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Christian und Lea.

Durch die »Gasse« sieht man zuweilen, namentlich wenn die Sonne etwas kräftiger sich über die Häuser und Dächer legt, zwei alte Menschen wandeln: ein trippelndes, gebeugtes Mütterchen und einen nur wenig strammer auftretenden eisgrauen Mann. Sie gehen Hand in Hand, was einen gar wehmütig ergreifenden und doch wieder heiter stimmenden Anblick bietet. Wo sich ein Hindernis dem Gange der beiden entgegenstemmt, da ist es das eisgraue Männlein, welches zuvor jeden Stein, worauf seine Begleiterin mit dem Fuße treten könnte, hinwegräumt; der Stock, den er noch kräftig zu handhaben weiß, ist in beständiger Bewegung. Nichts entgeht seinen noch immer scharfen Blicken; dem Kinde, das über den Weg läuft, ruft er schon von weitem ein kräftiges Halt zu; wo ein breites, vorspringendes Haus einen etwas zu behäbigen Schatten wirft, weicht er aus und leitet das alte Weibchen lieber an jene Stellen, woran sich die Sonne besonders liebreich gelegt hat. Nur wenn zufällig das Mittagläuten von der Kirche her ertönt, bleibt er stehen, zieht seine Hand aus der seiner Begleiterin und fährt damit, sich bekreuzigend, während er in der andern Hand die vom Haupte genommene Pelzmütze hält, über Gesicht und Brust. Das Mütterchen aber trippelt weiter. Will es seinen Begleiter in der Andacht nicht stören? Klingen und tönen ihm diese ehernen Laute nicht auch wie Mahnrufe zum Aussprechen eines stillen Gebetes ...? Er hat es geendigt; mit behafteten Schritten hat er sie wieder eingeholt. Beider Hände haben sich wieder gefunden, sie setzen ihre Wanderung weiter. Vor einem kleinen einstöckigen Hause, dem letzten in der Gasse, endet ihr Gang. Es ist die Wohnung des alten Paares! Fast dünkt es uns ein Frevel, daß wir die Geschichte von Christian und Lea, so heißen in der Gasse die beiden alten Leute, wieder erzählen wollen. Wer eine Blume nicht gerne von ihrem Stengel reißen mag, sondern sie lieber an der Stelle beläßt, wohin sie mit ihrem Dufte und Blühen gehört, der wird uns begreifen. Und die Geschichte von Christian und Lea ist eine solche, die man mit einer gewissen Scheu hüten und bewahren sollte, daß sie nicht mutwillig abgepflückt und hinterdrein den Winden der Vergessenheit anheimgegeben werde, die sie hierhin und dorthin tragen können – wo man sie vielleicht nicht versteht. Es hatte tagelang geregnet, dazu waren lauwarme Frühlingswinde gekommen, die den Schnee im nahen Isergebirge zur vorzeitigen Schmelze brachten. Der kleine Bach, der gleich hinter der Gasse fließt und sonst so friedlich und stillselig seinen Weg geht, daß er den Kindern, die ihn durchwateten, kaum die Knöchel näßt, hatte plötzlich die Manieren eines reißenden Stromes angenommen, was, solange Menschen es gedenken konnten, niemals geschehen war.

Trübschlammiges Wasser wälzte sich unter und über den hölzernen Steg, der sonst ein überflüssiges Bedürfnis schien; noch aber dünkte jedem die Gefahr so ferne, daß niemand daran dachte, das kleine baufällige Haus, worin Wolf Ungar, der Gemeindediener, mit Weib und Kind wohnte, und das hart am Rande des Baches stand, könnte ernstlich beunruhigt werden.

Wolf Ungar, der Gemeindediener, wohnte übrigens in jenem Hause nicht allein; sein Nachbar unter demselben Dache war der Schustermeister Johannes Wurma, oder wie er in der Gasse kurzweg hieß: Jan Schuster. Auch dieser, dem seine Ehegattin jüngst gestorben, hatte ein Kind, aber weil er dem Trunke ergeben war, nahm er in der Achtung Wolf Ungars keine hohe Stufe ein. Oft wenn Wolf vor Tagesgrauen, wenn noch die Sterne am Himmel funkelten, aufstand, um mit seinem hölzernen Hammer die schlaftrunkene Gasse zum Gottesdienste wachzurufen, taumelte ihm der trunkene Schuster entgegen. Dann empfand der Gemeindediener ein Gefühl von Abscheu, das einen etwas aristokratischen Beigeschmack hatte. Er wußte in diesem Augenblicke mit aller Klarheit, daß er einem »auserwählten« Volke angehöre, dem es ein Greuel ist, in den Wirtshäusern die Nächte durchzuschlemmen.

Wolf Ungar wollte am nächsten Morgen frühe aufstehen, denn es war »Fasttag der Königin Esther«, der schon mit Tagesdämmerung beginnt. Mitten in der Nacht wachte er auf und wunderte sich darüber; denn, pflegte er später immer zu sagen, sein Hammer und sein Schlaf seien pünktlich wie eine Uhr, die nicht zu spät und zu frühe gehe. In demselben Augenblicke fuhr auch seine Frau aus dem Schlummer.

»Hörst du nichts, Sara?« rief er.

»Ich hab' gerad' meine gute Mutter gesehen, die da draußen auf dem guten Ort liegt,« meinte sie, indem sie sich in die Höhe richtete.

Eine unerklärliche Ahnung nötigte Wolf Ungar, das Bett zu verlassen; er zündete mit Hilfe eines Schwefelfadens Licht an, was eine geraume Zeit in Anspruch nahm. Beim ersten Aufflackern der Kerze schrie sein vierjähriges Töchterchen, die kleine Lea, die neben der Mutter im Bette lag, angstvoll und in Tönen, wie er sie noch niemals vernommen:

»Christian! Christian!« und schlug dabei mit den Ärmchen um sich.

Während Sara, die Mutter, das Kind zu beruhigen bemüht war, fuhr Wolf Ungar in seine Kleider und zündete eine Kerze in der Laterne an, er wußte selbst nicht warum Er war nicht schlaftrunken, im Gegenteile, alle seine Sinne befanden sich in einer Aufregung, die ihn fähig machte, in diesem Augenblicke mehr zu erraten, als er sonst bei vollstem Bewußtsein gesehen hätte. Dann ging er an das Fenster und wollte, gleichfalls von einem unerklärlichen Antriebe gedrängt, den hölzernen Laden aufriegeln. Die sonst leichte Hantierung gelang ihm aber diesmal nur mit großer Schwierigkeit; als er es endlich zustande brachte, taumelte er vor Entsetzen zurück. Seine Hand triefte von eiskaltem Wasser.

»Sara! nimm das Kind auf! Das Wasser ist da,« schrie er; ein anderer gellender Schrei folgte diesem Rufe, dann ward es in der Stube grauenhaft still. Aber selbst in diesem Momente der gräßlichsten Angst hatte weibliche Fürsorge das nächste Bedürfnis nicht übersehen. Mit Blitzesschnelligkeit hatte Sara ein großes Tuch aus dem Kasten gerissen, das sie um sich und das Kind warf.

»Und jetzt wohin, Wolf?« keuchte sie mit kreideweißen Lippen.

Wolf ging mit der Laterne voraus; sie wollten durch das Vorhaus, aber schon traten sie in tiefes Wasser, das unter der Türschwelle sich seinen Eingang erzwungen hatte. Er öffnete die Türe nur zur Hälfte, aber das kalte, mit aller Macht hereinströmende Element drängte ihn beiseite. Wolf Ungar war ein beherzter Mann und hatte nicht umsonst in der Armee gedient. Er rief seinem Weibe zu, ihm mutig zu folgen, und hoch hielt er die Laterne empor, damit sie den Weg nicht verfehle.

Da rief die kleine Lea wieder, und in noch ängstlicheren Tönen als früher:

»Christian! Christian!«

Dieser Ruf ging den beiden tief an die Seele; sie wußten nun, was diese Schreckenslaute aus dem Munde ihres Kindes zu bedeuten hatten.

»Weck sie, Wolf,« schrie Sara, »weck sie, sonst gehen sie zugrunde.«

»Ich kann nicht, Sara!« schrie er dagegen, »unser Leben steht auf dem Spiel ...«

»Ich geh' nicht,« rief sie, »und wenn ich auch selbst ertrinke.«

Da begann Wolf Ungar aus Leibeskräften den Namen »Jan! Jan!« zu rufen, indem er dabei mit riesiger Gewalt an der Türe, die in die Wohnung des Schusters führte, rüttelte. Kein Laut antwortete von innen.

Schliefen die Unglückseligen? Waren sie bereits ertrunken? Endlich gab die Türe nach; mit emporgehobener Laterne leuchtete Wolf in der Stube umher, in der das Wasser bereits schuhtief stand. Ein einziger Blick genügte ihm, sich zu überzeugen, daß hier alle Weckrufe vergebens seien. Jan, der Schuster, lag in bleiernem Schlafe, aus dem ihn kein Rütteln und Schütteln ermuntern konnte. Da besann sich Wolf Ungar nicht lange und griff nach einem blondlockigen Kindeskopfe, der aus der Umhüllung einer Bettdecke mit verwundert offenen Augen zu ihm aufsah. Mit dem Knaben in dem einen Arme, mit dem andern die Laterne emporhaltend, so wankte Wolf Ungar aus der Stube. Das alles war das Werk jener wunderbaren, im Menschen schlummernden Tatkraft, die mit ganz anderem Maße gemessen sein will, als das ruhige Werk überlegter Besonnenheit.

»Hast du das Kind, Wolf?«

»Gott soll weiter helfen,« keuchte Wolf.

So traten sie in die Nacht hinaus und in die eiskalte Wasserflut, die ihnen schäumend und heulend entgegenschlug; sie reichte ihnen bis an die Knie. Wolf ging voran, Sara folgte ihm. Hilferufen und Angstschreie aus den anliegenden Häusern! Die Überschwemmung war wie ein tückischer Dieb in das Heiligtum des Schlafes gedrungen.

»Furcht dich nicht! Sara, mein Gold!« rief Wolf, »wir werden leben!«

»Ja Wolf,« lallte sie dagegen mit vor Frost klappernden Zähnen, »wir werden leben bleiben.«

So setzten sie ihren Weg fort, den tiefsten Schrecken im Herzen und das gläubige Wort hoffender Zuversicht auf den Lippen. Das Wasser schäumte um sie und schoß an manchen Stellen bis an Brust und Hals empor. Aber sie rangen sich glücklich hindurch; schon fühlten sie die kalte Flut bloß noch an den Knöcheln, jetzt hatten sie die höhergelegene Stelle erreicht, wo die Synagoge stand, bis wohin das Wasser nicht dringen konnte. Sie standen hochaufatmend auf festem Boden.

Nun erst schauten sie hinter sich. Welch ein Fluten und Wogen! Die Nacht begann allmählich dem Morgengrauen zu weichen. Ein fahler Schimmer flog über die weite Wassermasse; sie konnten jetzt deutlich auch ohne Laternenschein das kleine Haus gewahren, aus dem sie soeben entronnen waren. Im nächsten Augenblicke gewahrten sie nichts mehr. Ein dumpfes Krachen, wie von zusammenbrechendem Gebälke schlug an ihr Ohr; dazwischen grauenhafte Todesschreie, dann ward alles still. Die Geburtsstätte ihres Kindes, das Haus, worin noch vor kurzer Zeit sechs Menschenleben geatmet, war verschwunden, die Flut hatte es untergraben, nachdem es selbst zuvor für Jan Schuster und dessen Frau zum Grab geworden war.

So seltsam geartet ist die Menschennatur, daß die beiden auf so wunderbare Weise Geretteten in diesem Momente nur ein Gefühl jubelvollen Dankes empfanden. Aber gleich darauf rief Sara:

»Hast du das Kind, Wolf?«

»Ja! Was willst du mit ihm?«

»Gib mir den Knaben,« rief sie, »die Last wird dir zu stark.«

»Hast du denn nicht schon unsere Lea?«

»Ich kann auch zwei Kinder haben,« schrie sie überlaut, und verbarg den ihr von Wolf dargereichten Knaben unter dem Tuche, das auch ihr Töchterchen umhüllte.

Das alles ward in so rascher Aufeinanderfolge gesprochen und ausgeführt, daß es kaum so lange dauerte, als es hier erzählt wird.

Der Morgen war allmählich angebrochen. Sara hatte sich, am ganzen Leibe zitternd, auf eine der Stufen niedergesetzt, die zur »Weiberschul'« hinaufführen. An ihrer Brust schliefen die Kinder, und die warmen Atemzüge der Schlummernden taten ihr wohl.

»Heut' brauch' ich die Leute nicht wach zu klopfen,« sagte Wolf Ungar mit bitterem Lächeln, »mein Hammer ist in die Iser gefallen, es soll mir ihn einer holen.« Dann entrang sich ein aus tiefster Seele kommender Seufzer seinen Lippen.

»Nichts als das nackte Leben!« wimmerte er.

»Red jetzt nichts, Wolf!« gebot ihm Sara, indem sie eine abwehrende Bewegung machte, »du weckst mir sonst die Kinder.«

Nach einer Weile rief Wolf:

»Was lasse ich dich da in der kalten Luft frieren? Ich hab' ja den Schlüssel zur »Schul'« bei mir. Gott der Lebendige weiß, warum ich gerade den Schlüssel zu mir genommen habe, und den Hammer habe ich vergessen.«

Das Gotteshaus war schauerlich still, und die Schritte der beiden, wie sie jetzt durch die Betpulte oder Ständer hingingen, hallten dumpf in den leeren Räumen. Wolf geleitete seine Frau zu den Stufen des »Almemors«, wie jene gemauerte Erhöhung heißt, die die Mitte der Synagoge einnimmt, und hieß sie daselbst sich niederlassen, nachdem er zuvor die schwere Altardecke vom Tische genommen und sie ihr unterbreitet hatte.

Trotz seines Kummers konnte er dabei einen leichten Witz nicht unterdrücken.

»Du kannst von dir sagen, Sara, und dich rühmen, was kein Weib in der Gasse von sich sagen und rühmen kann. Du hast einen Platz in der Männerschul'.«

Über Saras erschöpfte Züge flog ein leichtes Lächeln. Dann verfiel sie in tiefes Sinnen. Plötzlich fuhr sie aus ihrer kauernden Stellung auf; das blasse Licht der Morgendämmerung, wie es jetzt durch die Fenster der Synagoge fiel, ließ die Gegenstände ringsum in ihren Umrissen erkennen.

»Warum kommen denn noch nicht die Leut?« rief sie, »der Morgen ist ja schon da.«

»Sie werden heut' nicht kommen,« warf Wolf tonlos hin.

»So laß uns ›Schul'‹ halten, Wolf!« rief Sara in eigentümlicher Aufregung. Wolf Ungar glaubte im ersten Augenblicke, der Schrecken sei dem armen Weibe zu Kopfe gestiegen, und voll Entsetzen streckte er die Hand gegen sie.

»Was redst du, Sara?«

»Ich will, daß wir beide Schul' halten,« rief sie, und trotz des zwitterhaften Lichtes konnte Wolf gewahr werden, wie ihre Augen brannten und leuchteten. »Ich will, daß du die Thora aus der Lade herausnimmst, Wolf, wir sind vor Gott und der Welt allein!«

»Sara!« schrie Wolf Ungar im tiefsten Schmerze auf.

»Du meinst, ich rede im Wahnsinn?« meinte sie nun ruhiger. »Tu mir den Gefallen, Wolf, und nimm eine Thora aus der Lade heraus. Es wird doch keine Sünde sein?«

Da Wolf sie so gelassen sprechen hörte, faßte er wieder Mut.

Er stieg die Stufe zu der Lade hinan, worin die Thorarollen in einer Reihe nebeneinander standen, schlug den schweren Vorhang zurück und nahm eine der vordersten in die Arme.

»Gib sie her, damit ich sie küsse,« rief Sara.

Wolf reichte ihr die mit einem samtnen bunten Mäntelchen umkleidete Thorarolle, auf die sie mehrmals ihre Lippen drückte.

»Und jetzt ziehe sie aus, Wolf, und blättere sie auf, als möchte man gerade ›leinen‹ wollen« (den Wochenabschnitt vorlesen).

Wolf tat, wie sie ihm hieß.

»Was willst du jetzt, Sara?« rief er nach einer bangen Weile.

»Jetzt sollst du mir auf die Thora etwas schwören, Wolf!« rief sie mit erhobener Stimme. »Willst du?«

»Ich will.«

»So schwöre mir, daß ich diesem Knaben, den ich da an meiner Brust liegen habe, eine Mutter sein darf, weil er doch keine hat, und du willst ihm ein Vater sein, weil der seine jetzt tot im Wasser liegt, und willst mir nichts dareinreden, wenn ich ihn wie mein eigenes Kind aufziehe und ernähre, und du willst dein Wort halten, und wenn die ganze Welt aufsteht und dir beweist, du hast unrecht getan, und willst mir niemals einen Vorwurf daraus machen, daß ich mich dieses armen Kindes angenommen. Schwör mir dazu auf die heilige Thora!«

Sara hatte sich, während sie dieses sprach, erhoben; sie stand jetzt dicht neben ihrem Mann.

»Bedenkst du nicht, Sara,« sagte er, schwach widerstrebend, »daß Jan Schuster der Vater dieses Kindes war?«

Sie aber rief mit wundersam erhöhtem Tone, der das Innerste ihres Mannes mit namenloser Bewegung ergriff:

»Das Kind ist mein, als hätte ich es selbst geboren ... und jetzt schwöre mir zu!«

Wolf legte die Finger auf das geheiligte Pergament.

»Ich hab' geschworen, Sara!« sagte er leise.

»Jetzt ist mir leichter, Wolf,« sagte sie und bückte sich zur Thora herab, um sie zu küssen, »ich meine, jetzt ist alles überstanden.«

Dann setzte sie sich wieder auf die Stufe und verblieb von nun an in tiefem Schweigen. Die Kinder schlummerten ruhig unter der deckenden Hülle.

Noch an demselben Tage ward für Wolf Ungars Unterkunft ausgiebig Sorge getragen. Von allen Seiten regte sich Mitleid und Teilnahme für ihn. Auf Gemeindekosten wurde ihm in einem der Gemeinde gehörigen Hause eine Wohnung angewiesen, während die Frauen in der Gasse es sich angelegen sein ließen, Sara mit Kleidungs- und Einrichtungsstücken zu versehen. Das Gemüt dieses armen Weibes war jedoch auch in diesem Falle eigen geartet. Sie nahm von den ihr dargebrachten Geschenken nur so viel, als sie, die ihr alles verloren hatte, nicht entbehren zu können glaubte. Sie wies alles beharrlich zurück, was ihr nicht im Einklang mit ihrer gegenwärtigen Lage schien, und mancher reichen Frau in der Gasse kam es wie unzeitiger Stolz vor, wenn die Gemeindedienerin eine bunt bebänderte Sabbathaube oder sonst ein Putzstück ablehnte. »Ich will aus meinem Unglück kein Geschäft machen,« sagte sie, »dazu bin ich nicht Schnorrerin genug!« Nur für »ihre Waise« schien es, als könnte sie nicht genug an Kleidung und Wäsche zusammenbringen, und was sie für ihr eigenes Kind entschieden abwies, das nahm sie mit leuchtenden Augen, ja mit den Gebärden einer gewissen Habgier für das angenommene fremde Kind an! »Ein Waisenkind hat einen großen Mund,« meinte sie, »und es geht viel hinein; wo ein Kind, das Eltern hat, einen Löffel ißt, davon braucht ein Waisenkind zwei, und das kommt daher, daß ein Kind mit Eltern schon von dem bloßen Gedanken, daß es an ihrem Tische sitzt, satt wird, während einer Waise selbst der beste Bissen so schmeckt, als hätte man dabei das Salz vergessen.« Sie konnte, die sonst Schweigsame, ganz redeselig werden, wenn sie für »ihr Waisenkind« zu sprechen kam; ihr volles Herz fand dann Ausdrücke für die Lippen, die ihnen sonst nicht geläufig waren. Man glaubte eine ganz andere vor sich zu haben, wenn sie sich Christians annahm, in so eigentümlichem Feuer glänzten ihre Augen und kamen die Worte aus ihrem Munde.

Für »ihr Waisenkind!«

Als Wolf Ungar in jener Nacht seinem Weibe den Eid auf das heilige Gottesbuch geleistet, da hatte ihn vielleicht der geheime Gedanke dabei geleitet, der raschen Tat ihres Herzens würde ein Augenblick der Ernüchterung folgen. Er baute dabei auf die tagtäglich zu machende Erfahrung, daß die meisten Menschen, die mit einem gewissen leidenschaftlichen Zuge vom Wohltun erfaßt werden, dann um so eiliger sich demselben entziehen, sobald es ihnen als andauernde Pflicht Bedingungen und Beschwerlichkeiten auferlegt. Darin hatte sich aber Wolf Ungar gewaltig geirrt; an dem Ernste, womit Sara an die in jener furchtbaren Stunde übernommene Verpflichtung ging, konnte er bald gewahr werden, daß sie sich wirklich vor Gott und Menschen als Christians zweite Mutter ansah.

Trotzdem saß die Heiligkeit des geleisteten Eides zu tief in Wolfs Seele, als daß er gewagt hätte, offen gegen Saras Beginnen aufzutreten. Er ließ sie gewähren, und namentlich in der ersten Zeit, wo er noch unter dem Eindrucke des erst jüngst Erlebten stand, verriet auch nicht ein Wort, nicht eine Gebärde, daß er der eingegangenen Verpflichtung mit einigem Widerstreben gedachte.

Dennoch fehlte es nicht an Stimmen, die bald offen, bald aus sicherem Verstecke hinter Sara zischelten, und das Allerwenigste, was man ihr vorwarf, war, daß sie unklug gehandelt und sich eine »Last« aufgebürdet habe, die sich mit ihren Verhältnissen als Frau eines Gemeindedieners nicht vertrüge. Hie und da wurde schon der Rat, und oft mit den wohlmeinendsten Redensarten, laut, daß sie nicht früh genug sich des fremden Kindes entschlagen könne, das doch im Grunde sie so gut wie gar nichts angehe. Jetzt sage man noch nichts, was werde sie aber anfangen, wenn das Kind größer würde, wenn sie selbst noch Kinder erhielte? Zu dem allem schüttelte Sara den Kopf, und nichts in ihrem Wesen verriet, daß von all den Reden und Ratschlägen auch nur die oberflächliche Außenseite ihres Gemütes wäre berührt worden.

Eines Tages kam ihre Babe (Großmutter) Breindel auf Besuch. Das war ein unerhörtes Ereignis, denn die alte Frau war wegen ihres Hochmutes für Sara ein Wesen, dem sie sich stets nur mit einem Gefühle ehrfurchtsvollen Grauens zu nähern wagte. Die Babe Breindel lebte von ihrem Gelde, d. h. von den etlichen Hunderten Gulden, die ihr Mann hinterlassen, und bedurfte daher keines Menschen. Ihr blasses strenges Gesicht zeigte einen gewissen Trotz, der wohl aus der Unabhängigkeit ihrer Lage herstammte, und man konnte ihr nur wenige Züge nacherzählen, die nicht von einer gewissen Härte und Starrheit zeigten. Sie kam nie oder selten aus ihren zwei Stuben, die ihr gleichfalls als Erbe nach ihrem Manne geblieben, und nur am Sabbat war es ihren Kindern und Enkeln gestattet, sie daselbst heimzusuchen, um sich von ihr »benschen« zu lassen. Dann saß sie da in ihrem Lehnstuhle, eine sechsreihige Granatenschnur um ihren Hals geschlungen, eine goldgestickte Haube auf dem Kopfe und ganz in Weiß gekleidet, und empfing die Wünsche der Ihrigen, wie eine geborene Königin die Huldigungen ihrer Untertanen.

Sara war eben damit beschäftigt, eines der Kleidungsstücke, die sie von den Leuten sich erbeten, für Christian anzupassen, als die Babe Breindel eintrat. Saras Munde entfuhr ein leichter Schrei.

»Was erschreckst du,« rief die Babe, deren Ohr und Auge nichts entging. »Seh' ich denn schon so aus, daß die Leute vor mir zu erschrecken brauchen? Ich hab' einmal in meinem Leben auch ein anderes Gesicht gehabt.«

Sara wußte aus langer Erfahrung, daß man diesen spitzen Stachelreden der Großmutter nur mit Gleichmut begegnen müsse, und so schwieg sie und führte die alte Frau ehrerbietig zu einem Sitze. Es berührte sie aber doch schmerzlich, daß die Babe ihrem Töchterchen, dem einzigen lebenden Urinigel (Urenkel) in der ganzen Familie, keinen Blick der Aufmerksamkeit schenkte. Das deutete auf eine tiefe Verstimmung, deren Ursache nicht schwer zu ergründen war.

Nach einer Weile fragte die Babe, die grauen kalten Augen auf Sara richtend: »Wo ist dein Mann, Sara?«

»Er ist aufs Dorf gegangen, Babe! Ein Bauer, der einen alten kupfernen Kessel zu verkaufen hat, hat ihn zu sich bestellt.«

»Hat denn dein Mann es noch nötig, aufs Dorf zu gehen und alte kupferne Kessel einzuhandeln?« meinte die Babe, ihre schmalen Lippen zu einem spöttischen Lächeln zusammenzwängend, »die ganze Gasse redet ja davon, daß Wolf Ungar gesonnen ist, nächstens seinen Posten als Gemeindediener aufzugeben; er soll irgendwo einen großen gewaltigen Fund gemacht haben, davon will er als ein Millionär leben – sagt die ganze Welt.«

»Ich weiß nichts davon, Babe,« sagte Sara in der Unbefangenheit ihres Herzens.

»Es muß aber doch so sein,« fuhr die Babe mit unbarmherziger Beredsamkeit fort, »und die Welt ist nicht auf den Kopf gefallen. Wolf Ungar lebt von dieser Welt, sie gibt ihm zu essen und zu trinken ... wie kommt es dann, daß der nämliche Wolf Ungar, dem Gott schon ein Kind gegeben, damit nicht zufrieden ist, sich noch eines an die Füße bindet, und das ist nicht einmal sein eigen Fleisch und Blut?«

So unbegrenzt und bedingungslos war zu jener Zeit die Ehrfurcht, mit der ein Enkelkind seinem Ahn gegenüberstand, und mochte es noch so sehr mit strafenden Worten überhäuft werden, daß es uns nicht verwundern darf, wenn Sara den schneidigen Reden ihrer Großmutter nur stummes Anhören entgegensetzte.

»Warum redest du nicht?« rief die Babe nach einer drückenden Weile.

»Babe,« meinte Sara, »mein Mann hat mich gern und hat nur getan, um was ich ihn gebeten habe.«

»Also bist du die gewaltige Reiche?« rief die Babe mit wahrhaft vernichtendem Spotte. »Wo hast du denn deine Perlen und deine goldenen Halsketten? Und warum ziehst du aus dieser Stube nicht aus, wo du auf Gemeindekosten ausgehalten wirst? Wer sich fremder Kinder annimmt, muß ein eigen Haus für sie haben. Warum läßt du dir so ein Haus nicht bauen?«

Sara hätte reden, stundenlang reden können, um der Babe zu beweisen, wie unrecht sie tue, in diesem Tone fortzufahren; dennoch kam über ihre Lippen nicht das kleinste Wörtlein einer Klage. Sie fühlte wohl, die alte Frau war noch nicht zu Ende, das Bitterste und Schneidigste mußte erst ausgesprochen werden. Woher sollte sie den Mut nehmen, auch diesem zu begegnen? Die Babe ließ nicht lange darauf warten.

»Ich hab' gehört,« fuhr sie fort, »das Kind, was du bei dir aufgenommen hast, hat einen Namen ... Möchtest du mir nicht sagen, wie das Jüngel heißt?«

»Christian heißt er,« sagte Sara unsicher.

»Und du willst das Kind ansehen wie eine Mutter?«

»Ja, Babe!« sagte Sara tonlos.

Da stand Breindel auf. Ihr blasses, schmales Angesicht hatte einen merkwürdigen Ausdruck in diesem Augenblicke; vielleicht hätte selbst ein herzhafter Mann ihm nicht standgehalten. Lang und hager, wie sie war, gestaltete sie sich jetzt noch um eine Kopfeslänge höher. Dabei spielte es um ihre Mundwinkel wie funkelnde Messerklingen.

»Solang' als unsere Familie in der Welt existiert, ist der Name in unsern Stuben nicht gehört worden,« sagte sie ... »Weißt du noch, nach wem dein eigenes Kind, die kleine Lea, heißt? Vielleicht hast du es schon vergessen.«

»Nach wem sie heißt? Nach meiner guten Mutter draußen auf dem guten Orte,« rief Sara leise.

»Und da willst du den heiligen Namen, den schönen Namen, den deine Mutter in Ehren geführt ... und Gott der Allmächtige allein weiß es, was du an ihr verloren hast ... den willst du in deinem Hause, in deiner jüdischen Stube zusammen mit Jan Schufters Kind nennen lassen? Das Kind meiner Tochter kann den Sohn eines Trunkenbolds auf ihrem Schoß sitzen lassen? Und der noch dazu ... so einen Namen hat?«

»Babe,« rief Sara erschüttert, und Tränen entstürzten ihren Augen.

»Was soll ich jetzt noch weiter in deiner Stube tun?« fuhr die alte, unerbittliche Frau fort. »Du wirst doch nicht begehren, daß ich dir auch Jan Schusters Jüngel benschen soll?«

Damit wandte sie sich zum Fortgehen. Sara schluchzte vor sich hin; das schien doch einige Wirkung auf das Gemüt der alten Frau hervorzubringen. Wie alle stolzen Seelen, denen es nur um die Behauptung eines gewissen Rechtes zu tun ist, liebte sie den Anblick der Demütigung und Einschüchterung. In der halboffenen Türe wandte sie sich um und sagte zu Sara, die ihr unwillkürlich nachgeschritten war:

»Sara, mein Leben! Du siehst da die sechsreihige Granatenschnur an meinem Hals. Sie ist zwar für eine andere bestimmt, wenn man mich auch einmal da hinaustragen wird, aber sie soll dein sein, morgen, übermorgen, zu welcher Stunde du willst – nur darf der Name von dem Kind Jan Schusters in deiner Stube nicht mehr genannt werden. Hast du mich verstanden?«

Als die Babe sich entfernt hatte, befand sich die Frau des Gemeindedieners in der schmerzlichsten Verwirrung. Die alte Breindel in ihrem unnahbar stolzen und unabhängigen Wesen hatte ihr bisher als eine Persönlichkeit gegolten, deren Aussprüche unbedingte Verehrung fanden. Die Babe mußte recht haben, wie wäre sie sonst – die Babe gewesen? Und doch! ein seltsamer Zwiespalt ließ sich in ihrer Seele nicht mehr zum Schweigen bringen. Was ihr in jener verhängnisvollen Stunde, da sie kaum das nackte Leben aus den Fluten gerettet, wie eine Eingebung von oben in den Sinn gekommen, worauf ihr Mann einen heiligen Eidschwur geleistet, das sollte sie nicht halten dürfen? Warum war ihr eigenes Kind aus der grauenhaften Gefahr hervorgegangen? War das nicht ein deutlicher Fingerzeig, ein Lichtstrahl in der Finsternis?

Wie wohl hätte es dem armen Weibe getan, wenn in diesem Augenblicke irgend eine ratende Stimme ihr zur Seele ertönt wäre! Es war ihr, seitdem die Großmutter fort war, als hätte die Welt in der kurzen Spanne Zeit ein anderes Aussehen erlangt. Was früher licht war, das stellte sich ihr jetzt verdüstert und trübe dar; was sie in ihrer Herzenseinfalt als so leicht erreichbar sich gedacht, das war jetzt zu einem unübersteiglichen Abgrunde geworden, in dessen Tiefen der Groll der alten Großmutter tobte. Und nicht das allein war es. Ein Mal über das andere Mal übergoß sie zugleich Flammenröte und tiefes Erblassen. Wie wenn ihr Mann des zugesagten und zubeschwornen Wortes vergaß? ...

Draußen im Hofe unter dem weitastigen Nußbaume spielten die zwei Kinder: Sara konnte jeder ihrer Bewegungen mit dem wachenden Auge einer Mutter folgen. Wie sie so vertraut nebeneinander saßen; wie schön sich das blondlockige Köpfchen des fremden Kindes neben dem schwarzhaarigen ihrer Lea ausnahm! Das Herz ging ihr vor inniger Wallung über; sie mußte die Kinder in unmittelbarer Nähe haben. Sie rief den Namen ihres Töchterchens, dann wollte sie den des fremden Kindes rufen. Aber der Laut erstickte in ihrem Munde; die Kehle war ihr wie zugeschnürt.

Hatte die Babe Breindel nicht gesagt, der Name dürfe in einer jüdischen Stube nicht ertönen?

Der ganze Jammer einer Seele, die in ihrer Reinheit an der wundesten Stelle gefaßt wird, kam über sie. So viel war ihr klar, sie mußte rasch und ohne Zaudern des angenommenen Kindes sich entledigen, wenn die Großmutter ihren Gehorsam, den sie zu fordern berechtigt war, loben sollte. Dachte sie dabei an die blitzende, sechsreihige Granatenschnur? Auch nicht der leiseste Gedanke stahl sich zu dem funkelnden Geschmeide hinüber. Fast stand die Absicht, dem Willen der Babe Folge zu leisten, in ihr fest – aber schon der nächste Augenblick stimmte nicht mehr zu dem früheren. Es kamen ihr Zweifel in den Sinn. Die Großmutter hatte ihr Beginnen unbedingt verdammt, konnte es nicht Stimmen in der Gemeinde geben, die es ebenso unbedingt billigten? Sara dachte nach, bei wem sie sich Rates erholen könnte; denn ein Rat mußte ihr werden. Schon war sie so weit gekommen, daß sie die Sprache ihres eigenen Herzens nicht verstand; sie war sich selber fremd geworden. Seltsam! Sie konnte sich wahrscheinlich selbst nicht Rechenschaft geben, warum ihre Gedanken immer und immer aufs neue auf den kleinen Mann zurückkamen, der in der Gasse allgemein »Klein-Mendelsohn« hieß.

Eigentlich nannte er sich aber Kalmann Würzburg und war ein vertrocknetes dürres Männchen, dem die Natur, wie dem berühmten Berliner Philosophen, an der Rückseite eine etwas zu weitgehende Wölbung verliehen hatte. Das war jedoch nur der äußerliche Grund, der Kalmann Würzburg zu seinem zweiten Namen: Klein-Mendelsohn verholfen hatte.

Dieser Kalmann stand nämlich im Geruche sogenannter »aufgeklärter Ideen«, die zu jener Zeit noch keineswegs allerorts in den Gassen als Saatkorn der Zukunft aufgegangen. Man rühmte ihm eine ungeheure Gelehrsamkeit nach; er sollte seinerzeit der »feinste« Schüler der Prager Talmudschule gewesen sein, von dessen Fragen und Antworten damals, also nach fast dreißig Jahren, in Böhmen und Mähren von Mund zu Mund sich fortpflanzende Traditionen berichteten. Er hatte ein eigenes großes Haus in der Gasse und war nie verheiratet gewesen. Die Leute kamen ihm übrigens nicht gerne in den Weg, wiewohl er mannigfach Gutes tat. Viele »Dorfgeher« lebten gleichsam nur durch ihn; sobald der Sonntag angebrochen war, kamen sie zu ihm, um einige Gulden abzuholen, mit denen sie dann ihre beschwerliche Wochenfahrt antraten; am Freitag brachten sie ihm wieder das Darlehen, ohne daß er ihnen jemals an Interessen irgend etwas anrechnete. Bei diesem Aus- und Rückzahlen war es zumeist, daß er Äußerungen tat, die ihm besonders den Zunamen Klein-Mendelsohn zuzogen. Wenn er das Geld aus dem Kasten nahm, ließ er es nie an sarkastischen Bemerkungen über den »Stand« der »Dorfgeher« fehlen, denen er, wie er sagte, das Geld nur mit Widerstreben vorstreckte. Jeden Sonntag und Freitag konnten sie es hören, wie er über ihre »Hasenhäutchen und Kattuntüchel« mit einer Art Verbissenheit loszog, und nebstbei vom Segen der »freien Arbeit auf dem Acker« sprach, wovon die meisten übrigens sehr wenig verstanden. Wenn er manchmal recht grimmig wurde, konnte er auch mit der Äußerung nicht zurückhalten, ein einziger Bauer sei ihm lieber als alle Dorfgeher in Böhmen und Mähren. Diese und ähnliche Reden, sowie die vielen deutschen Bücher, die man bei ihm sah, hatten um Klein-Mendelsohn einen eigentümlichen Zauberkreis gezogen, dem sich nur derjenige nahte, der seiner Hilfe unumgänglich bedurfte. Ob Kalmann Würzburg rechtgläubig nach dem landläufigen Ausdrucke dieses Begriffes war? Niemand hatte etwas Übles von ihm gesehen – aber keiner hätte auch den kleinsten Finger aufgehoben, wäre er genötigt gewesen – es zu beschwören!

Zu diesem Kalmann Würzburg drängte es die Frau des Gemeindedieners. Gefragt, warum es sie gerade zu diesem Manne zog, hätte Sara wahrscheinlich nicht antworten können. Sie ging zu ihm, weil sie noch eine andere Stimme als die ihrer Großmutter vernehmen wollte. »Kommst um Geld?« schnarrte Klein-Mendelsohn, indem er sein riesiges Haupt, das ein Sammetkäppchen bedeckte, aus dem vor ihm aufgeschlagenen Folianten verdrießlich hervorhob.

»Um Geld?« Sara erschrak bis ins Innerste ihrer Seele. Sollte Kalmann Würzburg von der sechsreihigen Granatenschnur ihrer Großmutter etwas wissen?

Die Blässe, die ihr Antlitz bedeckte, bestärkte Klein-Mendelsohn noch mehr in der Voraussetzung, daß Sara um ein Darlehen gekommen war.

»Hat dein Mann sich auf Hasen verlegt?« schnarrte er nochmals, indem er die Tischlade aufzog, in deren Innerem Silber- und Kupfergeld zu sehen war. »Wieviel soll's sein?«

Mit einer Herzhaftigkeit, die niemand diesem armen Weibe zugetraut hätte, fiel Sara, während er in die Hand bereits einige Silberstücke genommen hatte, ihm in den Arm.

»Ich komm' nicht um Geld, Herr Kalmann,« sagte sie, mühsam nach Atem haschend, »ich komm' um etwas anderes.«

»Dein Mann verlegt sich also nicht auf Hasen? Ist's vielleicht ein kupferner Kessel?« fragte Klein-Mendelsohn spöttisch.

Da begann es vor Saras Augen zu flimmern; was an zurückgedämmtem Wehe in ihr lag, suchte nach einem gewaltsamen Durchbruch.

»Herr Kalmann!« rief sie unter hervorstürzenden Tränen; »ich komme um einen Rat zu Ihnen, und Sie beleidigen mich dafür!«

Klein-Mendelsohn wurde ernst.

»Steht es so mit dir?« sagte er, indem er die Tischlade wieder zurückschob. »Womit kann ich dir sonst helfen? Aber erst setze dich.«

Es dauerte eine geraume Weile, ehe Kalmann Würzburg aus der von oftmaligem Schluchzen unterbrochenen Erzählung Saras das Verständnis des seltsamen Falles erhielt, dessen Beurteilung ihm oblag. Als sie geendigt und ihn nun mit ihren feuchten Augen anblickte, die mehr fragten, als ihr Mund noch hätte sprechen können, da wurde Klein-Mendelsohn in seinem Lehnstuhle unruhig; er rückte hin und her und schob das Sammetkäppchen auf seinem Kopfe bald nach vorn, bald nach rückwärts. Fiel ihm die Antwort so schwer? Dann sah er wieder starren Blickes in den aufgeschlagenen Folianten, aber seine Gedanken waren nicht bei den krausen Buchstaben; sein sonst verdrießlich saures Antlitz hatte in diesem Augenblicke eine merkwürdige Wandlung erfahren.

»Die Babe hat dir also gesagt,« meinte er, »daß man ein solches Kind nicht bei sich behalten, ja daß man nicht einmal seinen Namen aussprechen darf?«

Sara vermochte nur mit dem Kopfe zu nicken.

»Und willst du der Babe folgen?«

»Muß ich?« fragte Sara ihrerseits.

Ein sonniges Lächeln überflog das Antlitz Klein-Mendelsohns. Im stillen bewunderte er die Feinheit dieser einfachen Frau, die mit ihrer Frage der Achtung für die Ahne nicht nahe trat, und doch zugleich ein Aussprechen ihrer Ratlosigkeit enthüllte.

»Ich frag' dich aber etwas anderes,« begann er nach einer Weile. »Wenn heute oder morgen der Bürgermeister mit dem Geistlichen kommt, und die sagen: Gib uns das Kind heraus, es ist unser! Gib es heraus! Wirst du dich da nicht trennen müssen von ihm? Denn du kennst »sie« noch nicht, wie sie sind. Deine Babe Breindel kommt noch mehr unter ihnen als unter uns vor. Wäre es also nicht besser, du tust früher, was sie vielleicht später von dir mit Gewalt fordern werden?«

Kalmann Würzburg schwieg; er wollte dem Gedankengange Saras freie Entwickelung gewähren. Sie aber rief mit einem Ausdrucke, der Klein-Mendelsohns Wesen wunderbar ergriff:

»Aber bis dahin werde ich doch das Kind behalten dürfen? Mein eigenes Kind spielt mit ihm, und ich gebe ihm zu essen. Darf das nicht geschehen? Und weil Jan Schusters Kind verlassen auf der Welt dasteht, und keiner hat sich gemeldet, der ihm einen Löffel Wasser reicht, und weil ich einen Schwur getan habe, und mein Mann auch, vor der heiligen Thora, daß ich seine Mutter sein will dafür, daß mir der allmächtige Gott mein eigenes Kind wiedergegeben hat –«

»Red nicht weiter!« unterbrach sie Kalmann Würzburg, indem er in seinem Lehnstuhle unruhig sich bewegte, »ich verstehe dich so, als wärest du ein Gefäß hellen Wassers, in welches man bis auf den Grund sehen kann.«

Dann warf er, wie von Grimm erfaßt, sein Käppchen zu Boden und sprang auf. Er schien vergessen zu haben, daß eine Frau aus der Gasse in seiner Nähe war, und er barhäuptig vor ihr stand.

Der kleine bucklige Mann ging mit langen Schritten in der Stube auf und nieder; selten mochte sich sein Wesen in so ungeheurer Wallung befunden haben. Er hielt ein Selbstgespräch mit sich, das nur halbverstanden zum Ohre Saras gelangte. Dabei durchsäbelte er die Luft mit den zwei außer allem Verhältnisse dünnen Armen, so daß Sara ernstlich fürchtete, Klein-Mendelsohn sei etwas »zugestoßen«.

»Immer die Babes! überall die Babes!« schrie er vor sich hin. »Wenn einer nur um eine Linie über die Schnur hinausgehen will, gleich ist die Babe da!«

Er klappte dabei den aufgeschlagenen Folianten mit einer Heftigkeit zu, als hätte er ihm ein für allemal das Lebenslicht ausblasen wollen.

»Auf meine Babe lasse ich nichts kommen,« erlaubte sich Sara leichten Tones zu bemerken. »Die meint es gut mit mir.«

»Und wie soll ich das verstehen, daß du dann doch zu mir kommst?« rief Klein-Mendelsohn mit Zorn, die großen grauen Augen auf Sara richtend.

»Ich weiß es selbst nicht mehr,« stammelte Sara, »mir scheint, es war wegen dem Kind.«

Da wurde Klein-Mendelsohn wieder sanft und ruhig. Er mäßigte seine Schritte und blieb endlich vor einem offenen Bücherkasten stehen. Mechanisch griff er nach einem kleinen Buche, das zu oberst stand; er mußte sich auf die Fußzehen stellen, um es in die Hand zu bekommen. Er schlug es auf und blickte hinein; ängstlich bewachte Sara jede seiner Bewegungen. Plötzlich erhellte ein Strahl von Freude sein Antlitz; das Buch zitterte in seiner Hand.

»Du willst einen Rat von mir,« sagte er hastig, »und wenn ich monatelang darüber hatte nachdenken wollen, es wäre mir kein besserer eingefallen, als wie er da in dem Buche steht.«

Die Frau des Gemeindedieners sah ihn nach diesen Worten mit verwunderten Augen an.

»Ist das Buch – in heiliger Sprache?« fragte sie zagend.

»Du kannst dich darauf verlassen,« sagte Klein-Mendelsohn lächelnd, »es sind die ›Sprüche Salomos‹, die ich in der Hand halte.«

»Und wie kommen die zu mir?« fragte sie wieder.

»Das will ich dir erklären. Wie du wissen wirst, war König Salomo ein sehr weiser Mann, von dem man noch jetzt viel lernen kann. Das Buch, was ich da habe, enthält ganz merkwürdige Dinge, und wenn du willst, gibt es auf jede Frage eine Antwort. Es steht auch eine für dich drin.«

Saras Seele spiegelte sich in diesem Augenblicke in der feinen Röte, mit der sich ihr Antlitz bedeckt hatte. Es war eine Empfindung über sie gekommen, als stünde sie mitten im Gebete – und das Gebet stand in dem Buche, das Kalmann Würzburg in der Hand hielt.

»Hör an, was da gleich zu oberst steht,« begann er wieder. »Höre aber gut zu, damit du dir den Spruch merkst.«

»Ich höre,« flüsterte sie leise.

»Sei nicht allzu gerecht,« – las Kalmann vor, »und grüble nicht zu viel, du könntest sonst verderben.« Hast du das verstanden?«

Eine geraume Zeit hindurch vermochte Sara, in ihrer tiefsten Bewegung keines Lautes fähig, auch nicht einmal ein Zeichen ihres Verständnisses von sich zu geben. Ihre weitgeöffneten Augen strahlten ein Licht aus, wie es Klein-Mendelsohn in seinem freudlosen Dasein niemals auf einem Menschenantlitz erblickt hatte.

»Hast du mich verstanden?« fragte er nochmals.

»Sei nicht allzu gerecht,« kam es langsam und fast feierlichen Tones über ihre Lippen. »Nicht wahr, das geht meine Babe an? ›Und grüble nicht zu viel!‹ das ist für mich besonders geschrieben? Und das letzte geht Jan Schusters Kind, das arme verlassene Waisenkind an! Wer denn sollte verderben und verkommen, als Christian, Jan Schusters Kind?«

»Du hast mehr im Kopf, Sara, als ich und Tausende meinesgleichen.«

Sarah lächelte wie traumverloren.

»Und grüble nicht zuviel,« sagte sie halblaut vor sich hin.

»Ist dir jetzt wohl, Sara Ungar?« meinte Klein-Mendelsohn.

»So wohl wie noch nie in meinem Leben,« sagte sie mit leuchtenden Blicken. »Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe!«

Mehr als eine halbe Stunde nachher saß Kalmann Würzburg vor dem Folianten, den er wieder aufgeschlagen hatte, ohne dem Inhalte desselben die geringste Aufmerksamkeit zu widmen. Seine grauen Augen starrten ins Weite. War ihm selbst in der stattgefundenen Unterredung ein Geheimnis gelöst worden, von dessen Dasein er erst wußte, seitdem dieses arme Weib aus seiner Stube fort war?


Mitten aus aller Beklommenheit ihres Herzens hatte nun die Frau des Gemeindedieners den freien Ausblick in die Zukunft gewonnen, die Besprechung mit Klein-Mendelsohn hatte sie merkwürdig gestärkt. Es war ihr immerfort, als tanzte lustiger Sonnenschein hinter ihr her, oder vielmehr, es war der gute Rat aus dem Prediger Salomons 1. 18, der in ihrem Herzen saß und in ihrem Gemüte nachtönte.

Klein Mendelsohn hatte übrigens nicht umsonst das Wort von »ihnen« fallen lassen, die ihr natürliches Recht auf das Waisenkind eines Tages geltend machen könnten. Auch in diesem Punkte mußte Sara zur Klarheit gelangen. Sie zog am nächsten Tage ihre schöne Sabbathaube an, kleidete den kleinen Christian in ein sauberes Gewand, und begab sich mit ihm auf den Weg zum Bürgermeister.

Der Bürgermeister, seines Standes ein ehrsamer Töpfermeister, riß die Augen verwundert auf, als ihm Sara unter vielem Stammeln und Stottern die Frage vorlegte, ob sie das Kind werde behalten dürfen.

»Warum solltest du's nicht behalten dürfen,« meinte er. »Was sollen wir mit dem Kinde anfangen? Die Kriegssteuern haben alles aufgegessen, was in unserer Kasse war, und nun tanzen die Mäuse und Ratten auf dem leeren Boden herum. Man nimmt uns unser Geld, und unsere Kinder macht man zu Soldaten, woher sollen wir also für die Waisenkinder etwas nehmen?«

Es lag in diesem Beweisgrunde eine Roheit, die der armen Frau innerlichst wehe tat. Sie beherrschte sich aber und bemerkte nur schüchtern:

»Wird aber keiner etwas dazu sagen?«

»Wer soll etwas dazu sagen?« spottete der Bürgermeister unter Lachen.

»Ich meine – der Herr Dechant!« flüsterte Sara fast unhörbar.

»Der?« lachte der Bürgermeister, »der laßt dich in Ruhe, und vor dem brauchst du dich nicht zu fürchten. Er muß ja froh sein, wenn das Kind des ertrunkenen Schusters nicht vor seiner Türe zu betteln braucht. Auch der hochwürdige Herr hat nichts übriges.«

Wundersame Wandlung der Zeiten! Noch hatte die »streitende« Kirche nicht überall ihre Wachtposten aufgestellt und ihre Lugwarten aufgerichtet, von denen aus mit fast fieberhaft geschärftem Auge darauf geachtet werden muß, damit niemand aus »Reih' und Glied« trete; noch waren am hellichten Tage die dunkeln Spukgestalten nicht erschienen, vor deren Anblick der Friede und die Verträglichkeit wie aufgeschreckte Tauben davonfliehen! Die Kanzeln und die »Bierhallen« waren noch unberührt geblieben von der Beredsamkeit jener, die mit finsteren Stirnen und Unheil verkündenden Fäusten das freie Staatsleben als »Aufkläricht« und den Frieden unter den Menschen als die »Niedertracht« eines betrunkenen Jahrhunderts bezeichnen!

Sara durfte das Kind also behalten. Der Staat in der Person des Herrn Bürgermeisters gestattete es ihr, und auch die »Kirche« hatte nichts dagegen einzuwenden.

Auf dem Heimwege hatte Sara allerlei Gedanken.

»Es ist doch merkwürdig,« lautete einer davon, »daß ›ihnen‹ nicht mehr um das Kind zu tun ist. Sie stoßen es aus sich hinaus und wissen nicht einmal, was ich mit ihm anfangen werde. Vielleicht wird das Kind ein Dieb oder überhaupt ein schlechter Mensch bei mir? Habe ich ihnen denn die Hand darauf gegeben, wie ich es mit ihm halten werde? Und wenn, Gott behüte! einem jüdischen Kinde zustoßen möchte, was Jan Schusters Kinde zugestoßen ist, möchte man bei uns sein eigen Fleisch und Blut so leicht verlieren? Kann denn der Knabe bei mir nicht wirklich verlorengehen?«

Dieser Gedanke machte Saras Seele in den geheimsten Tiefen erbeben. Verloren! Nicht in dem Sinne, daß das Kind in einem Walde voll hoher Bäume nicht mehr die Fußtapfen findet, die es zu dem heimatlichen Hause zurückführen, sondern verloren in dem Sinne, daß es verdorben und zerstört auf Abwegen irrt, losgelöst von jeder Zucht, an Gemüt und Sitte verdorben und erstorben! Wie, wenn dies das Ende ihres Bemühens und Wohltuns wäre? Wenn sie frevelhaft daran gehandelt, in die Geschicke eines Menschenlebens einzugreifen, es an sich heranzuziehen, und dann zusehen zu müssen, wie es sich unter ihren Händen zu einer verfehlten und verkommenen Schöpfung gestaltete?

Und wieder legte sich die Weisheit des Salomonischen Spruches, der, seitdem sie ihn vernommen hatte, tröstend und aufrichtend vor ihr einherschritt, auf ihre Lippen. »Grüble nicht und sei nicht allzu gerecht, du könntest sonst leicht verderben.«

Mit froher Zuversicht lebte das Bewußtsein von der übernommenen Verantwortlichkeit in ihr auf.

»Ich werde das Kind gerne haben wie mein eigenes,« so klärte sich in ihr allmählich alles Bangen und Fürchten, »und kann eine Mutter für ihr Kind mehr tun, als es gerne haben? Ich meine, ein solches Kind, das muß gedeihen. Es soll mir einer sagen, ob etwas wachsen und in die Höhe kommen kann, wenn man die Sonne von ihm fernhält?«

Man sieht, Sara hatte einen Erziehungsplan fertig, den sie nicht in ihrem Kopfe, sondern in ihrem Gemüte ausgearbeitet hatte. Sie war mit sich eins über einen Punkt, an dem bis jetzt die vornehm aufgeblähte Buchweisheit noch immer zuschanden geworden ist.

Wir haben bisher von den Kindern nur wenig gesprochen.

Wer aber vermöchte sich der Gabe zu rühmen, in dem Zauberwalde jener eigentümlichen Welt, die das Beisammensein zweier Kinder bildet, Weg und Straße zu finden? Anscheinend führen lichte Bahnen hindurch, Sonnenlicht glänzt auf jedem Blatte, und man glaubt deutlich das Wachstum der jungen Bäumchen erlauschen zu können. Weil man den Wald nicht rauschen hört, gerät man auf den Fehlschluß, es sei alles still in diesen Räumen, und doch läßt sich fast mit Bestimmtheit annehmen, daß das lautlose Gedeihen der Menschenpflanze von denselben, wenn nicht heftigeren Stürmen heimgesucht wird, als der fertige Baum, über dessen Wipfel die wilden Elemente der Natur unbeschränkte Macht ausüben.

Es war merkwürdig, wie schwer, fast mit Widerwillen das fremde Kind sich in die Liebe fand, mit der die ungewohnte Heimat es umgab. Trotzdem seine Geburtsstätte nur durch einen schmalen Gang von der durch die Fluten zerstörten Behausung Wolf Ungars getrennt war, schien sich Christian bei seinen Pflegeeltern ungemein fremd zu fühlen; er war verschlossen und heimtückisch, und besonders gegen Sara bewies er sich von einer hartnäckigen Gemütsart, die lange Zeit hindurch selbst ihrem milden Wesen nicht weichen wollte. Meist hielt er sich schmollend und grollend in einer Ecke der Stube auf, und dort war es, wo die kleine Lea, seine alte Gespielin, ihn aufsuchen mußte, wenn sie für ihre Puppe einer männlichen Beihilfe bedurfte. – Was ging in dem Kinde vor? War es bangende Sehnsucht nach dem in den Fluten untergegangenen Vater? Die fremde Luft, die es atmete? die eigentümlichen Laute eines Idioms, welche es jetzt unausgesetzt vernehmen mußte?

Wem dieses Benehmen des Kindes am tiefsten zu Herzen ging, war seltsamerweise nicht Sara, sondern ihr Mann. Wolf Ungar liebte seine Frau, wie man das Weib seiner innersten Neigung liebt; er hatte auf die »Thora« geschworen, daß er mit keiner Bewegung in die Verpflichtung eingreifen wolle, die sie in jener düsteren Nacht vor der heiligen Bundeslade sich aufgebürdet hatte. Was hatte sie nun davon? Von dem bösen Gerede abgesehen, das diesen Schritt Saras für einen unüberlegten, ja in der »Gasse« unerhörten bezeichnete, war ihm das Kind eine Last, das ihm überall im Wege stand, auf das er eifersüchtig werden konnte, wenn er sah, welch vergebliche Mühe Sara, sein Weib, sich gab, um das verstockte Gemüt des fremden Knaben für sich zu gewinnen.

Er kam einmal dazu, als Christian mit geballter Faust nach Sara ausschlug. Da konnte er sich nicht enthalten, ingrimmig aufzuschreien und seinen mühsam zurückgehaltenen Empfindungen Luft zu machen.

»Das hat man davon,« rief er, ein über das andere Mal auf den Tisch schlagend, »wenn man sich ›ihrer‹ annimmt. Das Blut kann sich nicht verleugnen, und was Jan Schusters Kind ist, das kann nicht werden, was meine kleine Lea wird. Das hat Gott so eingerichtet, und Ungleiches soll sich mit Ungleichem nicht mischen. Du wirst es schon erleben, Sara, das Kind, das jetzt nach dir ausschlägt, wird einmal, wenn es größer geworden ...«

»Versündige dich nicht, Wolf!« rief ihrerseits Sara, die großen, erschrockenen Augen auf ihren Mann richtend, »und denk lieber an deinen Schwur.«

Dann gegen das Kind gewendet, rief sie in jenem Tone, mit dem man Kindern oft die unverständlichsten Fragen vorlegt, um ebenso unverständliche Antworten zurück zu erhalten:

»Ist das auch wahr ... Christian?«

Da zuckte über das Antlitz des Knaben ein namenloser Schmerz hin; seine trotzig verschlossene Miene hatte sich verloren, seine Brust hob sich krampfhaft, und ehe es sich Sara versah, erfüllte lautes, von heftigem Schluchzen unterbrochenes Weinen die kleine Stube.

»Was ist dir, Christian?« rief Sara.

Und das Kind lief auf sie zu, umschlang ihren Leib mit seinen Armen und legte laut schluchzend sein Köpfchen in ihren Schoß.

Sie beugte sich liebreich über ihn, streichelte sein blondes Haar, nannte ihn zu verschiedenen Malen bei seinem Namen, und versuchte in ihrer liebreichen Weise ihn zur Ruhe zu bringen. Aber es währte eine lange Weile, bis es ihr gelang. Das Kind schlief endlich, von Weinen erschöpft, in ihren Armen ein.

Was bedeutete dieser Schmerzensschrei des Knaben? Wolf Ungar, in dessen Gemüte sich, wie gesagt, eine gewisse Säure über den unüberlegten Schritt seiner Frau gebildet hatte, sah darin einen neuen Beleg für seine Behauptung. Das Kind fühlte, es paßte in diese »ungleiche« Umgebung nicht hinein, es war von anderer Art und wollte gewaltsam wie ein eingesperrter Vogel aus seinem Käfige. Nicht so dachte Sara! Mit der den Frauen, namentlich solchen, die bereits Mütter geworden, eigentümlichen Ahnungskraft erriet sie mehr, als sie es klar wußte, daß mit dem Kinde etwas tief Bedeutsames vorgegangen sein mußte. Die Wandlung war so rasch und unvermutet eingetreten, und zwischen der früheren Verstocktheit Christians und seinem lauten, schmerzlich gezogenen, kaum zu stillenden Weinen lag ein solcher Abstand, daß Sara mit richtigem Gefühle nur dem äußern Anstoße nachzudenken hatte, der das alles bewirkt.

Hatte das Kind die rauhen Worte ihres Mannes verstanden? Das ließ sich schwer annehmen. Und selbst wenn es sie verstanden, warum lief es dann weinend auf sie, und verbarg schluchzend seinen Schmerz in ihrem Schoße?

In der Nacht stand Sara auf; sie zündete Licht an und ging damit zu Christians Lagerstätte. Zu ihrer Verwunderung fand sie das Kind wach, es blickte sie mit seinen großen tiefblauen Augen an.

»Warum schläfst du nicht, Christian?« fragte sie und legte ihre Hand auf seine Stirne, um zu erproben, ob er fiebere.

Und wieder vermochte das Kind vor Schluchzen und Weinen nicht zu antworten, und wieder konnte es nicht eher zur Ruhe gelangen, als bis es sich müde geweint und von Saras linden Worten in den Schlaf geredet worden war.

Etwas wie eine Lösung des Rätsels, das ihr diese kindliche Seele aufgab, schwebte vor Saras Gedanken; war es aber die richtige? Täuschte sie sich nicht? Es wollte sie bedünken, daß sie auf der rechten Fährte sich befand. Seltsam! wenn sie des Kindes und der befremdenden Wandlung gedachte, die mit ihm vorgegangen, nannte sie es stets in und mit sich selbst im Gespräche bei seinem Namen – und plötzlich stand die langgesuchte Wahrheit wie ein flammendes Licht vor ihrer Seele.

Der Name war es gewesen! Seit die Babe Breindel in so gebieterischer Weise bewiesen hatte, daß der Name des Kindes in Wolf Ungars Stube nicht mehr genannt werden dürfe, war er auf Saras Lippen wie eingesargt gewesen. Trotzdem sie den Knaben behielt, über den Willen der alten Frau sich hinwegsetzend, war doch gerade dieses Gebot in ihr zurückgeblieben, wie das kleine Samenkorn eines Unkrautes unversehens zwischen der grünen Saat verbleibt und emporschießt. Ein namenloses Kind, mußte sie sich aber sagen, hat keine Heimat! Das einzige Eigentum, das Christian von seinen Eltern übernommen – das hatte sie ihm aus unverzeihlicher Scheu vor den Worten einer alten Frau vorenthalten! Nun wußte sie es wohl, wie sie die vermeintliche Verstocktheit und Verschlossenheit des Knaben sich zu erklären habe: das Kind hatte, als sie ihm endlich in unvermuteter Weise seinen Namen gab, erkannt, daß es bis dahin ein fremder, aus Mitleid geduldeter Gegenstand ihres Hauses gewesen war! Wäre ihr eigenes Kind, die schelmische Lea, in einem ähnlichen Falle nicht einer gleichen Umwandlung und Verschlimmerung anheimgefallen?

So rang sich das einfache Gemüt dieser Frau allmählich aus den Nebeln hervor, die ihr klares Fühlen bis jetzt noch umhüllt hatten; sie gewann schrittweise die Kraft und Fähigkeit, die Eigentümlichkeiten des fremden Kindes zu erfassen und sie in Einklang zu bringen mit den Plänen für die Zukunft desselben – Gedanken und Träume, die in immer deutlicherer und faßbarerer Gestalt an sie herantraten, um nicht mehr von ihr zu weichen!

Es gibt eine Kraft im Menschengemüte, die aus unsichtbaren Quellen ihre Nahrung zieht und oft das Schwerste verrichtet: die Kraft, vor dem Gebilde der Zukunft nicht zu erschrecken. Was wäre die Begeisterung für eine Sache, an die man sein Herzblut setzt, ohne diese geheimnisvoll wirkende Fähigkeit, die Schrecken der Gegenwart über den winkenden Sternen der Zukunft zu übersehen? Ein Irrwischlicht im moorigen Sumpf, ein kurzer Wintertag mit darauf folgender eiskalter Nacht! Nur wenigen ist diese Kraft verliehen, und sie sind nicht die Glücklichen dieser Erde ... Denn sie umhüllt ein Wehe, das so alt ist wie die Menschheit selbst; das Wehe, offene Augen zu haben für das Licht, es mit vollen Zügen einzusaugen, während es den andern eine strahlende Zuchtrute dünkt, der sie mit feiger Erniedrigung und Zerknirschung zu entgehen glauben.

Auch Sara trug einen Teil dieses Wesens in sich; aber sie ging in ihm nicht unter, sondern sie hob immer höher ihren Kopf auf. Sie wußte, daß sie noch nichts erreicht habe; das Ziel lag so fern, immer Schwereres war zu überwinden, und hatte sie das eine zum Schweigen gebracht, so trat ein anderes an die Stelle, das ihre erschöpfte Kraft noch mehr in Anspruch nahm. Sie dachte dabei nicht an äußere Hindernisse; für diese hatte sie längst den Bannspruch in sich gefunden, als da waren: der geheime Widerspruch ihres Mannes und die offene Feindschaft ihrer nächsten Verwandten. Es war weit Schwereres zu überwinden, und es sollte schon in der nächsten Zeit unmittelbar an sie herantreten.

Eines Abends im Winter hatte Sara die Kinder früher zu Bette gebracht, als es sonst ihre Gewohnheit war. Wolf Ungar, ihr Mann, war nicht zu Hause, denn er hatte einen Gang in die umliegenden Dörfer gemacht, der ihn bis zum kommenden Freitag vollauf beschäftigte. Wie sie immer pflegte, sagte sie auch diesmal ihrer Lea das Abendgebet in der heiligen Sprache der Offenbarung vor, während sie Christian schon im tiefsten Schlafe vermutete.

Erst betete sie mit dem Kinde die erhabene Formel des »Höre, o Israel«, die Lea Wort für Wort ihr nachsprach, dann den wundersamen Bannspruch gegen die Schrecknisse der Nacht, der da lautet: »Zu meiner Rechten steht Michael, zu meiner Linken steht Gabriel usw., und über meinem Haupte ist die Herrlichkeit des Allmächtigen,« worauf Lea, noch bevor die Schlußworte verklungen waren, ihre müden Augen schloß.

»Ich möchte auch einmal, daß du mir das vorsagst, was du mit Lea sagst,« hörte sie mit einem Male Christian rufen, der aufgerichtet in seinem Bette saß.

»Warum schläfst du nicht, Christian?« fragte sie strenge.

»Ich hab' darüber nachgedacht, was du immer mit Lea zu reden hast, ich kann es nicht verstehen, und darum möchte ich, daß du auch jeden Abend zu mir kommst und mir vorsagst.«

»Das geht nicht, Christian,« sagte Sara stockend.

»Warum nicht?«

»Weil das, was ich mit Lea rede, dich nichts angeht.«

Offenbar war diese Antwort für Christian nicht ausreichend genug.

»Lea ist ja aber kleiner als ich,« meinte er nach einer Weile. »Warum sprichst du mit ihr so viel und mit mir gar nichts? Versteht sie denn mehr als ich?«

»Das weiß ich nicht, Christian,« rief Sara, sich besinnend. »Aber Lea muß es sagen und du nicht.«

Christian sann eine Weile nach, dann legte er sich wieder auf die Seite und seufzte tief.

»Christian!« rief Sara.

Das Kind hob seinen Kopf in die Höhe.

»Erinnerst du dich gar nicht mehr, was deine Mutter getan hat, wenn sie dich ins Bett gelegt hat? Da muß sie auch etwas gesagt haben mit dir, und wenn du nur willst, wird es dir schon einfallen. Erinnerst du dich gar nicht mehr?«

Sie hatte sich an das Bett des Kindes gesetzt und streichelte dessen blonde Haare.

»Meine Mutter? Du sagst ja, sie ist schon lange tot?«

»Das ist auch wahr, sonst wärst du ja nicht bei mir. Aber weißt du gar nicht mehr, wie sie ausgesehen, und was sie zu dir am Abend gesagt hat, wenn du schlafen gegangen bist?«

»Nein!« lautete die bestimmte Antwort des Kindes.

»Deine Mutter hat also niemals mit dir ... gebetet?« brachte Sara mühsam hervor.

»Meinst du das?« sagte Christian, und ehe es sich Sara versah, hatte das Kind über Kopf und Brust jenes Zeichen gemacht, wie sie es so oft von Bauern und Bäuerinnen sah, wenn sie der Weg durch die Gasse führte, die Mittagsglocke erscholl und sie für eine Weile stillestanden!

Sara war tief erschrocken, all ihr Blut strömte zum Herzen zurück. In ihrer Stube! kurz nachdem sie mit ihrem eigenen Kinde das »S'chma Israel« gebetet hatte! Die Enkelin der Babe Breindel und das Weib des Gemeindedieners Wolf Ungar! Und so heftig war ihre Erschütterung, daß sie in einer Art Betäubung dasaß und keines Wortes fähig war.

Wir können es nicht verhehlen: es war ein Augenblick des tiefsten Wehes über Sara gekommen; nicht allein das Hineinragen fremder religiöser Vorstellungen in die bisher unangetastete Welt ihres angeborenen Glaubens war es, was sie erschreckte, es war auch der Gedanke, der sie mit kaltem Schauer überlief, daß das Kind, dem sie eine mütterliche Stätte in ihrem Hause gönnte, schon ein Jahr daselbst weilte ... ohne noch einmal gebetet zu haben!

Noch lange nachher saß Sara am Bette Christians, der mittlerweile eingeschlafen war, und gab sich jenem eigentümlichen Sinnen hin, das einem stillen unergründlichen See gleicht, in dessen Tiefe ein Stein fällt.

»Was werden sie von dir denken,« tönte eine nicht zu beschwichtigende innere Stimme, »daß du so was in deinem Hause duldest? Hat dich darum deine Mutter geboren, und ist Wolf Ungar darum dein Mann geworden? Schickt sich das für das Enkelkind der frommen Babe Breindel? Ist es denn nicht genug, daß du dem Kinde zu essen und zu trinken und ein Bett gibst, worin es schläft, mußt du ihm noch etwas von deiner »künftigen Welt« geben ...«

Dann sah sie wieder auf den schlummernden Knaben und lauschte seinen Atemzügen.

»Dulden denn sie es?« folgte eine andere Stimme. »Möchten denn sie, wenn meine Lea, was Gott behüten und beschützen möge, an Christians Stelle wäre und Jan Schusters Weib hätte sich ihrer angenommen, wie ich mich des Kindes angenommen habe, möchten sie meinem Kinde erlauben, was ich dem verlassenen Christian erlaubt habe? Ich sehe es ja, wie sie es machen. Wenn eine Prozession vorüberzieht, muß ich mich schnell in ein Haus zurückziehen, damit sie mein Anblick nicht beleidigt, und wenn der Geistliche mit dem Glöckchen zu einem Sterbenden geht und alles kniet nieder, muß ich mich da nicht verbergen, weil ich nicht knien darf und will? Ob sich einer wohl finden wird, der ruhig anhört, wie meine Lea das »S'chma Isroel« hersagt, und an der Wand der Stube hängt der heilige Johann von Nepomuk?«

Es läßt sich wohl sagen, daß diese Frau, während sie so sann und grübelte, die Fittiche jenes Geistes an sich rauschen hörte, von dem wir gewöhnlich annehmen, daß er sich nur auf die Häupter gewaltig begabter Menschen niedersenkt. Wie sie so dasaß, dieses Weib des Gemeindedieners Wolf Ungar, das Gemüt in schmerzlichem Ringen und Widerspruche mit sich selbst, hämmerten in ihren Pulsen die Fragen einer Zeit, die ihre Lösung einem glücklicheren Geschlechte bringen wird: die Erbschaft des innerlich und äußerlich frei gewordenen Menschentums! Oder war dieser lichte Geist an Sara nur hinangetreten, um sie nach einer Stunde ungeahnter Erhebung ebensoschnell wieder zu verlassen?

Es war spät in der Nacht, und die aufgeregte Gedankenflut wogte und kam noch immer nicht zur Ruhe. Aber Saras Gemüt war so geartet, daß es mit bloßen Verneinungen zu keinem Abschlusse gelangen konnte. Sollte sie sich dem Schlummer hingeben, während sie noch nicht wußte – wie sie sich zu Christians Beten verhalten solle?

Endlich sagte sie zu sich selbst, und nur jener höchste Geist selbst, der eine seiner schwersten Heimsuchungen über diese Frau gebracht hatte, mochte das Licht gewahren, das in Saras Seele sich verbreitete, als sie am Ende über das Kind des Schusters Jan in sich gleichsam das letzte Wort sprach:

»Ich hab' das Kind von Gott übernommen, weil er mir das meine erhalten hat. Hat Gott es geduldet, daß ich die Mutter dieses Knaben vorstellen darf, was können denn die Menschen dagegen haben? Und dann! habe ich denn nicht gewußt, was ich mit Jan Schusters Kind übernommen habe? Darf ich mir also mit Gott im siebenten Himmel einen Spaß erlauben und vor mir selbst sagen: ›Verzeih mir, Vater und König, ich habe nicht gewußt, daß Christian anders zu dir betet, als meine kleine Lea?‹ Möcht' da nicht Gott mit Recht auf mich böse werden und einmal zu mir sagen: ›Du willst eine Mutter sein? Wozu bist du denn eine geworden? Wenn du die Sache so verstehst, dann ist es besser, du nimmst das Kind und führst es in den Wald hinaus, und gehst fort und lässest es mutterseelallein! Weil du das aber nicht willst, so mußt du Christian behalten, wie er ist.‹ Ich bin und bleibe seine Mutter!«

Mit diesem Beschlusse schlief Sara ein, mit ihm wachte sie wieder auf. Noch war keine vollständige Klarheit in ihr Gemüt gekommen; nur das eine stand in Umrissen vor ihr, daß sie das fremde Kind nicht so wild in die Welt hineinwachsen lassen dürfe. Erst allmählich gewann der Plan, was sie nun mit Christian anzufangen habe, Gestalt und Form. Das Kind, so dämmerte es in ihr wie der junge Tag, wenn er nach überwundenem Zwielicht über die Berge klimmt, das Kind solle beten lernen, solle der Religion seiner Eltern erhalten bleiben, dabei aber in den Frieden ihres Hauses nicht eingreifen dürfen. Wenn Lea ihr »S'chma Isroel« hersagte, sollte Christian ungestört in seiner Religion beten, und keiner sollte ihm dabei in den Weg treten, und dagegen mußte Christian auch die Gebräuche ihres Hauses achten und mußte sich fügen! Warum sollte sich das alles nicht bewerkstelligen lassen?

Schon am nächsten Morgen begab sich Sara zu der alten Bozena, der Binderswittwe, die einmal ihre Amme gewesen und noch jetzt jeden Freitag und Sabbat zu ihr kam, um die Lichter zu putzen und zur Winterszeit den Ofen zu heizen.

»Bozena,« sagte sie zu ihr, »du mußt mir einen großen Gefallen erweisen.«

»Was du willst, mein liebes Kind,« beteuerte die Binderswitwe.

»Du weißt, ich habe des Schusters Jan Kind bei mir,« sagte Sara mit einigem Stocken, indem sie ihre Blicke in der Stube umherschweifen ließ, »und ... da hängt bei dir ein Heiligenbild. Wenn nun das Kind einmal zu dir kommt und du fragst es: Was stellt das Bild da an meiner Wand vor? so wird es dir keine Antwort geben können. Bei mir kann der Knabe das nicht lernen; ich weiß damit nicht umzugehen, und das Kind weiß es noch weniger. Und wie soll ich das verantworten, daß Christian am Abend und Morgen nicht einmal weiß, wie er sich ... mit seinem Gott verhalten soll?«

»Und was soll ich da tun?« fragte die alte Bozena.

»Lern du mit ihm das Beten,« sagte Sara, der eine letzte flüchtige Blässe wie eine Erinnerung an den schwer überstandenen Kampf der letzten Nacht in das Gesicht stieg, »für alles übrige laß mich sorgen.«

»Den Gefallen kann ich dir tun,« sagte Bozena, »schick das Kind nur zu mir, ich hab' Gebete im Kopfe, daß man von hier aus bis zur Mutter Gottes auf dem Przibramer Berge wallfahrten kann. Eines oder zwei werde ich ihm schon beibringen.«

Sara dankte ihr mit innigeren Worten, als Bozena wohl verstand, und versprach ihr als Entgelt für ihre Mühe eine warme Winterhaube, »und wenn sie dieselbe sich vom Munde absparen müßte«, setzte sie hinzu.

»Nur mach,« sagte sie zuletzt, als sie schon die Türklinke in der Hand hielt, »daß ... Christian über uns nicht lacht. Wir werden auch über ihn nicht lachen.«

Die alte Binderswittwe versprach auch das, wiewohl sie dieses Versprechen offenbar nicht verstand.

Von nun an schickte Sara den Knaben täglich zweimal zu ihrer ehemaligen Amme, und jedesmal mußte ihr das Kind berichten, ob es das, was die alte Bozena mit ihm »lernte«, auch schon im Kopfe behalten habe. Sie ging auch zu dem Schulmeister des Ortes und bat ihn, er möge um Gottes willen das Kind in die Schule aufnehmen; er müsse aber auf die arme Waise sein besonderes Augenmerk richten, und Christian müsse lernen, nicht nur lesen, schreiben und rechnen, sondern auch, wie man sich der »Frommheit« befleißige, und damit kein schlechter Mensch aus ihm werde!

Von diesem Augenblicke an nahm sie sich vor, jeden Monat einen halben Gulden beiseite zu legen. Davon sollte Christians Schulgeld einesteils bestritten werden, die andere Hälfte war für Leas Unterricht bestimmt, denn auch das Kind sollte sobald als möglich in die Schule geschickt werden, damit es einmal recht lerne, wo »Gott wohnt«.

Voll dieser Gedanken und Pläne trat sie dennoch mit einer gewissen Scheu ihrem Manne entgegen, als er am Donnerstag wie gewöhnlich von seiner Dorffahrt zurückkehrte. Ihre Stimmung war gehoben, fast feierlich; sie hatte in dieser einen Woche die schwersten Kämpfe überstanden – wie sollte sie nun das alles erst vor dem Manne rechtfertigen, was jetzt hinter ihr lag und nun, da es geschehen war, ihr wie von Gott selbst geschickt vorkam? Und nicht nur ihr dünkte es so, sie wollte auch, daß Wolf es gut heiße, sich damit einverstanden erkläre, daß er ihr, treu seinem Schwure auf die Thora, in diesen Anordnungen auch hilfreich zur Seite stehe.

An demselben Abend betete sie mit Lea, wie sonst, das Nachtgebet. Als sie geendet und die »Herrlichkeit Gottes« als nächtlichen Wächter an dem Haupte ihres Kindes ließ, begann Christian in seinem Bette mit andächtig gefalteten Händen das Gebet zu sagen, wie es ihn die alte Bozena gelehrt hatte. Sara lauschte in tiefster Erregtheit.

»Was ist das?« rief Wolf Ungar, in die Höhe fahrend.

»Still, Wolf!« winkte ihm Sara zu.

»Ich will wissen, was da vorgeht in meinem Hause!« rief dagegen Wolf mit finsterem Angesicht.

»Siehst du denn nicht ... daß er betet?«

Wolf sprach kein Wort. Gedachte er seines Schwures auf die Thora? Und was alles damit über sein Haus heraufbeschworen ward? Oder sammelten sich die roten Wolken eines Sturmes in ihm, der das verborgenste Gebälke und Mauerwerk seines häuslichen Friedens erschüttern wollte?


Zwei Jahre sind verflossen. Treten wir wieder in das Haus des Gemeindedieners Wolf Ungar und seiner Sara. Was ist aus der Saat geworden, die Sara ausgestreut? Hat sie ein böser Wind mit seinen Fittichen erfaßt und sie auf dürres Felsgestein gebettet, wo sie nur ein verkümmertes und entartetes Gedeihen erwartete? Ist sie in goldenen Halmen in die Höhe gewachsen?

Seht hin! Unter dem weitästigen, mit Früchten beladenen Nußbaume, der dem Synagogenhofe einen so kühlen Schatten verleiht, sitzen zwei reinlich, wenn auch ärmlich gekleidete Kinder; es ist unsere schwarzhaarige Lea mit den klugblickenden Augen und der blondköpfige Christian. Die Sonne glitzert so prächtig durch das grüne Laub des Baumes, und so verlockend fällt manchmal eine reife Frucht herab, die es nicht länger in ihrer dumpfen Hülle duldete, und kollert in ausgelassenen Sprüngen zu den Füßen der beiden Kinder! Aber weder Christian noch Lea haben Zeit, sich um Sonnenschein und fallende Nüsse viel zu bekümmern. Christian lernt mit lauter Stimme aus einem abgerissenen Büchelchen, das sehr ernste Dinge enthält, denn es ist der »kleine Katechismus«, aus welchem ihn morgen in der Schule der strenge Herr Kaplan prüfen wird, und er wird Wort für Wort, ohne daß das kleinste Pünktchen darauf fehlt, Rechenschaft ablegen müssen. Lea dagegen malt mit einem Griffel auf eine Schiefertafel große Buchstaben hin, die eine entfernte Ähnlichkeit mit jener Schrift haben, wie sich deren noch manche Leute in der »Gasse«, die sich an die »teutschen« Buchstaben noch nicht gewöhnen konnten, zum schriftlichen Ausdrucke ihrer Gedanken bedienen.

Der Sonnenschein glitzert schon so lange – und noch immer denkt keines der beiden Kinder daran, den tanzenden Strahlen und dem wunderbar glänzenden Laube nur eine Minute ihres Fleißes zu gönnen. Da fällt eine frisch gelbe Nuß gerade auf Christians Katechismus; er schreckt auf, wirft aber die reife Frucht seiner unweit von ihm sitzenden Gespielin zu.

»Christian!« ruft Lea beleidigt.

Christian brummte etwas vor sich hin, was Lea nicht verstehen kann.

»Ich hab' gerade ein so schönes ›Lamed‹ Die Buchstaben der jüdischen Kurrentschrift führen eigene Benennungen. Es ist im obigen Falle der Buchstabe L gemeint. gemacht,« wehklagte das Mädchen, »und da hast du mir's mit deiner Nuß verdorben.«

Christian entgegnete nichts auf diesen Vorwurf; da springt Lea zornig auf und wirft ihm die Schiefertafel vor die Füße, die darob in zwei Teile zerbricht.

Nun ist das Aufspringen an Christian gekommen.

»Lea, was hast du getan?« ruft er erschrocken.

»Warum hast du mich mit der Nuß geworfen?« sagt sie händeringend unter heftigem Schluchzen.

Da Christian die Tränen seiner Gespielin sieht, wird es ihm ebenfalls um das Herz weich; so stehen sich eine gute Weile die beiden Kinder gegenüber.

Endlich hebt Christian die zerbrochene Schiefertafel vom Boden auf; mit Aufmerksamkeit betrachtet er die Bruchflächen an den zwei Stücken, paßt sie aufeinander, und mit einem Male ruft er lustig:

»Weine nicht, Lea, die Tafel kann wieder ganz gemacht werden!«

Lea schüttelt ungläubig das schwarzhaarige Köpfchen.

»Was zerbrochen ist, ist zerbrochen!« sagt sie mit Bestimmtheit, die Augen voll Wehmut auf die Schiefertafel gerichtet.

»Laß gut sein, Lea,« tröstet Christian, »und weine nicht. Morgen vielleicht kommt der Drahtbinder und der bohrt vier Löcher in die Tafel, und verbindet die zwei Hälften mit Draht; dann ist sie wieder wie neu.«

»Ich weiß gar nicht, wie du so reden kannst, Christian! Wie kann der Drahtbinder etwas ganz machen, was einmal zerbrochen ist? Was zerbrochen ist, das bleibt zerbrochen.«

Gegen diesen tiefsinnigen Ausspruch seiner Gespielin einen schlagenden Beweis aufzuführen, war nicht Christians Sache. Er nahm den Katechismus wieder zur Hand und ließ sich auf seinen früheren Platz nieder. Lea dagegen begnügte sich mit der einen Hälfte der Schiefertafel und malte mit kühner Hand die geschnörkelten Zeichen darauf, während allmählich ihre Tränen trockneten.

Von diesen und ähnlichen Szenen war Sara zu öfteren Malen eine stumme Zeugin gewesen. Sie hütete sich aber jedesmal, selbst mit der kleinsten Bemerkung nicht, hineinzugreifen, denn wie alle fein gearteten Naturen hatte sie eine heilige Scheu, mit plumper Hand die kindlichen Blüten zu betasten. In solchen Augenblicken überströmte ihr Herz von Dankgefühl gegen das Geschick; das fremde Kind fügte sich so demütig ihrer Liebe, machte sich nirgendwo als ein nicht in ihr Haus gehöriges Element geltend, und namentlich was Lea betraf, so bestand zwischen ihr und Christian ein Verhältnis, als sollte es ihnen stets dunkel bleiben, daß sie nicht unter einem Herzen gelegen waren.

Was wollte also Sara noch? Sie sah, wie die Kinder gediehen, und konnte mit den Erfolgen zufrieden sein. Nichts von alledem war eingetroffen, was die Babe und auch noch andere Leute dem Frieden ihres Hauses vorausprophezeit: und doch war sie oft unruhig in ihrem Gemüte und fühlte sich von Empfindungen heimgesucht, die sie nicht zu bemeistern vermochte. Sie war ungenügsam; denn eben weil sie eine großer Erhebung fähige Natur war, genügte es ihr nicht, daß sich allein gleichsam die Fittiche ihrer Seele regten; sie wollte Gefährten im Mitflug haben, und wer stand ihr in dieser Beziehung näher als der Vater Leas, als ihr eigener Mann, Wolf Ungar?

Es ist wahr, Wolf hatte sich an den Knaben allmählich gewöhnt, aber in dieser Angewöhnung lag keine Liebe, nicht einmal der Keim irgend eines zärtlichen Gefühles. Soweit ihn sein Schwur gegen Sara verpflichtete, hielt er ihn auch, aber wo sich die Gelegenheit bot, machte er kein Hehl daraus, wie sehr er ihn drückte.

Er konnte sich nicht überreden, daß alles so hatte kommen müssen, und es gab mehr als eine Stunde, in der er innerlich darob haderte, daß es so gekommen war. Das Kind tat ihm nichts zuleide, war demütig und folgsam gegen ihn, aber das, was Sara als Erkenntlichkeit und überquellende Dankbarkeit Christians bezeichnete, das war ihm unbequem, oder er sah es mit grollenden Augen an. Dagegen war er der strengste Beurteiler, wenn Christian sich jemals eines Fehlers schuldig machte. »Das ist Jan Schusters Natur,« pflegte er dann ingrimmig auszurufen, »und die läßt sich nicht austreiben. Die ist ihm angeboren und wird ihm bis auf seinen Tod bleiben.« Und wenn ihn dann Sara mit sanften Worten darauf aufmerksam machte, daß alle Kinder, und auch Lea, ihre Fehler haben, ließ er es nicht gelten.

»Wie kommen die Fehler zu ihren Fehlern,« bewies er dann mit bitteren Worten, »sie haben ein ganz anderes Blut, und im Blut liegt alles, was der Mensch tut. Warum siehst du bei uns keine Säufer und Schlemmer? Das Blut macht's, und von da kommt es in das Gemüt. Jan Schusters Blut ist kein gutes gewesen.«

Seltsamer Widerspruch in einer Menschennatur! Zu Hause zwischen den vier Wänden seiner Stube konnte Wolf Ungar das alles reden, da konnte er seinem Weibe mit aller Bitterkeit des in ihm wühlenden Grolles vorwerfen, daß sie an dem Kinde zu viel tue; wenn er aber hinauskam, und es fiel das leiseste Wort des Tadels über das Benehmen seiner Sara, da konnte er nicht genug Worte des Lobes und der Bewunderung für sie finden, da strömte sein Herz über, und der Hauptbeweis, den er gern aller Welt ins Gesicht geschleudert hätte, bestand darin, daß niemand sein Weib verstehe, und daß es keine zweite Sara mehr auf der Erde gebe!

Besonders der alten Breindel gegenüber behauptete er diesen Standpunkt. Diese nämlich hatte sich seit ihrem letzten Besuche das fernere Erscheinen Saras an Sabbaten und Festtagen in ihrer »jüdischen Stube« verbeten. Wenn Sara sich wolle »benschen« lassen, hatte sie ihr durch den bösen Mund eines anderen Enkelkindes sagen lassen, so solle sie nur mit Jan Schusters Jüngel in die Kirche gehen. Nur am Abende des Neujahrstages und am Vorabende des Versöhnungsfestes gab sie zu, daß Sara sie in allgemeinen Ausdrücken um »Vergebung« bitten durfte. Dann aber saß sie da, die alte schreckhafte Frau, und man sah es ihr an, daß sie von ihrer Enkelin die Bitte um Verzeihung wohl entgegennahm, aber keine zurückerstattete.

Wolf Ungar kränkte es namentlich, wenn er am Sabbat und an Festtagen ohne Sara zur Babe Breindel gehen mußte, um ihren Segen zu erhalten. Er hatte zuweilen Lea mitgenommen, aber auch das unterließ er, seitdem die Babe ihren Groll gegen Sara auch auf das Kind übertragen hatte. Als nämlich Wolf an einem Sabbate zum »Benschen« gekommen war, sagte Breindel, indem sie ihre Hände auf Leas Kopf legte:

»Warum schickt mir deine Mutter nicht auch ihren Sohn mit?«

Das hatte sie mit so kaltem und einschneidendem Spotte gesagt, und Wolf Ungar, dem es im Herzen kochte, konnte sich nicht enthalten, zornig auszurufen:

»Babe, das geht zu weit! Was hat Euch mein Weib getan, daß Ihr sie in Gegenwart meines Kindes beleidigt! Seht Ihr etwas Schlechtes von ihr? Kocht man in meinem Hause Schweinefleisch? Und wenn alle frommen Weiber von der ganzen Welt zusammenkommen und es ist meine Sara nicht dabei, so sage und behaupte ich: Alles ist Lüge und Verstellung.«

»So!« sagte die Babe, und ihr hageres Antlitz hatte einen wahrhaft drohenden Ausdruck angenommen.

»Ich mein' nur so, Babe!« verbesserte sich Wolf Ungar, der wohl fühlte, daß er der alten Frau eine unauslöschliche Unbill angetan hatte.

»Und ich sage dir, Wolf Ungar!« rief Breindel mit erhobener Stimme, »solange als die Welt ist, und solange als unsere Familie existiert, ist so etwas nicht erhört worden! Aber ich werde es noch erleben, und sollte ich darüber so alt werden wie meine Urbabe Selde, die hundertundzwanzig Jahr alt gestorben ist. Sie hat die Granatenschnur nicht nehmen wollen, wie ich zu ihr gekommen bin und habe sie gebeten, sie möchte die Schande von uns wegtun; aber rot wie die Granaten werden die Tränen sein, die sie einmal weinen wird über ihr Unglück, und es wird zu spät sein, und die alte Babe wird recht behalten haben. Das hörst du von mir, Wolf Ungar, und du kannst es dir aufschreiben wie einen Satz aus den heiligen Propheten. Was gegen die Natur ist, das will Gott nicht, und was Gott nicht will, das ist eine Sünde und die bringt Unglück! Das sagt Breindel, die siebenundsiebzigjährige Frau, und die hat niemals etwas anderes gelernt, als jüdisch sein. Du kannst übrigens deinem Weibe sagen,« setzte sie schließlich wie zur Beschwichtigung des tiefaufgeregten Mannes hinzu, »die Granatenschnur ist, noch immer an meinem Hals, und wenn Sara will, so heiße ich nicht Breindel, wenn ich sie nicht auf der Stelle ausziehe und hänge sie ihr um. Das sage, Wolf Ungar, deinem Weib!«

Wolf Ungar war ein herzhafter Mann, er hatte dies bei Gelegenheiten bewiesen, wo andere eine Beute des Entsetzens wurden. Aber diese dunkle Prophezeiung von den roten Tränen, die wie Granaten glänzen würden, erschütterte ihn wie noch nie etwas. Der Blitz, der fällt, erschreckt nicht so sehr, als der hinter der grauen Wolke erwartet wird. Von nun an, das riefen tausend Stimmen in ihm, stand diese Wolke über seinem Haupte – er wußte aber auch, daß Sara von dem einmal eingeschlagenen Pfade nicht abweichen werde.

Als Wolf Ungar an diesem traurigen Sabbat nach Hause kam, trug er alle Zeichen äußerster Verstörtheit in seinen Gesichtszügen. Beim Essen saß er wortkarg, den Blick in einem fort nach den Augen seiner Frau gerichtet. Dachte er an die düstere Vorhersage Breindels? Zum ersten Male, seitdem Christian unter seinem Dache war, fühlte er es zentnerschwer in seinem Gewissen, daß er Jan Schusters Knaben an seinem Sabbattische verköstigen mußte. Aber so groß war die Scheu vor dem einmal gegebenen Worte in der Brust dieses Mannes, daß er auch nicht mit der leisesten Bewegung die bösen Geister ahnen ließ, die in ihm tobten.

Es war am späten Abend, der Sabbat war zu Ende gegangen. Wolf kam nach beendigtem Abendgebete aus der Synagoge nach Hause und wollte »Hawdala« machen, wie das Gebet heißt, das jeder Hausvater am Schlusse des Ruhetages verrichtet. Er bedarf dazu eines Wachslichtes, denn »bei den Juden war Licht, Freude und Fröhlichkeit«, eines Bechers Wein, denn »Gott ist der Kelch des Heiles«, und eines Gewürzbüchsleins, »weil der Sabbat köstlicher als die würzreichsten Pflanzen duftet«, und über diese Gegenstände spricht er die vorgeschriebenen Segensformeln. Sonst beeilte sich Lea, ihm das Licht und das Gewürzbüchslein zu bringen; weil sie aber aus der Stube gegangen war, öffnete Christian die Tischlade, worin sich diese Dinge befanden, und stellte sie vor Wolf hin.

Erst starrte Wolf den Knaben an, dann versetzte er ihm mit seiner Faust einen so wuchtigen Schlag, daß er taumelnd in die Stube flog.

»Wolf, um Gottes willen, was hast du?« rief Sara, die herbeiflog, um das Kind vor weiteren Angriffen zu schützen.

»Von ihm, von ihm,« schrie Wolf mit höchster Leidenschaft, »soll ich die Hawdala in die Hand nehmen? Das soll in meinem Hause vorgehen!«

Mit schnellem Blicke erkannte Sara die Gemütslage ihres Mannes; sie hatte sich also nicht getäuscht, als sie sein verstörtes Wesen dem Besuche bei der Babe zuschrieb. Sie hieß Christian aus der Stube gehen, sie mußte mit ihrem Manne allein sein.

»Erst mach die Hawdala,« sagte sie so ruhig, als sei nichts vorgegangen, »dann wollen wir miteinander reden.«

Wolf ergriff das Wachslichtlein und schüttete Wein in den bereitstehenden Becher, aber seine Hände zitterten und während er die Segensformeln sprach, schwankte das Glas so sehr, daß der Wein überfloß. Am Schlusse des Gebetes goß er den Becher auf die Tischdecke, und verlöschte in der roten Flut das angezündete Wachslicht.

»Gut Wochen! gut Jahr!« stimmte Sara den üblichen Wunsch an.

Aber Wolf Ungar rief mit mächtigem Ungestüm, sich selbst überschreiend:

»Wünsche mir nichts und wünsche dir nichts! Es kann so nichts Gutes daraus entstehen. Wie soll eine gute Woch' und ein gutes Jahr für mich werden, wenn Jan Schusters Sohn mir das heilige Hawdalalicht reicht? Einer hätte nicht geboren werden sollen, entweder er oder ich!«

Sara sah ihren Mann mit bekümmerten Augen an, aber dieser Blick entwaffnete ihn nicht.

»Weißt du, was ich gerade jetzt zum Sabbatausgange gesagt habe?« rief er wieder. »Euch Weibern muß man ja mit der Schrift in der Hand kommen, sonst glaubt ihr dem Manne nicht. Da sieh her,« schrie er, indem er das Gebetbuch, das auf dem Tische lag, ergriff und mit hastiger Hand darin blätterte, »da sieh her, ich will es dir Wort für Wort übersetzen.«

Und die Worte lauteten:

»Gelobt seist du, Gott unser Gott, Herr der Welt, der da scheidet zwischen Heiligem und Gemeinem, zwischen Licht und Finsternis, zwischen Israel und den Völkern, zwischen dem siebenten Tage und den Werktagen –«

»Hast du das verstanden, Sara?«

»Wort für Wort!«

»Und es brennt nicht wie ein siedender Tropfen Blei auf deiner Seele?«

»Was da geschrieben steht,« sagte Sara fast heiter, »ist heilig. Werde ich mit dir streiten? Du verstehst mehr als ich, und ich bin nur ein unwissend Weib!«

»Und da soll ich Jan Schusters Sohn –« fuhr Wolf ingrimmig auf.

»Ereifere dich nicht, Wolf,« unterbrach ihn Sara, »das Kind hat ja doch nichts Schlechtes getan.«

»Aber ich bin schlecht,« rief Wolf und schlug dabei an seine Brust wie für eine begangene Sünde, »ich bin schlecht, daß ich das zugeben konnte, und das Unglück muß über uns hereinstürzen, denn so läßt Gott mit sich nicht umgehen, daß man seinen heiligen Sabbat verschändet und entweiht.«

Da flammte eine lichte Röte in Saras Antlitz auf.

»Wolf,« sagte sie mit dem vollen Ernste ihres Wesens, »wenn einer es weiß, daß Gott in der ganzen Sache mit Jan Schusters Kinde im Spiele ist, so bin ich es. Von der Stunde an, wo wir den Knaben aus dem Wasser herausgetragen, bis jetzt – bis zu deiner Hawdala, habe ich das gewußt. Und du hast großes Unrecht gehabt, sage ich dir, weil ich weiß, die Sache kommt von Gott, die Hand aufzuheben gegen das arme Waisenkind – und es zu schlagen.«

Ihre Stimme sank zu leisem Weinen herab; sie vermochte nicht weiter zu sprechen.

»Der Knabe hat mich gereizt,« sagte Wolf mit unsicherem Tone, »und es hat mich der Zorn überwältigt, wie ich die Frechheit gesehen habe –«

»Das nennst du ein frech' Wesen,« rief Sara, »wenn Christian dir das Gewürzbüchschen für die Hawdala reicht und will dir dazu das Licht anzünden? Hast du bemerkt, daß das Kind dabei gelacht oder eine Miene gemacht hat, die aussah wie Spott? Hast du überhaupt schon bemerkt, daß das Kind lacht, wenn es etwas sieht an dir und mir, was ihm als Jan Schusters Sohn nicht angeboren ist? Ich will dir sagen, Wolf, mein Mann, woher das kommt. Weil das Kind gewahr wird, wir lachen auch über sein Heiliges nicht! Und ich meine, vieles möchte in der Welt nicht geschehen, und es wäre überall Friede und Fröhlichkeit, wenn alle Menschen sich so verhalten möchten. Was ist mein Stolz und meine Freude an Christian? Daß ich sehe, er ist so geworden, wie ich ihn gewollt habe. Und wenn er einmal hinaus wird in die Welt, und sie werden ihn mit ihrem Hasse und ihrer Spottlust anstecken wollen, da wird er sagen: Ich habe einmal einen gewissen Wolf Ungar und sein Weib Sara gekannt, und die haben mir eingeschärft, nicht zu lachen über sie, wie sie mich auch gelehrt haben, daß sie über mich nicht lachen. Und weil mir Gott dieses Kind wie durch ein Wunder zugeführt hat, so ist bei ihm oben, dem Allmächtigen, kein Unterschied zwischen Gemeinem und Heiligem, und alles ist heilig oder alles ist gemein, je nachdem es die Menschen nehmen.«

Erschöpft von dem vielen Reden sank Sara in einen Sessel zurück. Wolf Ungar aber war wundersam ergriffen; niemals, seitdem er Sara kannte, hatte er ähnliche Worte aus ihrem Munde vernommen. Er fuhr gleichsam willenlos auf dem Strome dieser Rede, die sein Ohr in fast unbezwinglicher Weise festhielt, und fühlte doch andrerseits, daß er einen Ankergrund finden müsse.

»Bist du dessen so gewiß, Sara?« fragte er nach einer Weile bebend vor innerer Erregung, »daß Jan Schusters Kind so wird, wie du dir es vorstellst?«

Sara schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es noch nicht,« sagte sie leise.

»Und doch willst du, daß Jans Kind mir ans Herz gewachsen sein soll?«

»Ich hab' mich einmal zu seiner Mutter gemacht,« meinte Sara, »und da muß ich auch hoffen und warten, daß das Kind gut wird.«

Wolf schwieg; seine Stirn war in Schweiß gebadet. Er suchte vergebens nach einem Ausgange aus diesem Wirrsal widerstreitender Gedanken und Gefühle. Da fielen ihm die am heutigen Vormittage beim »Benschen« gehörten Worte der Babe Breindel ein.

»Es ist gegen die Natur!« rief er, wie von einer schweren Last aufatmend, »es ist gegen die Natur! Gott will nicht, daß das Lamm weidet neben dem Wolf und der Löwe neben der Taube sitzt. Es ist gegen die Natur und gegen das Blut, und es will sich nicht vertragen; es ist, wie wenn du in eine Milch Essig gießest. Und was gegen die Natur ist, davor hat Gott selbst eine Scheu, und es muß Unglück bringen.«

Und da er bemerkte, wie Sara bei diesen Worten von einem Schauer erfaßt ward, ermannte er sich noch mehr und rief mit der vollen Stärke seiner Stimme:

»Ja! Unglück ... und Gott der Lebendige soll uns beschützen und bewahren, daß es nicht zu bald kommt. Nur glaube nicht, daß es sich besinnen wird, wenn es kommen will. Der Blitz fährt nicht so schnell herunter, als so ein Unglück, und wenn du dann weinen wirst, Sara, dann sage ich dir: Es ist zu spät!«

Sara war still nach diesen Worten; dicke Tränen rollten über ihre Wangen herab.

Plötzlich richtete sie sich auf.

»Willst du, daß ich das Kind gleich auf der Stelle vor das Haus setze?« rief sie mit wild rollenden Augen. »Willst du?«

»Sara, um Gottes willen!« schrie Wolf.

»Soll ich das Kind noch heute in der Nacht fortjagen? sag ein Wort, und wenn es draußen stürmt und hagelt, als wollt' die Welt untergehen, ich jage ihn fort,« rief sie außer sich.

»Darf ich meinen Schwur brechen?« sagte Wolf Ungar tief erschüttert.

»Wolf! Das will ich dir all meine Tage nicht vergessen!« rief Sara und sank laut schluchzend in den Sessel zurück.


Wolf Ungar, der Gemeindediener, und Sara waren in der »Gasse« viel zu geringe Persönlichkeiten, als daß man dem, was in den engen Räumen ihres Hauses sich zutrug, mit anhaltender Aufmerksamkeit gefolgt wäre. Den meisten war die Erscheinung Christians innerhalb des Hauswesens ihrer Familie eine Tatsache geworden, über die sie nicht weiter nachdachten. Sie betrachteten den fremden Knaben gleichsam im dienstlichen Verhältnis zu Wolf Ungar stehend, und sie hatten gar nichts dagegen, daß der Gemeindediener sich einen »Vizediener« hielt, der am Freitag Abend die Lichter in der Synagoge anzündete und nach dem Gottesdienst sie wieder auslöschte. Nur die wenigsten ahnten, daß diese einfache, selten beachtete Sara den ganzen Ernst ihres Lebens an eine Aufgabe setzte, die, je weiter sie sich ihrer Entwickelung näherte, eine stets höher gehende Flut von Kämpfen herbeirief; die wenigsten ahnten, mit welcher Wucht dieses fremde, verlassene Kind eines anderen Glaubens an dem Frieden Wolf Ungars und seiner Frau Sara hing!

Um jeden Kämpfer für eine Sache des Gemütes oder eines bedeutsamen Gedankens liegt eine grauenhafte Vereinsamung. Von seiner Stirne leuchtet ein Licht, vor dem die meisten wie vor einem geheimnisvollen, nicht zu erklärenden Schimmer scheu zurücktreten. Und Sara kämpfte allein!

Es muß übrigens gesagt werden, daß seit jenem Sabbatabend zwischen den beiden Eheleuten in Beziehung Christians niemals mehr ein Wort der Erbitterung fiel. Stillschweigend nahm Wolf von diesem Augenblicke die nicht mehr zu ändernde Tatsache hin; er war nicht beschwichtigt, viel weniger beruhigt. Er setzte Sara keinen Widerstand entgegen, aber er unterstützte sie auch nicht. Er bewunderte ihre Ausdauer und Geduld, aber er tat sich auch etwas zugut darauf, daß er seinen Schwur hielt. Im übrigen hielt er fest an dem niemals wieder aus seiner Seele zu bannenden Spruche: was Sara tue, sei gegen die Natur und werde nicht gut endigen.

Nur an dem Sterbetage der alten Babe waren die bösen Geister jenes Sabbats wieder in ihm laut geworden; die alte Frau war, ohne daß eine Krankheit vorhergegangen wäre, in das Jenseits hinüber entschlummert. Aber einige Tage vor ihrem Tode mochte sie gefühlt haben, daß ihre Lebensstunden gezählt waren, und sie hatte darum ihre letzten Verfügungen getroffen. Sie tat das in einer Weise, daß eigentlich niemand ihre Absicht erriet. Erst als sie in der kühlen Erde lag, ergab es sich, daß sie die sechsreihige Granatenschnur, die ihr höher als ein Königsschmuck gegolten, an ein anderes Enkelkind, die Tochter ihres bereits verstorbenen Sohnes, verschenkt hatte. Sara war leer ausgegangen.

Als Wolf die mit der Granatenschnur geschmückte Frau an einem der nächsten Sabbate in die Weiberschule gehen sah, kochte es in ihm wild auf, und er fühlte ein Gelüste in sich, den seiner Sara von Rechts und Gottes wegen gehörigen Schmuck vom Halse der Verwandten herabzureißen. Es war nicht Neid, was ihn erfüllte, vielmehr der dunkle Gedanke, daß diese Granaten an einem fremden Leibe ihn immer wieder an die verhängnisvolle Prophezeiung der Babe erinnern müßten. Wie ganz anders stand es um ihn, wenn sein Weib in den Besitz dieser Steinchen gelangt wäre, die ein so rotes Licht von sich warfen?

Christian war mitterweile zwölf Jahre alt geworden, während Lea nur um ein Jahr weniger zählte. Der Knabe hatte in der Schule gelernt, was dort zu lernen war, und der Schulmeister sagte, er wisse nicht mehr genug für Christian. Er gab Sara den Rat, sich um eine andere Beschäftigung für den Knaben umzusehen.

Daran hatte Sara in ihrer Sorge für das Kind schon lange gedacht; dennoch fiel es ihr schwer, schon jetzt zu einer Tat zu schreiten, die ihr den Knaben unter fremde Leute brachte. Es lebte in dem Gemüte dieser Frau eine Furcht, deren sie sich nur schwer entledigen konnte. Christian war erst zwölf Jahre alt – wie leicht konnten nicht plumpe Hände in einem Augenblicke zerstören, woran sie unermüdlich und mit ihrem Herzblute so lange gearbeitet hatte?

Einmal fragte sie, als sie mit den Kindern sich allein befand:

»Christian, hast du einmal schon darüber nachgedacht, was du werden möchtest?«

Noch ehe Christian eine Antwort geben konnte, rief Lea vorlaut:

»Was Christian werden möchte, willst du wissen, Mutter? Ich weiß das schon lange.«

»Und mir sagst du es nicht?« meinte Sara mit einem traurigen Lächeln, und ihre Blicke ruhten eine lange Weile mit durchdringender Klarheit auf dem Knaben.

»Du wirst es nicht erraten, Mutter!« begann wieder Lea, indem sie dem blöde dastehenden Knaben mit der Hand über das errötende Antlitz fuhr, »aber Christian hat kein Hehl vor mir, und da hat er mir schon, wie der Vater heuer die Suka (Laubhütte) aufschlug, und ich und er haben ihm dabei geholfen, da hat er zu mir gesagt: Weißt du, Lea, was ich am liebsten werden möchte? Und was meinst du, Mutter, möchte Christian werden? – Ein Maurer!«

»Ein Maurer,« rief Sara voll Verwunderung. »Warum gerade das Handwerk? Da muß er ja sehr hohe Türme bauen und ist seines Lebens nicht sicher!«

»Christian weiß schon, warum er ein Maurer werden will und nichts anderes!« sagte Lea mit geheimnisvoller Miene.

»Laß Christian reden!« meinte Sara, den Knaben sanft zu sich heranziehend. »Sag mir,« wandte sie sich zu ihm mit schmeichelndem Ausdrucke, »wie bist du gerade auf diesen Gedanken gekommen?«

Da neigte sich die kleine Lea zu Saras Ohr und flüsterte ihr halblaut zu:

»Weißt du warum? Christian hat mir versprochen, er will einmal, wenn er groß geworden ist, ein Haus bauen, nur für mich und für sich, und da wollen wir beieinander wohnen, und kein anderer soll darin wohnen, als er und ich. Und weißt du noch was? Das Haus, was Christian bauen wird, das will er gerade an den Bach hinbauen, da wo sein Vater ertrunken ist, und wenn wieder ein Wasser kommt, da wird es uns nichts tun können; denn Christian wird auch eine große Stiege bauen, und darauf werden wir heruntersteigen, und das Wasser wird hinter uns fließen. Und darum will er ein Maurer werden.«

Wie ein Blitz flammte es vor Saras Seele auf – aber er erlosch alsbald; gleich darauf konnte sie mit ihrem gewöhnlichen sanften Lächeln sagen:

»Schickt sich das, Christian, daß du mir gar nichts verraten hast? Und mich willst du in deinem Hause nicht wohnen lassen?«

Und als der Knabe, um eine Antwort verlegen, nach rechts und links seine Augen warf, fragte sie ihn mit Ernst:

»Willst du wirklich ein Maurer werden, Christian?«

»Ja,« sagte er nun ohne Zögern.

»Und du willst ein tüchtiger Maurer werden,« fragte Sara, indem sie den Knaben noch mehr an sich heranzog, »einer, der auf Türme hinaufsteigt und sich nicht fürchtet?« »Ja,« sagte Christian.

»Gut, da sollst du ein Maurer werden!« rief Sara mit Bestimmtheit, »und ich will trachten, daß du zu einem guten Lehrherrn kommst.«

Lea schlug aber freudig die Hände zusammen.

»Nicht wahr, Christian,« sagte sie, » wenn du bauen kannst, so baust du gleich das Haus für mich und für dich?«

Als Sara den Entschluß des Knaben ihrem Mann mitteilte, spielte ein eigentümliches Lächeln von Befriedigung um seine Mundwinkel. Er verriet nicht, was er dachte, aber Saras scharfes Auge irrte nicht, wenn es auf seinem Antlitze las: Es ist gut, daß es so gekommen ist. Wolf versprach mit Emsigkeit sich umzusehen, um den Lehrmeister für Christian sobald als möglich zu finden. Schon nach einigen Tagen verkündete er, der Lehrmeister sei gefunden, aber, setzte er zögernd hinzu, Christian werde viel zu gehen haben, denn der Maurer, zu dem der Knabe in die Lehre kommen sollte, wohne in der benachbarten Stadt, wohin ein guter Fußgeher vier Stunden zu wandern habe.

»Was gackerst du so, indem du mir das sagst?« meinte Sara.

»Ich hab' gemeint, du willst dir den zwölfjährigen Jungen noch nicht entwöhnen, Sara?«

Am nächsten Montage machte sich Sara mit dem Knaben auf den Weg nach der benachbarten Stadt. Christian trug das kleine Bündelchen mit Wäsche und Kleidungsstücken, die ihm Sara aus den Überresten der ihr nach der Überschwemmung gebliebenen Geschenke zurecht geschneidert hatte. Lea zeigte nicht die geringste Betrübnis; sie gab ihrem alten Gespielen das Geleite über den Synagogenhof und ging dann lustig trillernd wieder in das Haus zurück. Wolf Ungar aber legte die Hand auf den Kopf des Knaben, es blieb unentschieden, was er damit ausdrücken wollte, und ließ ihn dann weiter ziehen.

Auch Christian war nicht so bewegt, als Sara angenommen hatte. Freute sich der junge Vogel, daß er endlich einmal flügge geworden? War ihm in ihrem Hause die Haft zu enge geworden? Sara hatte darüber allerlei Gedanken, die jedoch, kaum aufgetaucht, wieder hinabsinken mußten in die tiefsten Bergnisse ihrer Seele. Es war früh am Morgen, und von der Kirchenglocke erscholl das Geläute zur Frühmesse. Sara war mit dem Knaben durch die ganze »Gasse« gekommen, da blieb sie vor einem kleinen Häuschen stehen, das die Grenze zwischen der Gasse und dem Ringplatze bildete. Dort wohnte die alte Bozena.

»Willst du nicht noch einmal zu Bozena?« fragte Sara.

»Was soll ich dort?«

»Vielleicht sagt sie dir, was man zu tun hat, wenn man sich auf einen weiten Weg begibt und hat ein wichtiges Geschäft vor. Frage sie nur – ich werde indessen auf dich warten.«

Christian ging in das Haus hinein und trat erst nach einer Viertelstunde aus demselben.

»Was hat sie gesagt, die alte Bozena?« fragte Sara.

»Sie hat gesagt, du wärest die allerbravste Frau in der Welt, und dann hat sie mit mir gebetet,« erzählte der Knabe.

»Und jetzt laß uns gehen, Christian! Wir haben einen großen Weg vor uns.«

Es war beinahe Mittag, als die beiden Wanderer die Stadt erreichten, in der Christians künftiger Lehrmeister im Maurerhandwerke wohnte. Ehe Sara den Weg zu seiner Wohnung einschlug, teilte sie früher den Imbiß, den sie mitgenommen, mit Christian, indem sie ihm die besten und größten Stücke vorlegte, »denn,« sagte sie, »der Meister soll dir deinen hungrigen Magen nicht ansehen, und nicht meinen, er muß dich füttern, wenn du ihm noch keinen Dienst geleistet hast.« Dann suchte sie das Haus des Maurers auf, traf ihn daselbst, und da Wolf bereits alle vorbereitenden Schritte für Christians Aufnahme getroffen hatte, ging die Sache schneller vonstatten, als Sara gedacht. Sie erhielt von dem Meister die bündigsten Zusicherungen, daß er sich Christians mit aller Sorgfalt annehmen wolle, wogegen sie ihm wieder in des Knaben Namen das Versprechen gab, das Kind werde gut tun, denn es habe ihr niemals Kummer gemacht, und wenn man mit ihm gut umgehe, werde es sich behandeln lassen wie ein Lamm.

Nun wandte sich Sara zum Heimgang; das Herz war ihr schwer und überquoll von Tränen. Aber sie hielt an sich, da sie sonst den Knaben zu betrüben fürchtete. Christian zeigte sich jedoch merkwürdig ruhig und gefaßt.

»Bleibst du gerne da, Christian?« fragte sie ihn mit gepreßter Stimme.

»Ja,« sagte der Knabe und blieb auf dem Bänkchen sitzen, auf das er sein Bündelchen gelegt hatte.

Sie reichte ihm noch die Hand und ging. Aber als sie schon draußen in der Gasse stand, quoll ihr ein bitterer Gedanke wieder durch das Gemüt. Sie hatte die Augen noch feucht – und drinnen saß das Kind ihrer Angst und Kämpfe und gab ihr nicht einmal das Geleite. Sollte ihr Mann Wolf recht behalten, daß ein Blutstropfen nicht dem andern gleiche, daß sich Verwandtes nur zu Verwandtem hingezogen fühle und alles Ankämpfen gegen diese unwiderlegliche Tatsache nur Hiebe sind in die wesenlose Luft?

So ungefähr mochten die bitteren Vorwürfe lauten, die wohl nicht über Saras Lippen traten, aber tief drinnen ihren Widerhall fanden. Sie behastete ihre Schritte, als wollte sie einem Feinde entfliehen, dem sie nicht standhalten konnte. Da hörte sie hinter sich die Schritte eines Laufenden; als sie sich umwandte, war es Christian.

»Christian, bist du's?« rief sie halb freudig, halb erschrocken. »Was willst du?«

»Ich habe dir noch etwas zu sagen!« meinte Christian, vom Laufen völlig atemlos, »wenn dich Lea nach mir fragt, so sag ihr, ich werde an sie nicht vergessen, und wie ich einmal aus der Lehre heraus bin, so baue ich ganz gewiß das Haus für mich und für sie. Wirst du ihr es aber sagen?«

Sara versprach es ihm und ging.

Tieftraurig und abgemattet kam sie gegen Abend wieder in der Gasse an. Ihre Lea erwartete sie schon am Tore des Synagogenhofes; als sie die Mutter erblickte, rief sie:

»Und Christian? Wo bleibt Christian?«

»Ich hab' Christian nicht mitgebracht,« sagte Sara. »Weißt du denn nicht, wohin er gegangen ist?«

»Zum Maurer. Und da kann er nicht kommen?«

»Christian wird nicht mehr nach Hause kommen!« sagte Sara nach einigem Zögern.

»Nicht mehr?«

Solch einen Schrei aus kindlichem Munde hatte Sara noch nie gehört; er berührte sie fast schmerzhaft. Sie griff erschrocken nach Leas Hand; sie fühlte sich kalt wie Eis an.

»Wenn ich sage: nicht mehr, so heißt das soviel als nicht so bald!« tröstete Sara. »Du wirst doch wissen, wenn man Häuser zu bauen hat und hohe Türme, da kann man nicht so mir nichts, dir nichts von der Arbeit fortlaufen, und der Lehrling und Geselle muß ausharren, bis der Meister sagt: Das Haus ist fertig.«

Warum entledigte sie sich nicht des Auftrages, den ihr Christian auf die Seele gebunden? Warum zögerte sie, das Wort auszusprechen, dem Lea, als der letzten Botschaft ihres Gespielen, mit Lust gehorcht hätte?

Das war ein trauriger Abend und eine noch traurigere Nacht. In der kleinen Kammer, worin Lea schlief, waltete der volle Jammer eines Kinderherzens, an das der erste und darum echte Schmerz des Lebens getreten war. Sara hörte, wie ihre Tochter bald still vor sich hin weinte, bald laut ächzte; sie hielt es für das beste, dem Kinde nicht zuzureden und es seiner Natur zu überlassen. Und sie täuschte sich auch nicht, Lea schlief ein und es war still in ihrer Kammer. Auch Sara überließ sich dem Schlummer. Da wurde sie plötzlich durch die Angstrufe: Christian! Christian! geweckt, die aus Leas Kammer drangen. Dann aber ward wieder alles still.

Ein wunderbares Spiel der Einbildungskraft beschäftigte Saras Gehirn. Es kam ihr nämlich vor, es seien ganz die nämlichen Laute, mit denen damals Lea aus dem Schlafe auffuhr, als die wilden Wasser in jener fürchterlichen Nacht auf das Haus zuliefen, und mit einem Male stand der entsetzliche Vorgang mit allen Einzelheiten vor ihrer Seele. Sie mußte daran denken, daß eigentlich Lea die Ursache war, daß auch Christian vom Untergange gerettet wurde. Wenn Lea damals den Namen ihres Gespielen nicht so laut und angstvoll gerufen hätte, wäre es ihnen, ihr und ihrem Manne Wolf in den Sinn gekommen, nach Jan Schusters Kind sich umzusehen?

Am nächsten Morgen wachte Lea, seltsam genug, mit hellen, fröhlichen Augen auf. Sie nahm in gewohnter Weise ihr Gebetbuch zur Hand und betete länger als sonst; denn gewöhnlich machte ihr Sara den Vorwurf, sie mache sich nichts daraus, wenn sie hie und da einige Blätter »überschluppere«. Von Christian war keine Rede, weder an diesem Tage, noch während der ganzen Woche; es war, als wenn niemals in diesem Hause von einem Knaben gesprochen worden, der doch in so bemerkenswerter Weise in den Frieden desselben eingriff. Im stillen machte jedoch Sara Bemerkungen über das Benehmen Leas, die nicht zugunsten ihres Kindes lauteten. Wie kam es, daß sie den Gespielen so schnell vergessen konnte, daß er ihr nirgends fehlte? Kam das auch von dem fremden Blutstropfen und bestätigte sich auch an Lea die Tatsache, daß innerlich Fremdes sich niemals auf demselben Wege treffe? So war es wieder Freitag geworden.

An diesem Tage machte sich die ganze Wichtigkeit Wolf Ungars als Gemeindediener geltend; da hatte er von frühmorgens bis zum Abend vollauf Beschäftigung mit dem Reinigen und Aufputzen der Synagoge, damit sie die »holdselige Braut«, wie der Sabbat in jenem glutvollen Liede heißt, festlich empfangen könne. Heute gestand er es sich selbst, wie sehr ihm dabei Christian fehle; der Knabe hatte namentlich im Glänzen der messingenen Lampen, die vor dem Pulte des Vorbeters standen, eine Geschicklichkeit entwickelt, die ihresgleichen suchte. Daran anknüpfend schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, wie schön es sich doch gefügt hätte, wenn »Jan Schusters Jüngel« sein wirklicher Sohn geworden wäre! Aber Sara hatte sich diesen Segen »verwünscht«, mußte er sich weiter sagen; da sie sich des fremden Kindes mehr wie eine Mutter annahm, hatte sie darauf verzichtet, sich diese Gnade gleichsam zu erbitten. Diesem seltenen Gedanken hing Wolf Ungar fast den ganzen Tag nach; dabei fehlte ihm Christian auf allen Seiten, und seine Beschäftigung ging nur langsam vonstatten.

Gegen vier Uhr nachmittags war Wolf fertig geworden. Er hatte soeben die letzte Kerze auf eine der großen messingenen Hängelampen gesteckt. Da hörte er durch die offene Synagogentür den Freudenruf:

»Christian! Christian!«

Wie nun Wolf von der Leiter, worauf er stand, herunterstieg, um nachzusehen, was dieser Ruf bedeute, kam ihm schon Lea entgegen, an der Hand den über und über mit Staub bedeckten Christian führend. Das Gesicht der beiden Kinder leuchtete vor Aufregung und Freude; niemals hatte Wolf solch ein merkwürdig schönes Antlitz gesehen, wie das seines Kindes in diesem Augenblicke; man hätte glauben können, Lea sei mit einem Male um einige Jahre älter geworden. »Wie kommst du daher?« fragte er eben nicht unfreundlich den Knaben.

Christian deutete auf die Lampen.

»Wer hätte die anzünden sollen?« meinte er. Da habe er, so erzählte er weiter, nachdem er die ganze Woche darüber nachgedacht, wie er es anfangen solle, sich Mut gefaßt und den Meister gebeten, ihn für jeden Freitag nach Hause zu entlassen, damit er in der Synagoge seinen alten Dienst verrichte, und der Meister habe ihm auch die Erlaubnis gegeben.

Wolf Ungar starrte den Knaben wie eine aus Nacht und Grauen hervorgetretene Erscheinung an. Mußte er daran denken, in welcher Weise er einmal eine ähnliche Dienstleistung des Knaben von sich abgewiesen hatte? Seine Gedanken verwirrten sich ...

Mittlerweile war auch Sara, herbeigelockt durch Leas Freudenrufe, in die Synagoge getreten.

»Was sagst du zu dem Kinde?« rief ihr Wolf entgegen. »Er ist gekommen, um die Sabbatlichter anzuzünden.«

»Siehst du, Wolf?« Nur das eine vermochte Sara zu sagen, alles übrige behielt sie in sich; aber es mochten Gedanken mit lichtstrahlenden Fittichen sein, die ihr ganzes Wesen in diesem Momente durchrauschten. Sie beugte sich auf den Knaben herab und berührte sein von Anstrengung und Aufgeregtheit rotglühendes Antlitz.

»Und ich!« rief Lea, »ich habe es gewußt, daß er kommen wird.«

Wolf Ungar aber schüttelte den Kopf. Wo waren seine Gedanken?

»Es ist gegen die Natur!« murmelte er vor sich hin. Warum mußten ihm gerade die Worte der längst entschlafenen Babe auf die Lippen treten? Von nun an verging kein Freitag und auch kein Vorabend eines Festtages, ohne daß Christian erschienen wäre, um seine gewohnten Dienstleistungen in der Synagoge zu verrichten. Er forschte in keinem Kalender nach, auf welchen Tag der oder jener Feiertag fiel, und doch trug er sie alle im Kopfe und kannte sie auswendig, trotz Wolf Ungar, der in diesen Dingen grau geworden war.

Niemandem in der »Gasse« fiel es mehr ein, darin etwas Besonderes zu erblicken, denn der Sohn des ertrunkenen Schusters war für die Wohltaten, die ihm Wolf und Sara erzeigt, zu einiger Erkenntlichkeit verpflichtet. Niemand achtete auch darauf, daß aus dem blondköpfigen, blöden Knaben mittlerweile ein starkknochiger, in die Höhe geschossener Jüngling geworden war, wiewohl es andererseits nicht unbemerkt blieb, daß Wolf Ungars Lea anfange ganz gewaltig ihrer Mutter Sara zu gleichen, die in ihrer Jugend eines der schönsten Mädchen in der Gasse war, so daß sich ältere Leute noch jetzt an ihre merkwürdigen Augen und ihr seines Benehmen wie an den Duft längst verblühter Blumen erinnern konnten.

Eines Tages brachte Christian ein Papier mit, worin bestätigt ward, daß er unter die Gesellen des löblichen Maurerhandwerks aufgenommen ward. Seine Lehrjahre waren vorüber; er übergab seinen ersten Wochenlohn Saras Händen; er war siebzehn Jahre alt geworden.

»Warum behältst du das Geld nicht bei dir, Christian?« fragte ihn Sara, »du wirst es brauchen.«

Christian schüttelte den Kopf.

»Wozu sollte ich es brauchen?« meinte er.

»Hast du nicht Kameraden? Du wirst einmal mit ihnen ins Wirtshaus gehen wollen, und da wird es dir an Geld fehlen, oder du wirst dir eine neue Pfeife kaufen wollen, und deine Tasche wird leer sein. Heb dir also das Geld selber auf.«

Und Christian schüttelte wieder den Kopf.

»Für das alles,« sagte er mit einem gewissen geheimnisvollen Tone, »brauche ich kein Geld. Halte es zusammen, bis es viel ist, und dann sage es mir.«

Tagelang konnte Sara darüber nachdenken, welche Absichten Christian mit dem Ansammeln seines Wochenlohnes verfolge. War es Sparsamkeit, die er in ihrem Hause gelernt hatte? Und Sara sah neuerdings eine »wunderbare Fügung« darin, daß Gott das Kind gerade ihr zugeführt. »Was wäre aus ihm geworden, wenn Jan Schuster sein Vater geblieben wäre?« dachte sie oft; »was hätte er da vor sich gesehen? Einen ewig betrunkenen Menschen, dem Weib und Kind um ein Maß Bier feil waren. Sieht er so etwas vor sich in unserem Hause?«

Nur Lea lächelte, wenn die Mutter diese und ähnliche Gedanken vor ihr offenbarte. Wußte sie mehr von Christians Absichten?

Es war überhaupt für Lea jene wunderbar geartete Zeit gekommen, wo eine Mutter sich nicht mehr auf das Lächeln ihres Kindes versteht. Wie ein Irrlicht flackert es hie und da auf, und wenn die Mutter seinem Scheine nachgeht, gerät sie meistens in die Irre. Das ist ein Schauen und Sinnen, so anscheinend wort- und gedankenlos; auf den Lippen blüht es auf, in den Augen leuchtet es wie feuchter Glanz, und wenn du nach der Blüte haschest, ist es gar nichts gewesen, als ein wesenloser Schatten und noch weniger als das; denn ein Schatten setzt einen Körper voraus. Nicht der Sturm, der über die Erde braust und den Winterschnee auf ihr schmilzt, bringt den Frühling; wenn eines Tages die Blumenknospe ihre Augen auftut, haben es Geister in geheimnisvoller Stunde getan, die nicht brausen und stürmen. Das ist die Zeit, wo die Mutter das Kind ihrer Schmerzen sich plötzlich entfremdet sieht; auf Fragen folgt keine Antwort, und wenn es antwortet, ist es ein traumverlorenes Lächeln, auf das sich die Mutter nicht versteht.

Es war wieder Frühling geworden; in zwei Menschenherzen blühte und duftete seine Pracht, die wenig danach fragte, ob sie sich daselbst auch ausbreiten dürfe. Gesprochen hatten sie nicht davon, aber tief drinnen, wo »kein Feuer und keine Kohle« so heiß brennt, da flammte mit der fast unheimlichen Verschwiegenheit der ungebändigten Naturkraft jenes zauberhafte Gefühl, das zum Untergang führt oder zur berauschenden Seligkeit ...

Eines Tages begegnete Wolf jenem Geschwisterkinde seiner Frau, dem die Babe Breindel die sechsreihige Granatenschnur vermacht hatte, und wie gewöhnlich trug sie den ererbten Schmuck mit jener anmaßenden Haltung, als wenn er ihr, wie Wolf sagte, »nicht gehörte«. Sie kamen während des Einhergehens auf dies und jenes zu sprechen, bis endlich Riwke, so hieß jenes Geschwisterkind, ohne jeden Übergang mit einem Male sagte:

»Nun, Wolf, arbeitet deine Sara schon fleißig an der Ausstattung für Lea?«

»Wie kommst du darauf zu reden? Das Kind ist erst sechzehn Jahre alt.«

»Man kann mit sechzehn Jahren verliebter sein, als manche mit fünfundzwanzig; man hat Beispiele,« meinte Riwke mit rohem Lachen.

»Zum Beispiel!« sagte Wolf, mehr zerstreut so fragend, als von irgend einem feststehenden Gedanken geleitet.

»Was brauchst du Beispiele, Wolf? Willst du ein Mädchen sehen, welches jeden Freitag am Tor steht und wartet darauf, bis ein gewisser Jemand kommt, und wie die zwei sich die Hände drücken und sich ansehen, daß man schier meint, morgen wird man die Brautschale vom Kasten nehmen und zerbrechen?«

»Wer kann das sein?« sagte Wolf Ungar so vor sich hin, denn er schien den Sinn von Riwkes Rede nur leichthin aufgefaßt zu haben.

»Wolf! Wolf!« schrie Riwke mit eingestemmten Armen, »spiel du auf deine alten Tage nicht den Heuchler! Die ganze Welt ist nicht blind, und du allein solltest die Augen verschlossen haben? Das rede du ein, wem du Lust hast, ich, Riwke Krakauer, bin kein heurig Kind.«

»Ich versteh' dich wirklich nicht, Riwke!« meinte Wolf treuherzig.

»So frag Christian und Lea!« rief das böse Weib und machte sich von ihm fort.

Als Wolf sich aus seiner Betäubung aufraffte, war es zu spät, der frechen Verleumderin das Wort zuzurufen: Du hast gelogen. Er war als ein Trunkener anzusehen, wie er jetzt durch die Gasse schritt, sein Gehirn schmerzte ihn, sein Denken war aus allen Angeln gehoben. Aber seltsam! wie er an das Synagogenhoftor kam, ward es stille in ihm; der Friede seines Hauses war über ihn gekommen. Dieses Kind, das kaum angefangen hatte, die Augen ins Leben aufzuschlagen, in Verbindung zu bringen mit dem Knaben, der an seinem Tische mit den Brocken des Mitleids war aufgefüttert worden! Wolf Ungars Tochter in einem Atem auszusprechen mit Jan Schusters Sohn! Hatte sich die Weltordnung geändert und war auseinander gefallen wie ein Spiel Karten?

Es war, wie gesagt, stille in ihm geworden. Der Anblick seines Hauses, das ruhig stille Walten Saras und die Unbefangenheit seines Kindes, ja selbst der hölzerne Hammer an der Tür, mit dem er die Leute zum Gebet rief, das alles grüßte und bewillkommte ihn mit dem Zauber eingelebter Gewohnheit. Es war eine friedselige Stimmung über ihn gekommen, wie er sie seit lange nicht gekannt, ein Gefühl von Mattigkeit, wie sie dem Ausbruch einer gewaltigen Krankheit vorangeht, deren zerstörender Stoff schon eine geraume Zeit im Körper schlummerte.

So kam der Freitag heran. Wolf befand sich wieder in der Synagoge; er fegte und putzte daselbst mit einer Genauigkeit, als sollte es für lange, lange Zeit das letztemal sein. Der Schweiß rann ihm von der Stirne; aber er rastete nicht in seinem Werke. Dazwischen ging er ab und zu in seine Wohnung hinüber, die von der Synagoge nur durch den Hof getrennt war, von einem unerklärlichen Drange getrieben, nachzusehen, was da vorgehe. Sara traf Vorbereitungen, während Lea in der Küche beschäftigt war, die weißen Sabbatbrote, ohne die der Festtag glanz- und farblos wäre, zu bereiten. Dieser Anblick gab ihm eigentümliche Gedanken. Wenn Lea »Barches« (die Sabbatbrote) backen konnte, so –; er beendete nicht mehr diesen Gedanken; schon daß er ihn beschleichen konnte, betrachtete er als eine Sünde, die zu Gott schrie. Am Nachmittage versah Wolf wie gewöhnlich die Hängelampe und Wandleuchte! in der Synagoge mit Kerzen. Er hatte zu diesem Behufe eine Leiter an die Wand gelehnt und stand gerade auf einer der obersten Sprossen derselben. Da vernahm er hinter sich ein leises Geflüster. Er blickte um sich, da standen auf der Synagogenschwelle, Hand in Hand, Christian und Lea!

Alles Blut drängte sich ihm zum Kopfe; vor seinen Augen flimmerte die blutrote Granatenschnur der Babe, die jetzt am Halse jener bösen Riwke hing ... Sie hatte also doch recht, die Trägerin jenes verhängnisvollen Schmuckes?

»Komm heran!« schrie er mit durchdringender Stimme, daß es durch das Haus schallte, »komm heran.«

Arglos nahten sich die beiden; Christian legte seine Hand auf eine der Sprossen der Leiter, um sie zu stützen.

»Sie steht nicht fest,« sagte er.

»Laß ab, laß ab, ... du Teufel!« schrie Wolf und holte mit der Faust zu einem gewaltigen Schlage aus, der Christians Haupt treffen sollte.

Aber die Wucht dieses Schlages traf ihn selbst. Indem er sich zu tief hinabgebückt hatte, verlor er das Gleichgewicht und stürzte über Christian hinweg auf den Boden.

Auf das Jammergeschrei der beiden eilte Sara herbei; totenbleich starrte sie den Leblosen an, wie er da auf den Steinplatten lag. Es war kein Zeichen äußerer Verletzung an ihm; nur ein leises Atmen verriet, daß noch nicht alles Leben aus ihm geschwunden sei. Während Lea um den Arzt lief, lud Christian die schwere Bürde des Gestürzten auf seine Schultern und trug ihn über den Synagogenhof in die Wohnung.

Aus den Häusern kamen die Leute herbeigerannt, denn Leas Jammergeschrei hatte die Schreckenskunde schnell durch die ganze Gasse getragen.

Dem herbeigerufenen Arzte gelang es nach langer Bemühung, den in tiefer Ohnmacht Liegenden wieder zu erwecken. Die Pulse begannen aufs neue zu schlagen und auf den fahlen Wangen zeigte sich eine leichte Röte. Grauenhaft sah es aus, wie er mit gläsernen, starren Augen um sich blickte, und dennoch war ihnen nicht die Sehkraft benommen. Christian stand am Fußende des Bettes, in das man den Schwerkranken gelegt hatte. Plötzlich schrie Wolf auf, indem er die Hand zu ballen versuchte.

»Fort da ... das Unglück ... fort, die Granatenschnur ... da steht das Unglück ... fort!«

Eine neue Ohnmacht schnitt jeden weiteren Ausbruch dieser vulkanisch aufgeregten Natur ab. Als er wieder erwachte, war er ruhig und still, er lag da mit geschlossenen Augen und atmete leichter. Der Arzt glaubte die Gefahr für den Augenblick beseitigt und entfernte sich. Sara folgte ihm händeringend.

»Wird er leben bleiben?« fragte sie draußen vor der Tür.

Der Arzt zuckte die Schulter. »Es ist ein Unterschied,« sagte er mit gedämpftem Tone, »zwischen Leben und Leben, und manchem wäre besser, er wäre nicht mehr dazu erwacht.«

Viele Tage waren vergangen, traurige Tage voll namenloser Pein für Sara und Lea, und der Arzt konnte noch immer nicht mit Bestimmtheit erklären, daß der Todesengel von Wolf Ungars Bette gewichen sei. Was Sara am meisten erschreckte, war, daß Wolf während der ganzen Krankheit auch nicht einen Augenblick hatte, wo seiner Seele das volle Bewußtsein zurückkehrte. Meist lag er teilnahmslos da und schien niemanden aus seiner Umgebung zu erkennen, tagelang kam kein Wort über seine Lippen, und wenn er sie öffnete, wurden Laute vernehmbar, die der menschlichen Sprache nicht anzugehören schienen. Nur mit vieler Mühe vermochte Sara aus diesen wirren und abgebrochenen Tönen einen Zusammenhang zu finden; es waren die nämlichen Worte, die sie am Tage des Unglücks vernommen hatte:

»Das ist das Unglück der Babe ... die Granatenschnur ... fort, fort mit dem Unglück... Es ist gegen die Natur! ...«

Aus diesem abgerissenen und sich doch wieder ergänzenden Gedanken erkannte Sara nur zu leicht, aus welchem Feuerstrome die beständige Fieberhitze des Kranken ihre Nahrung zog. Sie litt unsagbar, und es gab Augenblicke, wo sie in der Nacht, die sich um ihr Sinnen und Denken gesenkt hatte, nichts hörte als die Stimme der Verwünschung, die sie über ihr eigenes Dasein aussprach.

Eines Morgens rief sie der Arzt auf die Seite.

»Ihr Mann, Sara,« sagte er, »ist, insoweit ärztliche Hilfe dies bewerkstelligen konnte, jetzt hergestellt. Wenn kein weiterer Rückfall eintritt, wird er auch körperlich genesen. Aber ich fürchte, meine Prophezeiung wird eintreffen; er wird essen, trinken und schlafen, aber er wird wahrscheinlich nicht mehr zum vollen Bewußtsein kommen. Sein Kopf hat gelitten. Ich sage Ihnen das voraus, weil ich Sie als eine starke Frau kenne ... es stehen Ihnen traurige Tage bevor.«

Sara vernahm diese Schreckenskunde mit einer Art stumpfer Neugier; sie weinte nicht, sie beugte ihr müdes Haupt unter den neuen Schlag willen- und widerstandlos; seit dem Unglückstage war ihr die alte Seelenkraft gleichsam abhanden gekommen.

Die traurigen Tage, die der Arzt voraus verkündet hatte, kamen schneller, als sie gedacht hatte. Eines Tages konnte Wolf das Bett verlassen; er war gesund geworden, er aß und trank, aber sein Verstand war der eines Kindes, und nicht einmal ein solcher. Denn das Denken des Kindes geht einer Entwickelung entgegen, Wolf Ungar aber war kindisch geworden mit ergrauten Haaren.

An einem der nächsten Tage ward Sara vor die »Gemeinde« gerufen. Der Vorsteher verkündete ihr daselbst, wie man sich bei dem Zustande ihres Mannes genötigt sehe, sich um einen Stellvertreter umzuschauen, da die Gemeinde eines Dieners wohl nicht länger entbehren könne. Das solle jedoch nicht ihr Schade sein. Sie und ihr Mann könnten die ihnen überwiesene Gemeindewohnung so lange behalten, als sie wollten, und was den »Gehalt« betreffe, so solle ihm derselbe auch in Zukunft unverkürzt ausbezahlt werden, »denn,« sagte der Vorsteher, »die Gemeinde will von seinem Unglücke keinen Nutzen ziehen, und solange er lebt, soll es ihm an nichts fehlen.«

Solange er lebt! Sara dankte nicht einmal und wollte sich entfernen, da rief sie der Vorsteher zurück.

»Sara,« sagte er mit strenger Miene, »du siehst, wie die Gemeinde gegen dich gesinnt ist; jetzt mußt du aber auch trachten, daß es in deinem Hause wieder ruhig und ›ordentlich‹ wird. Du bist ein Weib, Sara, man muß es sagen, man kann gegen dich nichts vorbringen, was auf ein Quentel geht. Aber in deinem Hause geht es nicht so zu, wie es in einem jüdischen Hause zugehen soll. Das muß ich dir sagen.« »Was geht denn vor?« fragte Sara tonlos.

»Soll ich dir das sagen?« lautete die Antwort des Vorstehers. »Ich meine, das mußt du besser wissen als ich.«

Sara ging; diesmal dankte sie dem Vorsteher, sie wußte selbst nicht wofür.

Das aber ist meistens das Erschütternde eines großen Unglücksfalles, daß die Menschen unaufgefordert, oft auch in bester Absicht, von dem Unglücklichen zu erreichen suchen, was sie früher zu erlangen nicht das Recht oder die Lust hatten. Dann erst wagen sich aus ihren tiefsten Verstecken jene Vorwürfe und Härten hervor, denen nur der Betroffene es anhört, wie ungerecht sie sind, ziehen das Gewand des Mitleids an und verwunden nur desto mehr. Die wenigsten bedenken, daß das Erbarmen wie ein Licht, erquickend und belebend aus der Seele strömen, nicht aber wie ein Dieb sich schmeichelnd in dem Haus schleichen muß, um hinterrücks an dein Eigentum die Hand zu legen.

Was wollten denn die Leute von ihr? Zu Haufe lag ihr der Mann in unheilbarem Siechtum, und nun quälte man sie mit vorwurfsvollen Rätseln, deren Sinn ihrer reinen Seele unzugänglich war. Wem tat Christian etwas zuleide? Zeigte er sich nicht dankbar für die Wohltaten, die ihm eine Frau aus der »Gasse« erwiesen, und ehrte er damit nicht die »Gasse« selbst? Was wollten sie alle von Christian?

Trotzdem hatte Sara unter der Last dieser Anklagen, die gleichsam gegen das Heiligtum ihres Lebens gerichtet waren, in kurzer Zeit ihr Haupt erhoben; denn sie war eine Natur, an der das Gemeine nicht haften blieb. Aber der Anblick, der sich ihr täglich und stündlich bot, dieser kranke, von furchtbarer Heimsuchung so schwer betroffene Mann lähmte alle Schwingen in ihr, und wenn sie sich erhob, so war es das Flattern eines Vogels, der angstvoll umhersieht, ob der Sturm, der ihn aus dem warmen Neste verjagt hat, nicht in erneuerter Gewalt wiederkehrt. In Wolfs Zustand war keine Änderung eingetreten; er lebte in dumpfer Teilnahmlosigkeit seine Tage hin; nur selten entfuhr ein Wort seinem Munde. Er zeigte für niemanden eine ausgesprochene Vorliebe oder Abneigung, nicht einmal gegen Christian, den er entweder nicht mehr erkannte, oder stumpfsinnig betrachtete. Daß aber die Fäden seiner früheren Gedankentätigkeit nicht ganz abgerissen waren, bewiesen die dunklen Worte, mit denen er unvermutet, ohne allen äußeren Anlaß, oft mitten im Essen, Saras und Leas Gemüter erschreckte.

»Da kommt die Babe mit ihrer Granatenschnur ... das ist das Unglück ... fort mit dem Unglück!«

In den letzten Wochen war zu diesen Ausbrüchen innerster Zerstörtheit eine neue Redensart getreten, an der er mit der Zähigkeit eines Kindes hing, dem man ein Spielzeug nicht entreißen kann. Eines Morgens nämlich rief er mit übermenschlicher Kraft ein um das andere Mal, indem er dabei mit der Faust auf den Tisch schlug:

»Auseinanderreißen! Reißt sie auseinander wie einen Fisch!« und das wiederholte er mit einer Art leidenschaftlichen Eigensinns, bis er müde ward, hie und da mit Anknüpfung an die bereits erwähnten, in ihm gleichsam stehengebliebenen Worte vom »Unglücke der Babe und ihrer Granatenschnur«.

Eines Freitags kam Christian wieder. Er war meilenweit gegangen, um nach dem Befinden des Pflegevaters zu sehen. Wie aber Wolf Ungar ihn erblickte, schien ein Strahl hellen Bewußtseins seine zerstörte Seele zu erhellen; er schrie auf und ballte gegen Christian drohend die Fäuste.

»Reißt sie auseinander,« heulte er, »wie einen Fisch ... das Unglück ist da ... auseinanderreißen ... fort, fort!«

Sara sah kein anderes Mittel der Beruhigung, als daß sie Christian mit dem Finger winkte, sich aus der Stube zu entfernen.

Als sie nach einer Viertelstunde in das Vorhaus hinaustrat, fand sie ihn, den Kopf an die Türpfoste gestützt, bitterlich weinen.

»Was fehlt dir, mein guter Christian,« fragte sie, »und warum weinst du?«

»Was habe ich ihm getan,« rief er unter Schluchzen, »daß er mich nicht leiden kann?«

»Er ist schwer krank,« sagte Sara, mit der Hand Christians Schulter berührend, »willst du mit einem Kranken rechthaberisch sein? Und doch mußt du mir einen großen Gefallen erweisen!«

»Sprich!«

»Du darfst jetzt eine Zeitlang nicht kommen, und mußt fort ... Wenigstens so lange als er krank ist, komm nicht ... Wenn die Zeit da ist, wo du wiederkommen darfst, werde ich dir es sagen lassen.«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie wieder in die Stube zurück.

Es war Nacht geworden, als Christian aus dem Hause ging; aber die Nacht waltete nur zwischen Himmel und Erde, nicht in zwei Menschenherzen, über die es mit aller Macht des Abschiedes gekommen war. Was ringt sich hinter dem Synagogenhoftor von Christian los und gleitet durch die Finsternis? Vier Lippen haben es sich in dieser Stunde zugesagt, was noch immer heißer als alle Kohle brennt und unergründlicher ist als das tiefe Meer!


Ein Geist der Öde und Verlassenheit lagerte seitdem über dem Hause, in welchem drei Menschenleben Tagen voll unnennbaren Jammers entgegensiechten. Man weilt nicht gerne im Gebiete des Unheimlichen, und so kam es, daß nur wenige in der Gasse, fast nur um einer gebotenen Pflicht zu genügen, in die Wohnung des ehemaligen Gemeindedieners eintraten. Es gibt ein Leid, das mit dem Tageslichte nicht gern verkehrt, und dem es wohltut, von Menschenaugen nicht beachtet zu werden. Sara sah nicht gerne die Leute, die ab und zu auf Krankenbesuche kamen, und ging ihnen aus dem Wege, wo sie nur konnte.

Und doch bebte ihr mutiges Herz keinen Augenblick unter der Folgenschwere jener freien Tat, die mit Christians Aufnahme in ihr Haus ein fast unabsehbares Schlachtfeld voll Kämpfe und Tränen über sie heraufbeschworen hatte. Ihre Seele war fester genietet, als sie selbst es ahnte; sie trug die Gewähr des sittlichen Entschlusses in sich, der selbst eine Offenbarung Gottes im Menschengemüte wieder zu Gott zurückleitet, von dem er ausgegangen! Statt kleinmütig ihr Haupt unter die Schicksalsschläge zu beugen und nichtigen Selbstanklagen sich hinzugeben, erhob sie es allmählich wieder in die Höhe, und niemals übersah sie ihre Lage mit größerer Klarheit als gerade jetzt. In ihrer Vereinsamung fanden ihre Gedanken den Weg zu Gott, in inbrünstigem Gebete erbat sie sich von ihm die Genesung ihres Mannes, und daß sie die Kraft nicht verlassen möge, auszuharren bis zu Ende, und vor allem, an sich nicht irre zu werden.

»Warum hat es mich nicht betroffen, warum gerade ihn, den guten, rechtschaffenen Mann?« sprach es öfters in ihr, wenn sie die Leidensgestalt Wolfs betrachtete. »Was hat er getan? Die das Kind aufgenommen und erzogen hat, war ja ich, und was kann er dafür, daß ich ihn gezwungen habe, mir einen Schwur auf die heilige Thora zu leisten? Hätte ich ihn nicht auf die Thora sollen schwören lassen?«

Aus dieser Selbstvernichtung erhob sich immer wieder ihr Gemüt zur freieren Übersicht ihres Tuns.

»Hätte Kalman Würzburg, den man doch Klein-Mendelsohn heißt, mir geraten, nicht zu grübeln und zu tun, wozu mich mein Herz getrieben hat? Ich habe das Grübeln von mir fortgestoßen und bin den Weg gegangen, auf den mich mein Gott gewiesen hat. Bin ich nicht wie Hagar in der Wüste? ... Als ihr Kind weggeworfen und verlassen unter dem Baum gelegen ist, da hat die Stimme eines Engels vom Himmel gerufen: Hebe das Kind auf ... und soll das eine Schuld sein, wenn ich Jan Schusters Kind aufgehoben habe aus Not und Elend und bin seine Mutter geworden?«

Und dann strömte es mit lebendiger Gewalt aus dem Innern dieses Gemütes, und mitten aus diesen Fragen trug sie ihr Gedankenflug immer höher.

»Lebendiger Gott,« dachte sie, »du weißt selbst am besten, warum du diese schwere Schickung über mich gebracht hast. Ich will nicht murren und mich in deinen Willen fügen, denn wenn ein Herz von Kummer überfließt, wie ein zu volles Gefäß, dann hast du auch die Linderung bereit, um ihm wieder wohl zu tun. Du hast mir ein doppeltes Glück beschert ... du hast mir nicht nur ein Kind geschenkt, du hast auch zugegeben, daß ich Mutterstelle vertreten darf bei einem andern Kinde! Dein Wille kann nicht sein, daß man mir das als Fehler oder Sünde anrechnet. Hättest du mir sonst den Gedanken eingegeben? Du hast ja das Kind gut und rechtschaffen werden lassen, wie kaum eins in der Gasse, sollte das nicht ein Fingerzeig von dir sein, daß ich recht gehandelt habe? Und hätte ich anders handeln können, wenn das Kind von einem in der Gasse und nicht Jan Schufters Kind gewesen wäre? Wie kommt da das fremde Blut ins Spiel? Du weißt es, ich habe ihn nicht abwendig gemacht dem Glauben, den seine Eltern gehabt, weil ich es nicht ertragen könnte, daß jemand mein Kind, was du behüten und beschützen mögest, deiner heiligen Religion entführen möchte. Ich habe ihn in Zucht und Sitte aufgezogen, ich habe über ihm gewacht, und es ist ein rechtschaffener Mensch aus ihm geworden ... Eine Blume, die auf dem Wege liegt, hebt man auf, damit sie nicht zertreten wird, das frierende Vögelchen nimmt man zu sich, damit es draußen in der kalten Luft nicht umkommt, und ich hätte mich eines Kindes nicht annehmen sollen, eines Menschen, der ein Bild ist von deinem Bilde und ein Abglanz von deiner Herrlichkeit und Pracht?«

So betete die starkmutige Seele dieser Frau in den Stunden der Betrübnis, und es tat ihr wohl. Konnte sie doch dabei nebst dem Leide, das sie täglich und stündlich mit hohlen Augen anstarrte, ihres Christians gedenken, der auf einen bloßen Wunsch von ihr in die weite Welt gegangen war, ohne daß sie wußte, wo er jetzt weilte. Warum hatte sie ihn gehen lassen? Und so oft sie des Abwesenden gedachte, kamen ihr aus seiner Kindheit jene Lichttage in die Erinnerung zurück, an denen das eigentliche Wesen des Kindes einer gewissen Entwicklung entgegengegangen war. Vorzüglich ruhte ihre Erinnerung auf jenem Abende, wo sie mit Lea das Nachtgebet verrichtete und Christian weinte, und sie den Entschluß faßte, ... das Kind zu der alten Bozena zu schicken. Noch jetzt machte dieser Gedanke ihre Wangen von hoher Glut entbrennen, sie war stolz darauf, daß sie ihn ausgeführt. Was wäre sonst aus Christian geworden? Wurde er nicht dadurch gleichsam befähigt, jene Doppelstellung im Leben einzunehmen: daß er dem Wesen beider Glaubensbekenntnisse nahe genug stand, um dem einen, dem er durch seine Geburt gehörte, mit aller Kindlichkeit anzuhängen, während ihm der andere das Verständnis seiner innersten Wesenheit erschloß? ...

Es waren wieder zwei Jahre vergangen. Für Sara und Lea war diese Zeit ein einziger langer Tag voll einförmigen Leides, dem keine Erhebung und Aufrichtung folgte. Die eine vergaß am Krankenbett des Mannes, daß es draußen noch ein Leben gab, die andere mit abgehärmten blassen Wangen wußte wohl von einem Leben da draußen, aber der es ihr bieten sollte, befand sich in weiter Ferne, und alle Sehnsucht vermochte ihn nicht herbeizuführen!

In einer Sommernacht saßen Mutter und Tochter, während Wolf in der angrenzenden Kammer schon schlief, beim Scheine einer einsamen Kerze und nähten – eine traurige Beschäftigung für ohnehin gedrückte Menschen – an den Sterbekleidern für eine vor zwei Tagen in der Gasse verstorbene Frau, die am darauf folgenden Morgen begraben werden sollte. Lange schwiegen die zwei; eine jede spann ihre eigenen Gedankenfäden, und die gaben kein heiterfarbiges Gewebe.

Da sagte Sara:

»Eins wundert mich sehr von Channe Klattauer, mit der der Friede sei, daß man nach ihrem Tode keine »Tachrichim« (Sterbekleider) nach ihr gefunden hat. Ich kann doch nicht denken, weil sie reich war und hat alles in Hülle und Fülle gehabt, daß sie darum vergessen hat, auf die letzte Stunde zu denken?«

»Das ist nur bei uns Juden,« meinte Lea, indem sie die Arbeit ruhen ließ, »daß einem der Tod vorschreibt, man dürfe keinen Augenblick sich einen Spaß mit ihm machen. Muß ich gleich ans Sterben denken, wenn ich meinen Kasten aufmache? Christian hat mir erzählt, bei ›ihnen‹ wäre das anders – –«

»Ein jeder tut, wie es ihm am besten dünkt,« unterbrach sie Sara mit mehr Strenge, als sie sonst in ihre Vorwürfe legte. »Wir Juden sind eben ein geplagt' Volk, und keine Stunde vergeht, wo nicht Tausende am Herzen gebrochen und geknickt werden. Da schickt es sich, daß wir alleweile den vor Augen haben, dem wir doch nicht entgehen können. Hast du nicht gesehen, daß dein armer Vater, wie er noch gesund war, am Osterabend im Sterbekittel dagesessen ist? Denk doch, da ist man lustig und trinkt roten Wein! Meinst du, das haben unsere Weisen so ohne Grund vorgeschrieben?«

Auf diese Zurechtweisung der Mutter hatte Lea nur ein ungläubiges Kopfschütteln zur Antwort. Oder hatte sie Saras Worte gar nicht vernommen? Nach einer längeren Weile ließ Lea wieder die Arbeit ruhen.

»Ob er schon einmal ein ganzes großes Haus gebaut hat?« meinte sie, wie aus einem Traume sprechend.

»Wer?«

»Christian!«

»Wie kommst du gerade auf ihn zu denken?«

»Ich muß dran denken, daß er mir als Kind versprochen hat, wenn er einmal groß und sein eigener Herr sein wird, wie er da für mich und für sich ein Haus bauen will!«

»Wie kann man an solche Narreteien denken?« sagte Sara strenge, »wenn man gerade am Sterbehemde für Channe Klattauer näht?«

Ein leises Klopfen an die Fensterscheiben unterbrach ihre fernere Rede.

»Mutter, er ist's,« rief Lea überlaut und sprang zum Fenster.

»Wer, um Gottes willen?«

»Christian!«

Warum zuckten Todesschauer durch die Glieder Saras, warum fühlte sie sich bis in das Innerste ihres Wesens beim Klange dieses Namens erschüttert?

»Geh hinaus,« sagte sie nach einer Weile, »und sieh, ob er's ist. Wenn es Christian ist, so führe ihn still herein, daß der Vater nicht aufwacht ...«

Und er war es, der jetzt Hand in Hand mit Lea in die Stube trat.

»Christian!« rief Sara in gedämpftem Tone, indem sie auf die Kammer wies, worin Wolf, ihr Mann, lag, »du hast dein Wort nicht gehalten.«

»Mutter!« sagte Christian.

Es war das erstemal, daß er sie so nannte, und es lag eine so mild einschmeichelnde Kraft in dem einen Worte, daß Saras ganzes Wesen davon erbebte. »Ja, Christian!« sagte sie, sich allmählich aufrichtend, »ich habe dich immer als meinen Sohn betrachtet, aber warum folgst du dann nicht, wie ein Sohn seiner Mutter folgen soll?«

»Schläft er?« gab er zur Antwort, scheue Blicke auf die Türe der Kammer richtend.

Sara nickte bejahend mit dem Kopfe.

»Ich will es dir sagen, Mutter,« begann Christian mit unsicherer, zu leisem Flüstern herabgedrückter Stimme, »ich habe es nicht länger ertragen können.«

Jetzt erst sah Sara den Sprechenden genauer an. Er sah in seiner Kleidung schrecklich verwildert aus; auch sein Angesicht trug die Spuren tiefer Verstörtheit, wie von durchwachten Nächten oder anhaltender Krankheit. Noch immer hielt er die Hand Leas zwischen die seine gepreßt.

»Laß sie,« rief Sara von einer plötzlichen Ahnung erfaßt, »warum siehst du ... so aus?«

»Kann man anders aussehen,« meinte Christian, indem er die Weisung Saras befolgte, »wenn man Tag und Nacht über die Straßen wandert, um hierher zu kommen? Ich sage es dir ja, Mutter, ich habe es nicht ertragen können.«

»Rede nicht so hoch (laut),« gebot ihm Sara, deren Mißtrauen mit jeder Sekunde wuchs. »Du hast etwas in deiner Stimme, Christian, was mich erschreckt und zittern macht. Haben das die zwei Jahre getan, die du fort warst? Als Kind bist du nicht so gewesen –«

»Ich verstehe dich nicht, Mutter?« sagte Christian mit so treuherziger Unbefangenheit, wie sie nur ein Heuchler hätte erdichten können.

Sara schüttelte den Kopf.

»Und ich versteh' dein Kommen gerade zur Nachtzeit nicht,« meinte sie, »wenn man Menschen erfreuen will, muß man sie erschrecken?«

»Habe ich dich erschreckt, Lea?« rief Christian, die Hand des Mädchens wieder ergreifend. »Laß ab von ihr, laß ab,« rief Sara, deren Argwohn zunahm. »Du gefällst mir nicht, Christian!«

»Warum soll ich von ihr lassen?« rief Christian mit glühendem Blicke auf Lea.

»Lebendiger Gott!« Nur das eine vermochte Sara zu rufen; dann bedeckte sie schaudernd das Gesicht mit beiden Händen. Der Blitz, der ihr als fernes Wetterleuchten einmal schon erschienen und dann von ihr vergessen worden war, er fuhr soeben mit der Unmittelbarkeit elementarer Kraft vor ihren Augen nieder, alles zertrümmernd, woran sie gebaut, und bis in das Heiligtum ihres Wesens den vernichtenden Feuerbrand schleudernd! In diesem einen Augenblick durchlebte sie rückschauend die Geschichte vieler Jahre, und ihr Inhalt drängte sich in den einen im Innern anstauenden Schmerzensschrei zusammen: »Ich habe unrecht und die Welt hat recht behalten!«

Als Sara die Hände vom Angesichte weggab, mochte sie einen erschreckenden Anblick bieten. Ihre Augen starrten weit und gläsern vor sich hin, und um ihre Mundwinkel zuckte jener Zug von Entsetzen, der dem Tode abgeborgt ist und doch dem vollen Leben gehört. Lea warf sich ihr an den Hals und schrie angstvoll:

»Warum bist du so erschrocken, Mutter! Komm doch zu dir!«

Mit fast übermenschlicher Gewalt drückte Sara die Tochter an sich; jeder Nerv in ihrem Leibe klammerte sich an das gefährdete, nur in ihren Armen sichere Kind.

»Geh fort, Christian!« kreischte sie, »geh fort! Du hast in meiner Stube nichts zu tun!«

Christian hatte die Arme vor die Brust gekreuzt; ein tieftrauriger Zug von Mitleid spielte um seine Lippen.

»Warum bist du so erschrocken, Mutter?« sagte auch er, »ich habe dich niemals so gesehen. Du bist immer gut und freundlich gegen mich gewesen, hast an mir gehandelt wie sonst kein Mensch in der Welt, und jetzt mit einem Male kommst du mir so fremd entgegen und erschrickst vor mir, als wäre ich wie ein Dieb in dein Haus eingebrochen.«

»Du bist auch ein Dieb!« unterbrach ihn Sara außer sich, »und besser wäre es gewesen, ich hätte dich ertrinken und verkommen lassen in der Iser, wie dein Vater ertrunken und verkommen ist.«

»Das hat meine Mutter Sara nicht gesagt,« rief Christian mit seltsam zitterndem Tone, »das hat die Frau nicht gesagt, die mich auf ihrem Arm getragen und blutige Tränen geweint hat, wie einst ihr Mann die Hand gegen mich aufhob. Meinst du, ich habe damals dein Schluchzen nicht gehört? Ich habe es mir gemerkt, wie sich ein Wirt die Zeche seines Kunden merkt, und alles, was du an mir getan hast, habe ich mir an einer Stelle aufgeschrieben, wo sie keiner auslöschen kann. Meinst du, ich weiß nicht, was du um meinetwegen gelitten hast? Ich habe oft über dich nachgedacht, Mutter, besonders wie ich in der Fremde war. Da haben sich meine Kameraden oft über mich lustig gemacht, haben mich »Judenbursch« geschimpft, weil sie gewußt haben, daß ich bei euch war erzogen worden, aber ich habe mich nie geschämt, und mit Stolz habe ich ihnen gesagt: Und ihr alle zusammengenommen habt keine solche Mutter gehabt! Und nirgends hat es mir so geschmeckt als an deinem Tische, und nirgends habe ich so geschlafen als in deinem Hause, und nirgends ist mir so wohl gewesen als bei dir! Wissentlich habe ich dich nie kränken wollen, und jetzt wirfst du mir vor, ich sei wie ein Dieb in dein Haus eingebrochen, und verhüllst dein liebes Gesicht vor mir!«

Seine Stimme klang wie die eines Weinenden; sie brachte eine wunderbare Wandlung in Sara hervor. Ihre Augen hatten den gläsernen Glanz verloren, der Entsetzenszug um ihre Mundwinkel war verschwunden. Waren es die Worte Christians, war es die Rückkehr ihres Wesens, das sich von der Gewalt eines unvorhergesehenen Ereignisses aus seiner ruhigen Bahn hatte schleudern lassen? »Du tust mir sehr wehe, Christian,« sagte sie mit zuckenden Lippen.

»Sieh an, Mutter!« fuhr Christian fort. »Ich bin in guter Arbeit da unten in einer Stadt an der deutschen Grenze gestanden, da haben sie mich unter die Soldaten nehmen wollen, weil jetzt überall in der Welt Krieg ist. Wie ich das erfahren habe, da bin ich auf und davon. Da habe ich eine Sehnsucht nach euch in mir verspürt, die war nicht zu stillen. Wenn sie dich jetzt in den Krieg schicken, habe ich mir gesagt, und du hast Lea nicht mehr gesehen und weißt nicht, was aus ihr geworden ist und was aus ihr werden wird – denn Lea gehört mir und du bist nicht umsonst die Mutter von ihr! Siehst du, wie mir das alles eingefallen ist, hat es mir nicht mehr Ruhe gelassen; ich muß wissen, was aus Lea werden wird. – Ich kann nicht leben und nicht sterben, wenn ich das nicht weiß –«

»Schweig, schweig, Christian!« rief Sara, aufs neue erschreckt von der Glut dieser nie gehörten Sprache.

»Aber ich will nicht Soldat werden, ich hacke mir einen Finger ab, da sollen sie dann sehen, ob ich ein Gewehr laden kann – ich gehöre in dein Haus, Mutter, und Lea gehört mir. Ich lasse mir sie nicht nehmen, und hier will ich bleiben, und will kein Soldat sein.«

Sara saß da, geknickt und gebrochen; sie hörte den gewaltigen Orkan um ihr Haus brausen ... im nächsten Augenblicke konnten sie alle, die es beherbergte, unter seinen Trümmern begraben sein.

»Und das alles,« tönten tausend Stimmen in ihr, »hättest du vermeiden können, wenn du nicht dir, sondern der Welt gefolgt hättest. Jetzt bricht alles zusammen!«

Sie seufzte tief auf.

»Das ist die schwerste Stunde meines Lebens! Gott helfe mir darüber,« flüsterte sie halblaut.

In demselben Augenblicke rief Lea, die bis dahin nur die Mutter und Christian hatte sprechen lassen, nach der Tür weisend:

»Still, der Vater ist erwacht.«

Und in der Tat drang aus der Kammer, worin Wolf Ungar schlief, die oft gehörte Redensart des kranken Mannes, wie sie schon seit Jahren auf seinen Lippen saß: »Auseinanderreißen – es ist gegen die Natur – das ist das Unglück der Babe – mit der Granatenschnur –«

Niemals hatten diese wenigen Worte, die ihr doch aus langer Gewohnheit zu wesenlosen Begriffen geworden waren, so wunderbar licht und verständnisvoll geklungen! Wie unter einem belebenden Hauche erhob sich die Ermattung ihrer Seele; das war nicht mehr die gebrochene Sara, die einen Augenblick zuvor in mutloser Bangigkeit ihr Haupt vor dem nahenden Sturme geborgen! Sie hatte sich in die Höhe gerichtet, ein kühner Mut leuchtete aus ihren Blicken, und um ihren Mund spielte ein Zug von Trotz, der auf Unbeugsamkeit eines Entschlusses hindeutete.

»Ja, mein guter Mann!« rief sie gegen die Kammertür gewandt, »du sollst bald wieder deine Ruhe haben. Du sollst deinen Schwur nicht zu bereuen haben.«

Und als Christian sie verwundert ansah, sagte sie kurz und bestimmt:

»Du kannst nicht in der Stube bleiben, Christian! Geh hinaus und setz dich draußen auf die Bank unter dem Nußbaume. – Ich will in einiger Zeit zu dir hinauskommen und dann wollen wir miteinander reden.«

»Darf ich mit ihm gehen?« fragte Lea.

»Ja, mein Kind, du darfst –« sagte sie nach einigem Überlegen.

Jetzt war sie allein! Erst schlich sie auf den Zehen an die Türe der Kammer und lauschte. Sie konnte die Atemzüge des ruhig Schlummernden deutlich vernehmen. Dann setzte sie sich an den Tisch in den alten Lehnstuhl, löschte das Licht aus und saß nun da, der Nacht und ihrem Sinnen hingegeben allein, ganz allein! Was in ihr vorging? Wer wollte sich erkühnen, dem Gedankenleben dieser einsamen Menschenseele auf den Grund zu sehen, deren Wehe nur dem Auge des allwaltenden Weltgeistes offenbar vorlag? Da sitzt Sara, die einfältige Frau eines Gemeindedieners in einer stillen böhmischen »Gasse«, aber das was sie denkt, ist mit Flammenzeichen in die Geschichte des Menschentumes eingetragen, Blut und wieder Blut bezeichnet seine Bahn, und der letzte Atemzug gemordeter und zu Tod gehetzter Geschlechter weht sie an. Lichtere Zeiten und Menschen dämmerten vor ihr auf, sie schüttelt aber den Kopf und wehrt sie mit der Hand ab. Sie sind noch nicht da – Blütenkelche öffneten sich, die bis dahin verschlossen waren, aber die Menschen schritten noch hinweg über sie ...

Dann erhob sie sich wieder und zündete die Kerze an. War auch ihrer Seele das Licht aufgegangen? Dann lauschte sie noch einmal an der Schlafkammer ihres Mannes und schlich hierauf unhörbar zur Stube hinaus.

Draußen auf der Bank unter dem Baume saßen die zwei, Christian und Lea. Sie vernahmen es kaum, daß die Mutter vor ihnen stand. Sara setzte sich an das eine Ende der Bank. Ringsherum waltete tiefe, schweigende Nacht.

»Christian,« begann Sara nach einer Weile – »hast du noch eine Erinnerung davon, wie deine Mutter ausgesehen hat?«

»Nein!«

»Was meinst du, wenn deine Mutter heute noch lebte, und du kämest zu ihr, wie du zu mir gekommen bist, und sagtest ihr, was du zu mir gesagt hast – ich meine das mit Lea – was für eine Antwort möchte sie dir geben? Antworte mir nicht gleich und denke nach.«

»Ich weiß nicht, Mutter.«

»So will ich dir es sagen, Christian! Deine Mutter hätte nur einen Wunsch, und der wäre, du möchtest einen Stein an deinen Hals binden und dich damit in die Iser werfen, da, bei den Ziegelhütten, wo sie am tiefsten ist.«

Christian stieß zwei Namen hervor, die den Inbegriff des Heiligsten für ihn, des Gottessohnes und seiner Mutter, bildeten.

»An dem Schrecken, mit dem du diesen Ausruf tust,« sagte Sara, »sehe ich erst, wie recht ich habe. Deine eigene Mutter, Christian, hätte dir keine andere Antwort gegeben.«

Sie legte die Hand auf die Schulter Christians und fuhr in milder, fast geflüsterter Rede fort:

»Christian! mein guter Sohn, du mußt auf und davon, und mußt viele, viele Meilen wandern, bis ein so weites und großes Land ist zwischen dir und uns, daß auch nicht ein Laut von uns zu dir kommt, oder von dir zu uns. Du mußt wandern und wandern und darfst dich niemals umsehen und keinen Augenblick Rast halten. Dann wird dir wohl werden – und auch uns – du mußt fort, mein Sohn Christian!«

»Ich kann nicht, Mutter!« rief Christian, »ich werde es nicht tun! Zum zweiten Male lasse ich mich aus deinem Hause nicht jagen.«

»Sprichst du so mit deiner Mutter, Christian?«

Und nach einer längeren Weile sagte Sara:

»Es ist mir noch ganz gut erinnerlich, als wenn es erst heute geschehen wäre. Als Kinder seid ihr einmal unter demselben Baume gesessen, unter welchem wir jetzt sitzen. Du, Christian, hast aus einem kleinen Schulbüchelchen gelernt, und Lea hat auf einer Schiefertafel etwas geschrieben, ich aber, ich habe euch durch das Fenster belauscht. Da hat Lea ihre Schiefertafel zerbrochen, und wie sie geweint hat, hast du sie getröstet und gemeint, die Tafel läßt sich wieder ganz machen, wenn erst der Drahtbinder kommt. Lea aber hat ausgerufen: ›Was zerbrochen ist, ist zerbrochen‹ – Hörst du mir gut zu, Lea?« »Ja, Mutter!« tönte es leise zurück.

»Was zerbrochen ist, ist zerbrochen, das sage ich euch,« fuhr Sara fort. »Es läßt sich nicht mehr ganz machen, und der Bruch ist auch nachher zu sehen. Warum habe ich mir das, was Lea damals gesprochen hat, so deutlich gemerkt, und vieles andere ist mir entschwunden? Ich will dir das erklären, Christian. So kindisch die ganze Sache war, so liegt doch darin ein starker Sinn, und den müssen wir beide uns merken. Was du glaubst, Christian, und das, was ich glaube, ich meine das, wie man es mit Gott dem Allmächtigen im Himmel hält, das sind auch zwei zerbrochene Tafeln, zwei Stücke von einer, die einmal ganz gewesen ist. Wer sie zerbrochen hat? Und ob es gut war, sie zu zerbrechen? Das kann ich nicht entscheiden, dafür bin ich ein zu unbedeutend Weib. Genug an dem, mein guter Christian, seitdem die alte Tafel zerbrochen ist, ist viel Streit und Herzbrechen in der Welt, jeder hält an seinem Teile fest, und darüber sind Hunderte und Tausende von Jahren schon hingegangen. Auf jedes der zwei Stücke hat aber Gott etwas geschrieben, und daran hält ein jeder fest, und nur Gott der Allmächtige allein ist imstande, die zerbrochene Tafel wieder so ganz zu machen, daß, was auf dem einen Stücke geschrieben steht, zu demjenigen paßt, was auf dem anderen geschrieben steht. – Den Tag, wo das geschieht, den werden wir nicht erleben, nicht ich, nicht du, Christian. Willst du aber wissen, was in unserer heiligen Schrift steht? Tagtäglich beten wir: ›Gott wird Herr sein über die ganze Erde, an dem Tage ist Gott der Einige und sein Name – der Einige!‹ Aber für jetzt ist die Tafel zerbrochen ...!«

Ein minutenlanges Schweigen folgte den Worten Saras. In der würzigen Sommernacht, die ringsherum waltete, dufteten und öffneten sich viel tausend Blumenkelche, angeküßt und gekühlt von den Lüften der Nacht. Millionen Augen hatten sich geschlossen zu friedseligem Schlummer, aber auf diesen drei Menschenherzen lag der Bann tiefster Traurigkeit; wenn sie auseinander schieden, so hat das die bitterste Entsagung geboten. Wird das Wort ausgesprochen werden?

»O! ich versteh dich, Mutter, ich versteh dich ganz!« tönte es von Leas Lippen.

»Und du, mein Christian?« fragte Sara, die Hand auf seine heiße Stirn legend.

»Ich möchte, du hättest mich in die Iser fallen lassen, Mutter, da wo sie am tiefsten ist,« sagte er mit dumpfer Verzweiflung.

»Sag das nicht, Christian! sag das nicht. Gott hört so was nicht gerne. Denk du lieber an die zerbrochenen Tafeln, und daß von diesem Augenblicke alles aus und zu Ende sein muß ... hörst du gut, Christian, alles zu Ende?«

Christian wollte aufstehen, aber die sanfte Gewalt der auf seiner Schulter liegenden Hand hielt ihn zurück.

»Christian!« rief Sara mit hervorbrechenden Tränen, »willst du denn deine Mutter nicht anhören? Ich hab dich gepflegt und bewacht, und wenn du krank warst, bin ich an deinem Bette gestanden, und wenn mein Mann dich strenge behandeln wollte, habe ich es abgewehrt von dir! Soll ich das alles jetzt bereuen? Soll ich, willst du der Welt ein Beispiel geben, daß man sein Herz verschließen soll wie einen Sack, in den auch nicht das kleinste Erbarmen hineindarf? Drin liegt der Mann mit dem kranken Gehirn ... wie? wenn er einmal aufwacht und mich fragt: Wo ist meine Tochter Lea? Soll ich ihm sagen, das Kind, das ich bei mir aufgenommen hatte, dem du an deinem Tische einen Platz hast eingeräumt, es hat die Schuld auf sich – daß du deine eigene Tochter nicht mehr dein Kind nennen darfst? Soll ich ihm das sagen, Christian?«

»Genug, genug, Mutter!« rief Christian schluchzend. »Ich habe dich verstanden: Zerbrochen ist zerbrochen.«

»Und jetzt geh, mein Sohn Christian und folge dem Rate deiner Mutter. Wandere, so weit dich deine Füße tragen und schaue nicht zurück. Es müssen Meilen und Länder und Berge liegen zwischen dir und uns. Dann wird dich Gott beschützen auf allen deinen Wegen – und denk nicht mehr an uns.«

Sie hatte die Hand auf seinen Kopf gelegt, und es war ein Segen, den ihre flüsternden Lippen dabei sprachen.

Christian war aufgestanden, seine Brust arbeitete heftig.

»Lea!« rief er.

»Christian!«

Minutenlang hielten sie sich umklammert, sie konnten von einander nicht lassen.

Endlich rief Sara:

»Komm, Lea, mein Kind. Du weißt, wir sind mit dem letzten Anzuge für Channe Klattauer noch nicht fertig – und die Toten können nicht warten. Komm!« – –

In stiller Nacht klirrte der Riegel an dem Tore des Synagogenhofes. Eine Gestalt drängte sich hinaus, Schritte wie die eines Verfolgten wurden in der schlaftrunkenen Gasse hörbar. Auf der Erde gab es ein Menschenglück weniger! –


Durch die »Gasse« sieht man namentlich an Tagen, wenn die Sonne sich etwas behaglicher über die Häuser und Dächer legt, zwei alte Menschen wandeln, ein gebücktes, trippelndes Mütterchen und einen nur um etwas strammer auftretenden eisgrauen Mann. Sie gehen Hand in Hand – und nur wenn die Mittagsglocke geläutet wird, gleiten ihre Hände auseinander. Vor einem einstöckigen Hause, das hart am Rande des Baches steht, endet ihr Gang.

Es ist Christian und Lea!

Mit zitternden Fingern und trüb gewordenen Angen, mit ergrauten Haaren und Runzeln auf Stirn und Wangen, so hatten sich die zwei im Winter ihres Lebens wiedergefunden, die im Lenze voneinander geschieden waren.

Im Laufe weniger Jahre hatte Lea Vater und Mutter begraben. Dann ging sie in die Fremde, und diente – und sparte Pfennig auf Pfennig und Gulden auf Gulden. Damit ging sie wieder in die alte Heimat.

Eines Tages kam ein altes Mütterchen in der »Gasse« an und gab sich da den Leuten als Wolf Ungars und Saras Tochter zu erkennen. Es gab nur wenig noch ältere Leute, die sich ihrer zu erinnern wußten, und seltsam genug, nur wenige Tage später traf ein alter Mann ein, der auf Grund seines Heimatscheins sich als Christian, der Sohn des Schusters Johannes Wurma, in der Gasse auch »Jan Schuster« genannt, auswies.

Einige Wochen später führten Maurer und Zimmerleute das kleine Haus auf, das hart am Rande des Baches steht. Als es fertig und eingerichtet war, bezogen es die beiden alten Leute.

Lacht ihnen nicht nach, vielmehr grüßet sie ehrfurchtsvoll, wenn ihr seht, wie am Sabbat oder an sonstigen Feiertagen der alte Christian seiner alten Lea den schweren »Sidur« (Gebetbuch) nachträgt bis zum Eingange der Synagoge, und lacht auch nicht, sondern fühlt euch gehoben von dem Atemzuge des göttlichen Geheimnisses, das über den weißen Häuptern dieser Greise waltet, wenn ihr am Sonntage den alten Christian zur Kirche schreiten sehet, mit einem weißen Halstuche, das ihm die alte Lea mit ihren eigenen Händen gewaschen und umgebunden hat.

In einem alten Buch, das aus der Büchersammlung Kalman Würzburgs, auch »Klein-Mendelsohn« genannt, herrührt, fand sich lange Zeit nachher ein mit vergilbter Tinte geschriebener Papierstreifen, auf dem folgendes stand:

»Es gibt eine Liebe und eine Einigung unter den Menschen, die ist stärker und gewaltiger als die, von der König Salomo in seinem Hohen Liede spricht. Davon habe ich ein Beispiel bekommen an Sara, Frau von Wolf Ungar, dem Gemeindediener. In dem Herzen dieses jüdischen Weibes liegt diejenige Liebe, die der Welt einmal den Frieden und die Ruhe wieder zurückgeben wird. Wie kann der Wolf ruhen neben dem Lamm und die Viper neben dem zarten Säuglinge, wenn Gott nicht dafür sorgt, daß noch mehr als eine Sara Ungar nachgeboren wird!«


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