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Die beiden Schwerter.

In jenem berühmten »Kontrollorgange« der kaiserlichen Burg in Wien, wo Josef der Zweite – warum fährt uns eine so lichte Glut über das Antlitz, während wir diesen Namen niederschreiben? – seinem Volke in des Wortes weitestem Sinne Gehör gab, standen eines Tages mitten unter einem Haufen von Leuten, die sich aus allen Ständen, Geschlechtern und Provinzen zusammengefunden hatten, ein Mann und eine Frau, Eheleute, wie es schien. Neben dem ungarischen Bauer, der von weiter Pußta hergekommen war, um seinem »Könige« eine Klage wider einen Edelmann vorzutragen, wie er in straffer Haltung dastand, die eine Faust auf den eisenbeschlagenen Fokos gestemmt, den Schafpelz um den riesigen Leib geschlagen, während die andere Hand abwechselnd die beiden kühn aufgeworfenen Schnurrbartspitzen kräuselte, nahm sich jenes Ehepaar gar sonderbar aus! Der Mann, etwa in der Mitte der fünfziger Jahre stehend, hatte nichtsdestoweniger ganz ergrautes Haar; scheu und gedrückt, das dreieckige Hütlein in den krampfhaft zitternden Händen haltend, konnte man ihm, ohne ihn noch gehört zu haben, eine traurige Geschichte voll Drangsal und Kummer vom Gesichte herablesen. Ein Glücklicher mochte neben ihm nicht lange verweilen. Seine Lippen murmelten beständig, und der kleine weiße Kopf bewegte sich wie der Perpendikel einer Uhr unaufhörlich nach rechts und links, als wollte er beweisen, daß man ihm bisher keinen rechten Ruhepunkt gegönnt hatte. Dagegen bot die Frau neben ihm einen etwas erfreulicheren Anblick. Sie hatte eine verblichen goldene Haube auf, wie sie damals die Frauen in den Ghettos trugen, und schien bedeutend jünger als ihr Mann. Ihr Antlitz war noch von jenem rosigen Schimmer überhaucht, den oft die Jugend wie ein Almosen an das reifere Alter abtritt; dagegen schienen ihre Augen viel geweint zu haben. Sie mochten einst schön gewesen sein; wenn sie sich aber jetzt aufhoben, traute man ihnen fast keine Sehkraft zu. Ursprünglich tiefblau, waren sie jetzt blaß und ausdruckslos geworden.

Das Ehepaar hatte einen weiten Weg zurückzulegen gehabt, ehe es in den Kontrollorgang der kaiserlichen Hofburg gelangen konnte. Sie waren in Böhmen zu Hause und hatten vor vierzehn Tagen ihre Heimat verlassen. In Wien selbst befanden sie sich kaum vierundzwanzig Stunden, und schon standen sie vor dem Antlitze des wahrhaft gottbegnadigten Herrschers, vor dem Fürsten, dessen gesamtes Wesen niemals in seiner ganzen erfrischenden und aufrichtenden Größe erfaßt werden wird, da er das schönste Geheimnis der Schöpfung in sich barg, ein echtes Menschenherz ... und die Enthüllung von Geheimnissen eben nicht die starke Seite des geschichtlichen Verstandes bildet.

Schon hatte sich der weite Kontrollorgang beinahe geleert, der ungarische Bauer in seinem Schafpelze und unser Ehepaar waren die letzten geblieben. Der Kaiser näherte sich ihrer Gruppe. Wer von ihnen sollte zuerst sprechen? Da griff der Bauer ohne vieles Bedenken in den Brustlatz seines Pelzes und brachte die »Supplik« hervor, die er dem Kaiser entgegenhielt.

Eine Weile ruhten die Augen Josefs wohlgefällig auf der strammen wohlgebildeten Gestalt des Bauers, dann entfaltete er das Papier. Er las es vom Anfang bis zu Ende; seine Züge waren tief ernst geworden. Die Supplik des Bauers war in jenem Latein abgefaßt, wie es eben nur der Feder eines schlichten Dorfnotars in Ungarn entspringen konnte. Warum Lateinisch? Warum in der toten Sprache von Ruinen zu seinem lebendigen deutschen Herzen sprechen? Und dann! Ließ sich noch immer kein Mittel finden, um diesen magyarischen Edelmann zur Überzeugung zu zwingen, daß die niedergeborene Creatur Rechte besitze, denen er, der Übermütige, beständig den eisenbeschlagenen Stiefel auf den Nacken stemmte?

Nur wenige in ungarischer Sprache lautende Worte hatte der Kaiser an den Bauer gerichtet, sie schienen Gewährung der Bitte zu enthalten; dann wandte er sich mit einer Handbewegung, die den Magyaren verabschiedete, an das aus Böhmen kommende Ehepaar. In demselben Augenblicke stürzten die beiden Leute, Mann und Frau, auf die Knie.

Josef trat einen Schritt zurück.

»Steht auf, steht auf, guten Leute!« fagte er milde. »Was ist euer Begehr?«

Aber die beiden waren nicht imstande, dem kaiserlichen Worte Folge zu leisten. Tiefe Stille herrschte in dem weiten Saale, nur das Schluchzen des auf den Boden hingestreckten Ehepaares war vernehmbar. So währte es eine geraume Weile, bis es endlich der Frau gelang, sich aus ihrer halb liegenden, halb knienden Lage aufzurichten. Ihr Antlitz war tränenüberströmt.

»Wer seid Ihr, Mutter?« fragte Josef, auf den die verwitterte Schönheit dieses Kopfes mit den verblaßten müden Augen einen tiefen Eindruck zu machen schien.

»Jawohl, Eure kaiserliche Majestät,« brachte die Frau mühsam hervor, »ich bin eine Mutter, und Euer Majestät haben es ganz gut erraten ... Ich bin eine Mutter, und der da neben mir ist mein Mann, und wir beide sind aus Kojetein in Böhmen ... und bringen ein großbeschwertes Herz vor unsern allerdurchlauchtigsten Kaiser und Herrn ...«

»Sprecht Euch aus, liebe Mutter,« sagte der Kaiser, »darum seid Ihr ja zu mir gekommen.«

»Das ist wahr, Euer Majestät,« sagte die Frau, indem ihr ein neuer Tränenstrom entstürzte. »Wie soll ich mich aber aussprechen, da ich doch weiß, daß mein allergnädigster Kaiser selbst mir wird nicht helfen können ...«

»Laßt doch sehen, Mutter,« lächelte der milde Herrscher, »die Sache ist vielleicht nicht so schwierig.«

»O! Euer Majestät,« meinte die Frau, »sie ist so schwer, und unser Herr Pfarrer zu Hause hat es selbst gesagt.«

»Euer Pfarrer?« rief der Kaiser verwundert. »Seid Ihr denn nicht ...«

»Juden, wollen Euer Majestät sagen,« unterbrach ihn die Frau. »Ja, das sind wir! Ich heiße Gitel und mein Mann da neben mir heißt Schlome ... Schlome Fingerhut, seitdem wir deutsche Namen bekommen haben.«

»Und wie kommt Ihr dennoch zu einem Pfarrer?«

»Das ist ja eben unser großes Unglück, Euere kaiserliche Majestät!« rief die Frau traurig; »wer hätte denn mir oder meinem Mann an der Wiege vorgesungen, daß wir auf unsere alten Tage es werden mit einem Pfarrer zu tun haben?«

»Was ist der Pfarrer für ein Mann!« rief Josef rasch, indem er seine durchdringend blauen Augen auf die Jüdin richtete.

»Gott soll ihn hundert Jahre leben lassen!« sagte die Frau feierlich, und ihre Blicke wandten sich mit einer gewissen Andacht gegen die Decke des Saales.

Josef schüttelte das Haupt. Die sonderbaren Reden der Frau schienen ihn nicht zur Ungeduld zu stimmen, es mochte ihm aus ihnen ein Geist entgegentreten, den er gern begriffen wünschte.

»Sprecht, Mutter!« sagte er, »was ist Euer Begehr?«

»Alles, was Euere kaiserliche Majestät hören wollen, das alles steht viel besser in dem Papier da aufgeschrieben, was mir unser Herr Pfarrer mitgegeben hat.«

Mit diesen Worten überreichte sie dem Kaiser ein in Bittbriefform zusammengelegtes Papier, das der Herrscher mit einer gewissen Hast entfaltete.

»Lesen Sie nicht, Euere kaiserliche Majestät,« – rief mit einem Male der Mann, der bis dahin in seiner knienden, fast am Boden zusammengekauerten Lage verharrt hatte, mit so durchdringend lauter Stimme, wie sie in diesem Saal vielleicht niemals erklungen sein mochte.

Dem Herrscher bot sich ein ebenso sonderbarer als ergreifender Anblick dar.

Derselbe Mann, der einige Sekunden zuvor von dem Gefühle der Furcht, einem Fürsten gegenüber zu stehen, bis zur äußersten Ohnmacht, fast bis an das Todesgrauen gedrängt worden war, derselbe Mann stand jetzt aufrecht, jeden Muskel seines Körpers von einem mutvollen Gedanken geschwellt vor Josef dem Zweiten. Das dreieckige Hütlein war auf den Boden gefallen, der böhmische Jude schien um eine Kopflänge gewachsen zu sein. Dazu blitzte ein dunkles Feuer in seinen kleinen Augen, und sein blasses Angesicht trug in den vielen Furchen die Zeichen eines von innen lohenden Brandes.

»Lesen Sie nicht, Euere kaiserliche Majestät!« rief er also, die Hand wie abwehrend gegen den Herrscher ausgestreckt, »bis ich zuvor gesprochen habe.«

»Was ist es, Mann?« sagte Josef der Zweite, noch immer ohne irgend welche Ungeduld. »Faßt Euch! Ihr steht vor Eurem Kaiser, der noch keinem seiner Untertanen Gehör versagt hat.«

»Nun gut, Euer Majestät!« rief der böhmische Jude, »ich komme gar nicht als Bittsteller, ich komme anzuklagen denjenigen, den der allmächtige Gott im Himmel als seinen Stellvertreter auf Erden aufgestellt hat, daß er richte zwischen Gut und Schlecht, zwischen Licht und Dunkel. Und weil Gott einen Menschen so hoch aufgerichtet hat, daß alle andern Menschen neben ihm zu nichts werden, muß er ihm auch etwas von seiner Gerechtigkeit verliehen haben, und die darf kein Stäubchen Unrechtes neben sich dulden, und muß es ausrotten, wie Unkraut aus dem Acker.«

Der Mann hielt inne.

Ein leichtes Runzeln fuhr über die hohe Stirne Josefs des Zweiten.

»Alter Mann,« sagte er mit einem Anfluge von Strenge, »du sprichst ein großes Wort aus, und weißt vielleicht nicht, was du sprichst. Sprich! Ist dir von einer meiner Behörden eine Kränkung deines guten Rechtes angetan worden? Ich gebe dir mein kaiserliches Wort, es soll dir Genugtuung werden, wenn sich deine Anklage bewährt.«

»Euer Majestät,« rief der böhmische Jude aus keuchender Brust, und eine aschgraue Färbung überflog sein bis dahin leicht gerötetes Gesicht. »Das Unrecht, das ich erleide, kommt von Eurer Majestät selber ...«

»Schlome!« schrie das Weib neben ihm in Todesangst und faßte nach der Hand des Mannes.

»Sprich, alter Mann!« sagte Josef milde, der es wohl begriff, daß er mit der Sprache eines hochaufgeregten, gleichsam aus seinen gewohnten Bahnen getretenen Gemütes nicht allzu strenge ins Gericht gehen durfte. »Ich bin es also, den du anzuklagen hast?«

»Ja, Euer Majestät!«

»Und worin besteht mein Unrecht?« rief der Enkel so vieler Cäsaren mit leicht begreiflicher Hast.

Niemals vielleicht zeigte sich jenes große Herz der ihm gewordenen Sendung würdiger, als gerade in diesem Augenblicke. Josef der Zweite, der deutsche Kaiser, der Erbe und Besitzer glänzender Kronen, stand dem böhmischen Juden aus Kojetein Rede und Antwort in einer Sache, in der er als Angeklagter erschien!

»Euer Majestät,« begann Schlome mit unbeugsamer Entschlossenheit in Ton und Gebärde, »haben das Toleranzedikt herausgegeben. Man sagt, es soll für uns Juden sehr gut sein ... das Toleranzedikt hat mich um meinen Sohn gebracht!«

Kaum hatte der böhmische Jude diese kühne Anklage ausgesprochen, als auch schon die unnatürliche Gereiztheit, in der sein ganzes Wesen tönte, gleichsam als hätte sie den höchsten Ton einer über alles Maß überspannten Saite erreicht, in ihr gerades Gegenteil umschlug. Er taumelte zurück und wäre zu Boden gestürzt, wenn ihn nicht seine Frau mit kräftiger Entschlossenheit mit beiden Händen erfaßt und aufrecht erhalten hätte.

»Ich verstehe dich nicht, alter Mann!« sagte Josef, während sein Auge mehr neugierig als strenge auf der Gestalt der vor ihm Stehenden haften blieb. »Was hat mein Toleranzedikt mit deinem Sohne zu tun?«

Und wieder erhob sich der böhmische Jude zu einer jener gewaltsamen Kraftanstrengungen, denen sein gesamtes Wesen so unähnlich sah. Seine Gestalt richtete sich auf, seine Augen erhielten wieder Feuer, jeder Nerv in seinem Leibe schien auf der Lauer zu stehen.

»Euer Majestät!« sagte er, indem er einen Schritt vorwärts tat, »die Religion ist für den Menschen das Höchste! Wer ihm daran greift, der greift an Gott und verletzt die Ehrfurcht, die wir ihm schuldig sind. Das Toleranzedikt von Euer Majestät mag gut und gnädig sein, wer sollte das nicht erkennen? Die Letzten waren wir in den Staaten Euerer Majestät, verflucht und gemieden wie Pestkranke ... keinen Tag war unsere Existenz sicher; wem es einfiel, der konnte uns beschimpfen, mit dem Fuße treten und aus dem Hause jagen. ›Sie sollen erschrecken vor jedem Blatte, das fällt,‹ heißt es in der Bibel, und das Wort ist an uns buchstäblich wahr geworden. Wir haben gezittert und gebebt vor dem Großen wie vor dem Kleinen, weil uns beide weh tun konnten. Unser Recht war in der Hand der Mächtigen wie ein Stück Lehm in der Hand des Töpfers; wir haben nicht die Ehre und Würde gehabt, wie sie selbst der robotpflichtige Knecht genießt ... Da haben Euer Majestät das Toleranzedikt herausgegeben ...«

»Und nun?« fragte Josef, und seine blauen Augen leuchteten in einem eigentümlichen Glanze.

»Wenn man lange krank gewesen ist,« fuhr der Jude in erhöhtem Tone fort, »dann tut einem der kleinste Sonnenstrahl wohl, und man fühlt sich davon bis in die tiefste Seele hinein erwärmt. Aber nicht jeder vermag das zu ertragen. Weil ihm der eine Sonnenstrahl wohltut, der auf sein Bett fällt, so meint mancher Kranke, er muß auch hinaus in die Freiheit und auf die Gasse, wo er die ganze Sonne und den blauen Himmel über sich hat. Und da kann es sich ereignen, daß der erste Schritt, den er vor das Haus setzt, ihm das Leben kosten kann. Denn draußen lauert der Tod.«

»Ich fange an, dich zu verstehen, alter Mann!« sagte Josef, »sprich weiter!«

»Das Toleranzedikt, Euer Majestät,« rief Schlome Fingerhut, »ist ein solcher Sonnenstrahl, aber die ihn genießen, werden daran zugrunde gehen! Denn weil die Religion das Höchste für den Menschen ist, so darf auch keine Hand danach greifen und tasten. Das Toleranzedikt, kaiserliche Majestät, wird uns übermütig machen, wird uns die Lust eingeben, hinaus in die Freiheit und auf die Gasse treten zu wollen ... In siebzig Jahren wird es gar keine Religion mehr geben.«

Josefs Antlitz deckte sich mit einer tiefen Glut; seine in der Falte des Jabots ruhende Hand fuhr mit einer gewissen Heftigkeit heraus.

»Das also ist es, was dich beunruhigt!« rief er, und seine Sprache klang herb, abstoßend, gereizt. »Mein Toleranzedikt wird euch um eure Religion bringen?«

»Gnade, Gnade! Euer Majestät!« flehte der böhmische Jude, der erst jetzt inne zu werden schien, daß diesem Tone gegenüber nur das Schweigen der Demut sich eigne. »Ich redete unbesonnen, ich wußte nicht, wie es mir auf die Zunge kam.«

»Entschuldige dich nicht, alter Mann!« rief Josef mit der Hand abwehrend, »und bedecke dein graues Haupt nicht mit der Schmach der Lüge! Du hast gesprochen, wie jetzt Tausende und Hunderttausende und Millionen deiner Art sprechen ... Aber daß du so sprichst, einer aus jenem Volke, dem ich nur ein Stäubchen Gnade zuwandte, dem ich nichts gab, als worauf es seit Tausenden von Jahren harrte, das beweist mir aufs neue, daß das edelste Geschöpf Gottes vor allem die Anlage hat ... undankbar zu sein!«

»Gnade, Euer Majestät, Gnade!« wimmerte der alte Mann mit gerungenen Händen.

Der Kaiser hielt inne. Hatte er zu viel von dem Inhalte seines eigenen Herzens – dem böhmischen Juden verraten? Josef war nicht wortkarg. Er verdeckte nicht gern die Glut seiner Begeisterung mit der ausgebrannten Asche kalter Bedächtigkeit. Hätte sonst sein Mund in der bittern Todesstunde das Geheimnis offenbaret, alle seine Pläne seien an dem einen Irrtum gescheitert, daß er den Menschen zu viel vertraut – und zugetraut habe?

Mit rascher Bewegung trat er plötzlich von den beiden Bittstellern aus Böhmen hinweg; es hatte fast den Anschein, als wollte er sie ohne Bescheid kurz und übelwollend entlassen.

Da rief die Frau, indem sie neuerdings auf den Boden hinstürzte, so daß sie nur eine Handbreit Raumes zwischen ihrem Haupte und dem Fuße des Kaisers hatte, schluchzend:

»O, kaiserliche Majestät! Wollen Sie eine Mutter so fortgehen lassen, die beständig ein scharfes Schwert über ihrem einzigen Sohne gezückt sieht? Kaiserliche Majestät! schauen Sie doch herab auf den Jammer einer Mutter!«

Der Ton dieser Klage, mit jener Wahrheit der Verzweiflung gesprochen, die sich nicht spielen und erheucheln läßt, traf Josefs Gemüt. Huldreich neigte er sich zu der armen Mutter herab; er, der nicht stark genug sich fühlte, die Schmerzensschreie irregeleiteter Nationen von sich zu wehren, wie unanfechtbar er sich auch in seinem Rechte dünkte, wie sollte er dem Jammer dieser Menschenseele gegenüber die Miene strenger Zurückweisung beibehalten?

»Steh auf, steh auf,« sagte er weich, »du sollst nicht sagen, Frau, du seiest von dem Antlitz deines Kaisers ungetröstet fortgegangen ... Erzähle du mir klar und schlicht, wie es um dich steht. Dein Mann,« setzte er mit jenem milden Lächeln hinzu, das seine Zeitgenossen so überaus schön fanden, »dein Mann kommt mir wie ein Fanatiker vor, und mit Leuten solcher Art ist es etwas schwer, sich zu verständigen.«

»Kaiserliche Majestät!« schluchzte die Frau des böhmischen Juden, »wie soll ich sprechen, wenn ich so erschrocken bin?«

»So bleibt mir nichts anderes übrig, als mich mit dem Inhalte dieser Bittschrift bekannt zu machen. Es steht doch wohl darin, was dich bedrückt?« fragte Josef, indem er, das entfaltete Papier vor sich haltend, in eine Fensterbrüstung trat.

»Alles, alles, Eure Majestät!« rief die Frau. »Der Herr Pfarrer hat es ja geschrieben, und der soll hundert Jahre leben!«

Der Kaiser begann zu lesen. Eine atemlose Stille waltete durch den weiten Kontrollorgang. Die Bittschrift des böhmischen Ehepaares war ein unfangreiches Aktenstück, das selbst beim flüchtigsten Durchlesen eine geraume Zeit in Anspruch genommen hätte. Der Kaiser las langsam; bei mancher Stelle, die ihn lebhafter ergriffen zu haben schien, hielt er zögernd inne; dann flog sein blaues Auge wie suchend über die beiden hin. Schlome Fingerhut stand wieder, der scheue und gedrückte Jude da, als der er eingetreten, das dreieckige Hütlein vor sich hinhaltend, während die Frau noch immer in ihrer knienden Lage verharrte.

Während seiner ganzen Regentenlaufbahn war dem Kaiser kein eigentümlicheres, ihn mehr fesselndes Schriftstück vor die Augen getreten. Die tollsten Projekte, wie die genialsten Ansichten, größter Aberwitz und planvolle Weisheit waren ihm in den Jahren entgegengetreten, die die Geister seiner Völker mit einer seit den Zeiten der Reformation nicht gekannten Unruhe aufgestört hatten ... Dieser Bittschrift gegenüber, sonderbar ihrer Form und ihrem Inhalte nach, mußte selbst Josef gestehen, daß alles bisher Gekannte und Erfahrene zur Farblosigkeit herabsank. Schon der Eingang des Schriftstückes fesselte seine Aufmerksamkeit in hohem Grade; es lautete:

»Zwei Schwerter sind seit altersgrauen Zeiten, namentlich aber, seitdem Carolus Magnus sich an jenem berühmten Weihnachtsfeste die abendländische Krone aufsetzen ließ, über alles deutsche Land, ja über die ganze zivilisierte Erde ausgestreckt. Sie stehen als Wache an des Menschen Wiege, sie kreuzen sich über seinem übrigen Leben und begleiten ihn, wenn er stirbt, zu Grabe. Die zwei Schwerter sind die zwei Gewalten auf Erden: Staat und Kirche! Wer dem einen entrinnt, fällt der Schärfe des andern anheim. So ist es Recht und Gesetz gewesen in jenen dunklen Zeiten, als die Menschheit einer kräftigen und ungeteilten Faust bedurfte, wollte sie nicht in ihren bösen und gewalttätigen Gelüsten ersticken und zugrunde gehen! Im Laufe der Zeiten mußte aber der unausbleibliche Umstand eintreten, daß Unfriede aufkam zwischen den beiden gezückten Schwertern. Das eine wurde immer gewalttätiger, das andere dagegen von Tag zu Tag stumpfer; kein Schützer des Rechts und der Bildung, sondern ein Würger fuhr das eine einher, während das andere sich demütig in die Ecke duckte und ganz vergessen zu haben schien, daß es doch auch aus Eisen geschmiedet worden. Selbst wenn es den Anschein hatte, daß es sich hie und da dieses seines Ursprunges erinnerte, immerhin ist die Stärke des anderen so anmaßend gewesen; bei allen Anlässen, im großen wie im kleinen, hat es sich so bedeutend in die Wagschale gelegt, daß jenes höchstens funkeln, dieses allein aber schneiden konnte. So ist es gewesen bis zu des gottgesegneten Kaisers Ankunft auf dem glanzvollen Throne seiner erhabenen Ahnen; der hat das gute Staatsschwert ergriffen, das schützende, allen gleich gerecht werdende, ... und seit dieser Zeit datiert sich ein neues Blatt der Menschheit, worauf die Augen des vorurteilsfreien Weltweisen immer mit Wohlgefallen ruhen werden.«

Nach diesem etwas befremdenden Eingange erbat sich der Stadtdechant von Kojetein, »in der innigsten Überzeugung, Se. kaiserliche Majestät werde dies nicht ungnädig vermerken«, die Erlaubnis, das Wort für eine »arme Judenfamilie« führen zu dürfen, die sich in der größten Not, nämlich in Gefahr, von den »beiden Schwertern« zu gleicher Zeit erfaßt zu werden, befinde. Er erzählte:

»Kurz nachdem das Toleranzedikt glorreichen Andenkens erschienen, sei eines Abends ein junger Mensch, der Sohn des israelitischen Handelsmannes Schlome Fingerhut zu ihm gekommen und habe ihm in kurzen, aber leidenschaftlichen Worten den Wunsch ausgedrückt, alsogleich in den Schoß der katholischen Kirche aufgenommen zu werden. Die Eltern des jungen Mannes seien ihm schon seit langen Jahren als die frömmsten Leute im Orte bekannt, um so mehr habe ihn also diese Mitteilung ihres Sohnes in Verwunderung gesetzt. Auf die Frage, was ihn denn zu diesem Schritt bewege, der doch so außerordentlich selten unter seinen Glaubensgenossen vorkomme, habe er in größter Aufgeregtheit, mit flammenden Wangen und leuchtenden Augen geantwortet: ›Das Toleranzedikt meines Kaisers Josef des Zweiten.‹ Lassen wir hier den Bericht des guten Stadtdechanten von Kojetein in seiner geschriebenen Unmittelbarkeit folgen:

»Ich war über diese Antwort um so mehr erstaunt, als ich sie im ersten Augenblicke nicht begriff. Wie? sagte ich ihm, der Kaiser spricht zum ersten Male, seit dein Volk in seinen Staaten sich befindet, den Grundsatz der Duldung für seine akatholischen Untertanen aus, und diesen Moment willst du benützen, um aus dem Schoße deiner Religionsgemeinde zu scheiden? ›Eben deswegen,‹ lautete die Gegenrede des jungen Israeliten, ›will ich meinen Glauben ändern. Aus dessen Herzen das Toleranzedikt hervorgehen konnte, der muß die wahre Religion besitzen, und ich will keinen andern Glauben haben, als mein Kaiser Josef der Zweite!‹ Auf meine Bemerkung, daß es mir schiene, als handle er gerade durch einen derartigen Schritt den erhabenen Absichten des Kaisers zuwider, der doch das benannte Edikt nur zu dem Zwecke herausgegeben, um von den bisher so bedrückten Religionsparteien jeden Zwang und jede Nötigung zu entfernen, antwortete er kurz und bestimmt:

»›Das Toleranzedikt ist auf Gottes Eingebung erfolgt. Gott wollte, daß diese wahrhaft große Tat aus den Händen eines christkatholischen Herrschers hervorgehe, um anzudeuten, daß er dessen Religion über alle anderen setze.‹ Ich gestehe, daß mich diese Äußerung geradezu verblüffte; es ließ sich gegen die Wahrheit derselben nichts einwenden. Da ich aber sah, daß ich es mit einem jungen, leidenschaftlichen, aufgeregten Menschen zu tun hatte, in dessen Gehirn eine sogenannte fixe Idee sich bis zur Manie vielleicht festgesetzt hatte, so fragte ich ihn, um seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben, ob er auch der Zustimmung seiner Eltern zu dem beabsichtigten Schritte sicher sei? Er antwortete: ›Ich bin vierundzwanzig Jahre alt!‹ Darauf stellte ich ihm vor, ob er auch sich vergegenwärtigt habe, welchen Kummer er dadurch seinen Eltern verursache, die an dem Glauben ihrer Väter mit der größten Zähigkeit hingen; eine Glaubensänderung sei bald vollzogen, aber er möge bedenken, daß dadurch die zartesten Fäden der Verwandtschaft zerrissen, die innigsten Bande der Natur aufgehoben würden. Da brach er in Tränen aus und bedeckte sein Antlitz mit beiden Händen. ›Ich habe alles überlegt, hochwürdiger Herr,‹ sagte er, ›aber das Edikt will es so von mir!‹ Da ich ihn nun in dieser Stimmung sah, versuchte ich noch eines. Ich fragte ihn: ›Soll ich deine Eltern von dem Schritte, den du vorhast, in Kenntnis setzen? Willst du ihn öffentlich begehen?‹ ›Er muß im stillen geschehen,‹ meinte er, und nun hatte ich nicht allzu große Mühe, um ihn zu überzeugen, daß sein Wunsch um Aufnahme in den Schoß unserer heiligen Kirche eine Sache sei, die nach allen Seiten hin in Betracht gezogen werden müsse. Er schien nicht meiner Meinung zu sein, aber er schwieg. Um ihn nicht ganz ohne Hoffnung von mir gehen zu lassen, bestellte ich ihn auf einen der nächsten Tage zu mir ins Haus, selbst der Hoffnung lebend, der junge Mensch könne indessen mit sich reiflich zu Rate gegangen sein.

Ich weiß,« fuhr der Bericht des Kojeteiner Stadtdechanten hier fort, »ich habe bei diesem Anlasse nicht so gehandelt, wie zu handeln es vielleicht von Tausenden meiner Amtsbrüder als heilige Pflicht wäre angesehen worden; aber ich weiß auch, daß dem landesväterlichen Herzen meines großen Kaisers nichts widerwärtiger ist als die Pest des Proselytismus, die lange genug in unsern Landen gehaust, und daß ich dabei in jenem Geiste vorgegangen bin – den Josef der Zweite seinen Staaten als Signatur aufgedrückt haben will – im Geiste der Duldung!

Am bestimmten Tage, zu später Abendstunde, fand sich der junge Mensch wieder bei mir ein. Auf meine vorläufige Frage, ob er seinen Entschluß zu bereuen nicht Gelegenheit gehabt habe, schüttelte er den Kopf. Er war weniger aufgeregt als das erstemal, und eine Ruhe sprach aus seinen Gesichtszügen, die mir deutlich kund tat, ich würde diesmal einen weit schwierigeren Stand haben. Ich täuschte mich auch nicht. Der junge Mensch bewies sich unerschütterlich; er kam stets und wieder auf den Gedanken zurück, er müsse sich zur Religion seines Kaisers bekennen, aus dessen Hand das Toleranzedikt hervorgegangen! Da ich nun nach einem Dispute, der bis tief in die Nacht hinein währte, inne wurde, daß der junge Mensch nach einem unabänderlich gefaßten Plane handle und spreche, stellte ich ihm die Aufnahme in unsre Kirche unter der Bedingung in Aussicht, daß er sich durch vier Wochen einem strengen Unterrichte in der Christlehre unterziehen müsse, worauf er mir mit einer gewissen Schüchternheit eingestand, er habe sich bereits mit dem Katechismus bekannt gemacht, ich möge die Güte haben, sein Wissen einer eingehenden Prüfung zu unterwerfen. Dies tat ich denn auch und fand es in jedem Betrachte bewunderungswürdig. Dennoch hielt ich es für nötig, ihn auf neuere vier Wochen hinaus zu vertrösten, fest entschlossen, wenn er sich auch nach diesem Termine unerschüttert bewähren sollte, der Erfüllung seines Wunsches kein weiteres Hindernis in den Weg zu legen.

Am Sonntag Okuli, wieder in später Abendstunde, stellte er sich neuerdings bei mir ein; es waren gerade vier Wochen verflossen. Sein Entschluß war ungebrochen, er bestand darauf mit jener Leidenschaftlichkeit, die er schon bei seinem ersten Besuche an den Tag gelegt hatte. Dennoch erachtete ich es noch einmal als meine Pflicht, ihn einer neuerlichen strengen Prüfung aus den Lehren des Katechismus zu unterwerfen; er bestand sie vortrefflich, ich fand auch nicht die geringste Lücke in seinem Wissen. Da glaubte ich in meinem Gewissen nicht länger Anstand nehmen zu dürfen, und sagte ihm unbedingt die Taufe zu. Da fiel er weinend vor mir auf die Knie und bat mich mit aufgehobenen Händen, die heilige Handlung sogleich an ihm vorzunehmen, aber im geheimen und hier auf meiner Stube, denn er wolle sich alsbald aus dem Lande entfernen, um seinen Eltern, die die Sache dennoch erfahren könnten, keine Kränkung zu verursachen, die namentlich für seine Mutter den Tod nach sich ziehen könnte.

Ich willfahrte ihm, und vollzog an dem jungen Menschen die heilige Handlung. Es war in der Nacht vom Sonntag Okuli auf den Montag, den der Kalender mit dem heiligen ›Adrian‹ bezeichnet, weswegen ich ihm auch diesen Namen beilegte, wie dies mein großes Taufbuch aufweist.

Kurze Zeit darauf war der junge Mensch aus der Gegend verschwunden. Ich begegnete öfters dem israelitischen Handelsmanne Schlome Fingerhut und dessen Frau, aber nichts in dem Benehmen dieser Leute deutete darauf hin, daß sie eine Ahnung von dem hatten, was mit ihrem Sohne vorgegangen. Nur erfuhr ich aus näheren Erkundigungen, daß sie die Abwesenheit dieses einzigen Kindes, dessen Aufenthalt ihnen gänzlich unbekannt sei, schwer ertrügen und darüber in großer Seelentraurigkeit sich befänden. Zwei Jahre waren vergangen, die Haare des Juden Schlome waren weiß geworden, man sah es ihm an, daß er und seine einst schöne Frau mit einem Kummer rangen, der stärker war als ihr Wille. Sollte ich nun hinzutreten, konnte und durfte ich diesen Leute eine Kunde mitteilen, die für sie die Schrecken des Todes haben mußte, da sie an der Abwesenheit des Sohnes schon so schwer trugen? Ich schloß also das Geheimnis in meine Brust – und schwieg!«

Vor einem halben Jahre ungefähr, fuhr der Bericht des Stadtdechanten von Kojetein fort, gerade an dem Tage, den die Israeliten den ›langen Tag‹ nennen, weil sie denselben durch vierundzwanzig Stunden von einem Abende bis zum andern mit Fasten und Gebeten begehen, da habe ihn, den Pfarrer, ein zufälliger Gang an der Synagoge vorbeigeführt. Der Abend war bereits niedergesunken, und die Leute strömten in hellen Haufen aus dem Gotteshaus«. Mit einem Male sei ihm der lange vermißte junge ›Adrian‹ vor die Augen gekommen; er ging, bleich, mit eingefallenen Augen, fast kaum erkennbar, am Arme einer alten Frau, in der er alsbald die Ehefrau des Schlome Fingerhut erkannt habe – und beide kamen aus einer und derselben Synagoge! Wie von einer höheren Eingebung erleuchtet, habe er Augenblickes gewußt, was mit dem Neophyten vorgegangen! Er war reuig wieder in den Schoß seiner Gemeinde zurückgekehrt und hatte den neuen Glauben verleugnet! In ihm seien Zorn und Grimm gegen ein so freches Tun erwacht, und wenn er diesen Gefühlen nicht alsbald gefolgt sei, so käme das daher, weil er sich bemeistert habe – und weil er die alte Mutter am Arme ihres Sohnes gesehen!

Dennoch habe er nach reiflicher Überlegung in der Stille der Nacht den Gedanken von sich gestoßen – die ›beiden Schwerter‹ wider das Haupt des ›Abgefallenen‹ aufzurufen. Wie, wenn der junge Mensch bloß einem Sehnsuchtsdrange nach der Heimat gefolgt, wenn er nur aus Liebe zu seinen Eltern jene Religionshandlungen mit ihnen teilte, die er in der Nacht jenes Sonntages Okuli vor ihm auf immer abgeschworen? Um Licht in dieser Sache zu erhalten, habe er beschlossen, keinen auffallenden Schritt vorzunehmen, und vor allem den jungen Mann zuerst zu hören. Er habe ihn also durch einen Diener zu sich ins Haus bestellt, in der gegründeten Hoffnung, seine Vermutungen bestärkt zu finden.

»Tage verstrichen,« so lauten wieder die eigenen Worte des Pfarrers, »und der junge Adrian fand sich bei mir nicht ein. Ich schickte neuerdings zu ihm, aber auch diesmal folgte er meinem Aufrufe nicht. Da überkam mich ein leichtverzeihlicher Grimm; ich ließ ihm sagen, wenn er nicht morgen in aller Frühe vor mir erschiene, würde ich ihn durch den Stadtvogt ergreifen und ins Gefängnis setzen lassen, von woher er mir wohl Rede und Antwort stehen würde. Der Morgen kam, aber statt des jungen Menschen ließen sich die Eheleute Fingerhut melden, die mich zu sprechen wünschten.

Niemals in meinem Leben werde ich nun den Vorgang vergessen, der sich vor meinen Augen entwickelte. Die beiden Alten waren gekommen, um mich um Gnade und Schonung anzustehen. Sie wußten alles, der Sohn hatte ihnen alles eingestanden. Er war nicht nur in die Heimat zurückgekehrt, er hatte auch seinen alten Glauben mitgebracht. Er war ein Reuiger geworden, er sah als Verirrung ein, was er in einer mächtigen Aufwallung, in einer alle seine Sinne fesselnden Vorstellung inbrünstig umfaßt hatte. Zwei Jahre planlosen Herumirrens in der Fremde, vielfache Täuschungen, die er erlebt, dazu die Sehnsucht nach den frommen Eltern brachten eine Verwirrung in ihm hervor, die schließlich ihn zu dem Entschlusse drängten, die alte Heimat – und die alte Gemeinde aufzusuchen, der er sich doch selbst entfremdet hatte. Wohl wußte er, welche Strafen seiner harrten, aber er war fest entschlossen, Kerker, vielleicht auch den Tod über sich ergehen zu lassen; er wollte büßen und leiden. Das war sein einziges Begehr!

In diesem Augenblicke traten die beiden gewaltigen Schwerter in ihrer ganzen Furchtbarkeit vor meine Seele; ich hatte aber auch den Jammer der Alten vor mir, der wohl imstande war, das härteste Felsgestein zu erweichen. Ich konnte drohen, aber das harte Wort erstarb mir auf den Lippen, wenn ich auf die nassen Augen der Frau und die verzweifelte Miene ihres Mannes sah. Pflicht und Menschlichkeit stritten in mir gleichzeitig einen schweren Kampf; ich konnte und durfte nicht weichen, während andererseits das Gefühl mir augenblickliche Schonung gebot. In dieser Seelennot fiel es in mich wie ein Strahl vom Himmel! In diesem Widerstreite zweier Gewalten kann nur der den Ausspruch fällen, der das Staatsschwert in Händen hält, nur Josef der Zweite in seiner Hofburg wird in seiner Weisheit und Hoheit, in seiner Erleuchtung und Geistesstärke das Wort sprechen, das entscheidend sein muß.

Und so beredete ich,« schloß der Bericht, »die alten Leute, sich direkt an das großmütige Herz Ew. kaiserlichen Majestät zu wenden. Von den Lippen meines großen Kaisers soll die Weisung ausgehen, was in dieser schwierigen Angelegenheit zu geschehen habe! Ich selbst will – schweigen und meine Lippen geschlossen halten, bis Eure Majestät gesprochen!

Beide Schwerter hängen über dem Haupte eines Schuldigen. Es ist in Gefahr zermalmt und vernichtet zu werden. Soll das Gesetz in seiner ganzen Strenge, soll die milde Deutung in diesem Falle walten? Eure Majestät werden entscheiden; bis dahin verharrt in tiefster Untertänigkeit meines großen Kaisers allerergebenster

Johannes Rosinger
Stadtdechant zu Kojetein in Böhmen.«

Josef war mit der unfangreichsten Bittschrift, die man ihm jemals entgegengereicht, zu Ende gekommen. Ihr Inhalt mußte ihn in seltsamer Weise ergriffen haben; er hatte das Papier auf die Brüstung einer Fensternische gelegt und blickte nun wie traumhaft verloren vor sich nieder. Was seine Seele wohl beschäftigte? War ihm die Gestalt des ehrwürdigen Geistlichen vor das innere Auge getreten, dessen Schrift so erquickend dartat, daß dem kaiserlichen Gärtner nicht überall ödes Felsgestein entgegenstarrte, daß die ausgestreute Saat hie und da auch auf fruchtbaren Boden gefallen war? Ging über seine Lippen ein unausgesprochenes Dankwort an den wackeren Freund in der entlegenen Provinz?

Es war eine geraume Weile vergangen. Eine volle Stunde währte bereits die Audienz des jüdischen Ehepaares aus Böhmen. Draußen vor dem Kontrollorgang erscholl Waffengeklirr, die Wache war eben abgelöst worden. Da fuhr der Kaiser auf. Mit raschen Schritten ging er auf die beiden Bittsteller zu; er hatte die Denkschrift des Kojeteiner Stadtdechanten wieder zur Hand genommen.

»Was ist euer Pfarrer für ein Mann?« wandte er sich an die Frau, sie mit seinen blauen Augen scharf fixierend.

»Euer Majestät meinen, ob er alt oder jung ist?« fragte die Ehefrau Schlome Fingerhuts zurück.

»Meinetwegen!« lächelte der Kaiser. »Ist er jung?«

»Er ist ein alter Mann, Kaiserliche Majestät,« entgegnete die Frau.

»Sonderbar!« sprach Josef halblaut vor sich hin, »die Alten werden mit mir jung, während von den Jungen der alte Widerstand gegen mich ausgeht.«

»Er ist also alt!« rief der Kaiser mit erhöhter Stimme, »hat man in eurem Orte nie eine Klage wider ihn vernommen?«

»Wer sollte gegen ihn klagen?« meinte die Frau ganz verwundert, »der könnte einem Kinde kein Unrecht tun.«

»Er ist also gegen euch Juden gut?« fragte der Kaiser.

»Gut ist kein Wort, Euer Majestät,« sagte die Frau in der ganzen Unbefangenheit ihres Wesens. »Neulich ist ein armer Handwerksbursche von draußen ›aus dem Reich‹ bei uns gestorben; wie man dessen Gepäcke untersucht, hat man gefunden, daß er ein Lutheraner ist. Der Pfarrer war gerade nicht zu Hause, und da hat sein Kaplan befohlen, man soll den Toten auf freiem Felde begraben, wie einen, der an sich selbst Hand gelegt hat. Aber zu derselben Stunde ist der Pfarrer nach Hause gekommen, und da hat er sogleich sein geistlich Gewand angelegt und hat befohlen, man soll das Sterbeglöckchen läuten, und er ist selbst mit der Leiche auf den Friedhof hinausgegangen und hat den armen Handwerksburschen begraben lassen.«

Das Papier in Josefs Händen zitterte. Es war einer jener wenigen Momente in dem Leben des großen Herrschers eingetreten, der wie ein heller Sonnenblick aus trübem Gewölke ihn traf. Er war also verstanden worden!

Eine lautlose Stille waltete neuerdings durch den weiten Kontrollorgang. Josef schien sichtbar mit dem Bescheide zu kämpfen, der im nächsten Augenblicke über seine Lippen treten mußte.

»Majestät! was ist's mit unsrem Sohne?« rief plötzlich mit überquellender Heftigkeit die Frau.

Und auch Schlome Fingerhut richtete sich wieder aus seiner scheuen Stellung auf und rief, die Hände unter dem dreieckigen Hütlein gefaltet:

»Kaiserliche Majestät! Sprechen Sie ein Wort der Gnade! ein einziges Wort der Gnade!«

Mit bewegter und doch fester Stimme sagte Josef:

»Ich bedauere es vom Herzen, euch sagen zu müssen, daß in dem Falle eures Sohnes ... von Gnade keine Rede sein kann. Sein Schicksal ist dem Gesetze verfallen, und erst wenn dieses gesprochen, kann ich vielleicht mildernde Umstände in Betracht ziehen!«

»Allergnädigster Kaiser und Herr!« rief die arme Bittstellerin aus der tiefsten Seelenangst, indem sie vergessend des Ortes und desjenigen, vor dem sie stand, mit leidenschaftlicher Wildheit an die goldene Haube auf ihrem Kopfe griff, »was hat eine bittende Mutter mit dem Gesetze zu tun! Das Gesetz ist gut, wo man es braucht.«

»Man muß dem Gesetze seinen Lauf lassen,« sagte der Kaiser, der nur mit Mühe seiner innern Bewegung Herr zu werden schien.

Die Frau aber, die diesen kaiserlichen Ausspruch nicht verstand, rief im herbsten Tone:

»Um Gottes willen, mein allergnädigster Kaiser und Herr, was soll dann mit meinem Kinde und mit mir vorgehen?«

»Ich kann dir nicht helfen, Frau!« sagte Josef beinahe tonlos.

»So soll ich also mit meinem Manne nach Hause zurückkehren,« rief Schlome Fingerhuts Ehefrau, »ohne Trost, ohne daß ich weiß, ob mir mein Kind bleibt, und ob es nicht morgen vielleicht in den finstern ›Kriminal‹ gesetzt wird?«

»Höre, Frau,« sagte der Kaiser, indem er sich um einige Schritte den beiden Bittstellern näherte, »und merke dir, was ich dir sage. Wenn du nach Hause kommst, so sei dein erster Gang zum Stadtdechanten von Kojetein. Vermelde ihm meinen Kaiserlichen Gruß. Er soll schweigen, bis ich ihm zu reden gestatten werde. Weiteres hast du nicht zu berichten, bis dahin bleibe alles beim alten! Hast du mich verstanden?«

Gitel Fingerhut konnte nur mit dem Kopfe nicken. Vor herabströmenden Tränen vermochte sie das Antlitz des Kaisers in diesem Augenblicke nicht zu sehen, aber es war ihr, als ströme überirdischer Lichtschein von ihm aus.

Dann winkte Josef mit der Hand, welches Zeichen beide dahin verstanden, daß sie sich entfernen sollten.

So endigte diese Audienz, eine der längsten vielleicht, die Josef während seiner ganzen Regentenlaufbahn einem seiner Untertanen gewährte. Sie hatte nicht weniger als eine volle Stunde in Anspruch genommen. In den Wiener »tolerirten« Kreisen unterhielt man sich noch lange davon; es hatte sich das Gerücht verbreitet, der Kaiser habe von einem jüdischen Ehepaare aus Böhmen die wichtigsten Mitteilungen entgegengenommen, ja man ging so weit, als bestimmte Tatsache zu erzählen, dem Kaiser seien genaue Details über eine zunächst in Böhmen ausbrechende »Judenverfolgung« vorgelegt worden. Niemand ahnte den rechten Zusammenhang, nur Josef allein wußte darum. Seine große Seele allein wußte es auch, was ihn bewogen, mit solcher Geduld und Ausdauer, als wäre es die wichtigste Staatsaktion, die beiden jüdischen Bittsteller anzuhören.

Noch an demselben Tage reiste Schlome Fingerhut mit seiner Frau Gitel nach Böhmen zurück.

Es war im Spätherbst. Die Vorbereitungen zu dem verhängnisvollen türkischen Kriege, aus dem der Kaiser mit der Todeswunde im Herzen zurückkehren sollte, traten in immer deutlicheren Umrissen hervor. Josefs Gemüt war von einer fast unheimlichen Unruhe beschattet; schon mußte er sich gestehen, daß die künstlich und naturgemäß aufgeregte Volksmeinung weit über die Ufer schlug; sein bannendes Wort zeigte sich ohnmächtig, und schon begann jene Reihe von halben, teils beschränkenden, teils wieder aufhebenden Maßregeln, die mit der einen Hand zerstörten, was sie kurz zuvor mit der anderen aufgebaut. Die Vorschatten jenes zwitterhaften Zustandes zwischen Licht und Dunkel, der nach Josefs Hingang über dessen Lande sich ausbreiten sollte, begannen bereits ihr gespenstisches Spiel. Aber noch lebte der Kaiser! noch konnte er hoffen, aus dem allgemeinen Schiffbruche, den seine Pläne erlitten, wenigstens das eine zu retten: den fortwirkenden, wenn auch für jetzt vielfach gebrochenen Geist seiner Grundsätze.

Josef war nach Böhmen gegangen, um über einige, in dem nordöstlichen Teile dieser Provinz zusammengezogene Regimenter vor ihrem Ausmarsche nach der türkischen Grenze Musterung zu halten.

Ein regnerischer Herbstabend war eingetreten. Trübe und grau, fast auf die Erde herab, hingen die Wolken, die Wege waren aufgeweicht, und nur mühsam schleppte sich eine unansehnliche, von zwei müden Bauergäulen gezogene Kalesche die Straße einher. Aus der Ferne erschollen die durch die schwere Luft gedämpften Trommeln der von dem Manöver heimziehenden Truppen, worein sich von Zeit zu Zeit Trompetengeschmetter mengte. Den beiden Offizieren in der offenen Kalesche schien die feuchte Luft unangenehm geworden, sie hüllten sich dichter in ihre Mäntel. Der Kutscher, der Knecht eines naheliegenden Bauernhofes, ahnte nicht, daß er in diesem Augenblicke den römisch-deutschen Kaiser Josef den Zweiten führte. Der andere Herr war der militärische Begleiter des Kaisers, einem Geschlechte entsprossen, das von den Schlachtfeldern Österreichs seine blutigen Wappenschilde geholt hatte.

Josef wollte nach dem benachbarten Schlosse des Grafen Waldstein-Wartenberg, das ihm während der Zeit dieser Herbstmanöver zum Aufenthalte diente.

Ein trübes Stillschweigen waltete zwischen den beiden Herren im Wagen. War es, daß der Kaiser durch irgend einen bei der Musterung wahrgenommenen Mißstand sich verstimmt fühlte, oder daß auch er der geheimnisvollen Gewalt dieses Herbstabends sich ergab – er, der so Mitteilsame, hatte während des ganzen Weges kein einziges Wort an seinen Begleiter gerichtet, der seinerseits wieder Anstand nahm, in die gedrückte Stimmung seines Gebieters mit einer Bemerkung, die vorlaut klingen konnte, einzugreifen.

Die Blicke des Kaisers folgten der langen Reihe von Obstbäumen, die sich zu beiden Seiten der Straße hinzogen. Hie und da lichtete sich der schwere Nebel; und dann konnte das Auge die in dämmerhaften Umrissen nach rechts und links verstreuten Weiler und Dörfer, ferne Turmspitzen und fabelhaft gestaltete Häusermassen hervortreten sehen.

Mit einem Male brach der Kaiser das bis dahin innegehaltene Schweigen.

»Fragen Sie doch, Graf,« wandte er sich an seinen Begleiter, »wie dort der Flecken zur Rechten heißt. Die Turmspitze blickt so einladend herüber, und ich muß gestehen, ich fühle mich ziemlich müde.«

»Kann Er uns sagen, wie der Ort dort zur Rechten heißt?« rief der Adjutant des Kaisers dem Bauernknecht in böhmischer Sprache zu.

»Kojetein, Herr Offizier!« gab dieser zur Antwort.

»Kojetein!« fuhr der Kaiser auf, »der Name sollte mir bekannt sein; ich muß ihn irgendwo vernommen haben.«

Der Adjutant bemerkte mit Staunen, daß die Züge des Kaisers einen lebhaften Ausdruck angenommen hatten. »Es muß so sein,« hörte er den Kaiser halblaut vor sich hin rufen; »es ist gewiß so.«

»Fragen Sie doch den Knecht,« rief der Kaiser hastig, »ob dieses Kojetein ein Dorf oder eine Stadt ist?«

»Eine Stadt!« wurde dem Adjutanten zur Antwort.

»So sagen Sie dem Kutscher,« rief Josef, »er solle uns statt nach dem Schlosse des Grafen Waldstein nach Kojetein in den dortigen Pfarrhof bringen!«

Der Offizier zögerte und sah den Kaiser mit einer gewissen Unentschlossenheit von der Seite an.

»Was haben Sie?« meinte der Kaiser ungeduldig.

»Ich wollte mir nur die Bemerkung gestatten,« sagte der Offizier in ehrerbietig gedämpftem Tone, »ob es für den müden Zustand Eurer Majestät nicht angezeigter wäre, nach dem mit aller Bequemlichkeit ausgestatteten Schlosse des Grafen Waldstein heimzukehren, als den vielleicht armseligen Pfarrhof zu beehren, der wahrscheinlich nicht in der Lage sein dürfte, Eurer Majestät irgendwelche erträgliche Unterkunft zu gewähren.«

»Lassen Sie das, Graf,« rief Josef lebhaft. »Ich habe in Kojetein einen guten Freund, dem ich einen längst zugedachten Besuch abstatten muß. Zeit und Gelegenheit sind da, ich will sie benützen.«

Der Offizier zeigte eine verlegene Miene; er wußte sich in die sonderbare Rede des Kaisers nicht zu finden.

»Sie möchten wissen,« rief der Kaiser lächelnd, »wer der gute Freund ist, den in diesem böhmischen Städtchen zu besitzen ich das Glück habe? Nun, ich kann es Ihnen sagen, es ist der Stadtdechant von Kojetein.«

Der Adjutant erteilte nun dem Kutscher die nötige Weisung, worauf der Wagen in einen Nebenweg einlenkte, der nach dem kaum eine halbe Stunde entfernten Kojetein führte.

»Sie werden es vielleicht unbegreiflich finden, Graf,« wandte sich dann der Kaiser an seinen Begleiter, »wenn ich Ihnen sage, daß ich mich auf den bevorstehenden Besuch bei dem Stadtdechanten recht sehr freue. Er ist mein wirklicher, treuer und wackerer Freund, und je seltener man solchen im Leben begegnet, desto mehr muß man sich beeilen, sie festzuhalten, wenn sie das Geschick uns entgegenführt.«

Die Nacht war bereits herabgesunken, als der Wagen, aufgehalten durch den bodenlos schlechten Weg und die eingetretene Finsternis, die zur Vorsicht mahnte, über das holprige Pflaster des Städtchens Kojetein einherrasselte. Die wenigen Straßen waren bereits menschenleer, hie und da brannte ein Stümpfchen Licht in dem Laden eines Seifensieders oder einer »gemischten Warenhandlung«; von dem Turme der Stadtkirche erscholl in langhin verhallenden Klängen das Abendgeläute.

Der Wagen hielt vor dem Pfarrhof, dessen Tore noch weit offen standen.

Josef war, die Beihilfe seines Begleiters freundlich abweisend, mit beinahe jugendlicher Raschheit herabgesprungen.

»Was werden Sie beginnen, Graf,« meinte er, indem er sich hierzu der französischen Sprache bediente, »während ich meinem guten Stadtdechanten den Besuch abstatte? Er kann vielleicht länger dauern, als Ihnen lieb sein dürfte.«

»Ich werde trachten, es mir so bequem als möglich zu machen,« bemerkte der Offizier in derselben Sprache, »der Pfarrhof scheint mir geräumig genug, daß ich hoffen kann, irgendwo ein warmes trockenes Plätzchen zu erobern. Im widrigsten Falle bleibe ich im Wagen.«

»Ganz nach Ihrem Gutdünken, lieber Graf,« sagte Josef und schritt rasch auf die Haustüre zu, die er trotz des nächtlichen Dunkels vor sich gewahrte.

In demselben Augenblicke trat eine alte Frau, die Haushälterin des Pfarrers, einen Leuchter mit brennender Kerze in der Hand haltend, über die Schwelle des Hauses.

»Kann ich den Herrn Dechanten sprechen?« fragte der dicht in seinen grauen Mantel gehüllte Kaiser, indem er der Frau näher trat.

Die Haushälterin verneigte sich tief vor dem vermeintlichen Offizier, der sich ihr im flackernden Schimmer ihrer Kerze zeigte.

»Der Herr Dechant ist auf seiner Studierstube,« sagte die Haushälterin, sich neuerdings demütig verbeugend.

»Führen Sie mich zu ihm!« rief der Kaiser.

»Wen soll ich dem Herrn Dechanten melden?« meinte die Haushälterin, indem sie seitwärts trat, um dem vornehmen Fremdlinge den Eintritt in das Haus zu erleichtern.

»Sagen Sie ihm,« rief der Kaiser nach einigem Nachdenken, »sagen Sie dem Herrn Dechanten, ein alter Freund sei gekommen, um ihn zu sprechen!«

Die Haushälterin warf einen prüfend neugierigen Blick auf den angeblichen guten Freund des Pfarrers; sie diente bereits durch volle dreißig Jahre auf dem Pfarrhofe und konnte sich nicht erinnern, daß der Herr Dechant seine guten Freunde in den Reihen des Militärs habe. Sie entfernte sich, nachdem sie vorher den Leuchter in eine Mauernische des Vorhauses gestellt hatte.

Nach einer Weile erschien sie wieder.

»Der Herr Dechant erwartet den Herrn Offizier mit Vergnügen,« meldete sie, die Kerze ergreifend, um dem ihr auf dem Fuße folgenden Kaiser den Weg über die enge Treppe zu beleuchten, die in das obere Stockwerk führte.

Oben angelangt, geleitete sie ihn über einen mit roten Ziegelsteinen gepflasterten langen Gang und zeigte ihm endlich am Ausgange desselben eine Türe, die sie als die Studierstube des Herrn Dechanten bezeichnete.

Ein laut vernehmliches »Herein« erscholl, nachdem der Kaiser gepocht hatte.

Josef war eingetreten.

Die ehrwürdige Gestalt eines alten Priesters im geistlichen Hausgewande stand vor ihm. Das volle Licht der auf dem Schreibtische stehenden Nachtlampe fiel auf ein mildes von weißen Locken umrahmtes Gesicht, auf dem der Geist, wie er aus jener Bittschrift dem Kaiser so wohltuend entgegengetreten war, als ein von dem Gotte des Friedens selbst aufgedrücktes Siegel glänzte.

»Sie sind doch der Stadtdechant von Kojetein!« rief der Kaiser mit inniger Bewegtheit. »Sie müssen es sein.«

»Ich bin der Pfarrer dieses Ortes,« sagte der alte Priester, indem er den Fremden mit der Hand einlud, auf einem mit rotem Stoffe überzogenen Sofa Platz zu nehmen. »Bin ich imstande, Ihnen welchen Wunsch immer zu erfüllen?«

»Ich habe mich Ihnen als einen alten, guten Freund anmelden lassen,« sagte Josef, dem Pfarrer näher tretend. »Kennen Sie mich?«

»Ich habe nicht das Vergnügen ...« meinte der alte Priester, verlegen lächelnd.

»Sie kennen mich also nicht?« rief der Kaiser lebhaft, »und doch ist es nicht so lange, hochwürdiger Herr, daß Sie sich an mich, als an einen guten alten Freund, mit einer Anfrage gewendet haben. Erinnern Sie sich nicht ...?«

»Ich wüßte nicht ...« sagte der Dechant in steigender Verlegenheit, indem seine Blicke bald an dem Antlitze des Kaisers, bald an dem Hauskäppchen haften blieben, das er in der altersschwachen Hand hielt.

»Und ich ließ Ihnen, hochwürdiger Herr,« fuhr Josef schalkhaft lächelnd fort, »durch eine arme Frau meinen Gruß vermelden, ließ Ihnen sagen, in der bewußten Angelegenheit sollten Sie schweigen, bis ich Ihnen den Zeitpunkt bestimmen würde, wo Sie reden dürften! Kennen Sie mich nun?«

Das Hauskäppchen entsank den zitternden Händen des Priesters, eine tiefe Blässe hatte sein mildgerötetes Gesicht überflogen. Er faßte mit der einen Hand nach der Lehne des Stuhles, denn er fühlte sich einer Ohnmacht nahe.

»Um des heiligen Gottes willen!« stammelte er mehr als er sprach ... »wäre es möglich, daß ich hier auf dieser Stube meinen allergnädigsten Kaiser und Herrn ...«

»Kennen Sie mich nun, Herr Dechant?« rief der Kaiser, indem er die Hand des alten Priesters ergriff und sie herzlich drückte. »Ich bin gekommen, um meinen alten Freund in Böhmen aufzusuchen und ihm zu danken für das Vertrauen, das er in mich gesetzt hat.«

Der alte Mann zitterte an jedem Nerve seines Leibes; er war keines Wortes mächtig und vermochte doch nicht die Augen von dem Antlitze Josefs abzuwenden.

»Erschreckt Sie so der Anblick Ihres guten Freundes?« sagte der Kaiser mit jenem Ausdrucke wahrhafter Leutseligkeit, wie sie ihm die Herzen aller, die ihm jemals genaht waren, zu gewinnen gewußt hatte.

»O! Eure kaiserliche Majestät!« rief der alte Stadtdechant, mit beinahe feierlicher Andacht die Augen zur Stubendecke erhebend, nach geraumer Weile, die ihm die nötige Fassung wiedergegeben hatte, »ich segne den Ort und die Stunde, da es mir gegönnt ist, das Antlitz meines allergnädigsten Kaisers und Herrn hier auf meiner Stube zu erblicken. Ich kann jetzt mit dem Patriarchen ausrufen: Ich kann nun mit Freude zur Grube fahren, denn ich habe Josef den Zweiten gesehen.«

»Dank Ihnen, Dank, mein wackerer Freund!« rief der Kaiser tief bewegt, »ich weiß es, welch einen warmen Anhänger ich an Ihnen besitze. Nicht alle Ihre Amtsbrüder gleichen Ihnen ...«

»Der Geist der Zeit bringt es so mit sich,« meinte der Pfarrer bescheidenen Tones.

»Wie verstehen Sie das, hochwürdiger Herr?« rief der Kaiser mit großer Lebhaftigkeit.

Er hatte hiermit auf dem roten Sofa Platz genommen und lud durch eine Handbewegung den alten Priester ein, mit ihm den gleichen Sitz zu teilen. Doch der Dechant blieb trotz mehrfacher Aufforderung aufrecht neben seinem Lehnstuhle stehen, das Hauskäppchen verlegen zwischen beiden Händen haltend.

»Wie verstehen Sie das also, Herr Pfarrer?« rief der Kaiser nochmals.

»Der Geist der Zeit,« sagte der alte Priester, »bringt, es mit sich, daß Licht und Dunkel im unentschiedenen Kampfe miteinander um die Herrschaft streiten.«

»Und wem, glauben Sie, wird der Sieg zufallen?« meinte Josef, sich, hastig von seinem Sitze erhebend.

»Ich fürchte, kaiserliche Majestät,« sagte der Priester leise, »es werden Zeiten kommen, von denen es heißen wird: Wann bricht wieder der Tag an?«

»Was Sie mir da sagen, Herr Dechant!« meinte der Kaiser, indem er sich dichter in seinen Mantel hüllte, »klingt allerdings bitter genug, aber es ist mir nicht neu. Ich höre es täglich von Feind und Freund, und die Buchdruckerpresse sorgt stündlich dafür, daß ich es keinen Augenblick vergesse. Der Geist der Finsternis, des Widerstandes und des künstlich erzeugten Mißverständnisses regt sich überall; meine Maßregeln werden, als von einem Despoten herrührend, verlästert, ja in einer neulich in Brüssel erschienenen Flugschrift sah ich mich mit Tamerlan verglichen!«

»Gott erhalte, Gott stärke und mehre die Jahre Eurer Majestät!« rief der Stadtdechant mit zitternder Stimme, indem er die Hände feierlich faltete. »Ich bin alt, und das Grab gähnt zu meinen Füßen. Aber ehe ich den Sieg der Feinde Eurer Majestät erlebe, möchte ich lieber heute als morgen sterben.«

Die Worte des greisen Priesters ergriffen den Kaiser so sehr, daß seine Augen feucht wurden. Es dauerte eine geraume Weile, bis er seiner Bewegung Herr geworden war.

»Wie kommt es, Herr Pfarrer,« sagte er gedämpften Tones, »daß gerade Sie ein so gütiger Beurteiler meiner Maßregeln find? Ich bin es nicht gewohnt, die Verteidiger meiner Absichten in Ihrem Kleide zu erblicken.«

»Es kommt dies daher, Euer Majestät,« entgegnete der alte Priester, sich ehrfurchtsvoll verbeugend, »weil ich, seitdem ich dieses Kleid trage, darauf angewiesen bin, mit dem Volke zu verkehren und dessen Bedürfnisse kennen zu lernen. In der ersten Zeit meines geistlichen Wirkens war es freilich anders; da fühlte ich mich von Hochmut nicht frei, ich hielt mich in der Tat für eine geheiligte Persönlichkeit, der nichts Unheiliges nahen durfte. Mit der Zeit kam ich zu einer anderen Ansicht. Ich sah ein, um meiner Gemeinde ein rechter Seelenhirte zu werden, müsse ich vor allem mich bemühen, Bürger zu sein. Die Gesetze und Anordnungen Eurer Majestät bekräftigten mich in dieser Ansicht, denn ich irre gewiß nicht, daß der Geist dieser Legislation nichts anderes bezweckt, als alle Mitglieder des Staates allmählich zu dem Bewußtsein zu bringen, sie seien Bürger eines und desselben Landes, alle hätten Pflichten und müßten zum Gedeihen des Ganzen, jeder nach seinem Berufe und Vermögen, beitragen ...«

»So ist es!« rief der Kaiser lebhaft. »Fahren Sie fort.«

»Und doch, Euer Majestät,« fuhr der Pfarrer nach einer Pause fort, und die Züge seines Antlitzes nahmen einen erregten Ausdruck an, »muß ich vor meinem kaiserlichen Herrn und Gebieter das Geständnis ablegen, daß mir oft der Gedanke entgegentritt, dem Widerstande, wie er sich jetzt überall regt, liege eine gewisse Berechtigung zugrunde ... Doch, Euer Majestät zürnen mir vielleicht, wenn ich mich unterfange, in diesem Tone weiter zu sprechen.«

»Fahren Sie nur fort, Herr Pfarrer,« sagte Josef, »von Ihnen will ich die Wahrheit vernehmen.«

»Euer Majestät!« fuhr der Stadtdechant in erhöhtem Tone fort, »als ich kraft jener Verordnung, die aus Gründen der Nützlichkeit und Sparsamkeit gebot, die Leichen ohne Sarg, bloß mit grober Sackleinwand bekleidet, zur Erde zu bestatten, die erste Leiche, und es war gerade ein Kind von Bauersleuten, für den letzten Heimgang einsegnete, da sagten es mir die verzweifelten Mienen der Eltern, und die Haltung aller Begleiter dieser armen Leiche ... daß die besten Intentionen Eurer Majestät an dem Widerstande scheitern müssen, den das Gemüt und der freie Wille jedesmal entgegensetzen, wenn man mit zu rauher Hand in ihr Heiligtum eingreift ...«

»Ich habe diese Verordnung zurückgenommen,« rief Josef.

»Aber die Gegner Eurer Majestät, die Hasser allen Lichtes,« meinte der Pfarrer, »hatten dennoch Zeit gewonnen, aus dem Geiste dieser Verordnung dasjenige herauszulesen, was sie für ihre Zwecke gerade bedurften. Von nun an hatten sie das rechte Losungswort: Der Kaiser will eurem Gewissen Zwang antun, er will euch nötigen, alles aufzugeben, was euch bisher als heilig und unangreifbar galt. So hatten sie halb gewonnenes Spiel, und ich fürchte, sie werden es am Ende ganz gewinnen.«

»Zugegeben, Herr Pfarrer, daß meine Gegner am Ende recht behalten mögen, kann und darf mich das abhalten, auf dem Wege fortzuschreiten, den ich zum Wohle meiner Völker als den heilsamen erkannt habe? Wäre jemals etwas Großes und Gedeihliches entstanden, wenn der Herrscher jedesmal die Launen und Eigentümlichkeiten des Einzelwillens berücksichtigt hätte?«

Der Priester schwieg.

»Sie scheinen nicht meiner Ansicht zu sein, Herr Pfarrer!« rief der Kaiser.

Der Pfarrer schüttelte bedächtig sein weißes Haupt.

»Ich geriete mit mir selbst in Widerspruch,« entgegnete er, »wenn ich nicht im großen und ganzen dieser Ansicht beistimmte. Aber der einzelne ist ein Glied des Ganzen, er ist mächtig und wiegt schwer auf der Wagschale, wenn er das Bewußtsein hat, Tausende und Zehntausende seinesgleichen hinter sich, selbst in unsichtbarer Ferne von demselben Gefühle beseelt zu wissen. Selbst das Beste und Trefflichste fällt auf unfruchtbaren Boden und wird wie ein Almosen angesehen, wenn es ungefragt, gleichsam ungebeten den Leuten in die Hand gedrückt wird ...«

»Wie verstehen Sie das, Herr Pfarrer?« rief Josef, dessen Stimme in diesem Augenblicke fast herbe klang.

»Euer Majestät,« sagte der Pfarrer leisen Tones, »haben es für gut befunden, dero Völker nicht zu befragen, ob diese das Gute auch wollen, das ihnen so freigebig und mit vollen Händen dargeboten wird.«

»Sie meinen, ich hätte vor allem Landesversammlungen zusammenberufen und befragen sollen? Was wäre dann das Schicksal meines Protestanten- und Toleranzediktes gewesen? Ich bin der Herrscher eines großen Ländergebietes, bin Gott verantwortlich für das, was ich tue und unterlasse. Aber könnte ich es vor mir selbst verantworten, dasjenige erst von einer Versammlung privilegierter Klassen erörtert zu sehen, was ich selbst, kraft meiner obersten Pflicht, als zweckdienlich und heilsam erachte?«

»Gestatten mir Euer Majestät eine ehrfurchtsvolle Bemerkung!« sagte der alte Priester. »Jeder Versammlung lebt ein geheimnisvoller Zug inne, das Rechte zu treffen und das Unrecht aus sich auszuscheiden. Und selbst zugegeben, die Verblendung, der üble Wille und die Macht eingelebter Gewohnheit hätten sich hier und da den Ansichten Eurer Majestät widerhaarig entgegengestellt, dennoch ist der Geist des Fortschrittes so mächtig, das Licht der Sonne so bezwingend, daß am Ende aus dem Nebel, wie er noch jetzt viele befangen hält, das Bild der unverfälschten Wahrheit hervorgetreten wäre. Euer Majestät hätten Berater gehabt ... wo jetzt Übelberatene stehen, und was kaiserliche Gnade beinahe erzwingen muß, hätte dann als Volksmeinung leichter in die Gemüter dringen und sich daselbst befestigen können ...«

Der Kaiser war aufgestanden, es litt ihn nicht mehr auf dem weichen Sitze.

Er ging mit starken Schritten die geräumige Studierstube des Pfarrers auf und nieder, wie es schien von einer mächtigen Gedankenwallung erfaßt. Endlich blieb er vor dem Geistlichen stehen.

»Sie irren, lieber Dechant,« sagte er, seine blauen Augen unverwandt auf den greisen Priester gerichtet, »wenn Sie annehmen, daß aus solchen Beratungen immer der Geist der Wahrheit und des Rechtes spricht. Sie hemmen mehr, als sie fördern. Ich will rasch dasjenige erreichen, was Jahrhunderte versäumt haben. Was ich als Recht erkannt habe, soll ungesäumt meinen Völkern zugute kommen. Im Leben der Staaten wie des einzelnen Menschen entscheidet oft ein einziger Moment! Und dann ... ich habe Völker und Provinzen, aber noch kein Volk und keinen Staat. Das Volk des Staates, wie ich ihn vor Augen habe, muß erst herangebildet und erzogen werden, dazu bedarf es vorläufig der Herrscherhand!«

Die Stimme des Kaisers klang laut, vernehmlich und bestimmt. Der Stadtdechant sah ein, daß er dieser Sprache gegenüber jeden Widerspruch zu bemeistern habe, und so schwieg er.

Josef maß aufs neue die Studierstube des Pfarrers mit starken Schritten; er schien es nicht beachten zu wollen, daß der Geistliche ein beharrliches Stillschweigen beobachtete. War er der Meinung, der greise Priester sei überzeugt? Oder wollte er selbst einen Gegenstand zum Schweigen gebracht sehen, über den er, ein geborener Herrscher, nicht gerne Belehrung entgegennahm? Dann mäßigte er seinen leidenschaftlich erregten Gang und blieb wieder vor dem Geistlichen stehen.

»Bald hätte ich, indem wir so disputieren,« sagte er lächelnd, »daran vergessen, daß ich an Ihnen, lieber Dechant, ein Erlösungswerk zu vollziehen habe. Ich habe Ihren Mund verschlossen, und nun ... sollen Sie reden.«

»Euer Majestät geruhen sich noch jener kühnen Bittschrift zu erinnern, die ich im Interesse einer jüdischen Familie überreichen zu lassen mich unterfing?« fragte der Geistliche.

»Beruhigen Sie sich, lieber Pfarrer,« sagte Josef, die Hand auf die Schulter des Priesters legend, »Ihre Denkschrift hat meinem Herzen wohlgetan, und daß sie auch, teils um der Person willen, die sie verfaßt hat, ihren Eindruck auf mich nicht verfehlt hat, das können Sie aus dem Besuche ersehen, den ich Ihnen hier in Ihrer Studierstube abstatte ... Wie steht es gegenwärtig um die Sache und um jenen jungen Mann? Sie sehen, der Gegenstand lebt noch ganz klar in meinem Gedächtnisse.«

»Die beiden Schwerter hängen noch immer über seinem Haupte,« sagte der greise Priester mit tiefem Ernste.

»Sie haben bis jetzt geschwiegen?«

»Ich habe geschwiegen, wie es der Befehl meines allergnädigsten Kaisers mir gebot ... und mein eigener Wunsch!«

»Was halten Sie von der Sache, Herr Dechant?« rief Josef lebhaft.

»Sie muß auf die eine oder die andere Weise entschieden werden!« sagte der Pfarrer. »Gestatten mir Euer Majestät die Bemerkung, daß ein längeres Aufschieben des Urteilspruches nahezu an Unbarmherzigkeit streifen würde, was das milde Herz meines Kaisers und Herrn gewiß nicht beabsichtigt.«

»Wie ist das zu verstehen?«

»Ich kann der armen Judenfrau niemals begegnen, ohne daß es mich eiskalt überläuft; denn ich muß jedesmal denken, ein leichtes Stirnrunzeln von meiner Seite bedeute ihr das Schicksal ihres Sohnes! Wenn es bloß von meinem Schweigen abhängen soll, daß das Schwert nicht niederstürze auf den Schuldigen, so ahnt sie vielleicht, daß ich es zurückhalten werde. Wie aber, wenn ich reden soll und muß, wenn Euer Majestät mir befehlen, meinem Amte und meiner Pflicht gemäß zu handeln?«

»Sie haben recht, Herr Pfarrer!« rief der Kaiser. »Ich muß mir die Schuld allein zumessen, eine Sache, die rasch abgetan werden mußte, unnötig hinaus verzögert zu haben. Handeln Sie also kraft Ihres Amtes, Herr Pfarrer! In diesem Augenblicke erteile ich Ihnen die Ermächtigung hierzu!«

»Wie? Euer Majestät!« rief der Priester in größter Bestürzung ... »sollten vergessen haben ...«

»Was denn, mein lieber Mann?« meinte Josef, indem er dem Geistlichen fast unter die Augen trat.

»Das Schwert soll also niederstürzen auf den Unglücklichen? Und Euer Majestät geruhen sich nimmer jener armen alten Frau zu erinnern, die den weiten Weg von Böhmen nach Wien zurücklegte, um das Geschick ihres einzigen Kindes an das großmütige Herz ihres Kaisers und Herrn zu legen?«

Tränen rannen über die Wangen des ehrwürdigen Priesters, während er so sprach, und seine Stimme klang fast wie Schluchzen.

»Jener Unglückselige muß sein Geschick vollenden,« sagte Josef, »ich kann ihm nicht helfen. Noch ist es nicht an der Zeit, so tief in die Volksmeinung einschneidende Grundsätze aufzustellen. Ich beklage die Unmöglichkeit ... allein hier ist ein Punkt, an dem meine Machtvollkommenheit scheitert.«

»Er soll also sein Geschick vollenden!« rief der Dechant mit zitternder Stimme, »er, der nur aus Anbetung seines Kaisers sich zu einem Schritte verleiten ließ ... den er jetzt so schwer büßen soll?«

Josef war an das Fenster getreten und blickte in die sternenlose Nacht hinaus. Die Worte des barmherzigen Priesters hatten ihm an die tiefste Seele gegriffen. Welch eine Gestalt war ihm hier auf der Studierstube eines einfachen Priesters entgegengetreten! Der Gedanke, was er vollbringen konnte, was er zum Abschlusse gebracht hätte, wenn ihm solche Männer wie dieser Dechant als Lehrer und Berater des Volkes zur Seite gestanden wären, durchschauerte ihn!

Nach einer Weile wandte er sich vom Fenster ab und trat wieder auf den Dechanten zu.

»Könnte ich den jungen Menschen sehen und sprechen?« fragte er.

»O! Euer Majestät!« rief der Geistliche überrascht ... »wollten die höchste Gnade haben ...?«

»Ich möchte den jungen Menschen sehen, um nach seinem Anblicke beurteilen zu können, ob er die Barmherzigkeit meines wackern Freundes verdient ...«

»Gestatten mir Euer Majestät, ihn selbst herbeizuholen ...«

»Wie? Sie wollen in diesem feuchten Nebel einen vielleicht beschwerlichen Weg unternehmen?«

»Dergleichen ist mir nicht neu,« rief der Pfarrer. »Kranke und Sterbende verlangen oft meinen Beistand in der Mitternachtsstunde, und handelt es sich nicht auch hier um eine arme Seele?«

»So gehen Sie, Herr Pfarrer,« sagte Josef, »und bringen Sie den Mann! Aber es muß ein stetes Geheimnis bleiben, wer Sie zu ihm geschickt und vor wem er stehen wird. Kann ich mich darauf verlassen?«

»Ich werde schweigen, Euer Majestät! Ich werde ihm bloß sagen, ein hoher Beamter vom Gubernium in Prag wolle ihn im Auftrage des Kaisers vernehmen ...«

»Ich stimme dem bei!« sagte Josef. –

Nach einer Viertelstunde, während welcher der Kaiser in tiefes Nachdenken versunken am Fenster gestanden war, öffnete sich die Türe der Stube, und herein traten der Stadtdechant von Kojetein und »Adrian« Fingerhut.

Auf den ersten Anblick erkannte das scharfe Auge des Kaisers in Adrian Fingerhut eine jener Persönlichkeiten, die das Gepräge innerer Gemütskämpfe deutlich auf dem Antlitze tragen.

Der Sohn des jüdischen Handelsmannes, eine lang aufgeschossene, fast hagere Gestalt, die in dem fahlen Lichte der Studierlampe noch größer erschien, als sie in der Wirklichkeit war, überragte die des Pfarrers um Kopfhöhe. Das Gesicht zeigte feine, fast weibliche Züge und wies auf die Mutter hin, deren Bild, wiewohl Monate zwischen jetzt und der damals im Kontrollorgange stattgefundenen Audienz lagen, klar und bestimmt im Gedächtnisse des Kaisers auftauchte.

Adrian Fingerhut war an der Türe stehen geblieben.

»Ist dies der Mann, von dem Sie mir gesprochen haben, Herr Dechant?« fragte Josef nach einer geraumen Weile, während welcher er seine Blicke von dem jungen Israeliten nicht abzuwenden vermochte.

»Er ist es,« entgegnete der Dechant, sich ehrfurchtsvoll verbeugend, doch mit gedämpfter Stimme.

»Heißen Sie ihn näher treten, Herr Pfarrer,« sagte der Kaiser, sich dichter in seinen Mantel hüllend, um die darunter schimmernde Uniform gänzlich zu verdecken.

Adrian Fingerhut trat auf den Wink des Dechanten in das volle Licht der Lampe.

»Weiß Er, mein Freund, weswegen Er herberufen worden ist?« fragte Josef.

»Ich soll ein Verhör bestehen,« lautete die Antwort Adrians, deren wohllautende Sprache das Ohr des Kaisers offenbar angenehm berührte.

»Ein Verhör! vor wem? und weswegen?« rief der Kaiser mit einiger Lebhaftigkeit.

»Vor dem Richter meines Kaisers, und weil ich mein Urteil vernehmen soll,« entgegnete der junge Mann leisen, aber bestimmt klingenden Tones.

»Und dieses Urteil, das ich Ihm anzukündigen komme, wird strenge ausfallen, je nachdem ich Seine Antworten befinde,« rief Josef, ob absichtlich oder gegen seinen Willen drohend. »Wie alt ist Er?«

»Siebenundzwanzig Jahre.«

»Wie heißt Er?«

Adrian Fingerhut warf einen raschen Blick auf den an seinen Lehnstuhl gestützten Pfarrer, dann sagte er ruhig:

»Ich nenne mich Samuel Fingerhut.«

»Er heißt anders, junger Mann,« rief der Kaiser, sich hastig von seinem Sitze aufrichtend.

»Ich nannte mich früher Adrian Fingerhut,« sagte der Sohn des jüdischen Handelsmannes schwer aufatmend, »aber ich habe diesen Namen abgelegt.«

»Wußte Er, daß man einen Namen nicht wechseln darf, daß es ein Verbrechen ist, sich einen andern beizulegen?«

»Ich habe es gewußt,« sagte Adrian Fingerhut.

»Er weiß also, daß Er ein Verbrechen begangen hat?«

»Vor dem Gesetze, ja! Gott wird mich anders beurteilen als der Buchstabe des Gesetzes, das ja von Menschenhand geschrieben wurde.«

»Er spricht mit großer Gewißheit und Zuversicht, mein Freund,« rief der Kaiser mit gerunzelter Stirne. »Woher weiß Er, daß das, was Er als ein Verbrechen am Gesetze begangen anerkennt, nicht auch ein Verbrechen an Gott ist? Abfall von einer Religion ... ist das nicht selbst nach den Lehrsätzen des Glaubens, zu welchem Er sich früher bekannte, etwas, was vor den Augen Gottes mißfällig erscheint? Weiß Er, was ein Meineid ist?«

»Gott sieht auf das Gemüt, die Menschen auf das Tun!« sagte Adrian Fingerhut mit bebender Stimme, denn das Auge des Kaisers ruhte in diesem Momente mit der bannenden Gewalt eines Richters auf ihm.

»Er scheint sich die Sache gar zu leicht gemacht zu haben,« rief der Kaiser mit einem Anfluge herber Zurechtweisung. »Es mußte Ihm ja bekannt sein, daß auf einem derartigen Verbrechen in früherer Zeit ... der Tod stand?«

Adrian Fingerhut erbebte vom Scheitel bis zur Zehe. Trotz des ungewissen Lichtes, das von der Lampe ausging, konnte der Kaiser sowohl als der Dechant die tiefe Blässe bemerken, die die ohnehin feinen Gesichtszüge des jungen Menschen in wahrhaft erschreckender Weise bedeckte.

»Meine Mutter! meine gute Mutter!« murmelte er vor sich hin.

In dem Antlitze des Kaisers ging eine wunderbare Wandlung vor. Die Strenge des Richters war daraus entwichen, und der holde Zug, der aus ihm leuchtete, gehörte dem Menschen, dem fühlenden Menschen an.

»Er wird es auch nur Seiner Mutter und hier diesem trefflichen Manne zu danken haben,« sagte Josef, indem er auf den Dechanten wies, »wenn Seine Tat nicht die volle Schwere der gesetzlichen Ahndung treffen wird, die sie unter allen Umständen verdient. Bevor ich aber im Auftrage des Kaisers des mir übertragenen Amtes mich entledige, wird Er mir über einige Punkte, die mir jetzt noch dunkel sind, Aufklärung zu geben haben. Ist Er gefaßt genug, um mir antworten zu können?«

»Ich bin es,« sagte Adrian Fingerhut.

»Wenn ich mich recht erinnere,« sagte Josef nach einer Weile, »so war es das Toleranzedikt des Kaisers, das Ihn zu dem Entschlusse verleitete, die Religion Seiner Väter mit der Seines Monarchen zu vertauschen. Wodurch ward es bewirkt, daß Er alsbald Reue über den getanen Schritt empfand?«

»Das kann ich dem gnädigen Herrn nicht sagen!« rief der junge Mann in großer Bewegung aus.

»Er zögert? Vergißt Er, daß ich im Auftrage und im Namen des Kaisers hier sitze?«

»Nur dem Kaiser allein könnte ich es sagen!« rief Adrian Fingerhut, indem er seinen Kopf hoch aufrichtete.

Der Kaiser winkte den greisen Priester zu sich.

»Herr Pfarrer,« sagte er zu ihm, »machen Sie dem jungen Manne doch bemerklich, daß er hier vor mir gerade so frei und ohne Zurückhaltung sprechen kann, als befände er sich im Kontrollorgange zu Wien ... vor dem Kaiser.«

»Mein Sohn!« sprach der Dechant, indem er den Arm des jungen Mannes leise berührte, »ich kann dir bei allem, was dir und mir heilig ist, die Versicherung geben, daß du ... vor diesem hochgeborenen Herrn hier in aller Freiheit reden kannst. Durch ihn wird es der Kaiser erfahren.«

»Nun wohl!« rief Adrian Fingerhut, sich zusammenraffend, »der Kaiser hat mir nicht Wort gehalten!«

»Wahnsinniger!« schrie der Dechant, indem er herzusprang, »du weißt nicht, vor wem du stehst und so redest ...«

»Herr Dechant!« winkte Josef lächelnd.

Der alte Priester schlich wieder nach dem Lehnstuhl zurück.

»Ihr Juden seid doch ein sonderbares Volk!« sagte Josef kopfschüttelnd. »Da muß der Kaiser vom Vater dieses jungen Mannes hören, sein Sohn sei ihm durch das Toleranzedikt geraubt worden, und von diesem Sohne muß er sich wieder ins Gesicht sagen lassen, der Kaiser habe ihm nicht Wort gehalten. Wo liegt hier die Wahrheit?«

»Ich will es Ihnen erklären, gnädigster Herr,« sagte der Sohn des jüdischen Handelsmannes. »Als das Toleranzedikt des Kaisers erschien, da geriet meine Seele in lauten Jubel. Ich hatte mich mit heimischer und fremdländischer Literatur beschäftigt – und nun stand ein Monarch vor mir, der im Begriffe stand, die Ideale meiner Philosophen in die Wirklichkeit zu übersetzen ...«

»Wie kamen Sie zu deutschen Büchern?« fragte der Kaiser mit allen Zeichen der Überraschung.

»Auf der Talmudschule zu Prag,« lautete die Antwort des jungen Mannes.

»Fahren Sie fort!« rief der Kaiser.

»Von diesem Augenblicke an stand der Gedanke in mir fest, es Josef dem Zweiten gleich zu tun,« fuhr Adrian Fingerhut fort. »Ich wollte ihm nacheifern: die Hand, die das Toleranzedikt unterschrieben hatte, mußte an einem großen, an einem christlichen Herzen geruht haben. So faßte ich den Entschluß, Christ zu werden, und begab mich zum hochwürdigen Herrn Stadtpfarrer von Kojetein ...«

»Ich weiß das!« rief der Kaiser, dessen Aufmerksamkeit von Minute zu Minute zunahm.

»Das Toleranzedikt erschien mir nur wie der schüchterne Anfang des Frühlings, wenn der Winter zu Ende geht. Josef der Zweite, sagte ich zu mir selbst, ist von der Idee der Menschengleichheit so durchdrungen; er, der christliche Herrscher, hat ein so vollständiges System in seinem Kopfe fertig, ein System, nach welchem die Menschheit seiner Staaten in ihrem innersten Wesen umgewandelt werden muß, daß mich schon der ärmliche Brocken, den das Toleranzedikt abwarf, wie Himmelskost dünkte.«

»Und Sie fanden sich getäuscht?« rief der Kaifer.

»Das Toleranzedikt war eine Abschlagzahlung, ein mageres Almosen an den Bettler, ein dürftiges Gewand, das über die Blößen und Wunden meines Volkes geworfen ward. Ich erwartete mehr. Ich hoffte volle Gerechtigkeit und unverkürztes Recht. Ich erwartete, das christliche Herz Josef des Zweiten werde das Wort ›Duldung‹ bloß für einen flüchtigen Augenblick ausgesprochen haben, jenes häßliche, den Gottesgedanken schändende Wort, das zwischen Menschen und Menschen Berge und Klüfte auswirft. All mein Empfinden und Denken geriet in Tumult, die Idee des Kaisers erfüllte mich so ganz und gar, die Vorstellung von jener allgemeinen Liebe, wie sie die Kirche lehrt, hatte sich derart meiner bemächtigt, daß ich in fieberhafter Aufwallung, in einer beinahe krankhaft gewordenen Hast keinen anderen Gedanken fassen konnte, als ... mir die Aufnahme in diese Kirche zu verschaffen. Was weiter geschah, wissen Sie, gnädigster Herr ... und namentlich der Herr Pfarrer ...«

Dicke Schweißtropfen perlten auf der Stirne des jungen Mannes; er hielt inne.

»Weiter!« gebot der Kaiser.

»Es blieb bei dem Almosen!« fuhr Adrian Fingerhut fort, »der Kaiser beließ es bei der ärmlichen Abschlagzahlung. Das Wort Toleranz wurde nicht gelöscht, im Gegenteile, gerade in dem dürftigen Lichtschimmer, der über das Elend meines Volkes gebreitet ward, erschien es mir erst in seiner ganzen Erniedrigung. Wenn Josef der Zweite das wenige, was er dem gedrückten Protestanten und dem rechtlosen Juden gewähren konnte, der Mehrheit seiner Untertanen wegen Duldung nennen mußte, wie stand es dann um das Prinzip jener allumfassenden Liebe, in deren sichtbare Kirche ich meine Aufnahme bewirkt hatte. Kennt die Liebe Unterschiede? Hat sie ungleiche Maße? Da erwachte ich wie aus einem Traume, der Druck wich von meinem Gehirne, und ich geriet in ein Elend, wie es noch kein Menschenkind ertragen hat.«

»Fassen Sie sich!« rief der Kaiser, der bemerkt hatte, daß der junge Mann tief erschöpft war.

»Ich will weiter sprechen,« begann Adrian Fingerhut aufs neue. »Als ich nun gewahr wurde, daß ich mich in einer Wildnis voll unentwirrbarer Widersprüche befand, da wurde der Drang, den Ausweg zu finden, in mir von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde immer heftiger und begehrlicher. Ich hatte die Heimat verlassen, Mutter und Vater verlassen, ich irrte in der Fremde umher, ruhelos und gepeinigt, nirgend heimisch, nirgend wohl mich fühlend. Ich hatte keine Stätte, wo ich beten, keine, der ich mich mit meiner dürstenden Seele nähern durfte. Ich sah mich durch meinen eigenen Irrtum ausgeschlossen aus dem Verbande der religiösen Gemeinschaft; Kirche wie Synagoge hielten mich mit gleichmäßiger Abneigung von ihren Pforten zurück. Und doch war ich im Innersten meines Gemütes ein Kind meines Volkes, ein Sohn meiner Eltern geblieben! Ich erkannte, daß keine Gewalt auf Erden mich an den innigsten Verband mit den Erinnerungen meiner Kindheit, mit den anerzogenen Gewohnheiten der väterlichen Religion vergessen machen konnte. Ich war Fleisch von ihrem Fleische, und mein Blut war aus ihrem gekommen! Alle Ströme der Welt hätten diese Erinnerung aus meiner Seele nicht zu vertilgen vermocht. Heimatlos irrte ich umher, vom Betteln und niedern Gewerbe mein Leben fristend, von Sehnsucht nach Vater und Mutter aufgezehrt, und dennoch schwankend, ob ich dem heftigen Drange nachgeben solle, ob nicht. Mut und Feigheit wogten in mir wie zwei Wasser, die um die Herrschaft über das Erdreich streiten ... Da endlich ... nach langem Ringen und Kämpfen haben zwei kleine Worte meinen Entschluß zur Reife gebracht ...«

»Und sie lauteten?« rief der Kaiser, sich von seinem Sitze erhebend.

»Ich lag krank und erschöpft von Seelenkampf und Entbehrung im Spital des Barmherzigenklosters in einem bayrischen Städtchen. Neben mir lag ein anderer Kranker, der mit zerschmettertem Fuße, schon sterbend, hierher gebracht worden war. Der Fuß wurde ihm abgenommen, aber es trat der Brand hinzu. Da nahte sich ihm der Priester, um ihm die letzte Ölung zu verabreichen; er aber wies sie von sich und bekannte sich als Jude. Und trotz allen Zuredens verblieb er dabei, daß er in der Religion seiner Väter, in der er bisher gelebt, nun auch sterben wolle. Nicht ohne Zürnen über seine Verstocktheit verließ ihn der Priester. In der Nacht hörte ich den Todkranken neben mir bitterlich weinen. ›Was begehrst du?‹ fragte ich ihn. Da rief er mit fast erloschener Stimme: »Wenn nur einer da wäre, der mit mir meine Totengebete sagen könnte!« Da stand ich auf, schwach und krank, wie ich selber war, und sagte zu ihm: ›Beruhige dich, Bruder, ich will sie mit dir sagen.‹ Ich faßte nach seiner Hand, die bereits eiskalt war, und begann das übliche: ›Schma'h Israel!‹ Er wiederholte die beiden Worte und war tot!«

Adrian Fingerhut hielt inne, er vermochte nicht weiter zu sprechen, ein heftiger Tränenkrampf erstickte seine Stimme. In der Stube herrschte lautloses Schweigen, der Kaiser sowohl, wie der Stadtdechant hielten an sich.

»Von diesem Augenblicke an,« fuhr der junge Mann endlich nach einiger Fassung fort, »wußte ich, nach welcher Seite ich mich zu wenden hatte. Kaum genesen, machte ich mich auf den Weg in die Heimat und kam gerade am Vorabende des Versöhnungsfestes dort an ... Alles übrige ist dem hochwürdigen Herrn Dechanten bekannt – und so erwarte ich mein Urteil.«

Der Kaiser war aufgestanden; in heftiger Bewegung maß er wieder auf und ab schreitend die geräumige Stube. Seine Lippen zuckten; es schien, als ob Gedanken, die er gewaltsam in die Tiefe seiner Seele zurückdrängen mußte, zum Ausdruck gelangen wollten; hie und da schüttelte er verneinend das Haupt. Endlich blieb er vor Adrian Fingerhut stehen.

»Junger Mann!« rief er mit durchdringender Stimme, »ich frage dich auf dein Gewissen: Hast du die Wahrheit gesprochen?«

Wieder entstand eine schwer lastende Pause.

»Die volle Wahrheit, gnädigster Herr!« tönte es leise, aber bestimmt aus dem Munde Adrians.

»Du bist ein Jude und willst ein solcher bleiben?« rief der Kaiser, den jungen Mann mit seinen tiefen blauen Augen fest betrachtend.

»Ich bin ein Jude und will als solcher auch sterben!« entgegnete Adrian Fingerhut, seinen Kopf in die Höhe richtend.

»Junger Mann!« sagte Josef, indem er wieder seinen Sitz auf dem roten Sofa einnahm; »im Grunde tut es mir leid um dich. Du bist einmal in den Bund einer Kirche getreten, die vermöge ihrer bevorzugten Stellung in den Ländern des Kaisers ... ihren Angehörigen den Vorteil eröffnet, daß sie zu allen Ämtern und Stellen, die der Staat zu besetzen hat, den Weg bahnt. Du hast dich als einen begabten Menschen gezeigt, Adrian Fingerhut ... du hast Talent, es hängt nur von dir ab, ob du jene Stufen ersteigen willst, die zu Ehre und Ansehen führen. Du verdienst wahrlich ein besseres Loos, als in der dumpfen Gasse zu vermodern, dir zur Qual und den Deinen von keinem Nutzen! Dies bedenke, Adrian Fingerhut!«

»Von keinem Nutzen?« rief Adrian, dessen Wangen sich höher röteten, »bleibe ich nicht bei meinem Volke? Und schlägt nicht jeder, der von ihm abfällt, ihm eine unheilbare Wunde? Noch finde ich die Liebe, die ich auswärts gesucht habe, nur bei meinem Volke ... mein Volk wird mich nicht zurückstoßen, wenn ich reuig zu ihm zurückgekehrt bin.«

»So sei es denn!« rief Josef, sich neuerdings erhebend, »der Augenblick ist gekommen, wo ich dir, Adrian Fingerhut, im Namen und Auftrage des Kaisers, im Namen des Gesetzes, welches du verletzt und gekränkt hast, dein Urteil anzukündigen habe.«

Die Stimme des Kaisers klang feierlich und tief; sie ergriff mit namenloser Gewalt das Gemüt des jungen Mannes.

»Ich bin gefaßt, es zu vernehmen,« sagte er, beinahe unhörbar.

»So vernimm denn, Adrian Fingerhut, früher genannt Samuel!« rief Josef, »Der Kaiser ... in gnädigster Berücksichtigung der eigentümlichen Umstände, von denen dein Fehltritt begleitet war, ferner, daß es mehr eine Verirrung deines Gemütes, als die Folge eines schlechten Willens war, wenn du gegen ein bestehendes Gesetz dich auflehntest, will Gnade für Recht über dich ergehen lassen und über deine Vergangenheit den Schleier des Vergessens gebreitet wissen. Du bist von nun an frei, Adrian Fingerhut ...«

»Frei!« entrang sich ein gellender Schrei aus der Brust des jungen Mannes. Dann überzogen sich seine seinen Gesichtszüge mit einer leisen Röte. »Frei!« wiederholte er, »heißt das so viel, als Tod und Kerker drohen mir nicht mehr? Darf ich mich wieder Samuel nennen? Darf ich mich frei und ungescheut zur Religion meiner Väter bekennen? ...«

»Du darfst es, Samuel Fingerhut!« sagte Josef, »aber nur unter einer Bedingung ...«

»Eine Bedingung?«

»Du wirst,« fuhr Josef fort, »die Staaten des Kaisers verlassen und außer Landes gehen! Fortan mußt du dich als einen Verbannten betrachten, dem die Rückkehr ins Vaterland verwehrt ist. Hast du mich begriffen?«

»Ich soll Vater und Mutter wieder verlassen?« rief der junge Fingerhut mit einer solchen Wahrheit des Schmerzes, daß der Kaiser innerlichst erbebte.

»Ich kann dir nicht helfen, Samuel Fingerhut,« sagte Josef mit unsicherer Stimme, »was Kaisers Gnade dir gewähren kann, dir und deinen Eltern gewähren darf, das geschieht hiermit im Namen und Auftrage des Kaisers. Weiter hinaus ist meine Machtvollkommenheit beschränkt und gebunden! Für Leute deiner Gemütsart sind die Staaten des Kaisers noch zu enge ... Du mußt daher ein Land aufsuchen, dem es bereits gegönnt ist, das Prinzip der Gewissensfreiheit für seine Angehörigen ertragen zu können« ...

»Ich soll Vater und Mutter verlassen?« wiederholte der junge Mann, für den sich in diesem einen Gedanken aller Schmerz und alle Bitterkeit seiner Lage gesammelt zu haben schien.

»Es ist so der Wille des Kaisers,« sagte Josef, »und es geschieht zu deinem eigenen Besten. Du mußt fort. Du wirst in einiger Zeit durch diesen hochwürdigen Herrn Pfarrer eine Summe Geldes angewiesen erhalten, die dich instandsetzen wird, die Reise in eine neue Heimat anzutreten.«

Adrian Fingerhut hatte sein Antlitz mit beiden Händen bedeckt; sein Schmerz hatte sich in ein krampfhaftes Schluchzen aufgelöst.

»Es geschieht zu seinem eigenen Besten,« wandte sich der Kaiser zu dem greisen Priester, der, in demütiger Stellung neben seinem Lehnstuhle verharrend, sich bis dahin gehütet hatte, in die Unterredung einzugreifen.

»Ich bewundere die Weisheit ... des Kaisers,« sagte der Dechant, sich tief verbeugend, »es gibt keinen andern Ausweg für den jungen Mann!«

»Gott segne und schütze den großen und milden Kaiser, Josef den Einzigen,« rief der Priester, die Hände andächtig faltend.

Josef griff nach dem Hute, der auf dem Sofa lag, und hüllte sich dann dichter in seinen Mantel. Adrian Fingerhut schien von allem, was um ihn her vorging, nichts vernommen und bemerkt zu haben.

»Und nun, Herr Pfarrer,« sagte Josef, indem er dem greisen Priester in herzlichster Weise die Hand drückte, »leben Sie wohl. Wir werden uns aller Wahrscheinlichkeit nach auf dieser Erde nicht mehr erblicken. Sie sind alt, lieber Dechant, und ich ... ich bin müde! Aber, daß Sie der Freund des Kaisers, ein Priester Gottes in des Wortes schönster Bedeutung waren, dessen wird der Kaiser in seiner Todesstunde gedenken. Leute wie Sie vergißt er nicht so leicht. Leben Sie wohl!«

Nochmals schüttelte er dem greisen Priester die Hand und wandte sich zum Fortgehen. Der Dechant ergriff hierauf die Lampe und schickte sich an, den Kaiser zu begleiten. Josef hatte bereits die Tür erreicht. Adrian Fingerhut stand noch immer da, die Hände vor das Gesicht gedrückt.

Josef wandte sich an der Türe nochmals an den Pfarrer. Das volle Licht der von letzterem hochaufgehobenen Lampe traf sein geistvolles Antlitz. Niemals vielleicht glänzte der göttliche Strahl der Milde und Menschlichkeit schöner und siegreicher von dem Gesichte eines Sterblichen, als in diesem Augenblicke!

»Trösten Sie die arme Mutter dieses jungen Mannes, Herr Dechant, und sagen Sie ihr, der Kaiser habe nicht anders zu handeln vermocht.«

Damit öffnete Josef die Türe und trat auf den finstern Hausgang. Aber der Pfarrer folgte ihm mit der Lampe in der Hand, und geleitete den Kaiser über die enge Treppe in den Hausflur hinab. Unten harrte bereits die Haushälterin des Pfarrers, einen Armleuchter mit zwei brennenden Kerzen haltend. Josef schritt rasch an ihr vorüber und trat durch die offene Haustüre in den Hof hinaus.

Der Wagen, der ihn hierher gebracht, stand noch angeschirrt, der militärische Begleiter des Kaisers sprang, sobald er des Herrn ansichtig geworden, von der Kutsche herab und stellte sich neben den Wagentritt.

»Ist alles bereit?« fragte Josef leise.

»Zu Befehl, Euer Majestät!« entgegnete der Adjutant in dem nämlichen Tone.

»So wollen wir in unser Nachtquartier!« rief Josef, indem er den schwerfälligen Wagentritt zu besteigen im Begriff stand.

In demselben Augenblicke durchschnitt ein gellender Schrei die Luft; er schien von einer weiblichen Stimme herzurühren. Der Kaiser wandte sich um, da bemerkte er in dem Nachtdunkel, das bereits vollständig eingetreten, und nur durch die Lichter, mit denen die Haushälterin gefolgt, notdürftig erhellt war, in seiner unmittelbaren Nähe zwei Gestalten, einen Mann und eine Frau.

Es war der Vater Adrians und dessen Mutter Gitel Fingerhut; der Kaiser hatte die beiden Bittsteller aus dem Kontrollorgange, die sich seinem Gedächtnisse so gut eingeprägt hatten, sogleich erkannt.

Die Frau war in die Knie gesunken, auch sie hatte den Herrscher erkannt. Was wollten die beiden alten Leute hier im Pfarrhof und um diese nächtliche Stunde? Wahrscheinlich hatte sie die Sorge um den vom Pfarrer selbst abgeholten Sohn, und die Ahnung, daß in diesem Augenblicke über die Zukunft des einzigen Kindes das Los geworfen ward, hieher gebracht.

Josef winkte abwehrend mit der Hand. Es mochte ihn ein tiefes Weh durchzuckt haben, daß er dieser knienden Mutter und diesem gebeugten Vater keinen bessern Trost gewähren konnte, als die Verbannung ihres Sohnes. Dann stieg er rasch in den Wagen.

»Nach dem Schlosse des Grafen!« gebot er.

Der Adjutant wiederholte diesen Befehl dem Kutscher und nahm dann seinen Sitz neben dem Kaiser ein.

Der Wagen rollte zum offenen Hoftore hinaus.


Vier Wochen nach diesem Besuche Josefs des Zweiten auf dem Pfarrhofe in Kojetein langte an den Dechanten eine aus dem kaiserlichen Kabinette herrührende beträchtliche Geldsumme mit der Weisung an, diesen Betrag dem jungen »Samuel« Fingerhut für die »vorzuhabende Reise« einzuhändigen.

Mitten unter den Zurüstungen zum bevorstehenden Türkenkriege, mitten im Sorgendrange über die von Tag zu Tag schlimmer lautenden Nachrichten aus den Provinzen, Entwürfe hegend und vernichtend, halb an sich irre geworden, und dann wieder mit einem Hoffnungslächeln selbst einen geringen Erfolg seiner Regierungsmaßregeln begrüßend, hatte der Kaiser den Sohn des jüdischen Handelsmannes und das böhmische Städtchen nicht vergessen.

Samuel Fingerhut kam getreulich dem Willen des Kaisers nach. Mit blutendem Herzen fügten sich Vater und Mutter in das Unabänderliche und segneten Josef den Einzigen, nachdem sie durch den Pfarrer belehrt worden waren, wie sich für den Kaiser kein anderer Ausweg gezeigt, ihnen den einzigen Sohn zu erhalten – als indem er ihn ihnen nahm.

Samuel Fingerhut nahm seinen Weg zuerst nach Holland, der alten Heimatstätte der Glaubensfreiheit. Er hielt sich aber daselbst aus uns unbekannten Gründen nur kurze Zeit auf, dann ging er nach Antwerpen. Dort in der Scheldemündung lag ein Schiff, das in den nächsten Tagen die Fahrt nach dem fernen Amerika antreten wollte. Samuel Fingerhut besann sich nicht lange und nahm einen Platz auf dem Kauffahrer, der eigentümlicherweise den Namen »Josef der Zweite« trug. Glücklich und wohlbehalten kam er in dem damals schon aufblühenden Neuyork an.

In der fernen neuen Heimat gelang es ihm bald, es zu Wohlstand und Ansehen zu bringen. Sein Haus erwuchs allmählich zu einem geachteten und weithin genannten. Hochbetagt, von einem Kreise blühender Kinder und Enkel umgeben, beschloß er vor wenigen Jahren sein Leben. In seinem Testamente fand man ein beträchtliches Legat verzeichnet, das zu gleichen Teilen an die Armen christlicher und jüdischer Konfession seiner Vaterstadt Kojetein, und zwar unmittelbar durch einen seiner Enkel, der zu diesem Zwecke die Reise nach Böhmen anzutreten hatte, verteilt werden sollte.

In einer dem Testamente beiliegenden Aufzeichnung erzählte Samuel Fingerhut seinen Kindern und Enkelkindern, unter welchen wunderbaren Umständen er den Weg nach Amerika gefunden, welchen Gefahren er entgangen und wie Kaiser Josef der Unvergeßliche in sein Leben eingegriffen habe, – er erzählte ihnen die Geschichte von den »beiden Schwertern«.


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