchen beginnen? Die Herren spazierten an den felsigen Küsten entlang, suchten nach Spuren, besonders ob irgendwo ein Boot gelandet sein könnte, debattierten viel und ergingen sich in den verschiedensten Vermutungen, welche, wenn sie der Wahrheit nahekommen sollten, sowieso abenteuerlich sein mußten, denn die ganze Sache war doch absonderlich genug.

Man sprach hauptsächlich von einem heimlichen Liebhaber, der sich wenigstens noch die Leiche des geliebten Mädchens gesichert habe, man redete auch von einem fremden Arzte, der die Tote zu Sezierzwecken gestohlen hatte. Nur davon sprach man nicht, daß der geheimnisvolle Kapitän seine Hand im Spiele haben konnte, und bei klarer Überlegung verwarf man auch den auftauchenden Verdacht, der Steuermann von Carnegies Jacht könnte an dem Vorfall beteiligt sein. Denn beide hatten die Entdeckung des Leichnams doch erst herbeigeführt, und – überhaupt, die ganze Sache lag so, daß auch der mißtrauischste Kopf gar nicht auf solch einen Verdacht kam, der ja auch in Wirklichkeit völlig unbegründet gewesen wäre.

Die Herren hielten sich beim Absuchen der Insel immer zusammen, wenigstens in großen Gruppen, der maskierte Kapitän und seine Ordonnanz bildeten ein besonderes Paar, während Steuermann Starke für sich allein die Insel abstrich.

Als dieser sich mitten in dem Gebüsch befand, gesellte sich plötzlich Wilm zu ihm, den er am andern Ende der Insel vermutet hatte.

»Pst, Steuermann,« begann der dicke Matrose in flüsterndem Tone, »ich habe etwas entdeckt, möchte aber nicht gern, daß es gerade von mir ausgeht, es paßt nicht gut zu meiner Brille, versteht Ihr?«

Des jungen Mannes Überraschung bei dieser geheimnisvollen Anrede war natürlich sehr groß; aber sein Denken war während der letzten halben Stunde nicht weniger mit dem rätselhaften Verschwinden der weiblichen Leiche als mit dem Geheimnis beschäftigt gewesen, welches mit dem maskierten Kapitän verknüpft war.

Von der sensationellen Verjüngungskur und allem anderen, was mit der Maske zusammenhing, hatte Starke ja schon gestern abend und heute früh genug zu hören bekommen, aber für ihn selbst ward die Sache erst von besonderem Interesse, als ihm vorhin gesagt worden war, auch Carnegie habe hierbei seine Hand im Spiele, der Steuermann würde von diesem selbst eingeweiht werden, und da schien es dem jungen Manne, als spiele dieser krummbeinige Dickwanst in Wirklichkeit eine ganz andere Rolle als die eines einfachen Matrosen.

Als er nun von der Ordonnanz so angeredet wurde, hatte er wiederum dieses eigentümliche Gefühl, über das er sich jetzt noch gar keine Rechenschaft geben konnte.

»Was für eine Entdeckung habt Ihr gemacht?« fragte er.

»Ich zeige es Euch. Ihr sollt diese blinden Maulwürfe von italienischen Detektivs darauf aufmerksam machen, weil sie sonst darüber stolpern. Aber habt Ihr mich vor allen Dingen verstanden? Die brauchen nicht zu wissen, daß ich eine ganz besonders geschliffene Brille trage.«

»Ich glaube eher, mein Freund, Ihr hättet sie gar nicht nötig.«

»Vielleicht habt Ihr recht. Wißt Ihr also, um was es sich handelt?«

»Ja, ich beginne wenigstens zu verstehen, und ich werde noch erfahren, was es mit Eurer Brille und mit der Maske Eures Kapitäns für eine Bewandtnis hat?«

»Heute abend sollt Ihr alles wissen. Mr. Carnegie selbst wird Euch reinen Wein einschenken. Jetzt seid mir behilflich, die Sache unauffällig ins klare zu bringen. Kommt, folgt mir!«

Wilm trat in die Büsche zurück, der Steuermann folgte ihm.

Die Unterhaltung hatte in flüsterndem Tone stattgefunden, und Starkes Erwartung war aufs höchste gestiegen.

Nur wenige Schritte waren nötig, da blieb Wilm stehen und deutete auf einen Ligusterstrauch.

»Was ist das?« fragte er in leisestem Tone.

Der Steuermann konnte nichts sehen.

»Mann, seid doch nicht blind! Hier, seht Ihr das nicht?«

Wahrhaftig, jetzt, da Wilm mit dem Finger zwischen zwei Zweigen einen Strich beschrieb, erblickte Starke den feinen, goldblonden Haarfaden, der sich von Ast zu Ast zog.

»Ihr meint doch nicht etwa, daß dieses Haar ...«

»Ganz sicher,« fiel ihm Wilm flüsternd ins Wort, »es gehörte jenem Mädchen an; aber ich habe noch viel mehr entdeckt, Fußspuren und vieles andere – ich weiß sogar schon, wo sich das Mädchen jetzt befindet ...«

»Was, Ihr wißt, wohin die Leiche gebracht wurde?« stieß der Steuermann bestürzt hervor.

»Ssst,« warnte wieder der Matrose. »Das ist nicht meine Sache, sondern die jener Beamten, und, wie gesagt, Ihr werdet später mehr erfahren. Jetzt tut, was ich Euch sage!«

Er gab dem Überraschten noch einige Instruktionen, dann entfernte er sich schnell, und als der Steuermann allein war, stieß er der Verabredung gemäß einige Minuten später einen lauten Ruf der Überraschung aus.

Zufälligerweise hatte sich von den übrigen Herren ein junger Beamter abgesondert, ein Detektiv, welcher als solcher noch gar nicht so lange im fürstlichen Regierungsdienst von Monaco angestellt war; eben deswegen führte er die Untersuchung mit besonderem Eifer. Dieser Mann hatte den Ruf Starkes gehört und eilte sofort herbei. Der Steuermann machte ihn auf das an dem Busche hängende Haar aufmerksam.

Es war nicht gerade sehr nett von dem italienischen Beamten, daß er die angedeutete Entdeckung sofort zu seiner eigenen machte, sich also mit fremden Federn schmückte. Ohne dem Steuermanne gegenüber ein Wort zu verlieren, eilte er sofort zu den andern Herren zurück, denen sich gerade auch wieder der maskierte Kapitän angeschlossen hatte.

»Was für Haar hat die Mademoiselle gehabt?« wandte sich der Detektiv kurz und direkt an diesen.

Wenn die Frage vielleicht eine Falle sein sollte, auf der Vermutung basierend, daß der Kapitän doch in irgend einer Beziehung zu der Leiche stehen könnte, so war sie überaus geschickt gestellt worden. Der Kapitän aber, der ja wirklich jenes Mädchen gekannt hatte, ging nicht auf den Leim.

»Was weiß denn ich!« rief er sofort. »Ich habe die junge Dame gestern zum ersten Male im Spielcasino gesehen.«

»Blond – hellblond – ein ganz auffallendes Goldblond!« erklang es von andern Seiten.

»Bitte, Messieurs, folgen Sie mir, ich habe etwas gefunden.«

Sie drangen ihm in das Gestrüpp nach, und selbst, daß der Steuermann noch neben dem Ligusterstrauch stand, hinderte den strebsamen Beamten nicht, sich nach wie vor im fremden Federschmuck zu zeigen.

Mit Wichtigkeit machte er die Herren auf ›seinen Fund‹ aufmerksam.

»Ja, ein Haar,« sagte der Polizeidirektor unruhig. »Aber das braucht doch nicht gerade der Toten angehört zu haben.«

»Vielleicht dem alten Hydrian!« spottete ein höherer Beamter.

»Unter den Leichenräubern befand sich eben auch eine Frau.«

»Das ist das auffallende Aschblond der jungen Deutschen.«

»Ah so! Die Bahre mit der Toten ist einfach hier vorbeigetragen worden, dabei ist das Haar an diesem dornigen Strauche hängen geblieben.«

»Nein,« erklärte aber der Beamte, der wie immer auch heute nacht die Leichenträger nach der Teufelsinsel begleitet hatte, »hier kommen wir niemals durch, hier kann sich ja auch niemand mit einer Bahre durchzwängen.«

Herrgott, waren diese Menschen dumm, daß sie dem Polizeidirektor immer widersprachen! Sie schnitten sich ja nur in das eigene Fleisch!

»Dann ist es eben hierhergeweht worden!! Was soll es denn nun eigentlich mit diesem Haare?«

Da ertönte ein langer Ruf des jungen, strebsamen Detektivs; diesmal hatte er wirklich eine selbständige Entdeckung gemacht, wozu freilich auch jeder andere befähigt gewesen wäre, er hätte nur zufällig dieselbe Richtung einschlagen müssen. Das ganze Verdienst bestand darin, daß er sich von den anderen Herren wieder getrennt hatte ... doch der Erfolg ließ nichts zu wünschen übrig, diesmal standen die Herren, als sie dem Rufe Folge geleistet hatten, von Entsetzen gefaßt da und blickten sich scheu um, als ob sie Gespenster witterten.

In dem noch etwas feuchten, vom letzten Regenguß angeschwemmten und noch nicht von Vegetation bedeckten Schlammboden war scharf und deutlich ein kleiner, nackter Menschenfuß abgedrückt!

»Das ist – das ist – die Fußspur von einem Kinde,« flüsterte der Polizeidirektor, brachte es aber kaum noch hervor.

»Bitte, von welchem Kinde denn?« ließ sich der Detektiv in spöttischer Überlegenheit vernehmen. »Nein, das ist vielmehr der kleine Fuß eines erwachsenen Weibes!«

»Wie gesagt, dann war unter den Leichenräubern eben auch ein ...«

Der Polizeidirektor brach ab. Er gab seine Bemühungen auf, die Sache auf eine andere Weise zu erklären, als er selbst sie sich dachte. Etwas anderes fiel ihm mit Schrecken ein, hastig zog er seine Uhr.

»Ob das Protokoll schon ...«

Da kam bereits Giuseppe wieder, welcher es nach dem Bahnhofe gebracht hatte. Er konnte nur melden, daß er den Zug noch habe abfahren sehen, der jetzt das Protokoll unwiderruflich nach Paris an das fürstliche Sekretariat brachte.

Das war schlimm!! In dem Bericht war ein Leichenraub gemeldet; man hatte sogar versichert, die Leiche sei schon in Verwesung begriffen gewesen, und jetzt drängte sich allen die felsenfeste Gewißheit auf, daß das junge Mädchen gar nicht tot gewesen, sondern sich wieder erholt hatte und auf der Insel umhergelaufen war.

»Hunde her!« ließ sich ein höherer Kriminalbeamter vernehmen. »Monsieur Cigalgi, schaffen Sie Ihre Hunde herbei!«

Giuseppe verließ die Insel zum zweiten Male, aber während er die Hunde holte, wollte keiner der Herren die Insel weiter durchstöbern. In stummem Schreck blickte man sich an.

»Sie war nur scheintot. Sie muß hier irgendwo liegen, oder sie hat sich später noch ins Meer gestürzt.«

So wurde schon geflüstert, und noch scheuer spähten die Blicke umher, ob nicht eine Gestalt im Leichenhemd aus dem Gebüsche auftauche.

»Nein, sie war tot, denn sie hatte Blausäure genommen!!« rief da aber der Arzt mit einer Wut, die schon mehr an Tobsucht grenzte. »Das ist die Fußspur von einer anderen Person! Das Mädchen war tot!!«

Was sollte man dazu sagen? Es gibt eben Menschen, welche durchaus recht behalten müssen. Wenn sie auf einem Vulkan stehen, von dem sie behaupten, er könne niemals wieder Flammen speien, und sie fliegen mit dem Vulkane in die Höhe, so behaupten sie noch in der Luft: Und er ist dennoch erloschen! Hoffentlich hatte der Arzt mit seiner hartnäckigen Behauptung diesmal recht.

Giuseppe brachte seine beiden großen Neufundländer, deren ausgezeichnete Nasen bekannt waren. Aber die Hunde waren kaum zu bewegen, die Insel zu betreten. Sie fingen derartig zu heulen an und gebärdeten sich überhaupt auf eine solche Weise, daß den Herren erst recht die Haare zu Berge standen, und kaum hatte Giuseppe die Tiere losgelassen, als sich beide schon ins Meer stürzten und der Küste zuschwammen.

Da holte Giuseppe auch noch seinen Mops, ein sehr gelehriges und kluges Tier. Er fühlte sich auf der Toteninsel ganz behaglich und zeigte durchaus keine Scheu – aber der verstand wieder die Spur nicht zu verfolgen, dazu war die Mopsnase nicht fein genug. Das ist in eben das Merkwürdige bei den Hunden, und daß ein guter Hund heult – oder heulen kann – wenn im Hause ein Kranker bald stirbt, das ist durch zu viele Beispiele bewiesen, als daß man dies noch ins Reich der Ammenmärchen verweisen könnte. Das Tier ahnt nicht, sondern seine feine Nase riecht etwas – vielleicht das, was man den Todesschweiß nennt.

Wenn auch alle diese Männer nicht an Geister glaubten und sich sonst nicht vor Toten fürchten mochten – sie befanden sich auf einer Toteninsel, und wer sich auf einem Friedhof völlig frei von gewissen Gedanken fühlt, der ist nicht nur ein gefühlloser, sondern auch ein geistig beschränkter Mensch.

Hier aber lag noch etwas anderes vor. Das Benehmen der Hunde war auch nicht gerade ermutigend gewesen – und jetzt wurde es noch dazu dunkel.

Doch es half alles nichts, erst mußte die Insel schnell noch einmal abgesucht werden. Die Herren redeten einander vor, daß dies ihre Pflicht sei. Sie bildeten aber nur zwei Gruppen, deren eine wiederum aus dem Kapitän, seiner Ordonnanz und dem jungen Steuermann bestand.

Nach zehn Minuten trafen alle schon wieder zusammen. Die Nacht brach an und hätte jetzt auch ein Suchen mit Lichtern unmöglich gemacht.

Es mußte angenommen werden, daß die zum Leben Wiedererwachte den Tod im Meere gesucht und gefunden hatte. Wenn der Leichnam morgen nicht hier zwischen den Felsen eingekeilt gefunden wurde, so konnten die Fischer ganz genau bestimmen, wo er dann in den nächsten Tagen an der Küste angeschwemmt werden würde. So lange mußte man warten.

»Es ist nötig,« begann der Polizeidirektor, »daß wenigstens heute nacht außer dem Totengräber noch jemand von uns hier ...«

»Ich bleibe, nicht auf der Insel, nicht heute nacht und niemals mehr!« fiel sofort der alte Hydrian ein, der plötzlich das Gras wachsen hören konnte.

»Warum denn nicht?«

»Ich tu's eben nicht, und wenn mir auch alle Schätze ...«

»Dafür werden Ihnen gar keine Schätze geboten, sondern das ist ganz einfach Ihre Pflicht, und tun Sie's nicht, dann sind Sie entlassen!«

»Mir ganz egal. Ich bleibe nicht mehr auf der Insel. Vor toten Leichen fürchte ich mich nicht, aber wenn sie wieder lebendig werden ...«

»Elende Memme!!« rief der Direktor verächtlich und wandte sich dann, ohne sich weiter um dm Totengräber zu kümmern, an die andern Beamten: »Ich bin heute nacht leider verhindert, sonst würde ich selbst gern hierbleiben und die Wache übernehmen, Monsieur Chevalier, Sie haben wohl die Güte ...«

»Bedaure sehr, Herr Direktor,« rief der Angeredete schnell, »ich habe heute nacht Dienst im Kasino, und das geht vor.«

»Dann Sie, Herr Trombetti, Sie sind heute nacht frei, wollen Sie ...«

»Mit dem größten Vergnügen, Monsieur Direktor, aber meine Frau ist krank ...«

So wäre es wohl noch eine Weile weitergegangen. Auch den sonst so strebsamen Detektiv schien der Diensteifer völlig verlassen zu haben, als es sich darum handelte, unter den jetzigen Umständen auf der Teufelsinsel eine einsame Nachtwache zu halten, wenn nicht von anderer, unerwarteter Seite ein freiwilliges Angebot gemacht worden wäre.

»Bitte, Herr Polizeidirektor, lassen Sie mich diese Nacht hier wachen,« ließ sich plötzlich der maskierte Kapitän vernehmen.

»Sie? Aber wie können wir denn das von Ihnen verlangen?!« erklang es halb erstaunt, halb freudig und auch etwas mißtrauisch.

»Ganz einfach, es liegt in dieser einsamen Nachtwache auf der Toteninsel für mich ein großer Reiz. Es ist schauerlich, ich gestehe es, aber so etwas liebe ich gerade, es reizt mich.«

»Ich verstehe Sie ganz,« beeilte sich der Direktor zu erwidern, »denn ich huldige ganz denselben romantischen Schwärmereien. Ich bedaure aufs lebhafteste, unglücklicherweise gerade verhindert zu sein. Jammerschade! Vielleicht bleibt aber doch einer der Herren zu Ihrer Gesellschaft ...«

»Nein, nein, dann hätte es für mich gar keinen Reiz mehr. Entweder ganz allein oder gar nicht. Also auch weder Giuseppe noch meine Ordonnanz bleiben – ganz allein muß ich mich der schaurigen Einsamkeit hingeben können.«

»Wie Sie wünschen. Ihr Wunsch hat uns ja überhaupt Befehl zu sein,« entgegnete der Direktor höflich, und mit einem Male zeigten alle diese Herren eine außerordentliche Neigung für das Romantische und Grausige und verliehen ihrem Bedauern Ausdruck, nicht ebenfalls solch eine einsame Totenwacht auf der Teufelsinsel halten zu dürfen.

Der Kapitän wollte gleich hier in der Nähe des Turmes bleiben, und nachdem er seiner Ordonnanz Instruktionen gegeben hatte, was sie ihm sofort aus dem Hotel hierherzubesorgen habe, verabschiedeten sich die Herren von ihm mit einigen der Situation entsprechenden Worten.

»Und Sie, Monsieur Starke?«

Selbstverständlich mußte der Steuermann sich zur Rückfahrt seines Bootes bedienen, und so kam es, daß er erst noch einige Zeit, wenigstens einige Minuten mit dem Kapitän allein auf der Insel blieb. Dann fuhr auch er ab und begab sich direkt an Bord seiner Jacht zurück.

Was der junge Steuermann während der wenigen Minuten mit dem maskierten Kapitän gesprochen hat und was er an demselben Abend von Mr. Carnegie, in dessen Diensten er stand, erfuhr, das braucht der geneigte Leser nicht zu wissen – darf es nicht, denn das würde alle Illusionen zerstören.

Er spielt in unserer Erzählung auch weiter keine bedeutsame Rolle, wir lassen ihn sogar absichtlich weg, wir brauchten ihn nur einmal, um ihn ein Gespräch zwischen dem maskierten Kapitän und dessen Ordonnanz belauschen zu lassen, welches Gespräch in der Erinnerung zu behalten, wir den freundlichen Leser schon baten, und später soll noch einmal ein interessantes Gespräch angeführt werden, das bei einer anderen Gelegenheit zwischen diesem Steuermann und Nobody stattfand, wovon aber nichts in den Tagebüchern des letzteren steht, eben deswegen mußte der junge Steuermann einmal handelnd auftreten.

Im übrigen wird der Leser später selbst herausfinden, wie dies alles gemeint ist, und wer sich speziell dafür interessiert, dem sei nur noch eine Andeutung gemacht: diesem Steuermann Starke übergab der amerikanische Detektiv Nobody später seine Tagebücher. Er konnte auf Grund von mündlichen Mitteilungen die trocknen Notizen zu einem erzählenden Ganzen vereinen.

Hiermit sei diese Angelegenheit erledigt, und wenn man das ganze Leben als ein Theaterstück betrachten kann, so wollen wir in demselben wie der die Zuschauer sein, und als solche dürfen und wollen wir doch auch gar nicht wissen, was hinter den Kulissen vor sich geht.

 

Eiligst hatten die Herren dem Landungsplatze ihres Bootes zugestrebt, um nicht länger im Finstern hier herumtappen zu müssen.

Auch Monsieur Hydrian hatte sich ihnen angeschlossen, er verließ die Insel für immer.

»Die Leiche des Alten hätte aber wenigstens erst begraben werden müssen,« meinte Wilm, als sie ins Boot stiegen.

»Die muß bis morgen früh liegen, so ist es Vorschrift,« wurde ihm kurz geantwortet.

Als er den Strand erreicht hatte, trollte Wilm sich sofort nach dem Hotel de Paris und häufte in einem großen Korbe alles zusammen, was zu holen er beauftragt war, und schlecht wollte sein Kapitän während der Leichenwacht nicht leben, Küche und Keller hatten das Beste hergeben müssen.

Auf dem Rückweg nach der Bootsstation belauschte der Matrose ein interessantes Gespräch, dem wir einige Worte vorausschicken müssen.

Wie erwähnt, wird in Monaco ein Selbstmord aufs peinlichste verheimlicht, schon aus Geschäftsrücksichten, und eben deswegen spricht auch nicht der darum wissende Einheimische über so etwas, weil seine Existenz auf die eine oder andere Weise doch ganz von dem Kasino und dem Fremdenverkehr abhängig ist.

Der Vorfall auf der Teufelsinsel aber konnte nicht totgeschwiegen werden. Der war gar zu ungeheuerlich und auch dem Monacascogner zu neu, da mußte er im Café und vor der Haustür darüber schwatzen, und den Anfang darin hatte der entlassene Totengräber gemacht. Da konnte es natürlich nicht bei nüchternen Tatsachen bleiben.

Auf dem Boulevard de la Condamine gingen zwei junge Monacascognerinnen, zwischen sich einen Wäschekorb tragend. Sie ahnten nicht, daß ihre Unterhaltung belauscht würde.

»Jede Nacht muß er ein junges Mädchen auffressen, sonst wird er gleich wieder alt,« hörte der Lauscher die eine sagen.

»Nur das Blut saugt er ihr aus, denn er ist ein Vampir,« korrigierte die andere die Kollegin.

»Ja, aber dann frißt er sie auch noch vollständig auf, damit man gar nichts merkt,« verteidigte die erste ihre Ansicht, die selbstverständlich den geheimnisvollen Kapitän mit der Maske betraf.

»Juliette meinte doch, die Tote wäre wieder lebendig geworden.«

»Ach, was weiß denn Juliette!« erklang es verächtlich zurück. »Na ja, es mag schon sein, er versteht eben mit seinen Hexenkünsten die Mädchen, die schon tot sind, wieder lebendig zu machen, denn das müssen seine Opfer sein, wenn er ihnen das Blut aussaugt.«

»Wo mag denn aber die Tote jetzt liegen?« fragte die andere wieder.

»Die hat er einstweilen auf der Insel vergraben. Der taube Hydrian hat nur nichts davon gemerkt, und heute nacht holt der Kapitän sie wieder heraus und macht sie durch seine Höllenkunst wieder lebendig – siehst du, heute ist auch gerade Vollmond, den brauchen die Vampire immer.«

»Daß man ihn da nur auf der Teufelsinsel läßt!« schauerte das andere Waschmädel zusammen.

»Ja, wer weiß, wer das ist! Der hat hier eben zu befehlen.«

»Da ist man ja seines Lebens nicht mehr sicher!« flüsterte wieder die Ängstliche, scheu nach der eben auftauchenden Insel blickend.

»Ach, wir brauchen keine Angst zu haben,« tröstete die andere, »es muß allemal ein unschuldiges Mädchen sein.«

»Na, dann ist's wenigstens gut!« seufzte die Ängstliche erleichtert auf, wurde aber gleich von einem neuen Zweifel gequält: »Ja, woher soll er denn das aber wissen, das kann man einer doch nicht ansehen?«

»Das weiß der schon, dafür ist er ein Vampir, das ist doch kein gewöhnlicher Mensch, der hat sich dem Teufel verschrieben.«

»Daß aber so etwas erlaubt ist!« fing die andere wieder an.

»Na, wir werden noch etwas erleben! Wie die Mädchen hier verschwinden werden!«

»Wenn's aber nur unschuldige Mädchen sein sollen, wo will er die denn hier in Monaco herkriegen?« fragte die Ängstliche in gerechtem Zweifel.

»Nun ... nun ...«

Da die kluge Freundin keine Lösung dieser verwickelten Frage wußte, umging sie dieselbe ganz und gab der Sache eine andere Wendung, allerdings eine unklare.

»Zuerst holt er sie sich immer vom Friedhof,« sagte sie also. »Er gräbt sie aus. Wirklich lebendige sind ihm freilich lieber. Und weißt du, wer jetzt bei ihm zuerst darankommt?«

»Na? Doch nicht die Demoiselle Blanche, die aus dem Tabaksgeschäft?«

»Ah, die!« erklang es mit namenloser Verachtung. »Die ist ja schon Amme gewesen – und falsche Zähne hat sie auch. Nein, die Turandot, weißt du, die russische Prinzessin. Paß auf, was ich gesagt habe: das ist die erste, die lebendig verschwindet. Der saugt er erst das Blut aus – und dann frißt er sie natürlich, wie immer, ganz auf.«

So weit waren die beiden in ihrer Unterhaltung gekommen, als neben ihnen plötzlich eine dritte Person auftauchte, die ebenfalls einen Korb trug. Aber ein Waschmädchen war das nicht, vielmehr ein Matrose.

»He, ihr Jungfern, kommt ihr ein bißchen mit auf die Teufelsinsel?«

Die Matrosenmütze und die große Hornbrille sehen und aufkreischend davonjagen, das war eins. Denn diese X-Beine kannte man schon, sie brauchten gar nicht in Uniform zu stecken. Ein Wunder war es, daß die beiden Mädchen vor Schreck nicht gleich ihren Korb hatten fallen lassen. Da hatte man es ja! Da fing es schon an! Auch seine Matrosen mußten die Mädchen zu ihm locken, und das Schlimmste war dabei, daß der Vampir gar nicht so wählerisch zu sein schien, nämlich in Sachen der jungfräulichen Unschuld, wie die beiden Monacascognerinnen sich vorhin getröstet hatten.

Wilm kicherte leise vor sich hin und wanderte mit seinem Korbe am Ufer entlang, bis er wieder am Felsen der Arche Noah die Bootstation erreicht hatte, wo Giuseppe schon eine kleine Jolle bereithielt. Es ging sofort ab.

»Euer Kapitän ist ein mutiger Mann, daß er die ganze Nacht allein auf der Teufelsinsel bleiben will, noch dazu, wo gerade im Turm ein Leichnam liegt,« sagte Giuseppe unterwegs, »ein sehr mutiger Mann ist er.«

»Das wollte ich meinen!« entgegnete Wilm. »Gegen den sind wir alle zusammen Waschlappen, und wir – wir von der Heliotrop – wir sind doch lauter Jungens, welche sagen, daß sie mit ihrem Genick machen können, was sie wollen – und ein guter Kerl ist er dazu, unser Kapitän. – Oder, hm, glaubst du auch, daß unser Kapitän Leichen frißt?«

Der Jüngling ruderte im Stehen der Insel zu. Eben tauchte der Vollmond hinter den Bergkämmen der Seealpen auf; er beleuchtete ein lächelndes Gesicht.

Die Ordonnanz hatte zum Besorgen des Proviantes eine halbe Stunde gebraucht, und unterdessen mochte auch Giuseppe schon die abenteuerlichen Gerüchte über den mädchenfressenden Vampir zu hören bekommen haben.

»Ich weiß, was du meinst,« lächelte er. »Die Leute hier glauben an Vampire – weil nämlich unser Bischof selbst daran glaubt. Der hat sogar einmal von der Kanzel herab davon gesprochen und vor den Vampiren gewarnt. Es soll manchmal ganz gut sein, wenn das Volk seinen Popanz hat, wenigstens hier bei uns tut es oft sehr not, aber zu diesen Leuten gehöre ich nicht. Ich glaube auch nicht daran, daß ein alter Mann wieder jung werden kann.«

»Neeee??« sagte der dicke Matrose, nichts weiter. Desto länger aber kratzte er sich dann, nachdem er die bewimpelte Mütze abgenommen hatte, hinter den Ohren.

Die Insel war erreicht. Wilm hatte bereits eine Blendlaterne angesteckt.

»Ich bleibe nicht lange, gebe nur den Korb ab,« sagte er, sprang ans Ufer und suchte sich seinen Weg durch die Büsche.

Er kam denn auch so bald wieder zurück, daß er mit seinem Kapitän nichts Besonderes hätte besprechen können, und wir lassen die beiden nun nach dem Strande zurückfahren, ohne uns weiter mit der dicken Ordonnanz zu beschäftigen, was wir später um so mehr tun müssen, und gesellen uns dem maskierten Kapitän bei.

Hatte dieser die einsame Totenwache auf der Teufelsinsel wirklich nur deshalb übernommen, um, wie es im Märchen heißt, das Gruseln zu lernen? Oder hatte er einen anderen Grund?

Nur das eine sei betont, daß er bei dem Verschwinden des Mädchens seine Hand nicht mit im Spiele hatte, daß ihm vielmehr das Ganze selbst ein geheimnisvolles Rätsel war – was er freilich diese Nacht zu ergründen gedachte.

Vorläufig allerdings ließ er sich von diesem Vorhaben noch nichts anmerken.

Als ihn der Matrose nach einigen gewechselten Worten wieder verlassen hatte, leuchtete der Kapitän einmal mit der Blendlaterne, die ihm Wilm gebracht, in den Korb, welcher neben dem Turme niedergesetzt worden war, wühlte darin, stopfte sich eine kurze Pfeife, brannte sie an, ging in das Gemäuer und setzte hier die Lampe so hin, daß ihr Schein dem Toten direkt in das weißbärtige Antlitz fiel. Sinnend blieb der Einsame einige Zeit vor der Leiche stehen, dann begab er sich wieder hinaus und begann vor dem Eingänge auf- und abzugehen – mit der Regelmäßigkeit eines Seemannes, dessen Spuren zuletzt in den Deckplanken zu sehen sind, so gleichmäßig setzt er die Füße und dreht immer auf demselben Punkte um.

So also tat auch der maskierte Kapitän, stopfte, wenn es nötig war, eine frische Pfeife, und jedesmal, wenn er bei seiner kurzen Wanderung an dem offenen Eingange vorüberkam, warf er einen Blick auf den Toten – alles ganz automatisch.

Trotz der duftenden Blüten war es keine von Leuchtkäfern erfüllte Sommernacht. Im Gegensatze zu dem warmen, sogar heißen Tage war es jetzt ganz empfindlich kalt, wenigstens hier auf der Insel. Daß drüben auf dem Festlande auch die zartesten Pflanzen – mit Ausnahme der äquatorialen – selbst im Winter Blüten treiben, das machen nur die dunklen Kalkwände des steilen Gebirges, welche am Tage die Sonnenwärme aufsaugen und in der Nacht wieder ausstrahlen. Das wirkt aber nicht bis hierher.

Als im Hafen von Monaco die Schiffsglocken der Jachten die zehnte Stunde glasten, unterbrach der Kapitän seinen Spaziergang. Zuerst musterte er den Himmel.

Der Vollmond erstrahlte noch in vollem Glanze, aber von dort, wo der leise Wind herkam, stiegen am Himmel dunkle Wolken auf, und das schien dem einsamen Totenwächter gar nicht recht zu passen.

»O weh,« murmelte er, »mit Wolken hatten wir für diese Nacht freilich nicht gerechnet!«

Doch sie schienen ihm sonst keine Sorgen weiter zu machen. Er holte aus dem Turme die Lampe, nur zu dem Zwecke, um wieder in den Korb hineinzuleuchten. Er packte aus, setzte sich auf einen Stein und hielt sein Nachtmahl, wobei es ab und zu auch anhaltend ›gulkerte‹.

Zum Essen und Trinken mußte er wohl die Maske abgenommen haben, aber dennoch saß er dicht neben der Blendlaterne mit ihrem einzigen Strahle in vollkommener Finsternis.

Als er nach beendeter Mahlzeit wieder in den Mondschein trat, hatte er die schwarze Maske wieder vor dem Gesicht. Er setzte die Laterne in den Turm zurück und nahm seinen alten Spaziergang wieder auf, nur daß er jetzt dem Himmel mehr Beobachtung schenkte als zuvor.

Dieser bewölkte sich immer mehr, und um so besorgter schien der Kapitän zu werden, bis seine Gedanken in Worten laut wurden.

»Teufel, in einer Viertelstunde steht vor dem Monde eine schwarze Wolkenwand, und die geht bis morgen früh nicht wieder weg. Was soll ich da tun? Soll ich dann die Lampe als Leuchtfeuer aufstellen, daß der Schwimmende den Weg im Wasser nach der Insel nicht verfehlt? Das könnte Verdacht erregen.«

Hiermit hatte sich der einsame Totenwächter ein klein wenig verraten. Er wollte also nicht die ganze Nacht allein auf der Insel bleiben, er erwartete einen Besuch, und zwar einen Mann, welcher schwimmend die Insel erreichen würde.

Plötzlich schlug sich der Kapitän vor die Stirn.

»Ach, ich Narr!« lachte er ärgerlich. »Er will ja erst um eins kommen, weil da der Mond schon wieder untergegangen ist, er will ja also gerade völlige Dunkelheit haben. Überhaupt, was braucht denn ein Nobody Licht, um sich schwimmend hierherzufinden!«

Also kein anderer als Nobody war es, dessen nächtlichen Besuch der maskierte Kapitän hier erwartete, und zwar schwimmend würde er kommen!

Seit der Mahlzeit waren zwei Stunden vergangen, die tiefste Finsternis herrschte. Der Kapitän wanderte noch immer vor dem Turme auf und ab. Die Jachten glasten mit vier Schlägen Mitternacht; der einsame Nachtwandler blieb stehen.

»Die Geisterstunde hat begonnen,« flüsterte er. »Wenn es nur wirklich Geister gäbe, welche mich hier ...«

Erschrocken brach er ab, und auch jeder andere Mensch wäre von einem tödlichen Schrecken befallen worden, oder es wäre kein Mensch gewesen.

Ein unheimlicher Ton durchdrang die Nacht. Es war ein quiekendes Kreischen, durch Mark und Bein gehend, und hier in seiner dichtesten Nähe war es erschollen, förmlich an seiner Seite.

»Nobody, macht keinen ...«

Der Kapitän der Heliotrop mußte einen triftigen Grund haben, nicht glauben zu können, daß ihn der Erwartete mit Geisterspuk foppen würde, er schien den Gedanken an so etwas sofort aufzugeben.

Da noch einmal dieses entsetzliche Kreischen, das gar nichts Menschliches an sich hatte, und jetzt hatte es der Kapitän ganz deutlich gehört, es konnte nur aus dem Turme selbst kommen – und gespensterfrei war der Kapitän der Heliotrop, das zeigte sich schon daraus, daß in seiner Hand plötzlich der Lauf eines Revolvers blitzte, als er nach dem Eingange des Turmes sprang, um die Ursache des Geräusches zu erfahren.

»Wer da?«

Nichts! Still lag der Tote da. Die Lampe flackerte nicht, um den eingefallenen Zügen Leben zu verleihen, und der schauerliche Ton wollte sich nicht zum dritten Male wiederholen, wie der Maskierte auch wartete.

Aber hier drin mußte es gewesen sein, er hätte darauf schwören mögen.

Da ... diesmal ein Seufzer ... ganz vernehmlich ... und wiederum in diesem Raume!

Der alte Mann freilich regte sich nicht, der war tot!

»Wer da?«

Keine Antwort. Nur die Turmmauer gab dröhnend den Ruf wieder.

Der Maskierte nahm die Blendlaterne, leuchtete umher, auch unter die Pritsche – nichts war zu entdecken.

Doch da, gerade als er sich wieder aufrichtete, erscholl noch einmal in seiner dichtesten Nähe derselbe Seufzer!

Der Kapitän hatte sich gerade vor dem Toten befunden, ihn angeblickt – nein, von diesem konnte der ächzende Seufzer nicht kommen – hinter dem Kapitän war er erklungen. Blitzschnell wandte er sich um – wieder nichts zu sehen!

»Hier ist jemand!! Wer du auch seist, zeige dich!!!«

Vergebens, es erschien nichts, und jetzt wollte sich auch der Seufzer nicht wiederholen.

Courage hatte der Kapitän von der Heliotrop!

Im Turme selbst war der geisterhafte Laut auf alle Fälle erklungen, denn der schwache Seufzer hatte sogar ein leises Echo gehabt. Aber er konnte auch oben im Turme ausgestoßen worden sein; infolge der Akustik war er nur scheinbar hier unten erklungen. Der Kapitän stieg also die Wendeltreppe hinauf, in der linken Hand die Laterne, in der rechten für alle Fälle den schußbereiten Revolver.

Es sah hier oben gerade noch so aus, wie heute mittag. Der Totengräber hatte alle seine Habseligkeiten im Stich gelassen.

Schon wollte der Kapitän die zweite Treppe betreten, um auch in der unbenutzbaren Etage Umschau zu halten, als sein Fuß förmlich am Boden wurzelte.

Da erklang abermals der Seufzer, jetzt aber unten, lauter denn zuvor – jetzt mußte unbedingt etwas unten sein! – und da war auch schon wieder das entsetzliche schrille Kreischen – das Echo gellte nach ...

Zu allem entschlossen, eilte der Maskierte wieder die Treppe hinab. Jetzt mußte er etwas zu sehen bekommen, oder es war ein Trugspiel der Hölle – und er bekam es zu sehen ... und die Laterne entfiel seiner Hand!

 

Die Nacht rang noch mit dem grauenden Tage um die Herrschaft, als einige in Mäntel gehüllte Männer den Strand entlangschritten, gefolgt von vier Arbeitern, welche zwischen sich zwei große, lange Gegenstände trugen, und mochten diese auch noch so sorgfältig verhüllt sein, so erkannte man doch gleich, daß es nur zwei Särge sein konnten.

Neben Giuseppe wartete in der Felsenecke schon Wilm auf die Kommenden.

»Waren Sie schon drüben?« wurde er von dem Polizeidirektor gefragt.

»Nein. Warum? Der Kapitän könnte schlafen, und was soll ich ihn da stören.«

Die Särge, zur Aufnahme der beiden Leichen bestimmt, wenn auch die eine fehlte, wurden verladen. Die Beamten nebst Wilm bestiegen ein besonderes Boot und ließen sich schon vorher hinüberrudern.

Auf der spiegelglatten Meeresfläche sah man die Schatten der Nacht mit Blitzesschnelle zurückfliehen, ebenso schnell von dem Tageslicht verfolgt. Man kann dieses wundersame Schauspiel jeden Morgen ganz deutlich beobachten, und dann mit einem Male lag die taufrische Insel im Sonnenlichte da.

Sie stiegen an Land. Es war ein nasser Weg bis zum Turm. Dort stand der Korb mit geöffnetem Deckel, der Kapitän war nicht zu sehen.

»Monsieur Kapitän?!«

Keine Antwort.

»Er wird im Turme schlafen,« hieß es.

»Bei der verwesenden Leiche?«

»Er wird unten am Meere sein,« meinte Wilm.

»Ganz gewiß badet er sich, das liebt er bei Sonnenaufgang, und wenn er sich auch erst das Eis aufhacken muß.«

Der Polizeidirektor schritt schnell dem Turmeingange zu, hoffend, daß sich über Nacht die weibliche Leiche wieder eingestellt haben wurde.

Er kam nicht ganz hinein, nur einen halben Schritt, dann stand er wie eine Bildsäule da, nur daß seine Augen immer weiter herausquollen, bis sie die Höhlen verlassen wollten, und dann drehte er sich mit einem gellenden Schrei um, rannte einen Herrn gleich über den Haufen, stürzte selbst und brüllte, am Boden liegend, immer weiter.

Wer weiß, was geschehen wäre, wahrscheinlich wäre es zu einer allgemeinen, panikartigen Flucht gekommen, wenn nicht auch Wilm gleich in die Tür gesprungen wäre. Da aber nun der Matrose ruhig in dem Eingange stehen blieb, so konnte sich im Innern wohl kein wildes Tier oder etwas anderes Entsetzliches aufhalten, und so traten auch die übrigen Herren, freilich mit klopfendem Herzen, näher, um zu erforschen, wovor sich denn Monsieur le Directeur so entsetzt habe, denn der brüllte noch immer wie ein gefällter Stier aus Leibeskräften.

Da aber begannen auch den anderen Herren die Augen herauszuquellen; nur wenige waren noch fähig, vor ihrer Brust ein Kreuz zu schlagen, und dem Matrosen erging es nämlich nicht anders; auch Wilm stand wie vom Donner gerührt da.

»Heilige Jungfrau, stehe uns bei!!« ächzten die Franzosen und Italiener.

»Heiliger Klüverbaum und Bramsteng, kratzt mich denn nur der Affe?!« machte der dicke Matrose seinen Empfindungen Luft.

Auf der Pritsche lagen jetzt zwei Tote im Leichenhemd.

Aber nicht etwa, daß die verschwundene Leiche des Mädchens wiedergekommen wäre, sondern die zweite Gestalt, welche lang ausgestreckt neben dem alten Manne lag – das war ebenfalls ein Mann, mit einem mit einem langen Leichenhemd angetan, und auf diesem sah man einen großen, schwarzen Stempel, den Stempel des Polizeihospitals, welches die Leichenhemden für die Selbstmörder liefert.

Und was war denn das? – das schwarze Gesicht – und unter dem weißen Hemd blickten Stiefel hervor ...

»Kapitän – herrjeh nochmal! – konntet Ihr Euch denn gar keinen anderen Platz zum Schlafen aus ...«

Dem dicken Matrosen blieb das letzte Wort in der Kehle stecken.

Ja, warum aber hatte denn der Kapitän ein Leichenhemd angezogen? Und wie kam er denn überhaupt zu diesem Hemde? Und seltsam, wie er dalag! So starr! Selbst die Finger so steif ausgestreckt! Überhaupt eine ganz auffallende, unnatürliche Lage! Wie ein vom Starrkrampf Befallener!

»Kapitän – um Gottes willen! – was ist denn nur mit Euch los?!« hauchte Wilm mit bleichen Lippen.

Auf den Fußspitzen schlich er sich näher und beugte sich über den Regungslosen.

»Kapitän, schlaft Ihr denn nur so fest?« erklang es immer ängstlicher.

Da sah Wilm in den Löchern der Maske die Augen stier ins Leere gerichtet.

»Der Kapitän ist tot!!!«

Mit diesem gellenden Schrei prallte der Matrose zurück und blieb mit zitternden Gliedern an der Wand lehnen.

Jetzt war es der Arzt, welcher couragiert an die Pritsche trat, und auch er sah die starren Augen, er nahm die so seltsam ausgestreckte Hand ...

Das heißt, er wollte sie nehmen, er berührte sie nur – und in demselben Augenblicke, da seine Fingerspitzen die Hand berührten, schnellte der Kapitän, wie von einer Sprungfeder abgeschleudert, empor und stürzte im Leichenhemd hinaus, vor dem Turme wie ein Wahnsinniger auf- und abrennend, stöhnend, ächzend, brüllend, unzusammenhängende Worte ausstoßend.

»Das Leichenhemd ... das Leichenhemd ... so reißt mir doch nur das Leichenhemd ab!! ... Wo ist der Fürst ... ich muß gleich den Fürsten sprechen ... ich habe etwas Furchtbares zu berichten ... ich habe etwas Fürchterliches erlebt ... fort, fort von hier!!! ... So reißt mir doch das Leichenhemd ab, ich kann es ja nicht selbst!!!«

»Na, wenn der Kapitän nur wenigstens lebt, dann geht ja noch nichts schief!« jauchzte da plötzlich Wilm auf, sprang hinzu, packte das Hemd, es riß und blieb in seinen Händen zurück, gleichzeitig stürzte aber der Kapitän, wie von Furien gepeitscht, davon.

Wie die Herren plötzlich an den Landungsplatz der Boote gekommen waren, das wußte dann keiner mehr zu erzählen, und da sahen sie schon den maskierten Kapitän in jenem Boote, welches die Särge gebracht hatte, mit aller Macht dem Ufer zurudern, und als er dieses erreicht hatte, sprang er ebenso hastig heraus und stürzte davon, der Richtung nach Monte Carlo zu, ohne sich noch einmal umgeblickt zu haben.


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