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Der Karfunkel.

Laubhüttenfest war wieder ins Land gekommen.

Kluge Bauern in den benachbarten Dörfern mußten schon einige Tage früher aus ihrem Kalender erfahren haben, daß die »grünen Feiertage« der Gasse bevorstanden, und hie und da hatte einer zu seinem Knechte gefügt: »Fahre in den Wald hinaus und hole Tannenreisig, drin in der Stadt die Juden werden es jetzt brauchen.« Und der Knecht war in den Wald hinausgefahren, wo die immergrünen Tannen wachsen, und hatte da mit seiner Axt die Bäume ihres Schmuckes beraubt. Ob er dabei wohl dachte, wie sonderbar das Geschick es gefügt habe, daß er, der blondköpfige Junge aus dem Stamme der Tschechen, in den Wald hinausgehen mußte, um Tannenreisig für diejenigen zu holen, die schon vor fast viertausend Jahren mitten in einer arabischen Wüste grüne Laubhütten aufgerichtet hatten? Wer diesen Knecht wohl hätte anhalten und zu ihm sagen mögen: Was du jetzt gedankenlos um feilen Lohn tust, das wird einst werktätige Brüderlichkeit mit freiem Bewußtsein gewähren. Es wird eine Zeit kommen, wo der eine Glauben seine Freude daran finden wird, die Feste des anderen zu schmücken? ...

In dem Vorhofe eines Hauses, das nahezu am Ende der Gasse liegt, da wo der Garten des Grafen mit dem herrlichen Schlosse darin sich erhebt, waren zwei Männer damit beschäftigt, an eine Laubhütte, die bereits gezimmert und festgefügt dastand, die letzte Hand zu legen.

Der eine von ihnen, um ein Bedeutendes jünger als der andere, stand auf einer Leiter und nahm die Tannenreiser entgegen, die ein starkknochiger, weit über die gewöhnliche Größe aufstrebender Mann ihm bot, und schichtete sie übereinander, so daß sie bereits jetzt schon das grüne Dach der Laubhütte bildeten.

Daß wir es nur in aller Eile sagen: Der eine von den beiden Männern war David Brod, der Gemeindevorbeter, der andere seine unentbehrliche Ergänzung, Feiwelmann »Baß«, was aber nicht so sehr sein wirklicher Familienname, als vielmehr die Bezeichnung seines Lebensberufes war; denn auch er war von Natur ein Sänger, und zwar ein »Baß« von so gewaltiger Breite, Tiefe und Höhe, daß darin alles aufgegangen war, was sonst an einen Menschen gemahnt: Land und Geburt, Familie und Charakter.

Mit einem Male hielt der »Baß« in seiner Beschäftigung inne, er wischte sich von der Stirne den Schweiß und seufzte tief auf.

»David Brod,« fügte er nach einer Weile, »es ist mir da wieder eingefallen, wie ich doch eigentlich zu keinem Baß geboren bin. Aus mir hätte etwas anderes werden sollen. Ich weiß nur nicht was!«

»Wie fällt dir diese Narretei gerade jetzt ein?«

»Das will ich dir sagen, David, aber du mußt mich erst besinnen lassen.«

Ein Zug träumerischen Sinnens legte sich um die braunen Augen des »Baß«, aber der, zu dem er geredet hatte, schien darauf kein besonderes Gewicht zu legen.

»Wenn du so dastehst, Baß,« meinte er, »so wird unsere Laubhütte noch lang' darauf warten müssen, bis sie von sich sagen kann: Ich bin fertig.«

»Laß mich nur erst besinnen, David,« rief der Baß von der Höhe seiner Leiter.

Statt aller Antwort reichte ihm der Vorbeter ein Tannenreisig hinan, welches der Baß unwillkürlich entgegennahm.

Augenblicklich verschwand der Zug träumerischen Brütens aus dem Antlitz des »Baß«.

»David Brod,« rief er, und auf seinem breiten Gesichte leuchtete und funkelte etwas wie vom Abglanze eines in weiter Ferne lohenden Feuers, »jetzt ist es mir eingefallen.«

»Deine Narreteien, Baß,« meinte David halb verdrießlich, halb lachend, »sind wie Fliegen im Sommer. Du kannst sie hundertmal fortjagen, sie kommen doch wieder.«

»Ist es meine Schuld, David Brod,« rief der Baß mit einem tiefen Seufzer, »wenn ich nichts anderes geworden bin, als was ich gegenwärtig bin? Wie du weißt, bin ich von draußen ›aus dem Reich‹, aus Bayern, und mein Vater selig ist ein Hausierer gewesen, was man bei euch hierzulande einen ›Dorfgeher‹ heißt. Wie ich noch ein Kind war, da hat mich dieser Vater selig oftmals auf seinen Wanderungen mitgenommen, damit ich mich frühzeitig gewöhnen sollte, wie man mit Kunden umgeht. Da sind wir häufig durch einen Wald mit lauter Tannen und Fichten drin gekommen. David Brod! wenn es Sommer oder Frühling war, am schönsten war es aber im Herbste, da kann ich dir nicht sagen, wie mir jedesmal um das Herz herum ward, wenn ich in diesen Wald eingetreten bin. Ich habe schier geglaubt, ich komme nicht mehr aus dem Walde heraus. ›Feiwelmann, mein Kind,‹ hat mein Vater selig zu mir gesagt, ›was bleibst du vor jedem Baume stehen? Was siehst du an einem Baume? Kannst du von so einem Baume leben?‹ Überhaupt weiß man niemals, was in so einem Wald alles vorgehen kann; schon beim bloßen Namen Wald rinnt mir ein Schauer über den ganzen Leib. Und dann! wie willst du ein guter Kaufmann werden, wenn du vor jedem grünen Baum stehen bleibst?«

»Du bist ja auch keiner geworden,« fiel David Brod ein.

»Einmal, wie ich mit dem Vater selig wieder im Walde war, da weiß ich nicht, wie es über mich gekommen ist. Vögel haben in den Zweigen gesungen, und da hat es mich von innen heraus genötigt, mitzusingen. Da hat mein Vater selig den Pack mit Waren von seinen Schultern abgeworfen und hat mir zugehört. ›Feiwelmann, mein Kind,‹ hat er dann gesagt, ›in dir steckt so wenig ein Kaufmann als in dem Baum da, du mußt ein Sänger werden!‹ Und so bin ich als ›Fistel‹ zu dem berühmten Vorbeter Süßkind Schwab nach Fürth in die Lehre gekommen. Später ist ein Baß aus mir geworden.«

»Wie kommt da eins zum andern?« murmelte David Brod sehr vernehmlich vor sich hin.

»Auf das Laubhüttenfest freu' ich mich immer zumeist,« fuhr der Baß fort. »Wenn ich so mit dir in der ›Schul‹ stehe, und wir singen miteinander, und auf einmal fällt mir ein: Draußen auf den Laubhütten liegt das grüne Tannenreisig ... da ist es mir gerade, als käme der merkwürdige Geruch aus dem Wald in meine Kehle, und ich singe noch einmal so schön. Als wenn ich mit meinem Vater selig wieder in jenem Walde stehen und mit den Vögeln singen möchte!«

In diesem Augenblicke wurden die beiden durch den Gesang eines Kindes unterbrochen. Er kam aus dem Innern der Laubhütte und konnte eigentlich nicht Gesang genannt werden. Es war eine uralte Melodie, wie sie in der Synagoge gesungen wird an jedem Freitagabend, so oft man die Ankunft des Sabbats feiert; aber die Art und Weise, wie sie das Kind zum Ausdruck brachte, trug ein merkwürdiges Gepräge von selbständiger Wiedergabe an sich; es war die uralte Melodie, und sie war es wieder nicht; es war ein funkelnd neues Gewand mit allerlei blendendem Aufputz daran, aber erst wenn man genauer hinsah, entdeckte man, daß es der Stoff eines Kleides war, dessen Fäden vielleicht an den Weiden des Euphrat gesponnen worden waren. Wo die Melodie, gleichsam wie aus einem Traume heraus, lang gezogene Töne, die sich nur mühselig der Kehle entrangen, erforderte, da brachte das Mädchen kurze Triller an, und im Gegenteil, wenn die alte Volksweise, gleichsam aufjauchzend einen raschen Fortgang vorschrieb, klang es, als ob eine Menschenbrust den tiefsten Ausdruck für ein trauriges, fast unsagbares Geheimnis gefunden hätte.

Die beiden Männer hatten währenddem ihre Arbeit unterbrochen, keiner rührte die Hand.

»Hast du sie gehört, Baß?« fragte endlich flüsternd David Brod.

»Wer denn soll sie gehört haben?«

»Man erkennt fast nicht, was sie gesungen hat. Ich möchte nur wissen, warum sie so und nicht anders singt?«

»Du wirst an dem Kinde noch manches nicht erkennen!« sagte der Baß mit einem gewissen geheimnisvollen Ausdrucke und schwieg.

Denn indessen war die schlecht angelehnte Türe, die in das Innere der Laubhütte führte, mit Heftigkeit geöffnet worden und ein etwa dreizehnjähriges Mädchen zum Vorschein gekommen.

War das Kind wirklich dreizehn Jahre alt? Die Kleinheit seiner Gestalt ließ allerdings auf keine höhere Zahl von Jahren schließen. Wenn man aber den unverhältnismäßig großen Kopf, den dicke, ungeordnete schwarze Flechten umrahmten, näher betrachtete, und dabei in die fast alles Maß überschreitenden dunkeln Augen blickte, dann wurde man auch kirschenrote Lippen gewahr, die fast übermütig einen wohlgeformten Mund mit weißen Zähnen umgaben, und mußte sich sagen, daß das angebliche Alter des Kindes eine in den Wind gesprochene Lüge war.

»Vater,« sagte das Mädchen, »du meinst gewiß, unsere Laubhütte ist die schönste in der ganzen Gasse? Und du bildest dir noch zuletzt etwas darauf ein?«

»Ist sie denn nicht ganz besonders schön?« fragte David Brod, »der reichste Mann in der Gasse, zum Beispiel Mendel Prager, kann auch keine schönere haben.«

Das Kind lachte hell auf, wobei sich um die roten Lippen ihres Mundes ein Zug wie von hochmütiger Bosheit einstellte.

»Das nennst du schön?« rief sie. »Die ganze Pracht deiner Laubhütte besteht ja in nichts anderem als in vergoldeten Nüssen und Zwetschken, die du droben in das Reisig steckst ... Das soll schön sein? Ich aber meine, es gibt einen Unterschied zwischen schön und schön« ...

»Wie soll ich es denn anfangen, Ella, mein Kind?« sagte David Brod. »Alle Tage meines Lebens habe ich gehört, daß es gar nichts Schöneres und Prächtigeres für eine Laubhütte gibt, als vergoldete Nüsse und Zwetschken. Sehen sie denn nicht wie Gold aus?«

Wieder schlug das Kind ein helles Gelächter auf.

»Das soll Gold sein?« rief es. »Ich meine ja auch nicht, daß du goldene Äpfel und Nüsse in deiner Laubhütte haben sollst, Vater. Aber es fehlt etwas darin, was man haben kann, und was schöner ist, als all dein Gefunkel, woran eigentlich nichts ist.«

»Und was soll das sein?«

»Blumen, Vater, Blumen,« schrie das Mädchen überlaut, »schöne große Tulipanen und Rosen und Lilien, und was weiß ich noch alles.«

»Blumen?« meinte David Brod verblüfft, »wo soll ich Blumen hernehmen? Hab' ich denn einen Garten?«

»Das ist deine Sorge, Vater?« rief das Kind wieder hell auflachend. »Wozu ist denn der Garten des Grafen da?«

»Ella!« schrie David Brod, der Vorbeter, mit allen Zeichen des Schreckens. »Du möchtest in den gräflichen Garten gehen, um Blumen zu holen?«

»Warum nicht, Vater?« lachte Ella und schlug die Arme keck in die Seiten.

»Du möchtest in des Grafen Garten gehen!?« wiederholte David Brod in steigender Verwunderung.

»Ich möchte nicht, Vater,« höhnte das seltsame Kind lachend, »aber ich gehe schon.«

Ella war aus dem Bereiche der Laubhütte entschwunden, noch ehe ein einziges Wort ihres Vaters sie zum Gehorsam bannen konnte.

»Baß! was sagst du zu dem Kinde?« meinte David Brod, indem er seinem Genossen eine volle Last Tannenreisige zureichte. Mit einer Art wilder Heftigkeit, die jeden andern, nur nicht David Brod erschreckt hätte, der die Empfindungsweise seines Sangbegleiters schon hinreichend kannte, hatte dieser die ihm entgegengereichten Reisigbündel ergriffen und auf das Dach der Laubhütte geworfen.

»Er fragt mich, was ich zu dem Kinde meine?« rief er. »Und früher, wie das Kind gesungen hat, hat er mich wieder gefragt, warum sie so und nicht anders gesungen hat, warum sie nicht so singt, wie sie es von David Brod und seinem Baß hört. David Brod! siehst du denn nicht ein, daß dir Gott ein merkwürdiges Kind beschert hat?«

Folgen wir dem Mädchen.

Gleich hinter der »Gasse«, da wo ihre letzten Häuser stehen, nur durch einen kleinen Bach getrennt, erhebt sich, von einem weitläufigen Garten umgeben, das Schloß des Grafen. Es ging wie eine dunkle Sage in der Gasse umher, daß der jetzige Bewohner des Schlosses ein menschenscheuer, düsterer Mann sei, den in seiner Jugend ein großes Unglück getroffen hatte. Auf einer seiner »Herrschaften«, die er tief im Böhmerlande besaß, habe er die Tochter eines seiner »Randare« geliebt, die er zur Gräfin habe erheben wollen. Die Sage hatte sogar den Namen der schönen Randarstochter aufbewahrt, sie hieß »Genenda«. Die gräflichen Eltern aber, als sie den Willen ihres Sohnes erfahren, hatten sich nach Wien zum Kaiser begeben, und es da durchgesetzt, daß der junge Graf in ein fernes Land, man sagt, weit über das Weltmeer geschickt wurde. Als er von dort zurückkehrte, weil mittlerweile der alte Graf gestorben, war es das erste, daß er sich nach jener Randarstochter erkundigte. Es war mitten in einem Walde, und in dem Walde war ein tiefer Teich. Da zeigte ein alter Jägersmann, der an seiner Seite ging, nach dem Weidengebüsche hin, das den Teich rings umfaßte, und sagte bloß: »Dort hat man sie gefunden!« Der Graf war unverehelicht geblieben.

Das Kind des Vorbeters war in eiligem Laufe hinter den letzten Häusern der Gasse über die Brücke gekommen, die den kleinen Bach überwölbt, und stand bereits vor dem Schloßgitter. Es war weit offen; niemand zeigte sich auf dem von Statuen und allerlei verschnörkelten Bauwerken umgebenen großen Hofe, der das Schloß von dem Garten schied. Hoch aufgerichteten Hauptes, als fühlte es sich in der wildfremden Umgebung ganz zu Hause, schritt das Kind über den Hof und kam in den großen Garten, der sich nun geheimnisvoll weit und dunkel vor ihr auftat. Aber auch da fühlte Ella kein Bangen; sie war in einen dunkeln Baumgang gekommen, wo die ineinander gewachsenen Äste mit ihrem grünen Laube eine fast unheimliche Finsternis bildeten. Sie aber war mutig und unbeengt; sie schritt weiter und immer weiter, bis sie das Ende des finsteren Laubganges erreicht hatte. Ein Weiher mit grünlich-schwarzem Gewässer lag vor ihr; ein Springquell erhob sich mitten darin, der aus dem Munde eines greulich gestalteten steinernen Ungeheuers aufsprang, das bis zur Oberhälfte seines Leibes aus dem Wasser hervorragte, während zur Rechten und zur Linken zwei kleinere Ungeheuer mit übermäßig aufgeblasenen Backen kleinere Springfluten in die Höhe warfen. Ella war einen Augenblick stehen geblieben. »Sollen das die Söhne von dem Alten in der Mitte vorstellen?« fragte sie sich leise, und sinnend lagen eine Weile lang ihre Augen auf der steinernen Gruppe in der Mitte des Weihers.

Plötzlich ward sie durch ein Geräusch aufgeschreckt, das von einer im dunkeln Baumgang zu Boden gefallenen Frucht herzurühren schien. Sie blickte auf. Da stand ein schwarz gekleideter Mann, der ein Buch in den Händen hielt, vor ihr. Auch jetzt kam kein Bangen und Fürchten über die mutige Seele des Kindes, trotzdem Ella keinen Augenblick in Unsicherheit darüber war, wen sie vor sich hatte. Es war der Graf selbst.

»Was willst du hier?« fragte er mit tonloser Stimme, die Augen fest auf das Antlitz des Kindes gerichtet.

»Ich brauche Blumen für unsere Laubhütte,« meinte Ella und stockte.

»Und die kommst du aus meinem Garten zu holen?« rief der Graf, und ein sanftes Lächeln hellte die ernsten Züge auf. »Für wen hältst du mich denn?«

»Für einen Grafen!« sagte Ella.

»Also weil ich ein Graf bin, muß ich dir erlauben, Blumen aus meinem Garten für deine Laubhütte zu holen?«

Ella nickte fast unmerklich mit dem Kopfe. Dann meinte sie: »Kann ich etwas dafür, wenn mein Vater keinen Garten hat?«

Der Graf faßte das Kind aus der Gasse schärfer ins Auge. War es die eigentümliche Weise, wie sie eine schuldige Antwort in eine Frage verkehrte, war es der flammende Ausdruck ihrer Augen, der über ihr sonst unschönes Antlitz eine so merkwürdige Beleuchtung warf? Es währte eine geraume Weile, bis er wieder fragte:

»Wer sind denn deine Eltern, Kind?«

»Meine Mutter ist gestorben, aber mein Vater ist Vorsänger in der Synagoge.«

»Du willst wohl sagen: Vorbeter,« meinte der Graf mit einem leisen Anfluge von Hohn; »denn von Singen wird wohl in Eurer Synagoge kaum die Rede sein können. Ich kenne dieses Singen.«

»Mein Vater ist Vorsänger,« rief das Kind mit erhöhter Stimme, »und wenn er den ›Baß‹ neben sich hat, so klingt es außerordentlich schön. Man kann gar nichts Schöneres hören.«

Der Graf lächelte wieder.

»Kannst du auch singen?«

»Warum soll ich nicht singen können?«

»So singe mir etwas vor.«

»Was soll ich singen?«

»Etwas aus deiner Synagoge!« sagte der Graf nach kurzem Überlegen.

Wer möchte bestimmen wollen, was in der Seele dieses Kindes gerade jetzt vorging? Warum sich ihm gerade jene uralte Weise aus der Synagoge, die es vor kurzem in der Laubhütte gesungen, wieder auf die Lippen drängte? Dabei gewährte das ganze Wesen Ellas einen Anblick höchst seltsamer Art; es schien um ein Bedeutendes in die Hohe gewachsen; die schmutzigen Gewänder, in die es gehüllt war, verschwanden gleichsam an ihm, es schien, als ob alles Unschöne von ihm abgefallen sei und übrig geblieben war nur die uralte Synagogenmelodie, der ihre Stimme mit ihrem lerchenhaften Aufjauchzen eine ungeahnte Beredsamkeit verlieh ...

»Wie heißest du, Kind?« fragte der Graf.

»Sie heißen mich Ella.«

Dem Grafen war das Buch, das er in Händen gehalten, entfallen.

Ella bückte sich, um es aufzuheben. Da geschah es, daß sie mit ihrem Kopfe unter die Hände des Grafen geriet.

»Ella heißen sie dich?« rief er, und er faßte nach dem von schwarzen Flechten umrahmten Kopfe des Kindes. Dann sah er ihr lange in die Augen, die einen so wunderbaren Gegensatz zu ihrem kindlichen Wesen bildeten.

»Ella heißest du?« wiederholte er nach einer Weile. »Das ist ein schöner Name! Aber du selbst bist nicht schön! Deine Schönheit liegt ganz anderswo, und an mir wird es sein, diesen versunkenen Karfunkel aus seiner schmutzigen Umhüllung in die ihm gebührende Einfassung zu bringen.«

Diese Worte hatte der Graf mit flüsternden Lippen, fast unvernehmbar gesprochen; dennoch war keines dem feinen Gehöre des Kindes entgangen.

Mit einer heftigen Bewegung wandte er sich dann von Ella ab.

»Gehe jetzt dort in jenes Haus, wo der Gärtner wohnt,« sagte er mit gänzlich verändertem Tone, indem er gebieterisch die Hand nach einem am Ausgange des Gartens liegenden Häuschen ausstreckte, »und sage ihm, er möge dir so viel Blumen für deine Laubhütte geben, als deine Schürze fassen kann. Von mir sollst du noch weiter hören.«

Eine Viertelstunde darauf kam das Kind des Vorbeters, die Schürze hochauf mit Blumen gefüllt, atemlos, mit brennendem Antlitz, um welches die schwarzen Haare in wilder Unordnung flogen, im Hofe des Hauses an, wo ihr Vater und der Baß Feiwelmann an die Eindeckung der Laubhütte mit dem grünen Schmucke des Waldes noch immer nicht die letzte Hand angelegt hatten. Sie hatten mittlerweile von dem Kinde gesprochen.

»Ella!« rief der Baß hoch von seiner Leiter, »wie siehst du merkwürdig aus,« und David Brod, der Vorbeter, sagte überhastig: »Was trägst du da in deiner Schürze?«

Da lüftete das Kind die Schürze und es zeigten sich den erstaunten Blicken der beiden Männer die schönsten Blumen, die sie noch jemals erschaut hatten.

»Jetzt, Vater, wirst du dich rühmen können, daß in der ganzen Gasse keine Laubhütte der unseren gleichen wird,« rief das Mädchen, die Augen noch immer strahlend von einem seltsamen Glühen, »Blumen vom Grafen selbst wird doch keine aufzuweisen haben.«

»Er selbst hat sie dir gegeben, Ella?« rief der Baß.

»Er hat gesagt, ich bin nicht schön, aber ich bin ein Karfunkel...« schrie ihm das Kind mit ungeahnter Heftigkeit entgegen.

Längst lag auf dem Dache der Laubhütte der grüne Schmuck des Waldes; der Mittag war gekommen und noch immer saß Ella, das Kind des Vorbeters der Synagoge, inmitten der Blumen, die sie aus dem Garten des Grafen geholt, und band Kränze zum Schmucke des gebrechlichen Hauses, das ihr kurz vorher so unschön gedünkt hatte. Von ihren Wangen hatte sich die Röte noch nicht verloren; hie und da sang sie halblaut vor sich hin, und wenn man genauer hinhorchte, waren es Bruchstücke jener uralten Synagogenmelodie. Meistenteils schwieg sie. Ob sie dabei an den Karfunkel des Grafen dachte?

Am Abende desselben Tages war das Laubhüttenfest in seiner anmutenden Heimlichkeit in die Gasse eingezogen. David Brod, der Vorbeter, saß mit Ella, seinem einzigen Kinde, und dem »Baß« in der mit Blumenkränzen und allerlei Zierat gar stattlich ausgeschmückten Hütte; Kerzenlicht erhellte den traulichen Raum! Ella hatte von den Blumen des gräflichen Gartens ein kleines Kränzchen zurückbehalten und es in ihre schwarzen Haare geflochten. Während des Abendmahles vermochte der Baß sein Auge nicht abzuwenden von diesem blumengeschmückten Kopfe; es schien ihm, als läge zwischen dem Kinde, wie es jetzt dasaß, und dem Kinde, wie es am Vormittage aus der Laubhütte in den gräflichen Garten gerannt war, eine Zeit, die nach Jahren zählte. Wie merkwürdig die rote Rose vorn über der Stirn leuchtete! War denn Ella wirklich nur dreizehn Jahre alt?

Der Kranz in den Haaren des Kindes mochte nur leicht wiegen, und dennoch schien es, als drücke er mit unsichtbarer Wucht; sie saß aufrecht da, als fürchtete sie durch irgend eine Bewegung, ja durch irgend ein Wort die so angenommene Stellung zu beeinträchtigen. Eine seltsame Schweigsamkeit war über das Kind gekommen ...

Als das Essen abgeräumt und das Tischgebet verrichtet worden war, sagte David Brod, der Vorbeter, zu seinem Baß:

»Wie wär' es, Baß, wenn wir jetzt die neue ›Keduscha‹ (eine Art Sanctus des Gottesdienstes) probieren möchten? Wenn wir Ehre damit einlegen wollen, so müssen unsere Kehlen geübt sein, als wären wir Vögel im Walde.«

»Als wären wir Vögel im Walde,« wiederholte der Baß mit einem träumerischen Ausdrucke.

»Ja, singen wir, Vater,« rief mit einem Male das Kind des Vorbeters, »ich werde zuhalten (mit einstimmen).«

»Gott, der Allmächtige, sei gelobt, daß er Ella wieder die Sprache gegeben hat,« meinte der Baß.

»Ich heiß' nicht Ella.« schrie das Kind mit finsterer Stirne, »ich will nicht so heißen.«

»Wie denn soll ich dich nennen?« fragte der Baß. »Ich glaube doch, das ist dein ehrlicher Name?«

»Heiß mich meinetwegen Karfunkel,« rief das Kind mit trotzig aufgeworfenen Lippen.

»Was muß über das Kind geflogen sein?« sprach David Brod, der Vorbeter, halblaut vor sich hin.

Darauf begannen sie die Probe des Gesanges zu der neuen »Keduscha,« der morgen am ersten Tage des Laubhüttenfestes die ganze Gemeinde in Erstaunen versetzen sollte. David Brod versprach sich nämlich einen ungeheuren Erfolg von der neuen Melodie; er hatte sie von einem durchreisenden polnischen Bettler erlernt und ihm als Entgelt dafür nicht weniger als vierundzwanzig Kreuzer ausbezahlt.

Wer der Meister dieser Synagogenmelodie war, die nun mitten in einer still abgelegenen »Gasse« Böhmens zu Herzen und Gemüt einer Gemeinde sprechen sollte? Wer die Weise erfunden hatte, die der polnische Bettler als etwas noch nie Gehörtes an David Brod käuflich überlassen hatte? Umsonst wäre hier Nachforschen und Untersuchung. Auch jener »Schnorrer« hatte sie irgendwo in dem fernen Polen überkommen und war damit weitergezogen, wohin ihn der Sturm seines Lebens trug. Wen konnte es verwundern, wenn er dieselbe Melodie, die er Jahre zuvor irgendwo in Mähren oder Böhmen vernommen, mit einem Male in der Synagoge einer elsässischen Gemeinde wieder zu Gehör bekam?

Wenn auf dürrem Felsgestein oft eine ungekannte Blume ihre Augen aufschlägt, dann hat es der Sturm bewirkt, der das zarte Samenkorn in seine Arme nahm und es hierhin, und dorthin getragen hat, wohin es ihm eben beliebte. Das ist auch das Geheimnis von dem Entstehen und Fortleben dieser Melodien.

Der neue Gesang war nicht ohne Schwierigkeiten; die Sänger hatten kein Notenblatt vor sich und mußten dem Gedächtnisse vollauf vertrauen. Hie und da hatte David Brod einen gelungenen Schnörkel angebracht, mit dem sich Feiwelmann, der Baß, nicht einverstanden erklärte, da er der ursprünglichen Melodie gefehlt hatte. Aber nachdem sie die neue Weise schon Wochen vorher durchprobiert hatten, kam sie heute glücklich und wohlbehalten, wie ein blanker Guß aus den Kehlen der Singenden. Ella vertrat dabei die Stelle des »Fistels«; ihre Stimme fügte sich weich und mild an dem Gesang ihres Vaters und des »Baß«, der gerade heute mit einem Aufwande aller seiner Gesangsmittel leuchtete, wie er es wahrscheinlich an sich selbst noch nicht gekannt haben mochte. Wie mit seiner Kraft spielend, warf er ohne merkliche Anstrengung die vollsten Töne seiner Kehle in den Gesang; und wenn Ellas Stimme lieblich und zart, wie ein Bach in hundert verschiedenen Krümmungen sich durchschlang, so war sein Singen ein riesiger Waldstrom, der in übermütiger Gewalt daherbraust. Dabei hielt er, wie dies aus alter Überlieferung jeder »Baß« tun muß, die Hand fest auf die eine Wange gedrückt, da wo sein zottiger Backenbart am dichtesten gepflanzt war, weil er die Überzeugung hatte, dadurch den Gurgeltönen eine verdoppelte Kraft zu verleihen.

Plötzlich hielt Ella im Gesänge inne und lachte hell auf.

Die beiden Sänger unterbrachen sich. David Brod schrie böse:

»Was für eine Klippe (böser Geist) ist heute über das Kind gekommen? Was geht mit dir vor?«

»Ich kann nicht weiter singen,« lachte das Kind, »wenn ich sehe, wie der Baß seine Backe festhält, damit sie ihm nicht auf und davon geht.«

»Meine Backe?« sagte der Baß äußerst erstaunt. »Kann ich denn anders singen?«

»Darum lache ich ja,« meinte jetzt das Kind mit großem Ernste, »daß du glaubst, du könntest nicht singen, wenn du die Backe mit der Hand nicht festnagelst wie ein Brett. Kann denn deine Stimme gut klingen, wenn du sie einsperrst und ihr keine Luft lässest?«

Kleinlaut sagte der Baß, und eine tiefe Röte verbreitete sich allmählich über sein Antlitz:

»Ich habe es nie anders vor mir gesehen. Kein Baß singt auf eine andere Art.«

»Dann ist es nicht schön,« sagte Ella.

Die Röte auf dem Gesicht Feiwelmanns war einer auffallenden Blässe gewichen.

»Wenn du es sagst, und es nicht schön ist,« sagte er tonlos, »so will ich es künftig unterlassen.«

»Du willst frei heraussingen, Feiwelmann, ohne Backe?« rief Ella, und ihre weißen Zähne leuchteten durch den lachenden Mund.

Feiwelmann, der Baß, nickte bloß mit dem Kopfe.

»Du wirst dir doch nicht von einem Kinde solche Narreteien einreden lassen?« rief dagegen David Brod, der Vorbeter. »Solange es einen Baß auf Erden gegeben hat, hat er die Backe mit der Hand gehalten. Frag einen Baß auf der Welt, ob er sonst zu singen imstande ist.«

Aber Feiwelmann, der Baß, schüttelte wieder sein Haupt.

»Laß es gut sein, David Brod,« sagte er gedrückt. »Wenn das Kind etwas sagt, so kannst du sicher sein, daß etwas Goldenes von ihm kommt ... Ich will's versuchen und will einmal singen, wie Ella es meint. Ich fange schon an einzusehen, daß sie recht hat.«

Sie begannen aufs neue die Melodie. Das Kind des Vorbeters sang aber diesmal nicht mit. Beide Hände auf den Tisch gestützt, saß Ella da und hielt die schwarzen scharfen Augen auf Feiwelmann, den Baß, gerichtet. Keine seiner Bewegungen entging ihr, ihre Seele schien untergetaucht zu sein in dem Strome des Gesanges. Feiwelmann fühlte im Singen, daß die Augen des Kindes auf ihm brannten; dazu hielt er diesmal die Wange von der drückenden Hand frei. Er sang aber schlechter als je – war es das Aufgeben einer fast zur Notwendigkeit gewordenen Gewohnheit, waren es die gefürchteten Kindesaugen? Er hielt plötzlich inne und stand auf.

»Verzeih mir, David,« sagte er schwach. »Ich kann heute nicht fort, es sitzt etwas in meiner Kehle, was mich würgt, daß ich schier glaube, die Stimme sei mir für alle Zeiten versagt! Verzeih mir.«

»Sei kein Narr, Feiwelmann,« rief der Vorbeter und wollte ihn am Aufstehen hindern.

»Laß mich nur,« rief der Baß, und es klang etwas hindurch wie von unterdrückten Tränen, »morgen wird es vielleicht besser um mich stehen.«

Ella sprach nichts; sie hatte ihre Stellung nicht verändert. Ihre schwarzen Augen verfolgten den Vorgang, als stände er mit ihr in gar keinem Zusammenhange. War das Kind herzlos? Empfand es die Süßigkeit des Triumphes, daß es ihm gelungen, die Singweise des »Baß« ins Lächerliche zu ziehen?

Feiwelmann war aufgestanden, er hatte die Klinke der Türe ergriffen und wollte ins Freie. In diesem Augenblicke taumelte er zurück; eine hohe Männergestalt drängte sich durch den schmalen Eingang und trat in die Laubhütte ein.

»Der Graf, der Graf!« schrie Ella auf.

Es war in der Tat der Mann aus dem Garten, er selbst.

David Brod, der Vorbeter, war erschrocken aufgesprungen, schon hielt er das Käppchen in den zitternden Händen.

»Lebendiger Gott,« flüsterte er, »der Graf selbst!«

»Was erschreckt Ihr, Vorbeter?« sagte der Graf lächelnd, »Ihr kennt mich doch und solltet wissen, daß ich Euch und Euren Leuten kein Feind bin? Tut mir den Gefallen und setzt Euch wieder. Denkt Euch, es sei einer gekommen, der noch keinen Begriff von so einer Laubhütte hat und sich so einen Bau auch einmal ansehen will.«

Unwillkürlich hatte sich David Brod wieder auf seinen Sitz niedergelassen, aber des Schreckens über die Erscheinung des Grafen war er noch nicht Herr geworden. Einen merkwürdigen Anblick bot in diesem Augenblicke das Antlitz des Kindes. Ella sah nicht im geringsten erschrocken aus, und fast hatte es den Anschein, wenn man nach dem Lächeln sah, das auf ihren roten Lippen saß, als hätte der Besuch des Mannes, den sie heute um Blumen angegangen war, für ihre Gedankenwelt nichts Überraschendes gebracht.

Der Graf hatte auf dem leergewordenen Sitze Feiwelmanns Platz genommen. Der Baß selbst stand demütig mit abgezogenem Hute in einer Ecke der Laubhütte.

Der Graf ließ seine Augen in dem kleinen Räume des hölzernen Baues umhergehen.

»Also, so sieht eine von eueren Laubhütten aus?« sagte er, »und euer Gesetz schreibt euch vor, daß ihr da wohnen müßt? Warum das? Ich habe es längst vergessen.«

David Brod vermochte nicht die Frage des Grafen zusammenhängend zu beantworten; in seinen Adern rann kaltes Eis. Unter den irdischen Erscheinungen, die mit Macht und Herrlichkeit ausgestattet sind, war ihm noch keine höhere erschienen als der Mann, der das große Schloß auf der Anhöhe sein eigen nannte, und der ihm ein Schutzherr war.

Feiwelmann, der Baß, nahm für ihn das Wort. Demütig meinte er:

»Vierzig Jahre sind unsere Vorfahren in der Wüste herumgegangen; sie haben kein steinernes Haus bauen können, und nur den Himmel haben sie über sich gehabt und höchstens ein Zelt, worin sie gewohnt haben. Darum ist uns das Gebot von unserem Gott gemacht worden, daß wir zum Andenken an diese Zeit durch acht Tage in solchen Laubhütten wohnen müssen.«

»Nach fast viertausend Jahren!« rief der Graf, »und noch heute feiern diese Leute das Fest und sprechen von unserem Gottes als hätte er für sie eigens die Wüste Arabiens erschaffen! Seltsames Volk, das ihr seid! Und doch, wenn ich eintrete in Euere ärmliche Laubhütte, ich, der Graf aus christlichem Blute, der stolz darauf tut, daß er seine Ahnen auf einige Jahrhunderte zurückführen kann, tut ihr so erschrocken und demutvoll! Begreift Ihr denn nicht, Vorbeter, und Ihr, Mann, daß Ihr Euch vor mir nicht zu schämen braucht, daß das Bestehen dieser Laubhütte allein mich die vermeintlichen Vorzüge meiner Geburt vergessen machen muß?«

Auf David Brods Lippen irrte ein verlegenes Lächeln. Wohl hätte er antworten können, denn er hatte die Rede des hochgebornen Herrn hinlänglich verstanden. Aber mit jenem Verständnisse seit jeher anerzogener Demut begriff er es gleichzeitig, daß er seinen viertausend Jahre alten Adel nicht werfen konnte in die eine Wagschale, während in der anderen eine gräfliche Krone mit einem herrlichen Schlosse und Garten funkelnd lag.

Dagegen rief Ella:

»Ich bin nicht erschrocken, Herr Graf!« ...

»Lebendiger Gott! Ella! Wie kannst du so reden?« schrie David Brod, der Vorbeter, der im Entsetzen über die Worte des Kindes wieder seine Sprache gefunden hatte.

»Laßt doch das Kind, Vorbeter,« sagte der Graf mit einem feinen Lächeln. »Warum soll sie nicht gestehen, daß ich nicht derjenige bin, der ihr Schrecken einflößt? Warum auch sollte sie erschrocken tun? Sie weiß sehr gut, daß eine Zeit kommen kann, in der sie mir ganz anders gegenüberstehen dürfte, als jetzt ... Wie heißest du, mein Kind? Ich habe deinen Namen wieder vergessen!«

»Karfunkel!« sagte Ella kurz und sah den Grafen dabei fest und sicher mit ihren großen Augen an.

Eine Weile starrte der Graf des übermütige Kind an, es hatte den Anschein, als wäre nun er es gewesen, den die Antwort des Kindes erschreckte. Er faßte sich aber rasch, und als er nun redete, zitterte in seiner Stimme etwas wie von einer tieferen Bewegung seines Gemütes.

»Ja, du hast recht,« sagte er, »daß du mir deinen eigentlichen Namen ins Gedächtnis zurückrufst. Erinnerst du mich doch daran, weswegen ich hierher gekommen, und daß ich nicht auf falscher Fährte begriffen bin.«

Noch einmal sah er das Kind des Vorbeters wie prüfend an. Es war ein langer und tiefer Blick, den er durch die Augen des Kindes in dessen Seele, wie heimlich geborgen auch ihre Wesenheit sein mochte, bis in jenen Winkel tat – wo er den funkelnden Edelstein vermutete.

»Was gedenkt Ihr mit Euerem Kinde anzufangen, Vorbeter?« wandte er sich an David Brod.

»Was soll ich mit ihr anfangen, gestrenger Herr Graf?« meinte David Brod, der sich mittlerweile etwas ermannt hatte. »Wäre sie ein Knabe geworden, so könnte sie mein ›Fistel‹ sein, denn sie hat eine gar liebliche Stimme und ein Gedächtnis dazu für alle Gesänge – sie beschämt uns ältere Leute damit ... Leider Gottes ist sie aber kein Knabe geworden, und wenn ich einmal sterbe, wird da nicht ein Fremder mein Nachfolger in der Synagoge sein müssen? Nun aber frage ich: Was soll aus der Tochter eines armen Vorbeters werden? Ihre Stimme ist ihr von keinem Nutzen, und wenn ich heute sterbe ...«

Die Sprache David Brods war zuletzt vor innerer Bewegung fast unvernehmbar geworden. Da rief die Stimme des Mannes, der demütig im Hintergrunde der Laubhütte stand, überlaut:

»David Brod, du übertreibst! Noch lebt ein Feiwelmann Baß, und der wird dein Kind nicht verlassen!«

Aller Köpfe wandten sich nach dem, über dessen Lippen dieser Aufschrei gekommen war. Auf dem breiten Antlitze des Sprechers lag eine tiefe Röte, aber wie sie jetzt alle nach ihm hinblickten, hatte er die Augen schämig niedergeschlagen und schob den Hut verlegen zwischen den Fingern.

»Wer ist der Mann?« fragte der Graf, und seine Blicke schweiften zwischen dem »Baß« und dem Kinde auf und nieder.

»Es ist nur Feiwelmann, unser Baß,« sagte Ella kurz.

Der Graf nickte zu dieser Auskunft nur leicht mit dem Kopfe. »Was das zukünftige Glück Eueres Kindes betrifft,« wandte er sich wieder zu David Brod, »so seid darüber ganz ruhig. Es hat sich eine Hand gefunden, die es versuchen will, ob sie nicht Vorsehung spielen kann ... und diese Hand gehört mir. Ihr bedauert es, Vorbeter, daß Gott Euerem Kinde eine so liebliche Stimme verliehen hat. Wie nun, David Brod, wenn diese Stimme ein Juwel wäre, der nur geschliffen und gefaßt werden müßte, um überallhin mit Glanz und Pracht zu leuchten? Und man sagt doch, daß Leute Eueres Volkes für Juwelen nicht unempfindlich sind?«

David Brod wollte reden, aber jedes Wort war wie mit eisernen Klammern an seine Zunge gefesselt. Ein kalter Schweiß drängte sich auf seine Stirne; jedes Haar auf seinem Haupte hatte sich emporgerichtet.

»Und nun, David Brod,« fuhr der Graf fort, »bleibt mir noch übrig, Euch einen Vorschlag zu machen. Nehmet Ihr ihn an, so wird aus dieser engen Laubhütte heraus ein Edelstein hervorgehen, wie Ihr ihn kaum ahnt; wo nicht, mag er begraben bleiben in der schmutzigen Hülle, die ihn jetzt umgibt. Denn wenn mich nicht alles täuscht, so glüht in der Seele Eueres Kindes das unsterbliche Feuer der Kunst. Heute war es noch ein Kind, das vor mir sang, und doch hat mich die Stimme des Kindes ergriffen, wie mich im Leben noch selten etwas bewegt hat. In Euerer Tochter schlummert die Zukunft einer großen Künstlerin!«

Der Graf schwieg; er warf einen Blick nach Ella, die mit großgeöffneten, leuchtenden Augen, sonst aber regungslos dasaß. Nur der Blumenkranz in ihren Haaren zitterte merklich.

»Und so, David Brod,« schloß der Graf, »habe ich Euch nur eines zu sagen. Geht Ihr auf meinen Vorschlag ein, so übernehme ich die Erziehung und Ausbildung Eures Kindes zur Künstlerin. Sie wird Euer Haus verlassen, sie wird fern von Euch weilen, vielleicht werden Länder und Meere liegen zwischen Euch und ihr – aber Euere Tochter wird eine Künstlerin werden! Bedenket Wohl, was ich Euch sage: Es kann eine Zeit kommen, die es Euch verbieten wird, Euch den Vater Eueres Kindes zu nennen ... Doch für, heute genug! Wenn Euer Laubhüttenfest vorüber ist, so kommt zu mir und erstattet mir Antwort. Das Schicksal des Kindes ruht von nun an in Eueren Händen!«

Der Graf war aufgestanden; David Brod war sitzen geblieben, er vermochte sich nicht zu erheben. Was er eben vernommen, ging wie der Schrecken eines nächtlichen Gewitters über ihn hinweg. Blitze zuckten und leuchteten, Donner rollten über seinem Haupte, aber aus all diesen Stimmen des Entsetzens hörte er doch die eine: den Zuspruch des Grafen, daß er sich seines Kindes annehmen wolle.

Der Graf hatte die Türe der Laubhütte geöffnet. Da ergriff Ella rasch den Leuchter mit der brennenden Kerze und folgte ihm nach. Sie geleitete ihn über den Hof bis zur Planke, die das Haus des Vorbeters von der Gasse abschloß. Am Tore angelangt, ließ das Kind den Leuchter plötzlich fallen, das Licht erlosch. Der Graf fühlte auf seiner Hand einen heißen Kuß von zwei Kinderlippen ...

»Gute Nacht, meine kleine Künstlerin,« sagte er, »gute Nacht, mein Karfunkel!«

In der Finsternis tappte das Kind des Vorbeters seinen Weg wieder zur Laubhütte zurück.

Ein Sturm war über das friedlich enge Haus David Brods, des Vorbeters, gekommen, der es in seinen Grundfesten erschütterte. Er, der Vater einer zukünftigen Sängerin, sein Kind der Schützling eines Grafen, und Feiwelmann Baß, seine »rechte Hand,« entschlossen, von seiner bisherigen Gesangsweise abzugehen!

Als Ella in die Laubhütte wieder eingetreten war, fand sie ihren Vater, den Kopf auf den Tisch gelegt, in heftigem Weinen. »Warum weinst du, Vater?« fragte sie fast gelassen.

»Laß ihn heute,« sagte der Baß, dem selbst die Stimme von verschluckten Tränen zitterte, »das unerhörte Glück hat ihn so angegriffen.«

Glück? wer spricht von Glück?« fuhr David Brod wild auf. »Meint Ihr, ich habe ihn nicht verstanden, was er will, und daß er darauf abgeht, mir mein einziges Kind zu nehmen?«

Dann sank er wieder mit dem Kopfe auf den harten Tisch und weinte bitterlich.

Die Lippen des Kindes zitterten von innerer Aufregung, seine großen schwarzen Augen strahlten ein Feuer aus, das nicht von Mitleid mit den Tränen des Vaters herrührte. Feiwelmann, der Baß, mochte erraten, was in dem frühgereiften Kinde vorging.

»Sprich heute kein Wort,« flüsterte er ihr zu, »er erträgt's nicht. Es wird schon die Zeit und die Stunde kommen, da wird es ihm klar werden, daß ihm Gott ein Juwel bescheert hat.«

»Einen Karfunkel, Feiwelmann!« sagte das Kind mit merkwürdig scharfer Betonung und ging zur Laubhütte hinaus.

Am andern Tage, der der erste des Laubhüttenfestes war. führte David Brod mit seinem »Baß« die neue Melodie auf, die er von dem polnischen Bettler erlernt hatte. Aber der Erfolg, wir müssen es gestehen, blieb weit hinter den gehofften Erwartungen zurück. Die Leute, die in der Synagoge zum Gottesdienst versammelt waren, schienen von einem Geiste der Zerstreutheit heimgesucht, der sie unempfindlich ließ gegen die Neuheit des Gesanges, und die Feinheit seiner Aufführung. In den Zwischenpausen des Gottesdienstes war von nichts anderem die Rede als von dem Besuche, den der Graf der Laubhütte des Vorbeters abgestattet. Die abenteuerlichsten Gerüchte schwirrten durch das Haus, ein jeder gab diesem merkwürdigen Vorkommnisse eine andere Auslegung. Besonders droben in der »Weiberschul« wogte es wie in einem Bienenschwarme durcheinander. Das bis dahin unbeachtete Kind des Vorbeters fand mit einem Male eine Bedeutung, der selbst die stolzesten Frauen, die in ihren Festtagsgewändern und goldenen Halsketten die vornehmsten Plätze am Gitter einnahmen, ihr Ohr nicht verschließen konnten. Solange die Gasse stand, konnte kein Haus daselbst sich rühmen, unter seinem Dach einen so hohen Gast beherbergt zu haben, und nun hatte sich der Graf herabgelassen, der Laubhütte des Vorbeters, also eines Mannes, der von der Gemeinde lebte, diese Ehre zu beweisen!

»Ich möchte nur wissen,« zischelte und wispelte es hin und her, »was er sich an dem schmutzigen und häßlichen Mädchen ausersehen hat? Hast du schon etwas Besonderes an ihr bemerkt? Ich nicht! Ich weiß nur, daß mir ihre Augen vorkommen, wie zwei scharfe Messer. So oft ich mit dem Kinde zu tun habe, kehrt sich mir alles im Leibe herum. Sie hat etwas in ihrem Blicke, das einen ärgert.«

»Nun, ihrer Schönheit wegen ist er nicht in der Laubhütte David Brods erschienen,« lautete die Entgegnung. »Man sagt aber, er soll sie singen gehört haben, und da hat er gesagt, solch' eine Stimme im Munde eines Kindes sei ihm noch nicht vorgekommen.«

»Ist das ein Wunder?« meinte eine breitspurige alte Frau. »Väter vererben ihre Eigenschaften auf die Kinder, und alle David Brods haben gute Stimmen.«

»Man sagt auch, er will sie nach Prag schicken und dort aufziehen lassen.«

»Da hätte David Brod ausgesorgt für all sein Leben.«

In solcher Stimmung der Beter zerflatterte die neue Melodie, an die David Brod und sein Baß wochenlang das Beste ihrer Kehlen gesetzt hatten, wie eine Baumblüte, mit der ein unbarmherziger Wind sein Spiel treibt. Was nützten alle die künstlichen Gesangsschnörkel? Sie zerstoben unverstanden und nur wenige mochte es geben, denen die Neuheit der Melodie aufgefallen war. Den meisten kam sie wie ein abgestandenes, längst gekanntes Gericht vor, dem man keinen Geschmack abgewinnen konnte. Und doch war die Melodie eine solche, die zu jeder andern Zeit aufs Innigste zu den Gemütern gesprochen hätte. Sie stammte aus Polen und war von eigentümlicher Schönheit!

Als der Gottesdienst zu Ende war, machte sich unter den zur Synagoge Hinausschreitenden das Urteil über David Brod und seinen Genossen in der herbsten Weise Luft. So schlecht hatten die beiden noch nie gesungen; die neue »Keduscha« war ein Machwerk, mit dem sich allenfalls Leute in einer Dorfgemeinde begnügen konnten, die an nichts Besseres gewöhnt waren.

»An allem dem ist Feiwelmann, der Baß, schuld,« meinte einer der schärfsten Beobachter aller Vorgänge in Haus und Gasse, der säbelbeinige Schneider Saul Weißfisch, »was für eine ›Kränk‹ hat ihn angefallen, daß er seine Backe nicht mehr mit der Hand hält? Wie soll er da einen gesunden Ton herausbringen? Gott der Lebendige weiß, wo er so was Neumodisches gesehen hat. Es muß ihn ruinieren, und die Gemeinde hat nur davon Verdruß.«

David Brod und sein Baß merkten es an hundert Anzeichen, daß ihnen die öffentliche Meinung nicht günstig war. Wie drückte man ihnen sonst die Hände, welche herzliche Zurufe schallten ihnen entgegen, wenn sie die Synagoge, die Stätte ihrer gesanglichen Leistungen verließen! Sie schlichen still und gedrückt nach Hause, und Saul Weißfisch, der säbelbeinige Schneider, hielt es für ein gutes Werk, als die beiden an ihm vorüberschritten, eine recht häßliche Grimasse ihnen nachzuschicken!

Als sie in die Wohnstube kamen, trat ihnen Ella entgegen, in ihren Haaren noch immer den Kranz, den sie gestern von den Blumen des Grafen erübrigt hatte. Sie legte den Kopf unter die Hände ihres Vaters, damit er sie »bensche«. Mit flüsternden Lippen sprach er über das Kind den Segen. Wie seltsam! Nichts in dem Wesen Ellas deutete heute an, welch' ein Leben seit gestern über ihr Haupt hinweg gezogen, welche Pforten sich mittlerweile für sie aufgetan hatten!

»Nun, Feiwelmann,« sagte sie, »was haben die Leute zu Euch gesagt?«

»Was sollen sie gesagt haben?« entgegnete er traurig, mit niedergeschlagenen Augen, »sie haben uns ausgelacht.«

»Ausgelacht!« rief das Kind mit blitzenden Augen, und seine weißen Zähne schimmerten im Zorne durch die Lippen. »Du hast niemals besser gesungen, Feiwelmann, und auch der Vater nicht.«

»Wie weißt du das?« rief der Baß wahrhaft erstaunt.

»Ich sag' es!« schrie sie laut.

Da schlich allmählich, etwa wie die Morgenröte sich entringt dem Schoße der Nacht, ein sonnig behagliches Lächeln über das breit angelegte Angesicht Feiwelmanns, bis es nach und nach alle Winkel und Seiten desselben mit seinem Glanze ausgefüllt hatte. Nur die Augen machten davon eine Ausnahme; sie waren feucht geworden.

»Wenn du das sagst, Ella, meine Perl,« rief er, »so macht mich das glücklicher, als wenn sie zu Tausenden mir die Hand gedrückt hätten. Denn du verstehst es besser als sie alle ... Gott soll's dir bezahlen!«

Trotzdem verging dieser Feiertag in gedrückter, trüber Stimmung für die drei. Nicht nur die erlittene Niederlage, mehr noch das Aussprechen über die Zukunft, wie sie gestern in der Laubhütte aus dem Munde des Grafen ihnen zur Entscheidung vorgelegt worden, schlich wie ein dunkler Schatten hinter jedem ihrer Schritte. Keiner wagte während dieses Tages den Gegenstand zu berühren.

Es war spät in der Nacht; das Kind schlief bereits. Da saßen sich David Brod und sein Baß Feiwelmann gegenüber. »Du meinst also doch, Feiwelmann,« sagte David Brod nach einem schwer aus der Brust geholten Seufzer, »wir hätten heute unsere Sache gut gemacht.«

» Sie sagt's,« meinte Feiwelmann sicher und ruhig in seiner Stimme, indem er mit dem Finger nach der Türe der Kammer wies, worin Ella schlief.

David Brod sah eine Weile lang nachdenklich vor sich hin; endlich sagte er: »Erkläre mir nur eines, Feiwelmann! Was hat der Graf damit gemeint, als er gesagt hat, er will sie zur Kunst erziehen? Es geht mir das nicht aus dem Kopf. Was heißt Kunst?«

Feiwelmann starrte eine geraume Zeit in die Luft.

»Was Kunst heißt? Sie soll eine Sängerin werden wegen ihrer schönen Stimme.«

»Und wenn sie eine Sängerin geworden ist – was dann?« fragte David Brod mit gerunzelter Stirne.

»Dann wird sie auf einem Theater vor Tausenden von Menschen singen!« sagte der Baß, gleichsam an einen Dritten seine Rede richtend.

»Eine Komödiantin soll mein Kind werden?« schrie David Brod wild auf, »mein Kind eine Komödiantin! David Brods Tochter auf einem Theater!«

Feiwelmann, der Baß, mochte die Gemütsart seines Herrn und Meisters aus langer Erfahrung kennen. Er ließ den Sturm, der dessen Gemüt so urplötzlich erfaßt hatte, vorüberbrausen; erst als er merkte, daß er ruhiger geworden, sagte er mit jenem träumerischen Gesichtsausdrucke, den wir an ihm kennen gelernt haben, als er auf das Dach der Laubhütte das grüne Tannenreisig legte:

»Ich werde dir etwas sagen, David Brod: es kommt eigentlich gar nicht darauf an, an welchem Orte man seine Kunst den Menschen zeigt. Wenn die Menschen nur sagen: Sie kommt von Gott!«

»Ich verstehe Dich nicht, Feiwelmann!« »Bist du und ich nicht auch jeder ein Künstler? Du, David Brod, und ich Feiwelmann, der Baß? Haben wir nicht auch etwas erlernt, was andere nicht können? Und wenn wir unsere Kunst zeigen, sagen da nicht die Leute: David Brod ist groß in seinem Fache, und auch sein Baß Feiwelmann ist nicht zu verachten?«

»Wie kommt da eines zum andern?« rief David Brod, in dessen Gemüt die Wogen der Erregung noch immer ziemlich hoch gingen. »Wenn wir unsere Kunst glänzen lassen, so geschieht das vor Gott! Wir singen und beten für die Gemeinde, denn sie hat uns damit beauftragt.«

»David Brod,« sagte Feiwelmann nach einer geraumen Weile, »und wenn Ella einmal eine Sängerin sein wird und auf dem Theater vor Tausenden von Menschen singen wird, und alle werden sagen: Groß ist doch Gott, der in eine menschliche Kehle so viel Kraft und Schönheit, so viel Anmut und Lieblichkeit gelegt hat – glaubst du da nicht, David Brod, daß dein Kind da auch vor Gott singt, und wenn sie auch auf dem Theater steht?«

David Brod, der Vorbeter, starrte seinen Baß verblüfft an.

»Ich versteh dich, Feiwelmann,« sagte er, »und ich versteh' dich wieder nicht. Du hast recht, und doch, ruft und schreit es in mir, du darfst nicht recht haben! Wie verewigt sich das in mir?«

»Laß dir erzählen, David, wie es mir einmal vor vielen Jahren ergangen ist,« sagte Feiwelmann, nachdem er einige Zeit hatte verstreichen lassen, in jenem Tone wieder, als ob er einen alten Traum berichten wollte. »Damals war ich ein junger Mensch von achtzehn Jahren, und war gerade in Frankfurt am Main. Nun mußt du wissen, David, ich habe bis dahin nicht gewußt, was ein Theater ist; aber an einem Sabbat, wie es schon Abend geworden war, stehe ich vor einem großen, großen Gebäude, und viele Menschen stoßen und drängen sich durch das Tor. Und einer, den ich gefragt habe, was da vorgehe, hat mir gesagt: Das ist das Theater, und heute wird ein großer Künstler, auf dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, auftreten. Was ist das, ein Theater? habe ich mich gefragt, und was ist ein großer Künstler? Alsbald habe ich gefühlt, wie mir das Blut zu Kopfe steigt ... wie eine Begierde, die ich bis jetzt nicht gekannt, in meinem Herzen wächst und anschwillt, daß es bis zum Zerspringen voll war. Kurzum, David Brod, ehe ich noch recht gewußt habe, was ich tun soll, war ich mit dem Menschenstrome drin im Theater, hab' all mein Geld, was ich bei mir trug, hergegeben, und befand mich im obersten Stockwerke auf einer schmalen hölzernen Bank. In demselben Augenblicke ist der Vorhang aufgegangen!«

Feiwelmann hielt inne; es schien aber nicht, daß die Wirkung des bisher Erzählten auf David Brod eine große war.

»Damals, David,« fuhr der Baß mit erhöhtem Tone fort, »habe ich an mir erfahren, daß man nicht nur am Versöhnungsfeste heiße Tränen vergießen kann, und daß nicht nur furchtbare Schauer einen überrieseln, wenn man jenes Gebet betet, worin es heißt: Am heutigen Tage besiegelt Gott das Verhängnis des Menschen! Da wird bestimmt, wer im künftigen Jahre durch die Pest, wer durch Hungersnot und wer durch Wasserfluten sterben und wer endlich am Leben bleiben wird! Was sie da gespielt haben, war ebenso traurig und so schaurig, ja ich habe manchmal geglaubt, der letzte Tag bricht an und die Auferstehung der Toten steht vor der Tür! Ein mächtiger König, der über ein großes Land gebietet, der verteilt sein Reich aus lauter Liebe und Zärtlichkeit an seine Töchter. Er hat deren drei: die jüngste aber, weil sie ihm nicht schmeichelt, kommt am schlechtesten weg, vor der verschließt er sein Herz. Aber gerade das Kind ist sein bestes, denn höre nur, David Brod! Wie der König all sein Land unter die beiden schlechten Töchter verschenkt hat, und zu ihnen auf Besuch kommt und meint, Gott weiß, wie herzlich sie ihm um den Hals fallen werden, da erfährt er, was schlechte Kinder sind! Sie lassen den eigenen Vater nicht ins Schloß hinein, weil er ihnen zu viel Gäste mitbringt, sie jagen ihn von der Schwelle ihrer Türe, und der alte, schwache König muß hinaus in Nacht und Nebel und Wind, weil ihm seine Töchter keine Herberge geben wollen –«

»Das waren doch nicht jüdische Kinder?« unterbrach ihn der Vorbeter in steigender Spannung.

»David Brod,« fuhr der Baß fort, ohne dieser Frage Aufmerksamkeit zu schenken, »du hättest ihn sehen sollen, der den alten schwachen König gespielt hat, und wie er zuletzt aus lauter Kränkung und Herzleid den Verstand verliert! Und wie er dann sein jüngstes Kind, das gute, was ihm zu Hilfe gekommen war, tot hereinbringt, und weint und lacht dabei – David Brod! am Versöhnungstage habe ich niemals so geweint, und wie meine arme, gute Mutter gestorben ist, habe ich auch nicht so geweint, weil ich mir vorgestellt habe, nun ist sie von ihren langen, schweren Leiden einmal befreit, und solche Schauer habe ich niemals empfunden. Lebendiger Gott! wie groß ist der Mensch!«

Sei es, daß der letzte Ausruf in des Vorbeters Augen keine rechte Billigung fand, sei es, daß ihn in der Erzählung Feiwelmanns die Nutzanwendung zu lange warten ließ – er fuhr auf, und fragte mit schlecht verhehltem Verdruß:

»Schaff Licht! Feiwelmann! Ich tapp' noch immer in der Finsternis herum! Wann kommst du endlich auf den rechten Weg?«

Trotz dieses erkältenden Zurufes veränderte sich Feiwelmanns Haltung nur wenig. Er fuhr mit demselben traumhaft aufgeregten Zuge in seinem Antlitze fort, und wie er so sprach, hatte es den Anschein, als spreche ein anderer für ihn, er selbst sei eigentlich nur der Stellvertreter eines gewissen Feiwelmann, der einmal irgendwo existiert hatte.

»Wie ich aus dem Theater getreten bin, da kann ich wirklich sagen, hat sich die Welt um mich herumgedreht wie ein Trenderl in der Hand eines Knaben. Erst in später Nacht, nachdem ich mich schlaflos wie ein Kranker stundenlang auf meinem Lager gewälzt hatte, ist mit einem Male Ruhe über mich gekommen. Nur wenn es ruhig ist, David Brod, ruhig im Gemüte, da kann man die Seele mit sich reden hören, da kommen einem Gedanken, wie von Gott selbst. Und siehst du, David Brod, solch ein ruhiges Denken war auch über mich gekommen ... Großer Gott! habe ich zu mir gesagt: Warum kann ich das nicht? Warum können das die tausende Menschen nicht, die mit mir zugleich im Theater gewesen sind? Warum nicht? Du Narr! habe ich mir selbst geantwortet. Er hat es von Gott, der hat auf ihn einen Strahl seiner Macht und Herrlichkeit niedergelassen, damit packt er mich an dem Verborgensten des Gemütes! Und wenn ich es auch nicht kann, und Millionen andere nicht, was tut das, David Brod? Wenn ich auch in Unwissenheit und Finsternis herumgehe, und Millionen andere, die mir gleichen, tappen auch herum und haben kein Licht? Was zählt das? Wenn nur der eine das kann, was ich und die anderen nicht können! Da ist er ja gleichsam für mich ein Dolmetsch und Fürsprecher bei Gott; der eine zeigt, wie groß der Mensch werden kann, und in ihm bin ich ja auch groß und ein Künstler – vor Gott!«

Nach diesen Worten war eine tiefe Stille in der Stube eingetreten; man konnte fast das leise Fächeln der Kerzenflamme vernehmen. Und wie eine jähe Lohe war es in des Vorbeters Seele aufgestiegen. Das Käppchen war ihm vom Haupte gefallen; er merkte es nicht, daß er barhaupt vor Feiwelmann saß. Zum ersten Male, seitdem er den »Baß« kannte, hatte ihn ein Gefühl ergriffen, das der Ehrfurcht verwandt war. »Feiwelmann,« sagte er, und die Stimme des alten Mannes klang feierlich und gehoben, »jetzt verstehe ich dich. Glaubst du aber, sie wird einmal so singen können, wie dein großer Künstler in Frankfurt gespielt hat? Sieh' mir aber fest ins Auge, während du mit mir sprichst.«

»Ich glaube, David Brod,« sagte Feiwelmann ruhig aufblickend, »auf deinem Kinde, wie jung es auch ist, ruht der Strahl!« ...

David Brod war aufgestanden, und ging mit großen Schritten in der Stube herum. Zuweilen blieb er hart neben Feiwelmann stehen, und schien sprechen zu wollen. Aber das Wort nahm keine Gestalt an.

»Feiwelmann,« sagte er endlich, und jedes Wort entrang sich ihm schwer und bang. »Ich habe mir das merkwürdige Wesen meines Kindes erst recht vergegenwärtigt. Sie ist gar nicht, wie andere sind; es ist etwas Besonderes an ihr. Wie die Feiertage vorüber sind, gehe ich mit ihr zum Grafen. Er soll sie zur Kunst erziehen.!

Wie seltsam! David Brod wagte es nicht, irgend eine Menschenseele in der Gasse um einen Rat anzugehen, ob er die Hand des Schicksals, wie es ihm in der Gestalt des Grafen entgegengetreten war, annehmen solle oder nicht. Er fürchtete ausgespottet zu werden, und hatte anderseits wieder eine Scheu vor dem Gedanken, daß sich Leute finden werden, die die künftige Künstlerschaft seines Kindes wie eine böse Raupe von sich abschütteln dürften.

So kam es, daß er trotz des weihevollen Augenblickes in jener Nacht, der sein beschränktes Denken wie mit Riesengewalt aus den Tiefen zur freien Höhe emporgehoben hatte, in den acht Tagen, die das Laubhüttenfest noch andauerte, von den verschiedenartigsten Strömungen hin- und hergeworfen wurde.

»Ich weiß, Feiwelmann,« sagte er einmal in gedrückter Stimmung zu seinem Baß, »ich tu Unrecht, wenn ich allzu viel grüble und nachsinne. Ein anderer, das weiß ich, möchte zugreifen mit allen zehn Fingern, wie die Knaben zu tun pflegen, wenn sie mitten auf dem Wege einen schönen roten Apfel finden. Was kann ich aber dafür, wenn mich mein Kopf und mein Herz dazu treiben, mir die Frucht, bevor ich sie einstecke, erst genau anzusehen? Ich sage dir, Feiwelmann, in dem Apfel steckt ein Wurm!«

Was David Brod unter diesem Wurm verstand, das wurde dem Baß nicht alsbald klar. Aber er erfuhr es nicht lange darauf.

Eines Morgens nach dem Gottesdienste kam David Brod aus der Synagoge heim. Es war während der Halbfeiertage, die das schöne Laubhüttenfest unterbrechen; während derselben waltet überall Feiertagslust, und doch blickt auch überall der Werkeltag hindurch. Eine strengere Auslegung des Gebotes hat bewirkt, daß auch an diesen Tagen die Enthaltsamkeit von jeder »leiblichen« Arbeit genau befolgt wird. Als David Brod in die Stube trat, fand er Ella am Tische sitzen, vor sich einen großen Schreibbogen, auf den sie bereits mit großen Buchstaben etwas niedergeschrieben hatte.

»Siehst du, Feiwelmann,« sagte er ergrimmt, »wie es sich schon in deiner Künstlerin regt und bewegt? Sie weiß doch sehr gut, daß man heute nicht schreiben darf ...«

Es war sonderbar, wie ruhig sich Ella diesem Angriffe gegenüber benahm. Sie schob den Schreibbogen vor Feiwelmann hin, und sagte bloß:

»Was meinst du, Feiwelmann, darf ich das heute nicht schreiben?«

Ein wehmütig stilles Lächeln glitt über sein breites Angesicht. Auf dem Papiere stand mit großen deutschen Buchstaben nichts als das Wort: Karfunkel. Er sagte gar nichts.

Aber am anderen Tage, es war ein Sabbat und bereits der Nachmittag angebrochen, kam er eiligst und fast außer Atem nach Hause. Zuerst lachte er, dann rieb er sich die Hände, daß es aussah, als wollte er die eine an der anderen entzünden, wie das die Indianer mit zwei Holzstücken zu tun pflegen, wenn sie des Feuers zum Kochen bedürfen.

»Was geht bei dir vor, Feiwelmann?« fragte David Brod.

»Darf man an einem Sabbat eine Henne schlachten? Was meinst du, David Brod?« fragte der Baß und schaute dabei seinen Herrn und Meister mit der Miene eines Schülers an, der gierig belehrt werden will.

»Baß! Du fängst an, wieder ein Kind zu werden!« meinte der Vorbeter trocken.

»Das ist keine Antwort, David Brod!« rief Feiwelmann eifrig. »Du mußt mit Ja oder Nein antworten.«

»So sag ich nein!« rief David Brod.

Feiwelmann schüttelte den Kopf.

»Sonderbar!« sagte er. »Da habe ich eben die alte Bunele getroffen, die Köchin ist bei der reichen Witwe Mindel Kollin, die ist gerade beim Rabbiner gewesen, und hat ihn gefragt, ob sie heute am Sabbat eine Henne schlachten darf für die kranke alte Frau?«

»Und was hat er darauf geantwortet?«

»Sie soll ihn nicht erst fragen, hat er ihr sagen lassen –«

»Ausnahmen gibt es überall,« meinte David Brod.

»Das ist auch meine Meinung,« sagte der Baß, die Hände wieder ineinander reibend, »nur muß der Mensch es sich aufschreiben, daß es Ausnahmen gibt,«

»Wie kommt da eines zum andern, Feiwelmann? Es kommt mir überhaupt schon lang vor, du hast Anlage zu einem Hochzeitsnarren; du wirst noch ›Stiefel‹ auf ›Leber‹ reimen.«

»Dein Kind, David Brod, ist auch eine Ausnahme!« sagte Feiwelmann rasch, »es ist jetzt in einem Zustande, wo sein Gemüt und seine Augen ganz anderswo sind, als hier da in deiner feiertäglichen Stube. Wenn du oder ich mit ihr sprechen, singt sie vielleicht innerlich ein Lied; du siehst nicht, daß ihre Lippen sich bewegen, und hörst keinen Laut. Und doch singt sie. Wie willst du von ihr verlangen, daß sie genau weiß, wie einer, der über dem Talmud alt und grau geworden ist, was man an so einem Halbfeiertage tun oder nicht tun darf? Da hat sie ein Blatt Papier ergriffen, und hat etwas darauf geschrieben. Ich seh' eben das Kind auch wie eine Ausnahme an.«

Wie alle Leute seines Schlages gab sich David Brod dieser Nutzanwendung einer Tatsache, bloß weil sie ihm unerwartet kam, gefangen. In diesem Augenblicke dachte der Vorbeter gar nicht daran, daß sich gegen die kühn herbeigeführte Beweisaufstellung Feiwelmanns gar vielerlei einwenden ließ. Aber sie blendete ihn, und er fand sein Gefallen daran. Behaglich lachend rief er:

»Wenn du das Kind verteidigen kannst, Feiwelmann, so steigst du meinetwegen auf einen hohen Turm hinauf. Du wärst imstande, wenn Ella einmal am heiligen Jom Kippur, statt zu fasten, an einen wohlbesetzten Tisch sich hinsetzt und singt dabei ein schönes Lied, so nennst du das eine Ausnahme!«

Es ging etwas wie ein leises Erbeben über Feiwelmanns ganzes Wesen; er mußte die Augen niederschlagen, als sein Herr und Meister so sprach. Dennoch hatte die sonderbar klingende Behauptung des »Baß« von den Ausnahmen auf den Vorbeter einen tiefern Eindruck hinterlassen, als er wohl selbst zugestehen mochte.

Trotzdem war der Kampf der widerstreitenden Gewalten in der Seele des alten Mannes noch nicht gelöst. Daß er sein Kind als Ausnahme betrachten solle, dagegen arbeitete all sein Denken und Fühlen wie mit verzehnfachter Kraft. Weil Ella eine schöne Stimme besaß, darum sollte sie andere Wege, als sie das Herkommen vorschrieb, gehen dürfen? Diese schöne Stimme erschien ihm zuweilen als etwas Unheimliches. Dann kam es wieder mit Milde, lind wie Frühlingluft über ihn. Das Kind war in der Tat so seltsam geartet, so ganz anders wie die Kinder der Gasse ... Die Art und Weise, wie es redete, die Reife in gewissen Dingen, die oft geradezu erschreckte, während es sich wieder bei anderen Anlässen seltsam blöde und unbeholfen zeigte, – war das eine Andeutung, daß David Brods Kind eine Ausnahme bilden, daß es hervorragen sollte aus der dunkeln Masse der Bewohner einer böhmischen »Gasse?« Und jetzt fiel ihm öfters der Umstand ein, daß Ella gar keine Spielgenossin, unter allen Kindern der Gasse niemanden hatte, die sie Kameradin nannte. Woher diese Vereinsamung, dieses trotzige Alleinstehen eines noch so jungen Lebens?

So war das grüne Laubhüttenfest zu Ende gegangen.

Der letzte Tag, das sogenannte »Freudenfest der Thora« war gekommen. An diesem Tage wird die Laubhütte nicht mehr benützt. Welk lag das Tannenreisig, welk hingen die Kränze herab, die das Kind des Vorbeters aus den Blumen des gräflichen Gartens gewunden hatte. Sollte das ein Vorzeichen sein, daß eine ähnliche Wandlung dem geheimnisvollen Gedankenleben Ellas bevorstand? ...

Zu Mittag, als das Essen aufgetragen werden sollte, sagte Ella, die heute ernster war, als sie je erschienen:

»Vater! wie wär's, wenn wir noch einmal heute in die Laubhütte gingen?«

»Narrele,« sagte David Brod, »wo fallst du aus? Mit der Laubhütte ist es für heuer aus, man geht erst in einem Jahr wieder hin.«

»Vater,« sagte Ella, und die Stimme des Kindes klang über alle Beschreibung mild und weich, »gehen wir doch hinaus! Kann ich wissen, wie lange es anstehen wird, bis ich wieder in einer Laubhütte sitze?«

Das griff dem Alten ans Herz. Laut weinend sagte er:

»Siehst du, Feiwelmann, sie denkt schon ans Fortgehen, und weiß doch nicht, ob ich es zugebe.« »Weine nicht, David,« rief der Baß, über dessen breites Gesicht selbst eine namenlose Zuckung ging, »weine nicht! Heute ist ›Freudenfest der Thora‹, da soll der Mensch nicht vergessen, sich recht vom Herzen zu freuen. Warum willst du dem Kinde das nicht zu Gefallen tun?«

So wurde das Mittagmahl in die Laubhütte hinausgetragen. David Brod fühlte es in sich, daß jeder Widerstand gegen das Begehren des Kindes längst in ihm gebrochen war. Aber es herrschte während des Mahles kein fröhlicher Ton; der Baß versuchte lustig zu sein, aber seine Spaße mißlangen und erschienen täppisch. So begnügte er sich endlich mit dem guten Willen und wurde schweigsam, wie die anderen. Als das Tischgebet vorüber war, fuhr Ella plötzlich von ihrem Sitze auf. Ihre Augen leuchteten und blitzten wieder wie ehemals, durch ihre weißen Zähne funkelte ein fast übermütig zu nennendes Lächeln.

»Jetzt,« rief sie, »hätte ich Lust, etwas zu singen. Soll ich die neue »Keduscha« Vorsingen, die ihr am ersten Laubhüttentage in der ›Schul‹ vorgetragen habt?«

Und das Kind sang die neue Melodie, die sein Vater von dem polnischen Bettler erlernt hatte. Niemals hatte David Brod in der Stimme seines Kindes so viel Süße und Wohllaut geahnt. War das die Melodie, die er dem sarmatischen Bettler abgekauft hatte? Denn wieder hatte sein Kind der altorientalischen Weise ein Gepräge gegeben, daß sie als etwas ganz anderes erschien, während der süße Kern unberührt geblieben war. Wie fing Ella es nur an, daß David Brod sich selbst gestehen mußte, er habe die Melodie erst jetzt recht begriffen: nun wüßte er erst, wie ihr »beizukommen« sei! Was waren dem Kinde jene Schwierigkeiten, die wie hohe unübersteigliche Berge vor ihm und dem Baß dagelegen? Spielend schritt Ella über sie hinweg, und wohin sie trat, da quoll es unter ihren Schritten wie eine goldene Saat auf, in der sich wunderbare Singvögel bargen. »Hör auf! Hör um Gottes willen auf, Ella,« rief er, noch ehe die letzten Töne verklungen waren.

Der Baß aber sagte:

»Willst du wissen, David Brod, wie mir unsere ›Keduscha‹ vorkommt, wenn sie dein Kind singt? Du erinnerst dich noch an den Schnorrer, der uns den Gesang gelehrt hat, an die schwarzen Ringellocken und an die hohe Pelzmütze, und an den schmutzigen Kaftan, der seinen Leib bedeckt hat. So ist er mir wieder vor den Augen gestanden, bevor dein Kind angefangen hat. Jetzt aber war es mir, als hätte er eine glänzende Krone auf seinem Kopfe gehabt, und um den Leib herum flatterte ein weites prächtiges Gewand, und aller Schmutz war verschwunden, und er war wahrhaft schön geworden.«

David Brod hatte sein Haupt gesenkt: schwere Tränen rollten über seine Wangen; er suchte sie nicht mehr zu verbergen.

»Was willst du vor mir noch beweisen, Feiwelmann,« sagte er, »was nicht mehr bewiesen zu werden braucht?«

Dann rief er das Kind zu sich.

»Komm her,« sagte er, »ich will dich heute schön benschen ... denn morgen gehen wir zum Grafen ... und da gehörst du nicht mehr mir!«

Über das Haupt des Kindes, der künftigen Künstlerin, flossen die uralten, heiligen Segensworte:

»Der Engel, der mich erlöst hat aus allem Übel, er segne dieses Kind, und genannt werde an ihm mein Name und der Name meiner Mütter Sara, Rebekka, Lea und Rachel.« – –


»David Brod,« hatte der Graf gesagt, »ich wiederhole Euch und Eurem Kinde gegenüber mein Versprechen, für Ella zu sorgen, insolange sie sich durch Gehorsam dessen würdig zeigt.« Seltsam! dem Kinde schenkte er nicht die geringste Aufmerksamkeit; er hatte die letzten Worte mit einer Bestimmtheit in Ton und Gebärde zugesichert, daß sie sogar dem an leidende Demut gewohnten Vorbeter auffallen mußten.

»Und wie wird es mit der Religion stehen?« wagte er schließlich noch die Frage, »wie wird es damit stehen, gestrenger Herr Graf?«

»Die Kunst selbst ist eine Religion,« sagte der Graf kurz.

Auf David Brods Lippen wollte sich ein Bedenken drängen, das ausgesprochen werden wollte. Aber es erstarb ihm auf der Zunge; die strenge Miene des hohen Herrn ließ kein Wort mehr aufkommen.

Als die beiden aus dem Schlosse kamen, erwartete sie draußen vor dem Gitter Feiwelmann, der Baß.

»Ist alles gut?« fragte er, »hat er sie angenommen?«

David Brod konnte nur mit dem Kopfe nicken. Sein Antlitz zeigte keine freudige Erregtheit.

Dann erzählte er ihm, während Ella voranging, in flüsternden Worten, als ob er einen Lauscher hinter sich vermutete, wie merkwürdig verändert ihm der Graf entgegengetreten sei; da sei keine Spur von jener Herablassung zu finden gewesen, die er an jenem Abende in der Laubhütte zur Schau getragen; es sei ihm gewesen, als ob der Graf von heute ein ganz anderer geworden, als hätten »böse Geister« an ihm gearbeitet, um ihn gegen sich und das Kind einzunehmen.

»David Brod,« sagte Feiwelmann, der Baß, während sich über sein breites Gesicht wieder jener traumhaft verlorene Zug legte, »du wirst doch nicht meinen, er hat durch seine Leute erfahren, daß wir mit unserem neuen Gesang durchgefallen sind?«

»Feiwelmann, Narr!« schrie der Vorbeter erbost.

»So weiß ich nur eines,« sagte der Baß, ohne sich an den Grimm seines Herrn und Vorgesetzten zu kehren. »Er hat dem Kinde schon jetzt den Meister zu erkennen gegeben: denn Ella wird einen Meister nötig haben!«

Wahrscheinlich hätte Feiwelmann, der Baß, und wäre er selbst vor einem peinlichen Gerichte gestanden, nicht anzugeben gewußt, warum er das sprach! –

Laubhüttenfest war wieder ins Land gekommen.

Am Abende saßen die beiden Männer wieder in der leichtgezimmerten Hütte, als deren Dach der grüne Waldschmuck, den die Bauern gebracht hatten, diente. Sonst war nichts in der Laubhütte zu sehen ... die Wände kahl, nicht einmal vergoldete Nüsse und Äpfel gaben Zeugnis davon, daß sich irgend jemand bemüht hatte, der Hütte einen traulicheren Charakter zu verleihen.

»Denkst du noch, Feiwelmann,« sagte David Brod, nachdem er die Segensformel über den Wein und das weiße Brot gesprochen, »wie sie, heute ist's ein Jahr, in den Garten des Grafen um Blumen gelaufen ist? Gott der Lebendige weiß, wie ihr der Gedanke gekommen war. Was hab' ich nun davon, daß damals unsere Laubhütte schöner war als irgend eine in der ganzen Gasse? Jetzt fehlt mir das Kind – das hab' ich davon!«

»Kuriose Gedanken an einem Feiertagabend, David Brod!« grollte der Baß.

»Sie fehlt mir, Feiwelmann!« sagte der Vorbeter, »wo ist sie jetzt? Sitzt sie heute in einer Laubhütte? Und wenn du mir heute Speise von der Tafel eines Königs vorsetzest, ich werde sie nicht anrühren, denn mein Herz ist mir schwer.«

»David Brod,« sagte der Baß mit mühsam erzwungenem Lächeln, »wenn man dich so reden hört, so möchte man schier glauben, du hast dein Kind verkauft und nun irrt es auf der Straße umher und sucht seinen Vater?«

»Feiwelmann,« rief der Vorbeter, »du hast das rechte Wort gesprochen. Ist mir denn anders zumut, als wäre sie verkauft? Wenn mein gutes Weib, mit der Friede sei, noch am Leben gewesen wäre, sie hätte es nicht zugegeben; denn eine Mutter läßt ihr Kind, was sie geboren und mit ihrem Blute genährt, nicht so leicht von sich fort. Aber ich, der Vater, bin ein so leichtsinniger Mensch gewesen. All ihr Leben könnt' mir das mein Weib, die nun im Grabe liegt, nicht verzeihen!«

Da zog Feiwelmann, der Baß, einen Brief aus seiner Rocktasche hervor.

»Man soll nicht sagen, David Brod,« meinte er, »ich hätte dir deinen Feiertag verdorben. Da sieh her, wer das geschrieben hat?«

»Vom Kind? von Ella?« schrie der Vorbeter, »warum zeigst du ihn erst jetzt?«

»Ich hab' heute unsere Laubhütte damit schmücken wollen, ... weil sie uns doch fehlt.«

»Lies vor, Feiwelmann,« rief der Vorbeter, »ich könnt' ihn ja doch nicht lesen, denn das Sehen ›verschießt‹ mir.«

Und Feiwelmann las vor:

»Herzliebster Vater bis zu hundert Jahren!

Guter Feiwelmann Baß!

Wenn dieser Brief bei Euch ankommt, da habt Ihr gewiß draußen im Hofe unseres Hauses die Laubhütte wieder aufgerichtet, und Feiwelmann hat, wie er das grüne Tannenreisig aufs Dach gelegt hat, dabei ausgerufen: Gott, wie duftet das, ich werde an meinen Wald in Bayern gemahnt! Darum habe ich es so eingerichtet, daß Ihr den Brief gerade heute in die Hände bekommt, und Feiwelmann soll ihn dem Vater vorlesen, damit Ihr beide glaubet, ich sitze unter Euch! Feiwelmann, der Baß, hat übrigens recht: unter allen Feiertagen halte ich auch auf das Laubhüttenfest am meisten. Da ist noch alles grün und in den Gärten blühen noch Blumen, und in den Synagogen halten die Leute den ›Lulev‹ und den ›Eßrog‹ in der Hand. Warum kann so etwas nicht das ganze Jahr hindurch andauern? Ich möchte, wenn ich die Gewalt dazu hätte, anordnen, daß in der Synagoge immer etwas Grünes aus dem Walde oder Blumen zu sehen wären. Ich glaube, die Leute möchten dann nicht so sehr schreien, wenn sie beten, und ihren Körper nicht so heftig hin und her bewegen, als wären sie selbst Bäume, mit denen ein starker Wind unbarmherzig umgeht. Denn was sagt mein Gesangslehrer stets, den mir der Herr Graf gegeben hat: ›Ella‹ sagt er, ›Sie müssen Ihren Oberleib, währenddem Sie singen, ruhig halten, Sie dürfen mit Ihren Armen nicht umherwerfen, wie ich es an Ihren Leuten bemerkt habe, wenn sie in der Synagoge sind. Denken Sie sich in die Lage, daß Sie auf der Bühne sind, und ich befinde mich im Publikum. Was ist meine erste Idee? Das Mädchen mag wohl eine vortreffliche Stimme besitzen, aber ihre Manieren sind aus irgend einer ›Gasse‹ hervorgegangen‹. So sagt mein Gesangslehrer, und ich muß allemal dabei an Feiwelmann, den Baß, denken, wie der sich beim Gesänge die Hand an die Backe hält, und wie ich recht gehabt habe, ihm zu sagen, daß sich das nicht schickt. Lieber Feiwelmann Baß, verzeihe mir, wenn ich Dir damit wehe getan habe, aber ich kann mir nicht anders helfen. Es ist nicht schön, seine Backe so zu verunzieren, während man singen soll.

Auch muß ich Euch schreiben, daß ich drei verschiedene Lehrer für Sprachen habe, einen, bei dem ich das Italienische lerne, einen, der mir die deutsche Sprachlehre beibringt, denn der Herr Graf hat gleich anfangs gemeint, mein Deutsch sei kein Deutsch, ich müßte meinen alten ›Jargon‹ abstreifen, der mir noch anhängt, und endlich einen, bei dem ich deklamieren lerne, und welche Gebärden man zu machen hat, wenn man etwas vor Leuten öffentlich singt, was man Mimik nennt. Das Singen und Klavierspielen ist aber die Hauptsache, und neulich hat der Herr Graf, wie er hier war, Prüfung mit mir angestellt aus allen Gegenständen, und zuletzt kam das Singen daran. Ich weiß nicht, warum ich dabei so gezittert habe ... und hätte mich doch gar nicht gefürchtet, als ich das erste Mal vor ihm in seinem Garten gesungen habe. Wie ich fertig war, ist der Herr Graf gar still dagesessen, und hat kein Wort gesprochen. In dieser Nacht habe ich so viel geweint wie damals, als sie die Mutter auf den ›guten Ort‹ hinaustrugen.

Am anderen Tage ist der Herr Graf wieder gekommen. ›In allen Gegenständen bin ich mit deinen Fortschritten vollkommen zufrieden,‹ hat er zu mir gesagt, ›nur dein Singen scheint kein Wort halten zu wollen. Singe mir das gestrige Lied noch einmal.‹ Da ist mir vom Herzen herauf etwas zu Kopfe gestiegen, es war wie ein Stoß und Schlag, daß ich meinte, aus meinen Augen fahren Blitze, und die müßten mich selbst in Brand stecken. Ich habe wieder gesungen, und dann hat der Herr Graf seine Hand auf meinen Kopf gelegt und hat dabei nur ein einziges Wort: ›Karfunkel‹ gesprochen. Das ist mir aber genug und mehr, als hätte er einen ganzen Tag mit mir geredet. Als er dann fortging, hat er die Frau, bei der ich in Kost und Quartier bin und alles andere habe, gerufen und hat ihr gesagt, sie möchte mir ein neues seidenes Kleid kaufen, und es aufs schönste herrichten lassen. Da weiß ich nicht, wie so es mir über die Lippen gekommen ist, aber ich habe gesagt, wenn ich um etwas bitten dürfte, so wäre es kein Kleid. ›Und was denn, Karfunkel?‹ fragte der Graf. ›Ich möcht' ein Gebetbuch haben,‹ antwortete ich, ›wie ich eines zu Hause gehabt habe.‹ Der Graf sah mich mit seinen durchdringenden Augen eine Weile an. ›Warum willst du ein Gebetbuch?‹ sagte er, ›sehnst du dich vielleicht nach deiner Gasse und Laubhütte zurück?‹ Da habe ich gemeint: ›Ich möchte zuweilen mit meinem Vater und mit Feiwelmann reden, und das kann nur durch das Gebetbuch geschehen.‹ Da hat der Graf laut aufgelacht. ›So kaufen Sie ihr ein seidenes Kleid und ein Gebetbuch,‹ hat er zu der Frau gesagt; ›wo das letztere zu bekommen ist, werden Sie wohl wissen.‹ Und er hat so spöttisch gelächelt, und die Frau auch; ich konnte nicht erraten, warum? Am anderen Tage ist es mir klar geworden. Da hat mich die Frau auf einen Spaziergang mitgenommen, und wir sind weit, weit gegangen, bis wir in eine schmutzige und enge Gasse kamen. ›Das ist die ›goldene Gasse‹, hat sie gesagt, ›sieh dich doch um, wie ›deine Leute‹ hier aussehen.‹ Lebendiger, großer Gott! was hatte ich ihnen denn zuleide getan, daß sie dort so auf mich zugestürzt sind? Sie haben uns fast die Kleider vom Leibe gerissen, und der eine hat uns das, der andere jenes angeboten. Endlich fragte ich die Frau, was wir denn eigentlich in dieser Gasse tun, denn die Leute sind mir wie wilde Tiere vorgekommen. Da hat sie gesagt: ›Du willst ja ein Gebetbuch kaufen, hier ist es zu haben.‹

Herzliebster Vater bis zu hundert Jahren, und guter Feiwelmann Baß!

Ein alter Mann mit wackelndem Kopfe und zitternden Händen, der hat uns endlich gesagt, er hätte, was wir zu kaufen wünschten. ›Was für ein Gebetbuch soll es sein?‹ hat er mich gefragt. › Unser Gebetbuch!‹ habe ich gesagt. ›Bist du denn ...?‹ fragte er mich und sieht mich erstaunt an. ›Mein Vater heißt David Brod,‹ sagte ich ihm still, ›und ist Vorbeter.‹ Darauf hat er mir ein Gebetbuch gegeben, und wie ihm die Frau dafür zahlen wollte, hat er bei dem ›Leben seines Weibes und seiner Kinder‹ geschworen, er nehme keinen Kreuzer dafür. Und so sind wir gegangen, und die Frau hat nichts gesagt. Aber der alte Mann hat uns nachgeblickt, bis wir aus der ›goldenen Gasse‹ heraus waren. Seit ich nun das Gebetbuch habe, ist es mir, als könnt' ich mit Euch von Angesicht zu Angesicht reden, und manchmal singe ich auch die alten Gesänge, wie ich sie von Euch gehört habe, aber das geschieht im stillen und so, daß es die Frau nicht hört. Aber am Laubhüttenfeste da will ich mir die Gebete aufblättern, die man an diesem Tage betet, und ich will keines überschluppern.

Jetzt muß ich schließen, weil auch das Papier zu Ende geht. Aber noch muß ich eines mitteilen. Der Graf wird bald eine große Reise antreten, und ich werde ihn vielleicht ein ganzes Jahr nicht zu sehen bekommen. Übrigens verbleibe ich Euer aufrichtiges Kind

Ella, auch Karfunkel.«

»Was sagst du zu dem Brief, David Brod?« fragte der Baß, nachdem er längst das Vorlesen des kindlichen Schreibens beendigt hatte.

»Sie sitzt heute in keiner Laubhütte!« sagte der Vorbeter, vor sich hinstarrend, und heiße Tränen rannen ihm die Wangen herab.

»Warum weinst du wieder, David Brod?« sagte der Baß in wahrer Traurigkeit. »Schreibt denn Ella etwas, was das Herz betrübt?«

Der Vorbeter fuhr mit der Hand über die nassen Augen.

»Lies mir das noch einmal vor, was sie über den alten Mann in der ›goldenen Gasse‹ schreibt,« sagte er.

Der Baß folgte seinem Geheiß.

»Merkwürdig, merkwürdig,« murmelte David Brod vor sich hin, »sie weiß noch, wie ihr Vater heißt! Wie lange wird das noch dauern?«

Dann stand er auf und ging zur Laubhütte hinaus.

Die Leute in der »Gasse« wußten sich den Trübsinn, der seit einiger Zeit um das Wesen ihres Vorbeters lag, nicht zu erklären! Wenn sie ihn fragten, wie es seinem Kinde in Prag gehe, so erzählte er ihnen die Geschichte von dem Gebetbuche, welches sie in der »goldenen Gasse« von einem alten Manne zum Geschenke erhalten. Er schien das Bedürfnis zu fühlen, gerade in diesem Punkte das Andenken seines Kindes von allem Verdachte frei zu bewahren! Die Leute sollten nicht glauben, seine Ella wandle bereits auf »Abwegen«, und immer war es die Geschichte von dem Gebetbuche, die er vorbrachte, als ob die Zukunft der künftigen Sängerin in den Zauberkreis jener Gebete eingeschlossen sei, die Ella am ersten Laubhüttentage »sich aufblätterte«. Aber so seltsam geartet ist des Menschen Gemüt! Je öfters er diese Geschichte erzählte, desto weniger Eindruck machte sie auf die Leute. Merkten sie die Absicht des alten Mannes? Am Ende war es ihnen gleichgültig, ob das gering geachtete Kind eines Vorbeters auf den althergebrachten Wegen der Gasse blieb, oder sich davon entfernte. Was wollte David Brod noch? Sein Kind stand im Schutze eines hohen Herrn – und war es nicht etwas Selbstverständliches, daß die Tochter eines Synagogensängers auch eine Sängerin wurde.

Briefe ähnlichen Inhaltes, wie der zuletzt mitgeteilte, langten noch öfters an; immer war es ein Wort, ein leise hingeworfener Ausdruck, der die Aufmerksamkeit und das Sinnen des alten Vorbeters fesselte, und dieses Wort, dieser Satz und Ausdruck mußte, um es geradezu heraus zu sagen, mit dem religiösen Leben seiner Tochter in Verbindung stehen! Fand er darin, was er mit dürstender Seele suchte, so konnte er tagelang herzensfreudig umherwandeln und den Leuten seine Entdeckungen mitteilen. Feiwelmann, der Baß, hatte es längst aufgegeben, seinem Herrn und Meister in dieser Beziehung entgegenzutreten. Aber dem alten Manne erging es wie jedem, der einer einzigen maßgebenden Anschauung sich gefangen gibt. Er fühlte und sah nicht mit seinem geistigen Auge die Wandlungen, die indessen mit seinem Kinde vorgegangen; für ihn war sie noch stets das, Kind, das, einem frommen Drange folgend, in die »goldene Gasse« gegangen war, um sich ein Gebetbuch zu holen! David Brod kannte nicht das Gesetz der eisernen Notwendigkeit, jenes tückischen Schmiedes, der in unheimlicher Stille an den Ringen der Kette arbeitet, so daß kein Hammerschlag hörbar ist, bis das Werk vollendet ist, dem wir gemeiniglich den Namen Geschick beilegen! ...

Diese Wandlungen waren eingetreten, schneller und eiliger, als sie nach der Natur der Sache hätten erwartet werden können. Jeder Brief Ellas, der von Prag einlief, gab davon Zeugnis. Es lag ein Etwas in diesen Briefen, das wunderbar zurückstand gegen den Ton, die Ausdrucksweise, das Empfinden aller früheren Briefe. Scheinbar hatte sich nichts verändert ... und doch allmählich waren die früheren Gewänder abgefallen ... Das Kind des Vorbeters hatte andere erhalten, nicht jene, an denen die Hand des Menschen wirkt und webt, sondern die die eigene Seele aus sich selbst herausschafft, an deren Zurüstung der eigene Geist gesonnen und gedichtet hat.

Ein Brief war wieder eingetroffen; es war gerade am Tage vor dem Laubhüttenfeste, dem zweiten, seitdem Ella das Vaterhaus verlassen. Der Brief lautete:

»Lieber Vater!

Zwischen heute und morgen tritt ein entscheidender Moment in meinem Leben ein. Der ›Karfunkel‹ beginnt zu glänzen, das Kind der ›Gasse‹ verläßt Prag und geht nach Italien, dem Lande, wo im ›dunklen Laub die Goldorangen glühn!‹ Ein Schreiben meines Herrn Grafen beruft mich dorthin, meine Lehrzeit hier ist vollendet. Dort, in jenen vom milden Kusse der Sonne durchleuchteten Gegenden wird auch mein Stern aufgehen, oder – untergehen für immer. Die Frau, deren Leitung ich in Prag übergeben ward, geht mit mir. Alles ist in Aufruhr in mir ... Hättest Du das gedacht, als ich vor zwei Jahren nichts Wichtigeres und Höheres kannte, als woher ich Blumen für unsere Laubhütte nehmen sollte? Aber der ›Karfunkel‹ beginnt zu glänzen. Lebe wohl für lange, und grüße mir Herrn Feiwelmann ... Ich bin Deine treue Tochter

Ella.«

Nachschrift.

»Wenn die ›Jahrzeit‹ der guten Mutter eintritt, so gehe auf den Friedhof oder den ›guten Ort‹, wie es bei uns bezeichnend heißt, und lege für mich und in meinem Namen ein Steinchen auf ihr Grab.«

»Feiwelmann! Lies mir noch einmal den Nachsatz!« rief der Vorbeter.

Wieder waren es nur diese wenigen Worte, die all sein Sinnen und Empfinden in Anspruch nahmen. Sein Kind, in voller Zubereitung, um mit weit geöffneten Fittichen wie eine den Lenz aufsuchende Schwalbe, das fernliegende Land des Südens aufzusuchen, – und in David Brods Seele fand nichts anderes Raum als das kleine Steinchen, das er am ›Jahrzeitstage‹ seiner verstorbenen Frau aufs Grab legen sollte. Für sie, für Ella und in ihrem Namen!

Feiwelmann, der Baß, sprach lange nachher, als der Brief schon fast vergilbt war, unhörbar sich selbst und anderen, im Wachen und Träumen die wenigen Worte vor sich hin:

»Und grüße mir auch Herrn Feiwelmann!«

Herrn Feiwelmann! Der Karfunkel begann bereits zu glänzen!


Jahre sind seitdem vergangen ...

David Brod ist noch immer Vorbeter der Gemeinde, die »Gasse« ist dieselbe geblieben, hie und da ist eine Lücke entstanden, für die draußen auf dem »guten Orte« ein steinernes Denkmal zeugt. Aber der Lebensbaum setzt immer neue Triebe an. Noch war die neue Zeit nicht gekommen, die aus diesen still abgelegenen Gassen die Bewohner wie mit Feuerrufen aus ihrer Ruhe aufjagte, daß sie in wilder Hast aufbrachen, die Stätten ihrer Geburt und die Stätten, wo ihre Eltern begraben lagen, nicht eilig genug hinter sich sehen konnten. Die Fittiche, die später so rasch sich hoben, waren damals noch gesenkt: still war die Luft ringsum und fast bleiern drückend. Was sich heben wollte, wurde in seiner ersten Kraftanstrengung lahm; was hinausstrebte, das ward von hundert und aber hundert Mächten zurückgehalten in Gestalt von Gesetzesparagraphen, die über jeden Schritt und Tritt der »Gasse« wachten. Noch war es nur sehr wenigen gelungen, den Zauberbann zu brechen, der mit der Wucht eines eisernen Gesetzes auf diesen gemiedenen, abgeschlossenen Häusern und Menschen lag; unter diesen war das Kind des Vorbeters. Was war aus Ella, der Tochter David Brods, geworden?

Die »Gasse«, die Menschen und Zustände hatten sich also nicht gewandelt. Wenn das Fest der grünen Laubhütten herannahte, wurden wieder die hölzernen Hütten aufgerichtet; Bauern brachten den waldduftenden Schmuck, und wollten noch immer nicht darüber nachdenken, warum nicht auch Abraham und Isaak Anteil an dem Walde haben sollten, um daraus Tannenreisige für ihre Laubhütten zu holen. Wenn die Hütte dann aufgerichtet war, liefen noch immer die Kinder in freudiger Geschäftigkeit umher, saßen mit geröteten Wangen bei Nüssen und Äpfeln, die sie mit Rauschgold bekleideten ...

Was war indessen aus der Tochter des Vorbeters geworden?

Die es wissen sollten, wußten es längst nicht mehr. Wenn man den Vorbeter darum fragte, so schüttelte er den Kopf, und höchstens sagte er mit einem Tone von Verbissenheit, den man früher an ihm nicht kannte: »Was soll mit ihr sein? Sie wird singen!« und wenn Feiwelmann, der Baß, Rede stehen sollte, so war seine gewöhnliche Antwort: »Ein Karfunkel braucht einige Zeit, bis er geschliffen ist.« Das eine war klar: weder David Brod noch sein Baß schienen mit Sicherheit zu wissen, was aus Ella geworden. Was war aus dem Kinde geworden?

Droben im gräflichen Schlosse wußten sie es auch nicht, oder sie gaben höchstens ausweichende Antworten. Der Graf weilte noch immer in der Ferne auf Reisen; niemand konnte Auskunft geben, wann seine Rückkehr zu erwarten war. Einmal kurz vor Beginn des Laubhüttenfestes war Feiwelmann, der Baß, wieder auf dem Schlosse gewesen. Da hatte man ihm im Namen des Grafen für David Brod eine nicht unbedeutende Geldsumme eingehändigt und ihm dabei gesagt, ein gleicher Betrag würde jährlich an ihn ausbezahlt werden; er möge »einstweilen« sich damit begnügen und nicht weiter nachforschen; das Geld käme nicht vom Grafen. Er sollte sich damit gütlich tun, die Zeit der Kümmerlichkeit und des Darbens sei vorüber!

Ella lebte also? Was war mit ihr geschehen?

All das hatte Feiwelmann, der Baß, getreulich dem Vorbeter berichtet. Aber als er ihm das Geld einhändigen wollte, stieß David Brod einen markdurchschütternden Schrei aus. Mit krampfhaft zitternden Händen schob er das dargereichte Geld zurück.

»Verbrenn es oder zerstampf's!« schrie er. »Was will sie mir damit abzahlen? Die Tränen, die ich um sie geweint habe? Das zerbrochene Herz? Daß ich nicht weiß, ob sie lebt, ob sie gestorben und verdorben ist? Was will sie damit mir abkaufen?«

Und als Feiwelmann in tiefster Bekümmernis sagte: »David, du kannst das Geld ruhig behalten, von Ella kann gar nichts Schlechtes kommen,« da packte ihn der alte Mann mit der Kraft eines Jünglings an der Schulter und schrie:

»So sagst du, weil sie nicht dein Kind ist und weil du die Schuld trägst, daß ich sie weggegeben habe. Wirst du vielleicht dich zur ›Schiwe‹ (siebentägigen Trauer) hinsetzen, wenn du hören wirst, das Kind sei mir abgestorben? Wirst du dir deinen Rock zerreißen?«

»Ella lebt aber!« rief Feiwelmann.

Da brach die fieberhaft aufgestachelte Kraft des alten Mannes in sich zusammen:

»Feiwelmann,« sagte er schwach, »du wirst erraten, was in mir vorgeht, dir brauche ich nichts anderes zu sagen. Aber besser wäre es, ich könnte mich hinsetzen auf einen niedrigen Schemel und um mein gestorbenes Kind trauern, als so zu leben und nicht zu wissen ob sie mir gestorben ist« ...

Der Baß nahm das Geld zu sich und brachte es in sichere Verwahrung.

In der Gasse unterhielten sich aber die Leute mit der in allen Formen einer sicher verbürgten Tatsache verbreiteten Neuigkeit, David Brod werde es von nun an nicht mehr nötig haben, Vorbeter zu sein; David Brod könne sich nun auf seine alten Tage pflegen und gütlich tun, denn seine Tochter, die häßliche Ella, schicke ihm nun Geld, soviel als er nur brauche, und die kleine Ella sei eine große Sängerin geworden!

Wie die Leute das nur wußten! Sie lasen kein gedrucktes Blatt; in ihre Stuben flatterte keiner jener papiernen Boten, der ihnen Kunde brachte aus der großen und kleinen Welt; die wenigsten unter ihnen ahnten, daß es außerhalb ihres mühevoll in Drangsal und Arbeit ringenden Lebens ein Reich der Kunst gebe ... und doch sprachen sie die Wahrheit.

Das Kind des Vorbeters war in der Tat eine große Sängerin geworden.

In einer großen Stadt Oberitaliens war eines Abends das ganze im Theater versammelte Publikum in der furchtbarsten Aufregung; man schrie, lärmte und pfiff, der Vorhang wollte nicht in die Höhe gehen, die Stunde des Beginns war längst vorüber. Da, als der Lärm und das Toben alle Grenzen überschritt, trat der Impresario des Theaters unter tiefen Bücklingen vor die Lampen ans Orchester und meldete mit gramumhüllter Stimme: Er habe dem hochgeehrten Publikum eine bedauerliche Mitteilung zu machen, die aber niemanden tiefer und schmerzlicher berühre als ihn selbst, Die erste Sängerin nämlich, die die »Norma« singen sollte, sei plötzlich aufs ernstlichste erkrankt; es habe aber in der Eile, da keine andere Vorstellung so schnell vorgeführt werden könne, eine junge Sängerin, die bisher in zweiten und dritten Rollen beschäftigt gewesen, sich erboten, die Stelle der erkrankten ersten Künstlerin zu vertreten. Ob das hochgeehrte Publikum zu diesem durch die Umstände gerechtfertigten Wagestück seine Erlaubnis geben? ob es das junge Mädchen mit Nachsicht behandeln wolle? Ein wütendes Geschrei folgte als Antwort auf die Anrede. Einige riefen dem Impresario zu, ob sie gekommen seien, um mit unreifem Obste bewirtet zu werden; andere wieder schrien, sie wollten das junge Mädchen sehen, und diese trugen endlich den Sieg davon. Die Musiker stimmten die Ouvertüre an, darauf ging der Vorhang in die Höhe, und die Oper konnte beginnen. Der einleitende Chor wurde kaum angehört, denn noch hatten sich in dem weiten Saale die wild aufgeregten Leidenschaften nicht beschwichtigt. Da trat ein junges, dem Anscheine nach zwanzigjähriges Mädchen auf die Bühne ... die Priesterin Norma. Ein weißes, wallendes Gewand umwogte ihre zwar nicht hohe, aber im schönsten Ebenmaße gebaute Gestalt; in den schwarzen Haaren lag ein Kranz von grünem Laub, aber ihr Antlitz war tief bleich, und die Augen schienen nach Schutz zu suchen. Sie sang ... und als spät nach Mitternacht der Vorhang niederfiel, stand eine unbestreitbare Tatsache fest: Mit Isabella Brodini, so hieß die junge, stimmgewaltige Sängerin, war ein glanzvoller »Stern« am Himmel der Kunst aufgegangen!

Das alles wußten die Leute in der stillen böhmischen Gasse nicht; sie wußten auch nicht, daß von jenem Abende an der Siegeslauf einer Künstlerin begann, deren Vater ihnen an Sabbaten und Feiertagen die heiligen Gebete vortrug. Wohin das bleiche Mädchen mit den großen Augen und der lerchenhaften Stimme kam, war es, als ob den Menschen eine neue Offenbarung über das Walten des Göttlichen in einem irdischen Geschöpfe entgegengetreten wäre. Alles das wußten die Leute nicht, und doch behaupteten sie, aus dem Kinde ihres Vorbeters sei eine große Sängerin geworden! Woher war ihnen diese Kunde gekommen?

Eines Tages kam Saul Weißfisch, der säbelbeinige Schneider, zu David Brod.

»David!« sagte er, »Euer Kind ist jetzt etwas Großes geworden; da muß sie sehr schöne Briefe schreiben, und ich bin all mein Leben ein Freund von schönen Briefen gewesen. Darum möcht' ich Euch bitten, zeigt mir, was Euch Euer Kind schreibt; ich kann mir denken, was so eine große Künstlerin schreiben kann!«

»Ich habe keine Briefe,« schrie der Vorbeter, und ein ergrimmtes Antlitz drohte dem erschrockenen Schneider zu.

»Ihr habt keine Briefe von Eurem Kinde!« rief Saul Weißfisch erschrocken. Dann lächelte er fein und boshaft.

»David Brod,« sagte er mit aufgehobenem Finger, »wollt Ihr auf Eure alten Tage mir, Saul Weißfisch, gegenüber, den »Min« (Heuchler) spielen? So gut ich Saul Weißfisch heiße, so gut habt Ihr Briefe von Eurer Tochter. Mir werdet Ihr einreden wollen, daß Ihr keine Briefe habt? Ihr wollt sie nur nicht vorweisen, weil Ihr fürchtet, ich könnte daraus erfahren, daß Ihr nun ein reicher Mann seid, dem seine Tochter ungezähltes Geld schickt, und daß die Gemeinde Euch vielleicht etwas von Eurem Gehalte abziehen könnte! David Brod, was seid Ihr doch für ein Min geworden!«

Das ist das Bitterste eines bekümmerten Herzens, wenn die platte Gemeinheit es wagt, die plumpe Hand an das Heiligtum unserer Empfindung zu legen, in unserer Schweigsamkeit Berechnung zu erblicken, die darauf loszielt, die blöde Neugierde des Nachbars im unklaren zu erhalten! David Brod konnte ein schönes Liedlein davon singen.

Eine trübe Vereinsamung warf immer tiefer fallende Schatten um den alten Mann; nicht einmal der einzigen Seele gegenüber, der sein geheimnisvolles Leiden offen vor Augen lag, konnte es gelingen, sie von ihm fern zu halten. Zwischen David Brod und seinem Freunde Feiwelmann lag etwas wie ein blankes Schwert, das jede Annäherung ihrer Seelen unterbrach. Sie wohnten und aßen miteinander; sie saßen sich gegenüber; wenn aber die Rede auf diejenige kam, die der eine als eine Tote ansah, während sie in dem Herzen des andern in Glanz und Herrlichkeit und ungetrübter Lebendigkeit thronte, dann klaffte der unheimliche Riß, der ihren Bund in zwei unheilbare Hälften auseinander gerissen hatte. Diese innere Entfremdung nahm von Tag zu Tag zu; trat sie einmal äußerlich zurück, so daß es schien, als hätten sich die beiden wiedergefunden – so zeigte es sich bei einer andern Gelegenheit, daß der Groll des Vorbeters von seinem üppig wuchernden Gedeihen nichts verloren hatte. Das war einmal so weit gegangen, daß Feiwelmann, der Baß, seiner Natur untreu, zornig aufgestanden und geäußert hatte:

»David Brod, ich sag' es dir, wenn du dich nicht änderst, so schnür' ich mein Bündel und gehe wieder nach Bayern zurück.«

»Warum nicht, Feiwelmann,« hatte dagegen David Brod gesagt, »da hast du nicht weit nach Frankfurt am Main und kannst wieder deinen großen Künstler spielen sehen.«

Dieser höhnischen Anspielung gegenüber, die deutlich bewies, daß aus dem Gedächtnisse des alten Mannes auch nicht die leiseste Erinnerung an jahrelange Erlebnisse geschwunden war, fühlte sich Feiwelmann schwach wie ein Kind.

»Hab' ich denn schon gesagt,« rief er stotternd, »daß ich gehen will? Bis du nicht deinen Stecken nimmst und jagst mich auf und davon, gehe ich nicht von dir. Was soll ich auch in Bayern tun? In Böhmen gefällt es mir, da will ich bleiben.«

In einer Nacht wachte Feiwelmann, der Baß, in seiner Kammer, es war dieselbe, die einst dem Kinde des Vorbeters zur Schlafstätte gedient hatte, länger als es seine Gewohnheit war. Er konnte keinen Schlummer finden; sein Gehirn war infolge einer jener peinlichen Unterredungen mit David Brod, die jetzt öfters stattfanden, tief aufgeregt, alle Ruhe war von ihm gewichen. Sollte er wirklich sein Bündel schnüren und sein Mutterland Bayern wieder aufsuchen? Seine Habseligkeiten waren bald schnell gepackt ... dann ein Sprung durch das niedere Fenster und er war außer dem Bereich des Grolles und des nagenden Kummers, der ihm stündlich und täglich seine Tage vergällte. Da durchzuckte ihn ein merkwürdig »wilder« Gedanke, sein Gesicht flammte hoch auf, all sein Denken und Fühlen war wie ein glühender Erzstrom in Fluß geraten.

Er setzte sich hin und schrieb folgenden Brief:

»Herrlicher Karfunkel in der weiten, weiten Welt! Wie ich noch ein Kind war zu Hause in Bayern, da hat mir einmal eine alte Frau ein Märchen erzählt, welches ich bis auf den heutigen Tag nicht vergessen habe. Ein Königskind war seinen Eltern geraubt und von den Räubern in einen großen finstern Wald gebracht worden. Wie es älter ward, ist aus ihm selber ein Räuber geworden, den man gefangen genommen und vor das Angesicht des Königs gebracht hat. Da hat man den Räuber gefragt, wer er sei und von welchen Eltern er abstamme, da hat er geantwortet: Eltern habe er keine gehabt, nur an das eine könne er sich erinnern, daß er in seiner Kindheit mit etwas Glänzendem gespielt habe, was gerade so aussehe wie die Krone auf dem Haupte des Königs.

Da ist der König ihm um den Hals gefallen und hat ausgerufen: ›Du bist mein Kind‹.

Und so eine Krone, glaube ich, mit der man in seiner Kindheit gespielt hat, besitzt jeder Mensch, und wenn er noch so alt wird und sich verändert, das goldene Spielzeug geht ihm nicht aus dem Kopfe, und wenn die Toten reden könnten, würde vielleicht mancher sagen: Es war mein letzter Gedanke!

Für mich ist und war diese Krone ... eine hölzerne Truhe, in welcher meine Mutter (mit der der Friede sei) ihre »guten« Sachen aufgehoben hat: ihre goldene Haube, ihre Feiertagskleider und unten auf dem Boden auch ihre einstigen Sterbegewänder! Wenn die Mutter diese Truhe aufgemacht hat, war es mir stets, als müßte ich mich auf etwas Besonderes freuen; der Schlüssel hat so merkwürdig geknarrt und die große Truhe hat gekracht, als hätte sie sagen wollen: Es ist ganz gut, daß ihr mir einmal Luft macht, ich kann es fast nicht aushalten. Und noch jetzt höre ich das Geknarre des Schlüssels und das Krachen der Truhe! Wie geht es denn Dir, herrlicher Karfunkel, in der weiten, weiten Welt? Hast Du denn keine Krone aus Deiner Kindheit, nicht einmal eine armselige Truhe, wie ich eine gehabt habe? Hast Du denn nichts, gar nichts, was Dich an diese Kindheit und an uns erinnert? ...

Von mir will ich gar nicht reden. Was bin ich einem Karfunkel gegenüber? Und dennoch red' ich mir ein, Du mußt manchmal daran denken, wie Du mir verboten hast, beim Singen die Hand an die Backe zu legen! Wenn ich aber auf Deinen Vater David Brod sehe, tut mir mein Herz wehe! Hast Du denn gar nichts, leuchtender Karfunkel, kein Spielzeug, keinen Schlüssel, der knarrt, keine Truhe, die kracht, wenn man sie aufschließt; kein Trenderl, welches sich kreiselt, nichts, gar nichts, was Dich an ihn gemahnt?

Unsere Laubhütte ist alt geworden, und wenn wir sie mit Gottes Hilfe im nächsten Jahre wieder aufrichten, muß Johannes, der Zimmermeister, der in der Klostergasse wohnt, ein paar neue Bretter hineinarbeiten. Auch David Brod ist alt geworden, aber ob einer außer Dir imstande ist, ihm ein paar neue Lebensbretter zu verschaffen, das weiß ich nicht. Denk an diese Bretter, Karfunkel ... denn es könnte bald geschehen, daß andere Leute daran denken müssen ... Krank ist er nicht, nur gewaltig müde. Im übrigen glaub nicht, daß ich in Deiner Kunst Dich stören will. Denn wer hat immer gesagt: David Brods Kind ist ein Wunder von Gott? Und wer hat aufgehört, seine Backe beim Singen zu halten? War das nicht Feiwelmann, der Baß? Und warum hat er aufgehört? Weil es ihm ein Kind geboten hat, auf das er mehr gehört hat, wie auf das Wort eines Kaisers! Verzeihe mir, daß ich das alles so geradezu heraussage. Aber ... Du hast Deinen Vater in acht Jahren nicht gesehen, und ich ... ich habe ihn stündlich vor Augen.

Lebe wohl, leuchtender Karfunkel, dem ich bin in tiefster Ehrfurcht

Feiwelmann, der Baß.«

Diesen Brief siegelte der Baß noch in der Nacht, trug ihn am andern Tage aufs Schloß und übergab ihn demjenigen von den Bediensteten des Grafen, der ihm im Namen seines Herrn die von Zeit zu Zeit einlangenden Geldbeträge für David Brod einhändigte. Anfangs lächelte der Bedienstete so geheimnisvoll ... und verweigerte dann entschieden die Übernahme des Briefes. Aber Feiwelmann bat so inständig und geriet in einen solchen Eifer, daß der Diener endlich das Versprechen gab, er werde das Schreiben an die bezeichnete Adresse gelangen lassen. Ob aber eine Antwort erfolgen werde? ...

Ach! wer Feiwelmann vom Schlosse kommen sah, so atemlos, das breite gutmütige Antlitz von Schweißtropfen feucht, mit den Händen um sich arbeitend, als wollte er eine unsichtbare Macht von sich abwehren, hätte vermuten können, der Baß habe in die Schatzkammer des Grafen einen kühnen Griff getan, den er nun bergen wollte, und doch hatte er nichts anderes getan ... als daß er seinen Brief an Ella in Sicherheit gebracht!

Kurz nach diesem in Feiwelmanns Augen so überaus wichtigen Ereignisse kam des säbelbeinigen Schneiders Saul Weißfisch Sohn, Gottlieb, auch unter dem Namen »der verdorbene Student« in der Gasse bekannt, auf die Ferien nach Hause.

Mit dieser Bezeichnung ging die »Gasse« unstreitig viel zu weit. Gottlieb Weißfisch, der Mediziner, war durchaus nicht das, was man im Leben so oberflächlich einen schlechten Studenten nennt; aber weil er bereits durch volle zehn Jahre seiner Wissenschaft oblag, ohne daß er es zu einem Abschlusse als wohlbestallter Doktor brachte, während Gottlieb Weißfisch eigentlich nur der Wissenschaft in die allerletzten Geheimnisse hineinblicken wollte, wozu bekanntlich eine längere Zeit erheischt wird, als gewöhnliche Menschenkinder diesem Geschäfte zu widmen für gut befinden – darum nannten ihn die Leute einen verdorbenen Studenten. Anscheinend hatten sie wohl eine Art Berechtigung dazu, im Grunde jedoch verdiente der Sohn des Schneiders durchaus nicht diese Bezeichnung. Wenn man ihn hörte und ansah, war er eine Zierde der Universität, und nur die Professoren, die ihm so »aufsässig« waren, daß sie ihm bereits dreimal den Rat erteilt hatten, die schlecht bestandenen Prüfungen noch einmal zu bestehen, wollten dies nicht anerkennen. Wie dem aber immer sei, in einer Beziehung, und man konnte dies des schlechten Studenten eigentliche Wissenschaft nennen, war Gottlieb Weißfisch geradezu groß. Er kannte das Theater durch und durch; kein irgendwie bedeutender Schauspieler und keine irgendwo berühmte Schauspielerin waren ihm unbekannt, und namentlich in der Oper, seinem Lieblingsstudium, bewies er staunenswerte Kenntnisse. Der »verdorbene Student« war darum nur in den Augen der älteren Leute, die lieber einen »fertigen« Doktor in ihm gesehen hätten, ein Gegenstand stillwuchernden Spottes; für die jüngern dagegen hatte sich Gottlieb Weißfisch im Laufe seiner medizinischen Studien geradezu als unentbehrlich bewiesen. Was brauchten sie ins Theater zu gehen, wenn Gottlieb Weißfisch es über sich nahm, ihnen den Inhalt der berühmtesten Trauerspiele mit der vollständigen Deklamation und Gestikulation der »größten« Schauspieler und Schauspielerinnen auf das getreueste wieder zu erzählen? Was hatten sie nötig, die Oper zu besuchen? Durch Gottlieb Weißfisch kannten sie die schönsten Arien aus dem »Don Juan«, aus dem »Freischütz«, aus »Robert dem Teufel« und anderen Opern, die er ihnen mit schmelzender Stimme so lange vorsang, bis sie sie auswendig wußten. In diesen Kreisen war also der »verdorbene Student« eine hochangesehene Persönlichkeit, auf deren Ankunft in den Ferien Monate zuvor erwartungsvolle Gemüter gerichtet waren!

An einem Sabbatnachmittage saß Gottlieb Weißfisch, der »verdorbene Student«, in der Werkstätte seines Vaters, um ihn eine zahlreiche Gesellschaft von jungen Mädchen und Männern, die alle gekommen waren, ihrem Abgotte die schickliche Anstandsvisite zu machen, denn er war erst tags zuvor in der Heimat eingetroffen. Auch Feiwelmann, der Baß, war da, der sich merkwürdigerweise mehr zu der Jugend als zum Alter hielt. An diesem Nachmittage war Gottlieb Weißfisch bei besonders guter Stimmung, er gab alle Opern zum besten, die er seit Jahresfrist gehört, und auch mit dem Inhalte zweier Trauerspiele war er bereits fertig geworden. Seine Zuhörerschaft schwamm in Entzücken, und manches feuchte Mädchenauge schien verraten zu wollen, wie schade es doch sei, daß der »verdorbene Student« in den Augen besorgter Eltern eine so ungünstige Figur vorstellte.

Unter anderem hatte Gottlieb Weißfisch auch eine Arie aus der damals besonders viel genannten »Norma« seinen Bewunderern zum besten gegeben; am Schlusse rief er traurig und mit der Miene eines wahrhaft Unglücklichen aus:

»O! wie bedauere ich es, daß es mir nicht gegönnt war, noch diese Woche in Prag zu bleiben. Welch ein Kunstgenuß stand mir bevor? Heute tritt die göttliche Brodini auf, der ein ungeheurer Ruf vorangeht, und ich, ich bin nicht in Prag!«

Mitleidige Rufe aus den Reihen der um ihn dicht geschürten Gesellschaft belehrten ihn, wie tief bedauerlich diese Tatsache jedenfalls sei.

»Wer ist die Brodini?« fragte ein schüchternes Mädchen von sehr sanftem Gesichtsausdruck.

»Sie wissen nicht, wer die Brodini ist?« belehrte sie Gottlieb Weißfisch mit jener überlegenen Miene, wie sie der Sage nach allen »verdorbenen Studenten« eigentümlich sein soll. »Sie wissen nicht, wer die Brodini ist?« wiederholte er nochmals, die schüchterne Fragerin mit seinen Blicken anstarrend.

»Ich möchte es auch gerne wissen,« ließ sich eine Stimme aus den hintersten Reihen der Gesellschaft vernehmen. Sie gehörte Feiwelmann, dem Baß, an, aber niemand achtete darauf, welch ein sonderbares Beben dieser Stimme innewohnte.

»Nun,« ließ sich endlich Gottlieb Weißfisch, nachdem er sich eine geraume Weile an der Verwilderung seiner Zuhörerschaft stillschweigend geweidet, vernehmen, »nun, die Brodini soll eine der größten Sängerinnen sein, die die Welt seit langer Zeit gehört. Ob sich dieser Ruf bewahrheitet, kann ich nicht mit Bestimmtheit behaupten, denn leider kann ich ihrem Auftreten nicht beiwohnen. Die Brodini ist übrigens nicht nur durch ihre Stimme so berühmt, man sagt auch, daß um ihre Herkunft ein geheimnisvoller, Schleier gebreitet liege, den noch niemand zu lüften imstande war. Einige behaupten, sie sei eines vornehmen Grafen Tochter, die aus unbezwinglicher Liebe zur Kunst sich der Bühne gewidmet habe. Andere wieder verbreiten das unglaubliche Gerücht, sie gehöre uns an, und ihr Vater sei irgendwo in Ungarn oder Polen Vorbeter einer Gemeinde.«

»Warum könnte das nicht sein?« fragte wieder jenes Mädchen mit dem sanften Gesichtsausdrucke.

»Weil sie dann nicht Isabella Brodini hieße!« antwortete der verdorbene Student in einem Tone, gegen dessen Felsenhärte alle Bedenken und weiteren Fragen nutzlos abprallten.

Jemand hatte lautlos, ohne daß es in der Werkstätte des Schneiders, der Triumphstätte des verdorbenen Studenten, bemerkt wurde, das Zimmer verlassen. Jemand war totenbleich auf die Gasse getreten ... und keiner drin in der Stube unter allen, die der dramatischen Vorlesung des Herrn Gottlieb Weißfisch mit so ungeteilter Aufmerksamkeit folgten, ahnte, mit welcher Entdeckung in dem Innersten seiner Seele Feiwelmann, der Baß, davongegangen war ...

Nicht eher aber als bis die Sterne am Himmel standen und die Nacht vollständig hereingebrochen war, wagte es Feiwelmann, der Baß, nach Hause zu gehen. Wie sollte er seinem Herrn und Meister entgegentreten? Wie sollte er dem alten Manne eine Nachricht beibringen, deren bloße Umrisse vielleicht genügen würden, der schwachen Lebenskraft David Brods verderblich zu werden? In der treuen Seele des »Baß« wogten die widerstreitendsten Pläne und Entwürfe hin und her; bald wollte er mit der großen Nachricht wie ein Blitzstrahl niederfahren, indem er annahm, daß eine urplötzliche Überraschung wohltätiger sich erweise, als ein langsames Verschleppen und Vorbereiten ... bald war er wieder zu der Frage an sich selbst gelangt, ob es überhaupt nicht besser sei, David Brod gar nicht zu sagen, wen er in »Isabella Brodini« vermute. »Was hat er überhaupt nötig zu wissen, daß sie existiert?« lautete dieser Gedanke. »Sie ist ein Kind der Kunst geworden – und er heißt noch immer David Brod!« Bei dem letzteren Gedanken verweilte er jedoch nicht lange; dagegen sträubte sich sein Gemüt.

»Ein Vater bleibt ein Vater,« wies er sich selbst zurecht, »und wenn er sie einmal vor seinem Tode wiedersehen kann, tue ich da nicht ein gutes Werk?«

So kam er nach Hause.

»Gut' Woch' und guten Abend, David!« rief er beim Eintritt in die Stube seinem Meister zu.

David Brod nickte zu diesem Gruße nur leicht mit dem Kopfe.

»Bei dir fängt ja die Woche gut an, Feiwelmann,« sagte er nach einer Weile etwas spöttisch, »du scheinst mir herzfreudig aufgelegt.«

»Warum soll ich nicht herzfreudig aufgelegt sein?« rief Feiwelmann, der Baß, überaus lustig. »Ich habe heute, weil mir der verdorbene Student, Saul Weißfisch einziger Sohn, so viel vom Theater erzählt hat, den Entschluß gefaßt: ich will einmal wieder einen großen Künstler sehen. Willst du mit, David?«

»Nach Frankfurt am Main?« spöttelte der Vorbeter.

»Nein,« sagte der Baß mit nachlässiger, gleichsam spielender Lustigkeit, »diesmal gehe ich nach Prag. Willst du mit, David?«

»Wie kommst du mir vor, Feiwelmann?« rief der Vorbeter, indem er seinen Freund mit langen Blicken vom Kopf bis zur Fußzehe maß.

»Aufgelegt bin ich,« meinte der Baß mit gesteigerter Lustigkeit, »warum soll mir das verwehrt sein? Gibt jemand etwas dafür, wenn ich aussehe wie ein dreitägiges Regenwetter? Da hat der verdorbene Student von einer gewissen Brodini Wunder über Wunder erzählt: sie soll die größte Sängerin sein, die die Welt seit langer Zeit gesehen hat, und was das Schönste ist, man sagt, sie ist die Tochter eines Vorbeters irgendwo in Polen oder Ungarn! Warum soll ich die Isabella Brodini nicht auch zu sehen bekommen? Und wenn es mich noch soviel kostet, ich gehe nach Prag und sehe mir Isabella Brodini an.« »Sei still, Feiwelmann!« unterbrach ihn plötzlich der Vorbeter.

Feiwelmanns Lustigkeit war in ihr gerades Gegenteil umgeschlagen; seine Haare sträubten sich vor Entsetzen, als er bemerken mußte, welche Veränderung mit dem alten Manne vorgegangen war. Hatte David Brod den Gebrauch seiner Sinne verloren? Seine Augen starrten ins Weite, um die schlaffen Mundwinkel spielte ein Zug, der auf eine vollständige Erschöpfung seiner Verstandskräfte hinzudeuten schien.

»Sei still, Feiwelmann,« rief er noch einmal, »und laß mich nachdenken.«

Dann fuhr er mit den Händen nach der Stirne.

»Wie ist mir doch?« schrie er mit markdurchschütternder Stimme. »Ist sie es?«

»Sie ist's!« sagte Feiwelmann.

»Mein Kind! ich soll mein Kind wiedersehen!« rang es sich in wiederholtem Aufschreien über die Lippen des alten Mannes.

»Weißt du denn schon so mit aller Gewißheit, daß sie es wirklich ist?« glaubte der Baß hinzusetzen zu müssen, um die Erregtheit des Vorbeters einigermaßen zu dämpfen.

David Brod lächelte schwach.

»Laß nur, Feiwelmann,« sagte er, »laß nur. Ich begreife, warum du mir einreden willst, daß sie vielleicht es doch nicht sein kann. Laß nur, laß nur! Du wirst sehen, sie ist es. Gott wird das mir nicht antun ... Wird er mich zuerst erfreuen wollen, und wenn ich den Becher Wein an die Lippen geben will, wird er mir ihn wegstoßen? Nein, Feiwelmann, ich glaube, du bist zu vorsichtig. Du wirst sehen, sie ist's.«

In überströmenden Worten brach sich nun die Sehnsucht des alten Mannes nach seinem Kinde Bahn. Feiwelmann vernahm Herzenslaute, wie er sie unter dem Groll und der versäuerten Stimmung des Vorbeters nicht geahnt hatte, und eine Art heiliger Scheu hatte ihn ergriffen, ihn diese Offenbarungen eines wunden Gemütes mit irgend einer Äußerung hineinzugreifen.

In derselben Nacht wurde zwischen den beiden Männern der Plan festgesetzt, die Reise nach Prag schon morgen anzutreten. Niemand solle darum wissen, Feiwelmann solle das Gerücht aussprengen, David Brod sei in eine benachbarte Gemeinde gegangen, um dort eine alte, hundertundzehn Jahre alte Muhme zu besuchen. Morgen nach dem Frühgottesdienste wollten sie aufbrechen, und zu Fuß müßten sie gehen, sagte David Brod, denn im Wagen halte er es nicht aus. Welche Nacht verfloß für die beiden!

In aller Stille verließ am andern Morgen David Brod mit seinem Gefährten die Gasse. Kräftig und hoch aufgerichtet schritt der alte Mann neben dem weit jüngeren einher. Als sie schon auf der Straße sich befanden, die gegen Prag führt, wandte sich der Vorbeter, der bis dahin kein Wort gesprochen hatte, hastig an seinen Reisegenossen.

»Du hast doch das Geld mitgenommen, Feiwelmann,« fragte er.

»Welches Geld?«

»Was man dir in ihrem Namen auf dem Schlosse gegeben hat?«

»Es ist bei mir.«

Dann kamen sie an dem »guten Ort« vorüber, der hart an der Straße mit seinen verwitterten Grabsteinen sich befindet.

»Geduld dich eine kleine Weile, Feiwelmann,« sagte David Brod, »ich muß mir von da drinnen eine kleine Wegzehrung holen.«

Nach einer Weile trat er durch das schmale Friedhofstor wieder auf die Straße.

»Und jetzt laß uns große Schritte machen, Feiwelmann,« rief er mit unsicherer Stimme, »wir haben einen weiten Weg vor uns.« Wovon wohl die beiden Männer auf dem weiten Wege sprachen? Meistens schritten sie sprachlos nebeneinander; hie und da kam es zu einer Äußerung, die seltsamerweise auch nicht in der leisesten Beziehung zu dem Gegenstande ihrer Sehnsucht stand. Kaum daß sich David Brod auf das Zureden seines Gefährten die kurze Zeit gönnte, um unter einem Baume, der an der staubigen Heerstraße stand, die müden Glieder ein wenig rasten zu lassen. Der alte Mann schien, je weiter sie kamen, an Kräften zu wachsen, Müdigkeit war ihm ein inhaltsloser Begriff geworden. Wenn Feiwelmann rasten wollte, fragte er: »Sieht man noch nicht die Türme?« trotzdem sie noch meilenweit von der böhmischen Hauptstadt entfernt waren. Die Nacht war angebrochen, als sie den »Brandeiser« großen Wald erreichten.

Da sagte Feiwelmann:

»David, es wird am besten sein, wenn wir drin in Brandeis unser Nachtquartier nehmen, du weißt, was in dem finstern Wald seit jeher vorgegangen ist, und was man noch von ihm erzählt. Ich habe auch das Geld bei mir.«

»Fürchtest du dich?« rief der alte Mann.

»Ja!« sagte der Baß, der im Grunde seines treuen Herzens nur nach einem Vorwande suchte, um seinen Herrn und Meister zur Ruhe zu bestimmen. »Was fragt so ein Räuber oder Mörder danach, was David Brod und sein Baß in Prag vorhaben?«

»So sag ich dir, Feiwelmann,« rief der Vorbeter in markigen Tönen, »wer auf dem Wege zu seinem Kinde ist, den läßt Gott nicht umkommen. Der Wald wird uns nichts tun. Und dann weißt du ja auch, was man zu sagen hat?« ...

Als sie in die nächtigen Schatten des Waldes traten, begann David Brod mit lauter Stimme in den heiligen Lauten der Offenbarung den Psalm des frommen Königs, den man anstimmt, wenn ein Toter zur Ruhe bestattet wird: »Der da sitzet im Schirm des Allerhöchsten, im Schatten des Allmächtigen sich berget, der spricht zu Gott: mein Schutz und feste Burg ist Gott, auf den ich traue; denn er wird mich erretten aus des Voglers Schlingen, aus der verhängnisvollen Pest! Mit seinen Schwingen deckt er dich, unter seinen Flügeln bist du geborgen, Schild und Panzer ist seine Treue! Du fürchtest dich nicht vor dem Grauen der Nacht, vor dem Pfeil, der bei Tage schwirrt, vor der Seuche, die im Finstern schleicht, vor der Pest, die am Mittag wütet.«

Der anbrechende Morgen warf seine ersten Boten über den Himmel, über die noch schlummernde Welt; in einem Stoppelfelde hart an der Straße erhob sich eine frühgeweckte Wachtel, die ihr Lied begann; im fernen Hintergrunde hob sich aus dem grauen Dufte der Dämmerung ein Etwas ab, das hoch in den Lüften glänzte und glitzerte.

»Ich seh' die Türme!« rief Feiwelmann, der Baß.

David Brod aber stimmte mit weithin tönender Sprache die letzten Verse des Psalmes an.

»Dir begegnet kein Unglück, keine Plage nahet deiner Hütte! Denn er befiehlt seinen Engeln, daß sie dich wahren auf allen deinen Wegen; auf den Händen werden sie dich tragen, daß dein Fuß nicht stoße an einen Stein. Über Leu und Otter wirst du schreiten, Löw' und Drachen mit Füßen treten.«

Es war hellichter Tag geworden, als sie durch das düstere »Por´civer« Tor schritten! Sie waren in Prag! Von diesem Augenblicke an trat in der äußeren Erscheinung des alten Mannes eine seltsame Wandlung hervor. Die Mühe der weiten Wanderung schien erst jetzt über ihn gekommen zu sein; seine Lippen waren schmerzlich geschlossen; er erhielt sich kaum aufrecht auf den Beinen. Dennoch verriet er durch keine Äußerung, wie sehr ihn die Mattigkeit übermannt hatte. Nur als sie durch den »alten Pulverturm« schritten, von dem aus der Weg durch die »Zeltnergasse« über den »Altstädter Ring« in die düstern Gassen des Ghettos führt, sagte David Brod, indem er den Arm seines Gefährten krampfhaft drückte:

»Feiwelmann, wenn sie es doch nicht wäre!?«

Ein Mann mit einer weißen Schürze klebte gerade ein gedrucktes Papier an die alte Mauer des Turmes. Wiewohl flüchtigen Blickes hatte Feiwelmann, der Baß, doch erkannt, daß es der Theaterzettel der heutigen Vorstellung war; denn mit großen Buchstaben war darauf zu lesen:

»Die Hugenotten«,
große Oper von Meyerbeer.

»Fräulein Isabella Brodini als Valentine

Feiwelmann verschwieg aber seine Entdeckung!

Erst jetzt, nachdem der Baß seinen alten Meister in einem jener kleinen Einkehrhäuser, wie sie die engen Gassen und Gäßchen der böhmischen Hauptstadt so zahlreich aufweisen, untergebracht hatte, wo David Brod, in einem Stuhle sitzend, fast augenblicklich in einen tiefen Schlaf gesunken war, fiel es Feiwelmann felsenschwer auf die Seele, welche Verantwortlichkeit er übernommen, wie unbesonnen er sich und den Vorbeter in die Gefahren eines Unternehmens gestürzt hatte, dessen Ausgang von fast undurchdringlichen Nebeln bedeckt war.

»Wenn sie es nun doch nicht wäre!«

Schauer, wie vor einem nahenden Gerichte, überfielen ihn. Wenn er den alten Mann getäuscht hatte, wie sollte er dann vor ihm bestehen? David Brod konnte den Tod davon haben, und er hatte ihn auf der Seele; er hatte den letzten Streich diesem ohnehin in seinem innersten Marke wunden Baume versetzt! Erst jetzt ward er über den merkwürdigen »Leichtsinn« sich klar, der ihn verleitet hatte, einem Lügner, wie Gottlieb Weißfisch, der verdorbene Student, Glauben zu schenken. Welch ein böser Geist hatte ihn in seiner Macht gehabt? Weil sie Isabella Brodini hieß, mußte sie die Tochter David Brods sein?

Feiwelmann schlich sich zur Kammer hinaus, wo der Vorbeter in ruhigem Schlummer lag; er wurde der einmal aufgestachelten Unruhe seines Gemütes nicht los. Aus seiner ersten Jugend kannte er noch das Straßengewimmel Prags; ohne es zu merken, war er mitten hineingekommen, aber wohin er immer trat, überallhin schwirrte und gleitete ihm der Ruf seines Gewissens und die Frage des Vorbeters nach:

»Wenn sie es nun doch nicht wäre?!«

An einer Straßenecke standen einige Menschen, die den dort aufgeklebten Theaterzettel lasen; Feiwelmann drängte sich unter sie. Wie ihn die schwarzen Buchstaben, die den Namen: Isabella Brodini weithin leserlich verkündeten, mit zauberhafter Gewalt bannten, wie seine Augen immer wieder dahin zurückkehrten! Das sollte der Name des Kindes sein, das ihm und David Brod bei ihren Gesängen für die Synagoge als »Fistel zugehalten« hatte! Das sollte Ella sein, die ihm verboten hatte, die Hand während des Singens an die Backe zu stemmen? Lebendiger Gott! sie kann das nicht sein! Er hatte sich, er hatte den alten Vater betrogen!

Dann fielen seine Blicke unwillkürlich auf den Namen des Kompositeurs der »Hugenotten«; er las Giacomo Meyerbeer!

»Meyerbeer!« sprach es in ihm. »Wer ist Meyerbeer! Klingt das nicht so, als ob er zu uns gehörte, als ob er Fleisch von unserem Fleische und Blut von unserem Blute wäre!?«

Feiwelmanns Herz begann laut zu pochen, seine Augen zu leuchten; seine Seele hob sich aus den tiefsten Abgründen der Verzweiflung zu der Höhe eines wunderbaren Gedankens.

»Wenn er der große Künstler ist und sein Vater hat ihn doch Meyerbeer genannt, warum soll das Kind nicht auch eine große Künstlerin geworden sein, wenn es auch David Brods Tochter ist?«

Dann drängte sich ihm ein anderer Gedanke siegreich auf.

»Wäre das nicht eine wunderbare Schickung, daß sie gerade heute, wo David Brod und ich in Prag sind, in einer Oper auftritt, die einer gemacht hat, der Meyerbeer heißt? Warum soll ich denn nicht daran glauben, daß ihr das ein guter Geist zugeraunt hat, der vielleicht im Traume zu ihr gekommen ist und ihr gesagt hat: Dein Vater und Feiwelmann, der Baß, sind hier?!«

So in Sinnen und Gedanken, die ihn bald lachend umgaukelten, bald wieder traurig anmuteten, war der Baß in eine große, prachtvolle Straße getreten. In der Mitte dieser Straße stand ein dreistöckiges, weitläufiges Gebäude, das sich schon aus der Ferne als ein Gasthof ersten Ranges kundgab. Wagen fuhren vor und fuhren ab, und in der Vorhalle stand ein Mann mit einem breiten, schwergestickten Bande über Brust und Schultern, der ein mit einem glänzenden Knopfe versehenes spanisches Rohr in der Hand hielt und den Hut demütig abzog vor jedem ab- und zufahrenden Wagen.

Zwei junge Männer kamen aus dem Hause.

»Sie spricht vortrefflich deutsch,« hörte er den einen sagen, »so italienisch auch ihr Name klingen mag.«

»Und,« sagte der andere, »hast du ihre Physiognomie genau beobachtet? Mich gemahnt etwas in ihrem Antlitze, was ich nur in den schönen Mädchengesichtern der ›breiten‹ oder ›goldenen Gasse‹ zu finden gewohnt bin.«

»Du glaubst doch nicht auch an das alberne Märchen –?«

»Daß sie eines jüdischen Vorbeters Tochter ist? Nun, mein Freund, ich bin versucht, es als kein Märchen zu betrachten.«

Die jungen Männer entfernten sich, Feiwelmann war vor dem großen Hause stehen geblieben. Schwindel hatte ihn ergriffen, wie im Wirbeltanze drehte und wogte alles um ihn herum. Sie wohnte also hier, und er, Feiwelmann Baß, stand unter ihren Fenstern, und David Brod schlief in seinem dunklen Kämmerchen den Schlaf der Müden, und eine Stadt umfing sie alle drei! Gott der Allmächtige sei gepriesen dafür! Ein Wagen fuhr pfeilschnell zum Hause hinaus; eine Dame saß darin. Der Mann in der Vorhalle, mit dem riesigen Stocke in der Hand, sprang rasch zur Seite und grüßte demütig mit abgezogenem Hute.

Feiwelmann näherte sich schüchtern dem Manne.

»Wer war die Dame in dem Wagen?« fragte er im Tone der tiefsten Unterwürfigkeit.

Der Mann sah verwundert auf den seltsamen Frager.

»Das war Fräulein Brodini, die berühmte Sängerin, die hier bei uns wohnt,« belehrte ihn gnädig der Mann und wandte sich von ihm ab.

Schon war Feiwelmann nahe daran, sich dem Manne zu entdecken und ihn zu bitten, wenn die berühmte Sängerin wieder nach Hause käme, ihr nur einfach zu sagen: Feiwelmann, der Baß, wäre dagewesen. Auch das treuherzige Gemüt des »Baß« konnte der Versuchung des Stolzes nicht entgehen. Wie mußte seine Persönlichkeit in den Augen des unfreundlichen Mannes im Werte steigen, der ihn kaum einer Antwort würdigte! Zum Glücke kehrte ihm die ruhige Besinnung alsbald zurück.

»Nein! nein!« beschwichtigte er sich selbst; »jetzt nicht. Sie könnte erschrecken und das würde ihr beim Singen Schaden bringen. Ich kenne so etwas an mir, und wie könnte ich das vor mir und meinem Gewissen verantworten? Ich stelle mir vor, so ein Mensch, der in der Kunst lebt, dem hat Gott eine ganz andere Natürlichkeit gegeben wie etwa einem Bauer, der den ganzen Tag auf dem Felde steht und pflügt und säet und erntet; aber so eine Valentine in Meyerbeers Oper, so eine Isabella Brodini kann vom leisesten Luftzuge einen Nachteil haben. Soll ich der Luftzug sein? Und daß man mir dann vorwirft, Feiwelmann, der Baß, hat's verschuldet?«

Mit einem zufriedenen Lächeln, das die gesamte Breite seines Antlitzes sonnig beleuchtete, trat er wieder den Rückweg an, nachdem er zuvor das Haus, worin der »Karfunkel« wohnte, seinem Gedächtnisse eingeprägt hatte. Er fand den alten Vorbeter noch immer schlafend. Um ihn nicht zu stören, setzte sich Feiwelmann ohne Geräusch hin und bewachte den Schlummer des alten Mannes. Wie ruhig, wie teilnahmslos der alte Mann dalag! Wie gleichmäßig seine Atemzüge gingen! Alle Falten in seinem Antlitze waren von dem heiligen Schlafe ausgeglättet worden, nicht das leiseste Muskelspiel ward darauf sichtbar. Wunderbar verjüngt sah der alte Mann in seinem Schlummer aus. Das war wieder der David Brod, dessen Kind noch in einer Laubhütte saß und dabei Synagogenmelodien vor sich hinsang; das war wieder der Vorbeter der Gemeinde, dessen Stolz und Lebensfreude darin bestand, wenn die Leute an einem Feiertage nach dem Gottesdienste ihm nachrühmten: Heute hat David Brod sich selbst übertroffen. Und doch fuhr heute sein Kind in einem prächtigen Wagen, wohnte im ersten Gasthofe Prags und war die berühmte Sängerin Isabella Brodini!

Stunden waren vergangen, und noch immer konnte die erschöpfte Natur des alten Mannes sich nicht den Banden der langentbehrten Ruhe entwinden. Mittag war längst vorüber, und er schlief noch immer. Die stumme Wacht Feiwelmanns behütete ihn und wurde nicht müde. Mit einem Male fuhr er auf; er blickte mit klaren Augen um sich:

»Was ist die Zeit, Feiwelmann?« rief er.

»Nachmittag ist halb vorüber!«

»Lebendiger Gott! und frühmorgens sind wir angekommen! Wir müssen ja das Kind aufsuchen!«

»Erst wirst du dich mit Speis' und Trank erquicken, David, und dann wollen wir ins Theater gehen.«

»Ins Theater?« rief der alte Mann wie traumverloren. »Was soll ich im Theater tun?«

»Du sollst sie singen hören, David Brod,« sagte der Baß fast unhörbar. »Warum gehen wir nicht gleich zu ihr?«

»Du kannst sie heute nur im Theater sehen.«

Der alte Mann schüttelte den Kopf; eine traurige Unterwürfigkeit zeigte sich in seinen Mienen.

»Du hast mich in deiner Gewalt, Feiwelmann,« sagte er still, »tue mit mir, was du willst.«

Als die Zeit gekommen war, führte der Baß durch das ihm nun bekannt gewordene Gassengewimmel den Vater Ellas, der ihm willenlos zu folgen schien.

»Ist das die goldene Gasse?« fragte David Brod, als sie durch ein schmutzig feuchtes Gäßchen kamen, dessen Häuser wie Kartenblätter fast aufeinander zu liegen schienen.

»Warum fragst du?«

»Vielleicht könnten wir den alten Mann zu sehen bekommen, der meiner Ella ein Gebetbuch geschenkt hat ...«

» Jetzt denkst du daran? Das sind acht Jahre seitdem, der alte Mann ist wohl tot!«

»Tot! Alles ist tot,« sagte der Vorbeter in leise klagendem Tone, »mir ist's, als wäre es gestern vor sich gegangen.«

Je weiter der Baß mit seinem Herrn und Meister kam, desto größer ward seine Bangigkeit, ja ein unheimliches Gefühl überrieselte ihn mit kaltem Schauern, wenn er den alten Mann neben sich einherschreiten sah, so willenlos und unterwürfig, so wenig erregt von der Erwartung des Kommenden! Was war mit David Brod geschehen? War in ihm in der Tat alle Lebensfreudigkeit so gebrochen, daß nicht einmal die Nähe seines Kindes sein Auge hoher aufflammen machte? Wenn Feiwelmann seine Empfindungen damit verglich, so mußte die Welt mit allem, was darauf und darunter sich befand, in einem gewaltigen Feuerbrande aufgehen. Und David Brod war so gleichgültig!

Endlich standen sie vor dem Theater. Der hineinwogende Menschenstrom trug auch sie in das Innere des Hauses; das Glück war ihnen günstig gewesen, es hatte sie auf die vordersten Plätze im obersten Stockwerke gebracht. Von der Höhe seines Sitzes starrte David mit glanzlosen Augen in das zu seinen Füßen sich entwickelnde Menschengewimmel; noch war der weite Saal in dämmernde Finsternis gehüllt: hie und da flackerte an den Pulten der Musiker ein Lichtchen auf. Plötzlich schwebte der große mit einer Fülle von Licht ausgestattete Hängeleuchter von der Decke des Saales herab, so daß dem alten Manne ein Schrei der Überraschung entfuhr.

»Wie ist dir, David?« fragte der Baß besorgt.

»Wird sie jetzt kommen?«

»Noch nicht! Erst müssen die Musiker aufspielen!«

David Brod verfiel wieder in stummbrütende Gleichgültigkeit. Der Saal hatte sich bis in den entlegensten Raum gefüllt; in den Logen erschienen blumengeschmückte herrliche Damen, und die Edelsteine in ihren Haaren glitzerten und funkelten in den zahlreichen Lichtern. Vornehme Herren standen hinter ihnen, und durch das ganze Hans ging ein Flüstern und Summen der Erwartung, das durch die hie und da zur Probe angestimmten Instrumente der Musiker eine gleichsam weihevolle Färbung erhielt.

»David!« rief der Baß, indem er seinen Gefährten leise anstieß.

»Was willst du, Feiwelmann?«

»Siehst du nichts?«

»Viel Menschen sehe ich ...«

»Und sie alle sind gekommen, um dein Kind zu hören!«

David Brod seufzte tief auf.

Aber mit dem ersten Geigenstriche der Eingangsmusik trat eine seltsame Änderung mit dem alten Manne ein. Die Hände fest auf das Geländer gepreßt, hatte er sich zur Hälfte erhoben und horchte mit einem Ausdruck seines Antlitzes auf die mächtig einherbrausenden Klänge, der die höchste Spannung seiner Seele verriet. Der Vorhang war in die Höhe gegangen. Als der erste Akt vorüber war, hatte sich der beiden eine eigentümliche Befremdung bemächtigt. Wo war die »Valentine« geblieben? Wohl hatten sie im Hintergrunde der Bühne eine verschleierte Dame gesehen, bei deren Anblick die zu einem Festgelage versammelten Ritter in das höchste Entzücken, namentlich der eine unter ihnen, ein junger Edelmann, gerieten. Aber kaum gekommen, war sie wieder verschwunden. Warum ging sie so schnell? Als der Vorhang wieder gefallen war, saß der alte Vorbeter wieder stumm und gleichgültig da. Die Wogen des herrlichen Gesanges waren unverstanden an seiner Seele vorübergerauscht.

Der zweite Akt war gekommen. Margareta von Valois, Königin von Navarra, ist allein in ihrem Garten und singt ein Lied, das die überwältigende Macht der alles beherrschenden Liebe zum Gegenstande hat. Da naht sich Valentine. Eine schlanke feine Gestalt beugt sich demütig und doch wieder so vornehm; in dem Saale ist es still, daß man fast den Atemzug David Brods belauschen konnte! Dann aber klatschten Hunderte von Händen, und es währte eine geraume Zeit, bis die Sängerin beginnen konnte. Jetzt trat sie näher und immer näher; ein bleiches von tiefdunkeln Haaren eingefaßtes Gesicht trat immer deutlicher hervor ... Waren es bekannte Züge? Drang aus den wenigen Worten, die sie nun sang, ein verwandter Ton?

Eine feuchtkalte, zitternde Hand legte sich auf Feiwelmanns Arm.

»Soll sie das sein?« flüsterte er ihm zu.

»Ich kenne sie nicht, David!« kam es in demselben Tone zurück.

»Lebendiger Gott! wenn sie es doch nicht wäre!«

Von nun an während der ganzen Handlung vernahm Feiwelmann nichts, noch sah er, was da unten auf der Bühne vorging; seine Seele war wie festgebannt von der vorwurfsvollen Klage, die er jetzt zu wiederholten Malen aus dem Munde des alten Mannes hörte; vom Herzen herauf quoll ihm ein bitteres Gefühl, das ihn mit namenloser Qual erfüllte:

»Wenn sie es nun doch nicht wäre!«

Sie war es auch nicht; vier scharf blickende Augen lagen auf der seinen Gestalt der Sängerin, verglichen jeden Zug ihres Antlitzes mit der Vergangenheit ... das vierzehnjährige Kind von damals, die Ella der Laubhütte, wollte ihnen nicht entgegentreten ...

All das änderte sich aber wie mit einem Zauberworte, als im dritten Akte die große Szene zwischen dem protestantischen Marcell und der katholischen Valentine vorfällt. Es ist Nacht; stumm brütet überall die Gefahr, die den Geliebten des Mädchens von allen Seiten mit mörderischen Netzen umfängt. Sie ist gekommen, ihn zu warnen. Der alte, argwöhnische Kriegsknecht fragt sie um die Losung und aus ihrem Munde dringt leise, verschämt, wie das Aufblühen einer Lilie das Wort: Raoul! Wunderbar ist die Wirkung dieses einzigen, fast gehauchten und dennoch an die tiefsten Geheimnisse des Gemütes anklingenden Wortes – im Saale fühlt es jeder: hier hat ein gottbegnadigtes Mädchen in der Weihe seiner Kunst das Höchste ausgesprochen. Nun teilt Valentine dem alten Kriegsknechte mit, welche Gefahr seinem jungen Herrn droht, wie er ihn retten könne, und er fragt: »Wer bist du?«

»Wer bist du?« wiederholt es sich auch oben im Zuhörerraume in den Herzen der beiden Männer.

»Ein Mädchen,« singt sie, »das ihn liebt« ... Und in klagenden, aus tiefster Leidenschaft allmählich, aber stets siegreicher hervorbrechenden Tönen, voll keuschen, ungeahnten Duftes entringt sich ihrer Brust das Geständnis, wie es inniger und schöner noch niemals in Tönen wiedergegeben wurde. Marcell legt die Hand segnend auf ihren Kopf ...

»Sieh, sieh hin, wie sie sich ›benschen‹ läßt,« flüsterte der alte Vorbeter. »Wenn sie es doch wäre!«

»Sie muß ja wissen, wie ein Vater sein Kind segnet? ... Hast du gesehen, wie sie ihren Kopf vorgebeugt hat? ...«

Die in ihrer Nähe saßen, riefen ihnen Stille zu. David Brod erschrak. Hatte er das Kind erkannt? Er wußte es selbst nicht; seine Pulse hämmerten, seine Augen brannten in wildem Feuer; seine Lippen dürsteten! Er fühlte sich der Auflösung nahe und kann doch nicht sterben. Jetzt dämmert ihm die Ahnung der Gewißheit auf; dann, im nächsten Augenblicke ist sie zwischen graue Nebel eingesunken und verloren! Etwas will ihn mahnen, etwas Bekanntes, Oftgesehenes umweht ihn wie mit linden Fittichen, dann wieder ist alles zu Ende; mit glanzlosen Blicken starrt ihn ein Fremdes an, Öde umgibt ihn; es ist nicht Ella, sein Kind. Feiwelmann aber schweigt; er ist in der Gewalt einer namenlosen Qual!

Der vierte Akt hat begonnen. Valentine ist allein; im Dunkel der Nacht kommt Raoul zu ihr; doch nicht lange, und es treten die Verschworenen herein, die ihre Schwerter für den heimlich gesponnenen Mord weihen wollen. Ein Gesang hebt an, der an die dunkelsten Mächte menschlicher Leidenschaft sich richtet, ein Aufruhr fessellos entlassener Kräfte, dem das segnende Wort von Priestern die Weihe geben soll. Als die Verschwörer sich entfernt haben, tritt Raoul aus seinem sichern Verstecke hervor. »Wo willst du hin?« fragt Valentine. Er aber will in den Kampf, den gezückten Schwertern der Feinde entgegen, will mit seinen Brüdern sterben und fallen. »Geh nicht von hier,« fleht Valentine, »draußen wartet dein der sichere Tod,« und als er dennoch darauf besteht, da entringt sich ihr jenes berühmte: »Höre, höre mich, bleib, Raoul, denn der Streich, der dich trifft, trifft auch mich ... ich liebe dich!« ...

Es klingt und singt in dieser Melodie etwas, das voll eigentümlichen, fast befremdenden Eindruckes das Gemüt des Zuhörers ergreift. Wer hat diese Melodie gedichtet? Als Jakob Meyerbeer sie schrieb, stand hinter ihm eine Gestalt von unsagbarer Wehmut in dem blassen Antlitze, mit verweinten Augen, die längst keine Tränen mehr hatten – die Erinnerung an einen Synagogengesang seines eigenen Volkes! Sie war nicht eher von ihm gewichen, bis er sie angehört, bis er sie in die feinsten Gänge seines Gehöres aufgenommen hatte! Sie blieb bei ihm, wenn er sie entfernen wollte, und schmeichelte so lange, bis sie aufgegangen war in seiner Seele als das Saatkorn einer künftigen Blüte! Dann erst wich sie von ihm, hüllte sich in ihre Schleier und verschwand leise, wie sie gekommen war – die Erinnerung an sein eigenes Volk!

Darum ergriff sie auch die beiden Männer mit einer Gewalt, von der sie sich keine Rechenschaft zu geben wußten. Auch vor ihnen tauchte die blasse Gestalt mit den verweinten Augen auf; nur daß sie sie deutlicher erkannten ...

Dreimal mußte die Sängerin diese süßbestrickende Melodie vortragen. Als sie zum dritten Mal sie geendigt hatte, mitten in dem Aufruhr des Beifalls, der das ganze Haus ergriffen, rief David Brod seinem Gefährten zu:

»Jetzt hab' ich sie erkannt! Sie ist's!«

Niemand sonst hatte den Aufschrei dieses Vaters vernommen. Er hatte verstanden, warum die Sängerin diese Melodie so und nicht anders sang, woher dieser Liebreiz, diese eigentümliche Klangfülle, dieses namenlose Klagen eines wunden, opferfreudigen Herzens stammte.

Als sie endlich mit einem Aufschrei, der aus einer andern Welt zu kommen schien, ohnmächtig zu Boden fällt, als Raoul, ihren Bitten trotzend, seinen Brüdern zu Hilfe eilt, da vermochte das schwache Gefäß nicht mehr den übervollen Inhalt zu fassen. Duftende Kränze flogen der Sängerin zu; oben aber im letzten Stockwerke des Hauses rief eine gebrochene Stimme:

»Führ mich hinaus, Feiwelmann, ich ersticke; führ mich hinaus!«

Als die beiden Männer aus der Welt des Scheines und der künstlichen Blendung wieder in die kühle Nachtluft traten, erholte sich der alte Mann zwar bald, aber der Sturm, der ihn erfaßt hatte, war zu gewaltig gewesen, als daß er nicht seine innerste Lebenskraft zu Boden geworfen hatte. Sie waren, ohne es zu wissen, aus der Nähe des Theaters gekommen. Dort hatte Feiwelmann eine steinerne Bank ersehen, auf die die beiden sich niederließen. Dort saßen sie wohl eine Stunde lang, sprachen nicht, während die Nacht um sie her immer kühler wehte, die rings waltende Stille nur durch fern verhallende Schritte von Zeit zu Zeit unterbrochen ward.

Der Vorbeter war es, der zuerst aus diesem traumhaften Sinnen und Brüten erwachte.

»Feiwelmann,« sagte er, »du hast einmal vor acht Jahren, und es war auch in einer Nacht, ein Wort gesprochen, das ist damals in mich hineingefallen wie in einen tiefen Brunnen; jetzt kommt es wieder an die Oberfläche. Du hast damals gesagt: Wie groß ist der Mensch ...«

»Das sag' ich auch jetzt noch,« rief der Baß; »und jetzt mehr als damals, seitdem ich unsere Ella gesehen habe.«

Der alle Mann schüttelte den Kopf.

»Dein Wort,« sagte er, »hat zwei Seiten, davon ist die eine glänzend und schön, die andere aber ist rauh und stachelig. Du hältst dich an die glänzende und schöne Seite, weil du selbst noch jung bist; ich bin gewohnt die andere vorzuziehen, denn ich bin alt und schwach geworden. Du meinst, der Mensch ist groß in dem, was er kann; ich aber sage dir, der Mensch ist groß und gewaltig in dem, wo er entsagt, wo er leidet.«

»Ich verstehe dich nicht, David!«

»Du wirst mich einmal schon verstehen! Hab nur Geduld mit mir!« Nach einer längeren Pause raffte er sich wieder auf.

»Sag mir doch, Feiwelmann,« meinte er, »hat sie den jungen Edelmann so überaus gern, daß sie ihn nicht fortlassen will von sich? Wie sie sich an ihn geklammert hat! Wie sie verzweifelt aufgeschrien hat, als er sich von ihr losreißt und wie sie darüber in Ohnmacht fällt! Sie muß ihn außerordentlich gern haben, denn anders kann ich mir das nicht erklären.«

»Sie kennt ihn vielleicht nicht einmal, David,« rief Feiwelmann. »Das ist ja ihre Kunst. Meinst du, mein großer Künstler in Frankfurt am Main hat es an sich selbst erlebt, daß ihn seine eigenen Töchter wie jenen wahnsinnigen alten König in Nacht und Sturm hinausgejagt haben? Das war wieder seine Kunst!«

»Das ist ihre Kunst!« rief der alte Mann leise. »Also ihre Kunst verlangt, daß sie heute dem und morgen jenem, wer ihr gerade in den Weg kommt, etwas vorheuchelt, daß man meint, es ist die höchste Wahrheit und man könnte darauf schwören?«

»Ja, das ist die Kunst!« sagte Feiwelmann der Baß.

»Und was wird das Ende von all der Kunst sein?« rief der Alte.

»Sie erfreut sich und die Menschen damit,« sagte Feiwelmann.

Darauf erwiderte der Alte nichts, er saß gesenkten Hauptes da.

»Und mein Kind,« schrie er plötzlich mit einem so schmerzlich vorgestoßenen Tone, daß er seinem Gefährten in die Seele griff, »und was bleibt von meinem Kinde übrig? Ist es mir nicht auch gegeben worden, damit es mich erfreue? Anderen, die sie nichts angehen, fällt sie in die Arme, klammert sich an sie, als wollte sie niemals von ihnen lassen, und dabei leuchten ihre Augen, und so süß tönt ihre Stimme, und sie ist so voll Anmut und Schönheit ... weil das ihre Kunst so verlangt. Mich aber, mich alten Mann, erfreut kein Kind, ich muß sie von mir geben, ich muß einsam leben und sterben, ich muß verdorren wie ein Baum, dem man die Wurzeln abgegraben hat – weil es die Kunst so verlangt.«

»David Brod, du versündigst dich!« rief der Baß, den alten Mann an der Schulter fassend.

Aber der Vorbeter riß sich los.

»Was willst du von mir?« schrie er und war aufgesprungen.

»Du denkst nur an dich, David!« rief Feiwelmann vorwurfsvoll, »an dein Kind denkst du nicht.«

»Das sagst du mir?« Und der alte Mann brach in bitteres Schluchzen aus.

Trotzdem rief der Baß, seiner Natur entgegen, in diesem Augenblicke unbarmherzig und die Lage des Alten nicht berücksichtigend:

»Weil du dein Leben damit zugebracht hast, Vorbeter einer Gemeinde zu sein, darf dein Kind seine Flügel nicht ausspannen und anderswohin fliegen? Wozu hat Gott ihr die Flügel gegeben? Aber ich weiß, was in dir vorgeht. Weil dein Kind vielleicht nicht mehr weiß, was ein Gebetbuch ist, weil sein Sabbat vielleicht auf den Sonntag fällt, weil es in keiner Laubhütte sitzt –«

»Die Kunst ist auch eine Religion,« sagte der Alte voll bitterer Betonung.

Dann schien er auf einmal vollständig ruhig geworden.

»Was stehen wir hier auf der Gasse in der Nacht? Warum gehen wir nicht?«

»Wohin willst du, David?«

»Zu ihr, zu ihr!«

»Jetzt um diese Stunde?«

»Ich muß sie heute noch sehen, sonst sterbe ich!«

Es gibt Worte, auf die keine Entgegnung folgen kann. Das fühlte der Genosse des alten Mannes ... Wohl zuckte es ihm durch das Gehirn, ob es ihm nicht gelingen könnte, die leidenschaftlich erregte Stimmung seines Freundes durch irgend ein Auskunftsmittel zu täuschen; aber er verwarf diesen Gedanken. Die Schauer, die ihn durchflogen, sagten ihm, daß er vielleicht mit dem Leben des alten Mannes spiele.

So suchte denn Feiwelmann, sich der Notwendigkeit beugend, in der Finsternis der Nacht den Weg zu jenem Hause zu finden, vor welchem er durch einen eigentümlichen Zufall schon am Vormittag gewartet hatte. Dort leuchtete ja der Karfunkel! Es war nahe an Mitternacht, als sie endlich, müde und gebrochen, bald in den nächtigen Straßen verirrt, bald wieder auf richtiger Fährte jenes Haus gefunden hatten. Die Tore standen noch weit offen, heller Lichterglanz ergoß sich auf die Gasse, und in der Vorhalle stand noch immer der Mann mit dem breiten Bande über Brust und Schulter und dem gewaltigen Stocke in der Hand.

Auf die Frage, was sie zu so später Nachtstunde wollten, brachte Feiwelmann, der Baß, in schüchterner, demütiger Weise sein Begehren vor. Sie wollten die berühmte Sängerin sprechen; sie hatten ihr wichtige, unaufschiebbare Dinge mitzuteilen. Der Mann lächelte verächtlich. Was hatten die beiden Männer, deren Abkunft und Beruf seinem kundigen Auge kein Geheimnis war, mit der Künstlerin Isabella Brodini zu tun? Er fuhr sie barsch an und wies ihnen mit dem Stocke den Weg, den sie zu gehen hatten.

Da rief der alte Mann aus der Tiefe seiner Angst und Verzweiflung:

»Wenn Ihr mich nicht gehen lasset, Mann, so sterbe ich hier vor Euch!«

War es die seltsame Erregtheit des Vorbeters, der Mann ging und kam nach einer Weile kopfschüttelnd mit der Weisung zurück, sie mögen ihm folgen; zwar sitze die Sängerin noch in Gesellschaft beim Nachtmahle, da das Theater erst spät zu Ende gegangen, aber er habe ihr sagen lassen, es wären zwei Männer da, die ihr Wichtiges mitzuteilen hätten.

Sie befanden sich in einem dunkel erleuchteten Vorzimmer, daselbst hieß sie der Mann warten. Sie nahmen still und geräuschlos in einem Winkel ihre Plätze. Aus den angrenzenden Zimmern drangen verworrene Stimmen, helle Freudenlaute und Gläserklingen an ihr Ohr. Die Hand des alten Mannes lag schwer und kalt auf dem Arme seines Gefährten, aber sie zitterte nicht.

Mit verstärkter Gewalt kamen jetzt die Freudenäußerungen der Tischgesellschaft zu ihnen; das Gläserklingen schien gar kein Ende nehmen zu wollen – und die Hand des alten Mannes drückte immer schwerer und kälter auf den Arm seines Gefährten. Sie saßen stumm nebeneinander.

Endlich näherten sich Schritte, die Türe ging auf; auf der Schwelle erschien – die Valentine aus der Oper. Sie trug noch das wallende, weiße Gewand, ihre Haare waren halb aufgelöst; in der Hand hielt sie ein gefülltes Champagnerglas, eine nächtig schöne Erscheinung! Die beiden Männer erhoben sich aus dem Dunkel ihrer Sitze.

»Ella!« rief der alte Mann, »Ella, mein Kind!«

Sie schien erst zu schwanken, zu horchen. Dann mit einem Schrei, dem nichts auf Erden zu gleichen schien, fiel sie in die Knie, das zerbrochene Glas klirrte in Scherben auf den Boden.

»Vater!«

Da war der alte Mann auf sie zugesprungen. Mit einer Gewalt, die nicht in seinen schwachen Kräften lag, riß er sie zu sich empor; er hielt sie in seinen Armen.

»Nicht wahr, Ella, mein Kind,« rief er zwischen Weinen und Lachen, »nicht wahr, das hast du nicht erwartet, daß dein alter Vater noch zu dir kommen wird? Aber ich wäre ja gestorben, wenn ich dich nicht mehr gesehen hätte. Und das kannst du nicht verlangen.« Dann streichelte er ihre Haare und küßte ihre Stirne.

»Tut dir denn das auch gut, Ella, mein Kind,« sagte er, in traumseliger Vergessenheit sie betrachtend, »daß du so lange wachst? Warum schläfst du nicht schon? Bist du denn nicht müde von deiner Kunst?«

Plötzlich riß er sich von ihr los und bedeckte sein Antlitz mit beiden Händen.

»Was habe ich gesagt!« rief er in einem Tone, der die Wiedergefundene erbeben machte.

»Verzeih mir, Vater! verzeih mir! Ich habe mich schwer an dir vergangen!« sagte die Sängerin, und ihre Tränen flossen.

»Verzeihen!« rief der Alte, und der Ton seiner Stimme klang trocken, ja voll Herbigkeit. »Was habe ich dir zu verzeihen? Daß du mir nicht geschrieben hast, daß ich nicht gewußt habe, soll ich mich zur Schiwe (siebentägige Trauer) hinsetzen um mein totes Kind, oder soll ich glauben, daß es noch am Leben ist? Was soll ich dir verzeihen? Du lebst ja, und wo gibt es einen Vater, der nicht jede Kränkung aus seinem Herzen herausreißt, wenn er nur weiß, daß sein Kind lebt?«

Dann wie von einem anderen Gedankenstrome mächtig erfaßt, näherte er sich wieder seiner Tochter; er ergriff ihre Hand.

»Sag mir, Ella, mein Kind,« rief er, seinen Mund ihrem Ohr nahe, mit unheimlichem Flüstern, »muß ich mich wirklich auf den niederen Schemel hinsetzen, und um dich trauern und weinen sieben Tage? Oder muß ich es nicht? Sag die Wahrheit, Ella, mein Kind, und fürchte dich nicht vor mir!«

»Vater!« rief die Sängerin bebend, »ich verstehe dich nicht!«

»Du verstehst mich nicht?« schrie er, und seine Gestalt schien zu wachsen. »Warum verstehst du mich nicht? So will ich's dir sagen.«

»Vater!« rief die Sängerin, »du brauchst noch nicht zu trauern!« »Noch nicht!«

Eine hohe Männergestalt war ins Zimmer getreten.

»Der Herr Graf!« murmelte Feiwelmann, der bisher unbemerkt im Hintergrunde des Zimmers sich aufgehalten hatte.

Der Graf schien die beiden Männer auf den ersten Blick erkannt zu haben.

»Nun, Isabella!« fugte er in leicht scherzendem Tone, »Sie entziehen sich unserer Gesellschaft und feiern da im Dunkel der Nacht ein zärtliches Stelldichein, während wir Ihrer harren!«

Die Sängerin machte eine abwehrende Bewegung. Dem Grafen konnte es nicht entgehen, welch eine seltsame Wandlung das ganze Wesen der Sängerin ergriffen hatte.

»O!« rief er, an die zwei Männer sich wendend, »ist das nicht David Brod, der Vorbeter, mit seinem Bassisten Feiwelmann aus meiner Schutzgemeinde? Seid mir willkommen, David Brod, und auch Ihr, Mann, dem die Natur einen so vortrefflichen Baß verliehen hat. Wie steht es in euerer Gemeinde? Wackeln die alten Häuser noch so? Lebt ihr noch zur Zeit des Laubhüttenfestes in eueren hölzernen Marktbuden? Gehen euere Leute am Neujahrstage noch immer an den Fluß spazieren und werfen aus ihren Taschen die Brosamen in das Wasser, was, soviel ich mir sagen ließ, die Selbstabsolution euerer Sünden bedeuten soll? Und dann, lebt der alte Schulklopfer noch, der mit seinem schrecklichen Hammer bis hinauf in das Schloß alles aus dem Schlafe alarmierte?«

»Graf!« flüsterte die Sängerin leise. Ihre Hände hatte sie wie stehend gefaltet. Dennoch beachtete er oder schien nicht diese Bitte zu beachten. Sie begehrte Schonung für den alten Mann; er aber war überaus lustig in seinem Herzen und demgemäß auch in seiner Sprache.

»Ihr seid gewiß gekommen, David,« fuhr der Graf, der sich mit nachlässiger Gebärde in einen Stuhl geworfen hatte, fort, »um Euch an den Triumphen Euerer Tochter zu weiden. Ihr seid doch auch so eine Art Künstler, wenn auch nicht nach meinem Sinne oder gar nach meiner Anschauung ... Und so könnt Ihr schon beurteilen, ob aus der kleinen Ella, die nichts wußte als ihre Synagogenmelodien, im Laufe der Jahre etwas geworden ist, oder nicht. Was sagt Ihr zu ihrer Valentine? Ist das nicht eine Schöpfung, sowohl was den dramatischen als den gesanglichen Teil betrifft, in der es Isabella Brodini mit jeder anderen Sängerin kühn aufnehmen kann?«

»Isabella Brodini ist eine große Künstlerin geworden!« rief der Alte aus seiner bis dahin gekrümmten Stellung sich aufrichtend.

Der Graf blickte auf. Es lag in diesen Worten und in der Gebärde des Vorbeters etwas, was seine Lustigkeit bändigte. Er war ernster geworden, und als er nach einer Weile wieder zu reden anfing, klang seine Sprache eigentümlich verändert.

»David Brod!« sagte er, »ich kann es erraten, was in diesem Augenblicke in Euerem Gemüte vorgeht. Ihr seht Euere Tochter nach acht Jahren zum ersten Male wieder, und so liegt Euch der Vorwurf nahe, warum sie Euch im Laufe dieser Zeit allmählich fremd geworden, warum sie Euch nicht geschrieben, kurz, warum Isabella Brodini eine andere geworden ist. Vor allem sage ich Euch, David Brod, hütet Euch vor Ungerechtigkeit! Nicht Euere Tochter, mich allein trifft die Schuld. Ich will mich mit Euch auseinandersetzen, David, vielleicht versteht Ihr mich!«

Der Vorbeter war wieder in seine demütige Stellung zurückgefallen. Bei diesen Worten richtete er sich auf.

»Der Herr Graf haben gut erraten,« sagte er.

»Nun, David, so wird es mir nicht schwer fallen, mich mit Euch zu verständigen. Ich will es Euch erleichtern, so klar als möglich zu sehen. Was war meine Absicht, als ich Euer Kind unter meinen Schutz nahm? als ich zu Euch sagte, in der Stimme des vierzehnjährigen Mädchens schlummere eine Macht, in ihrer Tiefe leuchte ein Karfunkel, der nur hervorgeholt und zum Glanz gebracht werden müsse?«

»Der Herr Graf wollten sie zur Kunst erziehen!« sagte David Brod fast unvernehmbar.

»Zur Kunst! ja zur Kunst!« rief der Graf lebhaft, »das ist der rechte Ausdruck! Aber ist mein Haus schon gebaut, steht es bereits da, allen Augen sichtbar, wenn ich sage: Ich will es!? Da muß zuerst der Grund gegraben, alte Bäume müssen gefällt und mit ihren Wurzeln ausgerodet, Trümmer und Schutt müssen weggeräumt werden. Sagt nun selbst: Ist ein Mensch, der zur Kunst erzogen werden soll, nicht mehr als ein steinernes Haus, zu dessen Ausbau zuletzt nur mein Wille und meine Mittel genügen? Mein Weg war mir daher ganz klar vorgezeichnet. Auch bei der Erziehung Eueres Kindes mußte Schutt weggeräumt werden, Jahrtausende alter Schutt! Um den Funken, der in ihr schlummerte, zu wecken, mußte ich alles, alles zu entfernen suchen, was ihn zu ersticken drohte. Euere Gewohnheiten, Euere Sitten und religiösen Anschauungen, David Brod, sind der Kunst und ihrem hohen Wesen geradezu feindlich. Ihr könnt das Höchste und Kühnste denken, soweit es eben mit der Gedankentätigkeit geht! Zeuge dafür ist Euere Religion. Wollt Ihr es aber zur Gestalt formen, soll die Tat dastehen, dann seid Ihr unfrei, Euere Hand vermag das Werk nicht anzufassen, und was Ihr schafft, wird ein Zerrbild! Darum treten wir, in deren Adern ein anderes Blut rollt, an Euere Stelle und in Euere Rechte, die Ihr nicht ausüben wollt – oder dürft. Habt Ihr mich verstanden, David?«

Der alte Vorbeter nickte bloß mit dem Kopfe.

»Und so, David Brod,« fuhr der Graf fort, »gestaltete sich auch der Plan, den ich mit Euerer Tochter festgesetzt hatte. Ich mußte zuerst den Boden ebnen, dem sie entsprossen war, der Schutt, bei sie einhüllte, mußte fort! Ich mußte sie allmählich gewöhnen, in der neuen Luft atmen zu können, und als sie den Atem frischer einzog, mußte ich darauf sehen, daß sich kein Gelüste in ihr regte und keine Sehnsucht, die Lüfte und Düfte der alten Heimat wieder aufzusuchen. Ich wollte jeden Tropfen Blutes in ihr erneuern; sie sollte wie neugeboren in das Reich der Kunst eingehen. Denn auch die Kunst ist eine Wiedergeburt; sie bringt uns aus dem Grabe der Gemeinheit und der alltäglichen Drangsale Gott näher ... Darum schrieb Euch Euere Tochter nicht, David Brod, darum ließ ich sie Euch fremd werden, darum mußte sie, und wenn ihr die Entsagung noch so blutig ins Fleisch schnitt, alles aufgeben, was wie eine Gewohnheit, wie ein altgewohnter Klang zu ihr den Weg finden konnte. Ich war grausam und mitleidslos wie ein Tyrann! Ich war wachsam, als hätte ich hundert Augen, jeder Tropfen Blutes in ihrem Körper war gezählt. Wenn Ihr mich nun verstanden habt, David Brod, so werdet Ihr auch begreifen, daß jede weitere Erklärung vollkommen überflüssig ist. Ein Bau ist vollendet, wer fragt da danach, wieviel Steine er bedurft, welche Mühe Maurer und Baumeister aufgewendet hatten? So erging es mir mit meiner Isabella! Das Werk hat sich selbst gekrönt!«

Seiner Isabella!

Der alte Mann hatte gezittert; er hielt sich kaum noch aufrecht. Aber als wirke eine Kraft in ihm, von der sein gebrechlicher Leib nichts wußte, stand er mit einem Male hoch aufgerichtet vor dem Grafen, größer als er sonst schien; sein ganzes Wesen von einer Art gebieterischer Würde umgeben, die niemand an ihm gekannt hatte.

»Wer sagt dem Herrn Grafen,« begann er, und seine Stimme schwankte dabei nicht, »daß ich gekommen bin, das Werk des Herrn Grafen zu stören? Oder daß ich gekommen bin, um zurück zu begehren, was mir doch nicht mehr gehört? Was sollte ich auch begehren? Daß mir der Herr Graf meine Ella ganz so zurückgibt, wie sie vor acht Jahren aus meinem Hause fortgegangen ist? Ich weiß, man kann ein Wasser nicht aufwärts fließen machen, und den Mond nicht dahin stellen, wo gerade die Sonne steht. Was will also der Herr Graf von mir?«

Der Alte hielt inne; seine Blicke waren von einer wahrhaft bezwingenden Gewalt geworden; seine Haltung erinnerte auch nicht entfernt an den demütigen Vorbeter seiner stillen Gemeinde. Ein Mann stand einem Manne gegenüber. Dies fühlte auch der Graf; er rückte unruhig, die Augen jedoch wie gebannt auf das Antlitz Davids gerichtet, im Stuhle hin und her.

»Ihr habt Euer letztes Wort noch nicht gesprochen, Vorbeter!« sagte er unsicher.

»Was soll mein letztes Wort sein?« rief der Vorbeter, und der Graf verstand in diesem Augenblicke den biblischen Ausdruck: »Es wehten Flammen um sein Haupt.«

»Sprecht Euch aus, David! Es mag Euch manches in meinen Worten verletzt haben! Ihr habt mich vielleicht gar nicht verstanden?«

»Was soll ich nicht verstanden haben?« rief David Brod. »Vielleicht versteht aber der Herr Graf mich nicht, wenn ich rede.«

Dem Grafen fehlte jede Frage.

»Nein!« rief der Alte, »ich rede lieber nichts. Ich beuge mich ja und demütige mich, und sage: Der Herr Graf hat recht! Meine Zeit ist um; es bricht an die Zeit der Sängerinnen, der Komödienspielerinnen und der Kunst, wie der Herr Graf sagt. Will ich das kleine Hölzchen sein, das zu einem Strome spricht: Fließe unter mir durch, denn ich bin eine mächtige Brücke, und du bist nur ein Tropfen Wassers? Nein, ich rede lieber nichts ... Der Herr Graf meint, wir haben keine Kunst! Aber eine Kunst haben wir gehabt, und die will man uns jetzt auch nehmen, daß nämlich unsere Kinder an uns gehangen haben und wir an ihnen. Die Kinder will man uns jetzt entreißen, sie sollen ihre Väter nicht mehr kennen und ihre Mütter ... Künstler sollen sie sein! Aber kommen wird eines Tages ein anderer, Größerer und Mächtigerer. Der wird mit der Stimme des Donners sprechen: >Was ist aus meinem Volke geworden? Was habt ihr aus ihm gemacht? Habe ich es darum als Ausnahme hingestellt unter die Völker, daß seine Töchter hingehen und auf offenem Markte Götzendienst mit sich treiben lassen und ihrer Kunst?‹ An dem Tage wird es sich entscheiden, wer recht hat: der Herr Graf oder ich.«

»Vater!« rief die Sängerin, mit ihren Armen seinen Hals umschlingend. »Rede nicht so! du machst mich verzweifeln.«

Der Alte rang sich mit sanfter Gewalt los.

»Mache ich dir denn Vorwürfe, Ella, mein Kind? Du bist ja mein Stolz, und mein Herz wird aufgehen vor Freude, wenn ich an deine Kunst denke. Für dich ist die neue Zeit, die immer gewaltiger herankommt ... ich kann dich nicht zurückhalten. Ich bin ja auch nur gekommen, um dich noch einmal zu sehen. Wirst du das einem lebenssatten alten Manne nicht zugute halten?«

Er hatte sich zu ihr hinabgebeugt, und nun flossen seine Tränen; die furchtbare Spannung seines Gemütes hatte sich gemildert.

»Vater!« rief die Sängerin, »ich gehe mit dir! Du sollst ohne dein Kind nicht sterben.«

Er streichelte ihre Haare, er lächelte sogar.

»Narrele!« sagte er mild, »was willst du bei David Brod, dem Vorbeter, tun? Willst wieder in einer Laubhütte sitzen? Willst mir wieder ›zuhalten‹, wenn ich oder Feiwelmann, mein Baß, miteinander singen? Die Zeit ist um, für dich ist eine andere gekommen. Du gehörst nicht mehr zu uns ... Was möchtest du bei mir?« Sie war ihm zu Füßen gesunken; laut schluchzend hatte sie seine Knie umklammert.

»Laß mich nicht von dir, Vater!« rief sie, »ich gehe mit dir!«

»Isabella!« schrie der Graf zornig.

Im Klange dieses einzigen Wortes schien eine bannende Gewalt zu liegen, der die Tochter des Vorbeters nichts entgegenzusetzen hatte.

Sie hatte ihr Haupt emporgerichtet, Angst und Entsetzen malten sich in ihren feinen Zügen. Sie war in diesem Augenblicke von unsagbarer Schönheit!

»Was soll ich tun, Graf?« flüsterte sie, die Blicke zaghaft auf die vor ihr stehende hohe Gestalt des Grafen gerichtet.

»Fällt Ihnen die Entscheidung so schwer?« rief er voll schneidender Herbigkeit. »Wählen Sie, Isabella! Wählen Sie zwischen den Ansprüchen dieses alten Mannes, und denen ... die ein anderer an Sie erhebt! Zertrümmern Sie in einem Momente, was lange Jahre gebaut. Es wäre nicht das erstemal, daß ein Kind Ihres Volkes sich von mir losreißt ... weil ihm das Warten zu lange geworden. Gehen Sie auch hin, Isabella ... ich begehre keinen Dank! Wird es mir doch immer klarer, daß kein Menschenwitz ausreicht, um das Gesetz der Natur, um das Band der Abstammung auch nur um einer Linie Breite zu verrücken. Gehen Sie hin, Isabella! Sie sind keine Künstlerin! Sie sind es niemals gewesen. Lüge und Verstellung war die Mitgabe Ihres väterlichen Hauses ... nun liegt sie offenbar da ...«

»Lassen Sie mich mit ihr reden, Herr Graf!« unterbrach ihn David Brod.

Er hatte sich wieder zu ihr herabgebeugt.

»Denke dir, Ella!« sagte er halb laut, halb in unvernehmbaren Worten, »wir sind jetzt ganz allein auf der Welt, ein Vater steht seinem Kinde gegenüber ... Wie stehst du zu diesem Manne?« ...

»Er ist mein Herr, mein alles ... was ich bin, das hat er aus mir gemacht ... ich bin seine Sklavin, und er ist mein Gott!« ...

»Wirst du sein Weib werden?«

»Ich frage nicht danach!« ...

»Steht es so mit dir?«

Dann rief er, gegen den Grafen gewandt:

»Was will der Herr Graf noch? Worüber will der Herr Graf sich noch beklagen? Erst, wie sie mich gesehen hat, überkommt sie die Lust, mit mir zu gehen, aber die Worte des Herrn Grafen sind mächtiger als sonst etwas in der Welt. Wer wird jetzt sagen, daß noch das kleinste Äderchen von einem jüdischen Kinde in ihr zuckt? Es ist alles heraus aus ihr, alles, alles, und nichts ist übrig geblieben als ... der Gott, der sie zu einer Künstlerin gemacht hat.«

»Sie folgt nur dem Zuge ihres Berufes,« sagte der Graf dumpf vor sich hin.

» Freuen Sie sich nicht, Herr Graf!« rief der Alte mit drohend aufgehobenem Finger. »Es ist nicht gut, wenn man ein Kind abwendig macht seinem Vater, und der es getan hat, auf den fällt es zurück.«

Der alte Mann stand wieder aufrecht da; seine Augen sprühten ein dunkles Feuer ans.

»Feiwelmann!« sagte er mit gebieterischer Stimme, »bring das Geld her, was sie dir eingehändigt haben. Es darf keinen Augenblick länger in deiner Tasche brennen.«

Er wandte sich zum Fortgehen, aber die Arme der noch immerzu seinen Füßen liegenden Tochter verhinderten ihn daran.

»Segne mich zuvor, mein Vater!« flehte sie.

Er aber schien diese Bitte zu überhören.

»Hier hast du noch etwas,« rief er, »was dir vielleicht bei all deiner Kunst nicht unwert sein wird. Hebe es gut auf, es ist das einzige, was ich dir habe mitbringen können ... Es sind Steine vom Grabe deiner Mutter« »Segne mich zuvor, mein Vater!« bat sie wieder, »laß mich nicht ohne Segen von dir gehen.«

»Isabella!« rief wieder der Graf.

»Ich kann dich jetzt nicht segnen!« sagte der Alte dumpf und hatte sich mit zorniger Gebärde losgerissen.

Die Sängerin hatte sich erhoben, weißer als das Gewand, das sie umhüllte, war ihr Antlitz; sie weinte nicht mehr. Der Baß stand neben ihr; er war ihr unbeachtet näher gekommen.

»Feiwelmann,« rief sie, und ein Laut von Hoffnung durchbebte ihre Worte, »alter Freund meiner Kindheit, der du mich geliebt und gehegt hast in deinem treuen Herzen, hast du kein Wort für mich?«

Außer sich, wie von Sinnen gekommen, fiel er vor der Sängerin nieder; er küßte den Saum ihres Kleides.

»Ich habe dich einmal verloren,« rief er, »und jetzt verliere ich dich wieder, Karfunkel meines Lebens! Gott segne und behüte dich!«

Noch in derselben Nacht wanderten die beiden Männer ihrer Heimat zu.

Als der Morgen in Strahlen der Helle angebrochen war, kamen sie wieder durch den Brandeiser Wald, durch dessen vermeintliche Schrecken sie am gestrigen Tage der Psalm des frommen Dichterkönigs geleitet hatte. Im Walde war es so frisch, Tautropfen hingen an jedem Blatte, und oben in dem Laube sangen Vögel, die sie gestern nicht gehört hatten.

Gerade flog ein Vogel neben ihnen auf aus dem Fahrgeleise der Straße, da sagte der Alte, der, seitdem er die Straßen Prags verlassen, seine Lippen nicht geöffnet hatte:

»Feiwelmann, wir müssen doch beizeiten daran denken, wie wir unsere Leute am nächsten Feiertage zu Hause mit etwas Neuem überraschen. Seit jener verunglückten Keduscha haben sie nichts Neues von uns gehört.«

»Ich wüßt' etwas,« sagte der Baß nach längerer Weile darauf, »das will mir seit gestern nicht aus dem Kopfe.« »Meinst du das?«

Mit heller Stimme und nicht geringem Verständnisse sang nun David Brod die ergreifende Stelle aus dem berühmten Duette des vierten Aktes der »Hugenotten«, die es gestern bewirkt hatte, daß er seine Tochter erkannte. Sie hatte sich seinem Gedächtnisse ohne einen merkbaren Fehler genau eingeprägt.

»Merkwürdig!« rief der Baß, »dasselbe habe ich auch gemeint.«

Und auch er sang die schöne Melodie ohne allen Anstand.

Als sie nun in geringer Entfernung von der alten Heimat sich befanden, es war in der Nähe des »guten Ortes«, blieb Feiwelmann, der Baß, plötzlich stehen.

»David,« sagte er mit unaussprechlicher Traurigkeit. »Beantworte mir jetzt nur eine Frage, eine zweite will ich dir ein für allemal ersparen.«

»Frage!«

»Wie ist es gekommen, daß du im Brandeiser Walde hast singen können? Ist es in deiner Seele so überaus lustig? Bist du von etwas befreit, was dich gedrückt hat? Und freust du dich ... daß du an sie nicht mehr zu denken brauchst?«

Ein trübes Lächeln legte sich um die Lippen des alten Mannes.

»Wie du mir doch vorkommst, Baß,« sagte er. »Jemand war einmal in eine Schatzkammer eingelassen worden. Er hat sich da von den aufgespeicherten Kostbarkeiten nehmen gekonnt, wonach sein Herz begehrt hat. Aber was, denkst du, hat er zuletzt aus all den Schätzen für sich ausgesucht? Einen einfachen, kleinen goldenen Ring, weil ihn der, ich weiß nicht an welche glückliche Stunde in seinem Leben gemahnt hat ... Verstehst du jetzt mein Singen, Feiwelmann?«

Spät in der Nacht kamen sie wieder zu Hause an. Niemand hatte es erfahren, wo sie gewesen, noch was mit ihnen vorgegangen war; kaum daß ihre Abwesenheit bemerkt worden war.

Am ersten Neujahrstage ertönte die neue Melodie, zum ersten Male auf ein gar ernstes und weihevolles Gebet angepaßt in der Synagoge. Die beiden Sänger ernteten dafür nach dem Gottesdienst ungeheures von allen Seiten gespendetes Lob. Man drückte ihnen die Hände, und hie und da machte sich und seiner Begeisterung so mancher in dem Ausrufe Luft: »Es gibt doch nur einen David Brod! Er bleibt der Alte.«

Umsonst berief sich der »verdorbene Student« Gottlieb Weißfisch darauf, und behauptete es mit der ganzen Wucht seiner Persönlichkeit, er habe die Melodie schon irgendwo gehört, und wenn er sich nicht irre, so komme sie in Meyerbeers Oper: »Die Hugenotten« vor ... er fand bei den Leuten keinen Glauben und kein Vertrauen, die nach wie vor bei ihrem Satze blieben, es gebe nur einen David Brod. Bei der jüngeren Welt glückte es ihm freilich um so mehr; aber diese entschied nicht.

Die Melodie war das einzige, was die beiden Männer von ihrer Kunstfahrt nach Hause gebracht hatten ... das tönende Erinnerungsdenkmal des Karfunkels ...

Kurze Zeit darauf starb, unerwartet schnell, der alte Vorbeter. Er war ohne Krankheit hinübergeschlummert. Es hatte sich seltsam gefügt, daß einige Tage vorher in der Gasse die Nachricht verbreitet war, der Graf sei von seinen Reisen zurückgekehrt und werde von nun an seinen beständigen Aufenthalt im Schlosse nehmen. Das Gerücht setzte hinzu; er sei ein noch finsterer Menschenfeind geworden, als er sonst gewesen, und lasse nur die unentbehrlichsten Personen vor sich ...

Am Abende vor seinem Tode berief David Brod seinen langjährigen treuen Genossen zu sich.

»Du wirst sehen, Feiwelmann,« sagte er schwach, »sie kommt doch noch einmal wieder ... nicht zu ihm, der auf seinem Schlosse lebt, sondern zu mir, daß ich sie segne. Dann sage ihr, ich habe sie gesegnet ...«

Eines Tages wurde Feiwelmann, der Baß, der mittlerweile der Nachfolger David Brods im Synagogenamte geworden, durch den Wächter des »guten Ortes« nach dieser Stätte des Friedens berufen, wo ihn jemand erwartete.

Auf dem Grabe des Vorbeters fand er eine schwarz gekleidete und tief verschleierte Frau sitzen, die heftig weinte.

Was zwischen den beiden gesprochen wurde, hat niemand je erfahren ...

Isabella Brodini leuchtete als »Karfunkel« noch einige Jahre hindurch in wolkenlosem Glanze; dann verschwand sie plötzlich aus jener Welt, die nur Bewunderung und Siegeskränze für sie hatte. Sie ist seitdem wie verschollen.

Feiwelmann, dem Sänger, scheint es bekannt zu sein, wo sie sich gegenwärtig aufhält.

Wenigstens will man dies aus dem Umstande schließen, daß er noch jetzt an jedem Todestage seines Vorgängers an die Armen der Gemeinde so bedeutende Unterstützungen verteilt ... die milden Gaben können nur von der Tochter David Brods, vom »Karfunkel« herrühren.


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