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Elftes Kapitel

Wildes Rufen und Fluchen erhob sich unter den Betrogenen, das sich nur verstärkte, als sie in dem fortgeworfenen Gegenstand ein bedeutungsloses Metallstück erkannten. Sie rüttelten an der schweren, eichenen Thür, durch die Neuert verschwunden war, und die sich nun fest verschlossen zeigte, während sie einander in laut ausgestoßenen Verwünschungen und Vorschlägen zur Verfolgung überboten. Der Lärm der Männer auf dem Korridor ließ endlich Frau Henninger aus ihrem Zimmer hervorkommen und fragen, was geschehen sei.

»Ein Verbrecher ist uns entwischt, hier durch diese Thür. Wohin führt sie? Wir müssen ihn wieder haben.«

»Die Thür führt auf eine Nebentreppe, die aber nur nach unten, nicht nach oben geht. Er kann schon aus dem Hause sein, wenn Sie sich hier aufgehalten haben.«

»Das wäre das Beste, was er hätte thun können. Dann wäre er unserem Kollegen unten in die Hände gelaufen. So dumm sind wir nicht, ein Haus ohne Wache zu lassen.«

Ohne ein weiteres Wort stürmten die Männer die Treppe hinunter, während die Lichter, die sie hielten, einen wechselnden, ermattenden Schein in das Geschoß zurückwarfen, das sie eben mit ihrem geräuschvollen Suchen erfüllt hatten. Auf die Straße hinaus trugen sie Lärm und Hast und vermehrten das laute, wilde Treiben da draußen. Denn Frau Henninger hatte recht prophezeit, und richtig hatte der Polizeibeamte geantwortet. Neuert war über die Nebentreppe zum Ausgang des Hauses gestürzt und hatte die Freiheit zu gewinnen geglaubt, indem er die Straße gewann. Er hatte keine Wache vor dem Hause vermutet und war zurückgeprallt beim Anblick des Polizisten. Aber das Glück schien ihm günstig, denn der draußen Postierte, ein hübscher, strammer Mensch, der als Mädchenjäger galt, hatte auch jetzt wieder, seinen braunen Schnurrbart durch die Finger wirbelnd, mit einem der Dienstmädchen von gegenüber kokettiert und stand abgewandt von der Hausthür, als Neuert herauskam. Ein Schrei des Mädchens aber, das vor dem wild Hervorstürmenden erschrak, machte ihn auf seine Pflichtversäumnis aufmerksam, und durch doppelten Eifer in der Verfolgung suchte er jetzt wieder gut zu machen, was er verfehlt hatte.

Die Jagd begann. Eine tobende, erbarmungslose, atemlose Jagd von Mensch auf Mensch. Durch die Schatten des feuchten Abends ging sie dahin, – es hatte zu regnen aufgehört, aber ein schwerer, weißlicher Dunst hing noch in der Luft, – unter den Laternen hinweg, die für einen Augenblick die vorüberhastenden Gestalten mit einem blitzgleich aufleuchtenden und wieder verschwindenden Schimmer übergossen, durch Wasserlachen, in denen die Straßenlichter sich spiegelten, und die in tausend glänzende Funken auseinander spritzten, wenn der Fuß des Verfolgten oder seiner Verfolger sie traf. Und wie der fallende Schneeball im Sturze zur Lawine anschwillt, so wuchs die Schar der Jäger auf das menschliche Wild. Wie aus der Erde hervorgestampft waren sie da, plötzlich, unerwartet, durch ein Zauberwort scheinbar herbeigerufen. Eine dichte, schwarze, bewegte Masse wälzte sich hinter dem Flüchtling her, von gellenden Rufen und Pfiffen durchtönt, von dem wütenden Verlangen vorwärts getrieben, das lebendige Wesen da vorn, das auf sich allein angewiesen war in dem Kampfe gegen die Menschenwoge, die fast schon seinen flüchtigen Fuß umspielte, niederzustrecken auf die Steine des Pflasters.

Sie waren ihm näher und näher gekommen, und das Echo der nächtlichen Straßen hatte ihnen Antwort gegeben auf den dumpfen, raschen Klang ihrer Füße, als Neuert mit einem plötzlichen Seitensprung sich für einen Moment ihren Blicken entzog. Er war in die enge, finstere Gasse eingebogen, in der des Taubstummen Wohnung lag, und vor dem schwarzen Spalt in der Häuserwand, der sich vor ihnen aufthat, stutzten und zögerten die Verfolger für die Dauer einer Sekunde. Dann aber preßten sie sich hinein in die schmale Oeffnung, und für kurze Zeit war der düstere Gang angefüllt mit den leidenschaftlichen Rufen, die zu immer heißerem Eifer anfeuerten, mit dem glühenden Atem, der von der wütenden Menge einer sengenden Wolke gleich emporstieg, mit dem tobenden Heulen der Meute, die ihres Wildes Spur verloren zu haben fürchtete. Aber nein, dort war er! Nicht hineingeflüchtet in eins der Häuser, die nach der engen Gasse zu ihren Ausgang hatten, – dort hinten, im Lichte der Laternen wieder sichtbar geworden, jetzt eben einbiegend in die breitere Seitenstraße.

Weiter und weiter, ohne Zögern und Halten. In anderen Straßen, in Höfen und Gängen, die in totenhafter Stille dagelegen hatten im Schweigen des Abends, erwachte und verhallte, rasch wieder ersterbend, der Lärm der Jagd. Bis hierher hatte Neuert seinen Vorsprung gewahrt, hatte Entgegenkommende, die ihm in den Weg traten, ihn zu ergreifen, beiseite gestoßen, oder war ihnen ausgewichen durch geschickte Wendung. Nun aber schien er doch zu ermatten, der von der Krankheit geschwächte Körper schien auch der Geißel der Angst nicht mehr zu gehorchen, und einer der Verfolger, ein großer, knochiger Bursche, der seinen Atem nicht mit nutzlosem Rufen verschwendete, kam ihm näher und näher. Der Fliehende hörte den Klang der schweren Füße fester und lauter hinter sich ertönen, und wie ein Pferd auf den Zuruf des Reiters flog er noch einmal in erneuter, vermehrter Eile dahin, als er diesen drohenden Klang vernahm. Aber trotzdem verringerte die Entfernung zwischen den beiden sich mehr und mehr. Sie waren nur noch zwanzig Schritte vielleicht auseinander, als Neuert den Platz erreichte, der die Michaeliskirche trägt. Konnte das Gotteshaus ihm Hilfe bringen? Glaubte der Sündige, eine Zuflucht zu finden im Heiligtum? Warum wandte er sich dorthin, warum sprang er die Stufen zu der Erhöhung mit wenigen Schritten hinan?

Als er an die Treppe kam, war jener erste der Verfolger ihm fast schon so nahe, daß er ihn berühren konnte. Er streckte den Arm nach ihm aus, um ihn zu fassen, aber während er den Blick auf sein Opfer heftete, das, wie er meinte, ihm nicht mehr entgehen konnte, verfehlte sein Fuß die Stufe, er glitt aus und fiel. Mit einer wilden Verwünschung sprang er wieder in die Höhe, doch Neuert hatte den Vorsprung zurückgewonnen, den er verloren hatte, und stürmte der kleinen Pforte in der Mauer neben dem westlichen Kirchenende zu, durch die in jener Winternacht Georg Sybel eine dunkle Gestalt hatte verschwinden sehen. Der Ton eines Schlüssels, der eilig, aber mit sicherer Hand in ein Schloß gesteckt wurde, kam durch den Abend herüber, die kleine Thür öffnete sich, fiel wieder zu, und jener selbe Klang durchtönte noch einmal mit größerer, beinahe triumphierender Helle die Finsternis, die unter den Mauern der Kirche zusammengeballt lag. Von Schmerzen gepeinigt, die der Sturz ihm verursacht hatte, von Wut getrieben, von Enttäuschung beinahe rasend gemacht, warf sich der große Bursche mit einem tierischen Zorneslaut gegen die Thür. Aber sie war fest verschlossen und widerstand seinem Drängen. Zähneknirschend, von einem Fuß auf den andern tretend in der grimmigen Lust, die Verfolgung wieder aufzunehmen, stand er davor und schlug mit den Fäusten gegen das Holz. So fanden ihn die anderen, die hinter ihm zurückgeblieben waren und jetzt herankamen, atemlos, in der Hoffnung, einen Gefangenen in Empfang zu nehmen, und nun Verwünschungen und Fragen in wildem Durcheinander ausstießen, als sie sahen, daß er entkommen war. Entkommen, – wohin? Gab es dort ein Versteck, war er in die Kirche hineingedrungen, oder war er durch die andere Thür, die nach der Straße zu lag, entwischt? Man fragte und fluchte und wiedersprach, als plötzlich eine kreischende, weibliche Stimme aus einem der gegenüberliegenden Häuser vom Fenster herunterrief: »Ich habe es gesehen, er ist in der Krypta!«

Schon vorher waren einzelne, das Gesträuch durchbrechend, von der Erhöhung hinuntergesprungen auf die Straße, um durch die andere, dorthin gelegene Thür Einlaß zu suchen; aber auch sie war verschlossen, und ein erneutes Geheul der Wut und Enttäuschung drang empor. Mit immer wachsender Macht stürzten sich die kräftigsten der Verfolger auf die kleinere, vom Alter schon morsch gewordene Mauerpforte, bis sie einem der heftigsten Stöße vereinter Kräfte endlich gehorchte und aufsprang. Nun stürmten sie hinein, zerstampften die Pflanzen in dem engen, mauerumzogenen Gärtchen vor der Krypta und rüttelten an der festen Thür vor dem Grabgewölbe. Aber die Toten wachten nicht auf, und der Lebende, der an dieser Stätte des Todes verschwunden war, gab keine Antwort.

War er wirklich in der Krypta? War er so thöricht gewesen, sich dort hinein zu flüchten, von wo es keinen Ausweg für ihn gab? War es die Angst des Todes, die ihn hierher getrieben hatte, und suchte er vielleicht nur einen ruhigen Platz, um zu sterben? Nicht so heftig wie bisher drängte die in dem engen Raume zusammengepreßte Menschenwoge dem Eingang des Grabgewölbes zu. Es schien, als geböten die schwarzen, schweigenden Massen der Kirche ihnen Einhalt und Schonung; langsamer bewegten die Verfolger sich vorwärts, und ihre durcheinander klingenden Stimmen senkten sich zu halblautem Flüstern.

Einer der Polizeibeamten faßte den Griff der Thür und suchte mit unsicher tastenden Händen nach einem Schlüssel. »Sie ist offen,« rief er plötzlich und stieß gegen das Holz, daß es zurückflog und den Blick eröffnete in eine tiefe, finstere Höhlung. Eine feuchte Kühle drang daraus hervor und ließ im Verein mit dem geheimnisvollen Dunkel in der Tiefe die Wütenden für einen Augenblick Halt machen und auch das letzte, leiseste Geflüster verstummen. Bald aber hatten die Polizisten die Lichter wieder entzündet, die ihnen erloschen waren beim eiligen Lauf, und indem sie behutsam vorwärts drangen, trugen sie die unsichere, flackernde Helle unter die lastenden Wölbungen der Krypta, zwischen die Pfeiler und Säulen, die in dreifachem Halbkreis den Sarkophag des heiligen Bernward schirmend umstehen, auf diesen grauen, verwitterten Steinsarg selbst, der Jahrhunderte lang, vom Wasser umspült, eines großen Mannes letzte Behausung war. Die Suchenden gingen hierhin und dorthin, ließen die Lichter an Wänden und Säulen in die Höhe gleiten, spähten an den unversehrten, wohlverwahrten Fenstern umher und beugten sich nieder zu der ehrwürdigen, vom Hauch der Vergangenheit unverwitterten Grabstätte. Sie suchten und riefen, sie forschten nach Spuren auf dem steinernen Boden, aber Suchen, Rufen und Forschen blieben vergebens, – Neuert war verschwunden. Aus einer großen Seitenkapelle schaute die steinerne Gestalt einer heiligen Frau mit weißem Leuchten hervor, doch auch diese Kapelle war leer und verlassen, als hätte niemals der Fuß eines Menschen sie betreten. Schon wollte man vom weiteren Suchen abstehen und die Spur wieder draußen verfolgen, als ein Metallschimmer am Boden einen der Polizisten sich bücken ließ. Er hob einen Schlüssel von der Erde empor, und eine schleunig angestellte Untersuchung zeigte, daß es der Schlüssel zu der kleinen Mauerpforte war, die Neuert sich vorhin damit erschlossen hatte. So mußte er hier gewesen sein in der Krypta, die Frau gegenüber hatte sich nicht getäuscht! Aber wo war er jetzt? Er hatte nach dem Zeugnis jener Beobachterin das Grabgewölbe nicht wieder verlassen, – hatte die Erde sich aufgethan, ihn zu verbergen und ihn zu retten? Noch einmal wurde jeder Winkel, jede Schattenfläche hinter den Säulen durchspäht, aber keine Spur des Verschwundenen war zu entdecken. Die Suchenden verstummten, ein geheimnisvoller Schauder ging über sie dahin, und als würden sie Hinweggetrieben von einer unsichtbaren, an dieser Stätte dem Verbrecher selbst Schutz gewährenden Macht, bewegten sie sich langsam, mit unwillkürlich gedämpften Schritten dem Ausgang zu. Vom frischeren Lufthauch da draußen getroffen, flammten die Lichter wieder unruhig empor, aus der wachsenden Dämmerung der Gewölbe aber schauten die Gestalten der gemalten Heiligen in schwächeren Umrissen und langsam verschwimmenden Farben noch einmal hervor, um dann im Dunkel zu verschwinden und unterzutauchen in die Nacht. – – –

Der Anarchist blieb unentdeckt. Man hatte die Beweise gegen ihn jetzt in Händen, man konnte ein paar weitere Verhaftungen daraufhin vornehmen, er selbst aber kam nicht wieder zum Vorschein. Auch eine zweite, am nächsten Mittag vorgenommene Untersuchung der Krypta förderte keine neuen Spuren zu Tage, zeigte keine Möglichkeit des Entkommens aus dem festen Gewölbe, den mächtigen Mauern der geheiligten Grabstätte. In der Bevölkerung freilich tauchten alte, halbvergessene Geschichten wieder auf, die dunkle Sage von einem unterirdischen Gang, der von der Michaeliskirche aus weit unter der Stadt und ihren Häusern dahinführen sollte, doch gab es keine thatsächliche Bestätigung für dieses Gerücht, und keine Spur des angeblich vorhandenen Ganges war aufzufinden.

Im Hause der Schatten ließen die Ereignisse jenes Abends eine tiefe Erregung zurück. In Karolinens Küche wurden förmliche Parlamentssitzungen abgehalten, in denen es an Umsturzvorlagen nicht fehlte. Man gedachte der seltsamen Töne, der unheimlichen Erschütterungen, die das Haus gehört und erfahren hatte, und glaubte die Ursachen der rätselhaften Vorkommnisse nun ausgefunden zu haben. »Ihm hat so 'ne Bombe gemacht,« meinte Karoline, »wie sie ihnen in Paris immer mit sich in die Tasche tragen, wie bei uns die Taschenuhren. Ihm hätte uns alle in der Luft gesprengt un ihm thut es vielleicht heute noch.« Das Stubenmädchen war nervöser denn je und schrie auf, sobald eine Fliege durch das Zimmer flog, aber auch die robuste Köchin hatte nervöse Anwandlungen, setzte ihre Pantoffeln kreuzweis' vor's Bett – ein Schutz- und Zaubermittel, das sie nicht genug empfehlen konnte, – und nahm häufiger als in ruhigen Zeiten zu der Flasche hinter dem Nähkasten ihre Zuflucht.

Martha Wernicke ging ein paar Tage mit bleichem Gesicht und brennenden Augen umher. Sie gedachte der Gefahren, in die Neuerts Liebe sie hätte bringen können, und zugleich empfand sie wider Willen ein tiefes Mitleid mit dem verlorenen Manne, dem sie – das wußte sie durch ein untrügliches Gefühl in ihrer Brust – das Teuerste auf der Welt gewesen war. Sie kämpfte ein paar Tage lang mit dem furchtbar-schönen, für manches Frauenherz verführerischen Gefühl, von einem Verbrecher geliebt zu sein. Köhler war klug und nachsichtig oder auch harmlos und unbefangen genug, ihr Zeit zu lassen, sich wiederzufinden, und bald schaute sie mit den alten, hellen, von reiner, schuldloser Liebe wiederstrahlenden Augen ihm von neuem entgegen.

Bleicher noch, als Martha in diesen rasch vorübergehenden Tagen, fast einer wandelnden Leiche gleich erschien Fräulein Tietjens seit Neuerts Flucht. Aber zugleich war etwas Gehobenes, Elastisches in ihr Wesen gekommen, als trage sie ein großes, gefährliches und zugleich beglückendes Geheimnis mit sich umher. Am wenigsten zeigte Frau Henninger sich von dem Geschehenen berührt. Sie hatte den Entflohenen kaum gekannt, und nachdem der Schrecken des ersten Augenblicks vorüber war, gedachte sie des Vorgefallenen nur noch flüchtig, wie man einer vorüberziehenden Gewitterwolke nachschaut und sie vergißt. Ihr Wesen war durch die Beichte ihres Bruders und die nachfolgenden Eröffnungen des Taubstummen im Innersten erschüttert und aufgewühlt. Alles andere verschwand gegenüber diesem Gefühl; auch für die Wandlung, die mit ihrer Gesellschafterin vorgegangen war, hatte sie kaum Empfindung und Blick.

Daß etwas geschehen mußte, daß sie die That ihres Bruders auslöschen, das erschlichene Geld ersetzen wollte, stand bei ihr so fest, wie der Wille zum Guten, einem unverrückbaren Sterne gleich, über ihrem Lebensweg leuchtete. Aber seit sie den Namen des schuldigsten Mannes kannte, seit sie in die Abgrundstiefen seines Charakters hineingeblickt hatte, fühlte sie sich wehrlos und ohnmächtig wie nie zuvor. Konnte sie hoffen, mit ihrer Frauenklugheit und Frauengewandtheit einen Mann zu besiegen, der jetzt, wo ein Kampf um seine Existenz beginnen mußte, kein Mittel scheuen würde, seine Stellung und seinen Ruf zu wahren?

Sie stand allein in diesem Kampf, den sie aufnehmen mußte und den sie noch immer nicht zu beginnen wagte. Georg war fern von ihr, nicht eine einzige arme Zeile hatte er ihr bisher gesandt. An wen konnte sie sich wenden um Hilfe und Rat? Sie grübelte und fragte und fand keine Antwort, bis plötzlich in einer einsamen Stunde, die sie mit finsteren Gedanken geängstigt hatte, ein Name, wie ein heller, freundlicher Schein, vor ihr auftauchte. Busenius! Dort oben im Giebel wohnte ja der Alte, der Weise, der Milde! Ihm konnte sie vertrauen; Georg hatte es ihr gesagt, und sie selbst hatte es empfunden mit dem sicheren Gefühl, das ein unsichtbares, aber unzerreißbares Band zwischen guten und reinen Menschen webt.

Es war noch in der Morgenfrühe, als ihr der hilfreiche Gedanke kam, doch sie wußte, daß sie dort oben zu jeder Stunde willkommen war. Ein paarmal schon, seit der Geliebte sie verlassen hatte, war sie trostsuchend in den Giebel hinaufgestiegen, und wunderbar gehoben, mit dem Gefühl, als hätte sie aus einer himmlischen Quelle trinken dürfen, war sie jedesmal zurückgekehrt. Und heute galt es noch Wichtigeres, Größeres, als die Liebesnot eines einsamen Frauenherzens. Einen Genossen zum Feldzug gegen die Sünde wollte sie werben, – Busenius würde ihr den Beistand nicht versagen.

Rasch entschlossen eilte sie die Treppen hinan. Die Fenster des alten Hauses waren weit geöffnet für einen sonnigen Frühlingstag, und eine reine, kräftige Luft strömte von allen Selten auf sie ein. Ein gelber Schmetterling taumelte vor dem blauen Viereck eines Fensters vorüber, das den Blick in die weite Himmelsferne erschloß, und als sie einen Augenblick daran stehen blieb, sah sie die Lerchen, wie kleine, dunkle, sonnevergoldete Punkte, im hellen Licht über den grünenden Feldern schweben und hörte ihr Lied, vom sanften Winde weitergetragen, zu sich herüber klingen. Ihre Brust hob sich in Hoffnung und Mut beim Anblick dieses heiteren Bildes, beim Atmen dieser lebenerweckenden Luft, und ohne noch einmal stehen zu bleiben, stieg sie höher hinauf, zu Busenius' Zimmer empor. Er öffnete ihr selbst auf ihr hastiges Klopfen und hielt ihr die ausgestreckten Hände entgegen. »Das ist schön, daß Sie kommen,« sagte er, »ich hatte das Gefühl, daß dieser heitere Morgen mir etwas recht Willkommenes bringen müßte, und da ist es ja schon.«

»Dann will ich nur wieder gehen,« sagte sie mit einem anmutigen, etwas verlegenen Lächeln. »Denn ich glaube nicht, daß ich Ihnen noch länger willkommen bin, wenn Sie gehört haben, was mich zu Ihnen führt. Ich wollte Ihren Rat erbitten und Ihnen häßliche, böse Dinge erzählen.«

»Es ist nichts an sich gut oder böse, unser Denken erst macht es dazu. Sie kennen Hamlets Wort, und er hat recht. Wenn man von einem hohen Berge hinunter sieht, ist auch ein wütender Fluß, der Häuser und Menschen mit sich fortreißt, nur ein leuchtendes Silberband. Auf die Höhe kommt's an, auf der man steht.«

»Aber darum bleibt das Elend doch in der Welt! Die Häuser stürzen ein, und die Menschen ertrinken!«

»Und wir sollen ihnen helfen, – gewiß. Aber wer selbst mit fortgerissen wird von solchem Strome, der ist ohnmächtig für sich und andere, mag es ein Wasserstrom oder ein Strom der Leidenschaften sein. Von der Höhe nur können wir helfen und retten.«

»Sie stehen auf der Höhe, also helfen Sie mir, –

»Müssen Sie darum wirklich erst bitten, um etwas, das so selbstverständlich ist? Kommen Sie her, setzen Sie sich und erzählen Sie mir.«

Er führte sie zu dem erhöhten Sitz am Fenster, der jetzt in der Morgenstunde nicht von der Sonne beschienen war, aber weit hinausblicken ließ in das freie Land mit seinem lieblichen Wechsel von Schatten und Licht. Busenius blieb aufrecht ihr gegenüber stehen, gerade vor dem regenbogenfarbigen Streifen an der Wand mit dem goldenen Worte ›Excelsior!‹ Frau Ina wollte es scheinen, als habe er nie zuvor so schön und vergeistigt ausgesehen, wie in dieser Stunde, und jene harmonisch zusammenklingenden Farben umleuchteten sein Haupt wie der Strahlenschein eines Heiligen.

Es wurde ihr schwer, einen Anfang zu finden, aber als sie einmal begonnen hatte, erzählte sie alles, was ihr begegnet war: die Annäherung des Doktors Jaksch, das Gespräch mit dem Bruder, die Lösung des Rätsels durch die unerwartete Hilfe Bäsmanns. bis es ihr zur Gewißheit geworden war, daß ein Verbrecher mit ihr unter einem Dache wohne. »Den Anarchisten hier hat man verfolgt und gejagt; ich sage nichts dagegen, ihm ist sein Recht geschehen. Aber der andere, der vielleicht zehnfach so schuldig ist, als ein verleiteter junger Mensch, geht frei umher und genießt die Früchte seines abscheulichen Betruges!« Mit einem Seufzer der Befreiung beschloß sie den langen Bericht; Busenius aber antwortete nicht gleich. Er hatte das Haupt gesenkt und schaute mit starren Blicken nach unten, als hätte ein Abgrund sich vor ihm aufgethan, der ihm schreckliche Dinge enthüllte.

»Er geht seinen Weg,« sagte er leise und schmerzlich. »Er hat das Wort vergessen, das dort steht.« Nun hatte er sich aufgerichtet und zur Seite gewendet und wies mit erhobenem Finger auf das ›Excelsior!‹ an der Wand.

»Ob er es jemals gekannt hat?« fragte Frau Henninger mit gedämpfter Stimme; es war ihr, als dürfe sie kein lautes Wort sprechen in diesem Augenblick, diesem Manne gegenüber, aus dessen Augen ein wunderbares Feuer leuchtete. Auch schien er ihre Worte nicht zu hören; wie mit sich selber redend, fuhr er fort: »Nein, nicht vergessen. Umgedeutet in seinem Sinne, in dem seiner Zeit. Den Menschen von heute scheint ja ein einziger Weg nur aufwärts zu leiten, der zum Erfolg und zur Macht. ›Excelsior!‹ rufen auch sie und spotten damit ihrer selbst. Hinauf, immer höher, immer weiter, zu immer glänzenderen Sphären der Menschenexistenz klimmen sie hinan, stoßen den Nebenmann nieder und schreiten weiter über seinen Leib. Aber die Stunde kommt für sie alle, in der sie erkennen, daß es ein lockendes Trugbild gewesen ist, das ihnen vorschwebte, und daß sie abwärts getaumelt sind, anstatt hinanzusteigen.«

Er hatte geendet, es wurde ganz still um die beiden her. Eine große Fliege kam durch das offene Fenster surrend hereingeschossen, umkreiste einmal das Zimmer und flog wieder hinaus in die Freiheit. Nun hörte man nur noch die lauten Atemzüge der beiden Menschen. Endlich faßte Frau Henninger Mut zu einer Frage: »Was soll ich thun?« Ganz leise kamen diese Worte hervor.

Busenius trat zu ihr und legte ihr seine Hand auf die Schulter, eine schlanke, blasse und feine Hand, wie Gedankenmenschen sie haben. »Thun Sie, was Sie müssen,« sagte er. »Beginnen Sie den Kampf, er wird sich von selbst Ihnen bieten. Und seien Sie mutig, Sie haben Ursache, mutig zu sein. Das Reine ist in unserer Welt und in allen anderen Welten zuletzt doch mächtiger, als das Unreine, und vor der höheren Existenz muß sich die tiefere beugen. Haben Sie keine Furcht, wenn er zu Ihnen kommt –«

»Er zu mir?« Mit einem Ton des Schreckens und des Abscheus rief sie es aus.

»Er wird kommen, ich weiß es. Er hat immer noch einen Weg, den er einmal betreten hatte, bis ans Ende verfolgt. Und diesmal treibt ihn, was er Liebe nennt. Glauben Sie mir, er wird kommen.«

Wieder blieb er einen Augenblick sinnend stehen, dann ging er ganz langsam, als kämpfe er mit einem Gedanken, zu dem großen Tisch an der Wand, ergriff ein leeres Blatt Papier und schrieb ein paar Worte darauf. »Ja, es ist Zeit,« murmelte er kaum vernehmbar, als er sich wieder erhob. »Lassen Sie ihn bis zu Ende reden,« sagte er, »lassen Sie ihn sein Spiel aufdecken bis zu der letzten Karte. Dann sagen auch Sie ihm alles, was Sie wissen, stellen Sie Ihre Forderungen, und wenn er sich weigert, geben Sie ihm dies.« Noch eine Sekunde schien er zu zögern, bevor er das Blatt in ihre Hand legte, dann aber gab er es ihr mit einer raschen Bewegung. »Lesen Sie,« sagte er, indem er es ihr reichte.

Sie sah eine große, schräge, nicht völlig gleichmäßige Schrift auf dem Weiß des Papiers, die doch harmonisch und anmutig war, und las die wenigen Worte, die dort standen:

»Ich weiß, was du gethan hast, und bin in deiner Nähe. Erfülle die Forderungen der Frau, von der du dieses Papier erhältst.

Leopold Busse.«

Bevor sie ihr Staunen über die seltsamen Worte mit einer Bewegung nur äußern konnte, hörte sie ihn von neuem sprechen. »Ich lasse Ihnen dieses Blatt, aber nur unter einer Bedingung. Sie müssen mir Ihre Hand darauf geben, daß Sie ihm nicht verraten wollen, von wem es stammt, wo ich mich aufhalte, wer diese Worte geschrieben hat. Hören Sie wohl, es ist ein festes, bindendes Versprechen, das ich fordere.«

Ohne Zaudern legte sie ihre Hand in die seine, die warm und trocken und merkwürdig weich war. Aber indem sie es that, weilten ihre Gedanken noch immer bei dem wunderlichen Inhalt des geheimnisvollen Papiers, bis ein Gedanke, jäh wie ein Schrecken, sie von ihrem Sitz emporspringen ließ.

»Mein Gott,« rief sie aus, »wenn ich mir das zusammenhalte, was ich weiß, was ich Ihnen gesagt habe, und was ich hier lese, dann muß ich glauben, – ja, dann sind Sie –«

»Sprechen Sie es nicht aus!« Mit lauter, befehlender Stimme hatte er die Worte gerufen; mehr aber noch, als der Ton seiner Rede, hielt ein Blitzen in seinen Augen sie ab, weiter zu sprechen. »Ich bin, der ich bin,« fügte er sanfter, aber doch bestimmt und fest hinzu. »Ein Mensch, nichts weiter. Namen sind nur Verkleidungen.«

Er verstummte und lächelte, ein träumerisches, gedankenvolles Lächeln, als blicke er im Geist auf die endlose Reihe von Gestalten zurück, in denen er seinem Glauben nach auf dieser Erde schon gewandelt war, auf die ungeheuere Kette von Namen, die er getragen hatte. Dann sah er Frau Ina in die erstaunten Augen, und sein Lächeln wurde das eines guten Freundes. »Was ich zu sagen wußte, habe ich Ihnen gesagt. Und wenn Sie wieder einen Rat bedürfen, so scheuen Sie den Weg in meinen Giebel nicht.«

Sie wagte es nicht, seinem Gebot zu trotzen und die Gedanken in Worte zu kleiden, die ihre Seele durchfluteten. So reichte sie ihm nur die Hand mit ein paar herzlichen Worten des Dankes. Er geleitete sie zur Thür und blieb in der Oeffnung stehen, bis sie die Treppe erreicht hatte. Noch einmal schaute sie von dort zurück. Vor dem hellen Hintergrunde des Fensters, das der Thür gegenüber lag, erhob seine Gestalt sich dunkel und hoch; sein Gesicht schien ihr bleicher in dieser Beleuchtung, und indem sie zu ihm hinüber blickte, kam ihr plötzlich das Gefühl, als sähe sie ihn zum letztenmal. Sie wollte wieder zu ihm herantreten, aber sie schämte sich ihrer abergläubischen Empfindung und nickte nur freundlich zu ihm hinüber. Grüßend, beinahe wie segnend erhob er die Hand und winkte ihr zu; dann trat er in das Zimmer zurück, und hinter ihm schloß sich die Thür.

Unten in ihren eigenen Räumen erst überfielen die Gedanken, die durch das Gespräch mit Busenius geweckt waren, Frau Henninger mit voller Macht. Wieder und wieder fragte sie sich, ob es denn möglich sei, was mit der Bestimmtheit einer notwendigen Folgerung plötzlich ihre Seele blitzgleich durchzuckt hatte, ob der Mann im Giebel dort oben in Wahrheit der verratene, betrogene Freund des Doktors sei. Und was ihr im ersten Augenblick unumstößliche Gewißheit geschienen hatte, das wurde ihr jetzt bei dem einsamen Grübeln fragwürdiger und unwahrscheinlicher von Minute zu Minute. Diese beiden Männer, in demselben Hause neben einander lebend, ohne einander zu kennen oder sich zu erkennen zu geben, so nahe, nur durch ein paar Treppen und Wände geschieden, – nein, es war nicht möglich! Und doch vermochte sie nur so sich den Inhalt des geheimnisvollen Papiers zu erklären, die Macht des einen über den anderen, die daraus sprach.

Busenius hatte ihr geraten, das freiwillige Kommen des Doktors abzuwarten, und sie hatte beschlossen, ihm zu gehorchen. Aber sie zählte die Stunden und Tage mit wachsender Ungeduld in erregten Gedanken an den Augenblick des Kampfes, um dann doch zu erschrecken, als gegen Abend des dritten Tages Fräulein Tietjens hereintrat mit der Meldung, daß Doktor Jaksch um eine Unterredung mit Frau Henninger bitte. Die Gesellschafterin hatte ein grausames, medusenhaftes Lächeln auf dem bleichen Gesicht, aber Frau Ina war zu sehr mit den eigenen Gedanken beschäftigt, um darauf zu achten. Sie brauchte eine Sekunde, um sich zu fassen, drückte ihr Taschentuch an die Lippen und sagte dann, indem sie sich erhob: »Er wird mir willkommen sein.«

Er war ihr willkommen, denn sie wollte und konnte die wachsende Unruhe nicht mehr ertragen, und sie ging ihm ein paar Schritte entgegen, als er nun eintrat. In die Hand aber, die er ihr bot, legte sie nur die Spitzen ihrer Finger, um sie gleich wieder zurückzuziehen. Er war im tadellosen, schwarzen Besuchsanzug, doch trug er einen leichten Karbolgeruch aus dem Doktorzimmer mit sich herein. Auf seinem Gesichte ging und kam die Farbe, aber er sprach die Worte der Begrüßung mit ruhiger Stimme. Sie setzten sich auf den Platz in der Ecke des Erkerzimmers, wo die Palmen standen, und indem sie sich niederließen, empfand es Frau Henninger wie eine Beleidigung, daß dieser Mann hier an derselben Stelle ihr gegenüber sitzen durfte, wo der Geliebte so oft gesessen hatte. Dies Gefühl jedoch stärkte nur ihre Entrüstung und ihren Mut, und sie empfand eine heiße Kampfesstimmung in ihrem Herzen.

Doktor Jaksch begann, indem er einen Brief hervorzog, auf dem Frau Inas scharfe Augen eine italienische Marke erkannten. Trotzdem fragte sie nicht, sondern wartete, bis er sprach.

»Mein Neffe hat mir heute geschrieben,« sagte er, »aus Mentone noch immer. Er kann sich nicht satt sehen an der italienischen Natur, die einen sehr heilsamen Einfluß auf ihn auszuüben scheint. Ich freue mich, daß meine Diagnose mich nicht getäuscht hat. Er war ein wenig Melancholiker geworden diesen Winter, hatte ja auch Ursache dazu in gewisser Hinsicht. Aber, du lieber Gott, er ist noch jung, und für die Jugend ist Ortsveränderung die sicherste Medizin. Auch bei ihm hat sich das prächtig bewährt. Der Ton seiner Briefe ist schon ein ganz anderer geworden; Sie werden das auch finden, er hat Ihnen jawohl kürzlich geschrieben?«

»Er hat mir nicht geschrieben,« entgegnete sie kurz und hart. Ein Gefühl des Zornes wallte in ihr auf, daß Georg sie zu dieser Antwort zwang.

»Nein? Ich meinte, es gehört zu haben. Nun, dann will ich um so eiliger seine Grüße ausrichten; recht herzlich läßt er Sie grüßen, gnädige Frau. Ja, wie gesagt, der Ton seiner Briefe ist ganz verändert. Er schreibt viel von einer hübschen, kleinen Französin dort im Hotel, vielleicht hat sie zu dieser Wandlung mitgewirkt.«

»Zeigen Sie mir den Brief, Herr Doktor,« rief sie mit unwillkürlicher Heftigkeit. Aber sie bereute das übereilte Wort nicht, denn seine Entgegnung zeigte ihr, daß er gelogen hatte.

»Pardon, meine Gnädigste, dieser Brief ist nicht für Sie. Ich meine damit, er enthält einige Stellen, die Sie verletzen könnten, und ich möchte nicht dazu beitragen, Ihnen wehe zu thun. Wir wissen ja, wie Sie mit meinem Neffen gestanden haben – hoffentlich liegt die Sache jetzt hinter Ihnen. Er scheint sich wenigstens an einer neuen Sonne zu wärmen. Denken Sie, er hat sogar angefangen, zu schriftstellern, und da die Herren Poeten jawohl gemeiniglich durch irgend eine kleine Herzensaffaire zu ihren unsterblichen Werken angeregt werden, so glaube ich beinahe, diese Person da, von der er schreibt, diese Französin ist ihm zur Muse geworden.«

Sie wußte, daß er die Unwahrheit sprach, aber ein kleiner Tropfen von dem Gifte, das er ihr eingeflößt hatte, blieb doch in ihren Adern zurück. Wenn Georg wirklich, – und sie glaubte, daß das keine Lüge war – in einer neuen, wohlthätigen Beschäftigung ein Heilmittel für Schmerz und Sehnsucht gefunden hatte, warum sagte er es ihr nicht selbst mit einem Worte, mit einer einzigen Zeile? Warum ließ er sie nicht teilnehmen an den belebenden Hoffnungen, die mit solcher Thätigkeit in seiner Seele erwacht sein mußten, und die sie vom Himmel so oft für ihn erfleht hatte? Sollte nicht doch vielleicht eine neue Liebe –? Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende, aber ein Schmerz, heißer und gewaltiger, als alle die bitteren Leiden des vergangenen Winters, preßte ihr das Herz zusammen mit grausamer Macht.

Sie fühlte, daß sie antworten mußte, doch rang sie Vergeblich nach Worten. Endlich sprach sie und freute sich dabei im stillen, daß ihre Stimme nichts von dem Aufruhr in ihrer Seele verriet. »Es wäre schön für ihn, wenn er die Fähigkeiten für einen neuen Beruf in sich entdeckte. Zum Juristen hat er wohl niemals gepaßt.«

»Nein, das weiß der Himmel,« sagte der Doktor lachend. »Er hat niemals Lust dazu gehabt, und meine Menschenkenntnis hat mich wirklich einmal im Stiche gelassen, als ich ihn dazu beredete. Zu Juristen sollte man nur Verstandesmenschen nehmen.«

»Sie hätten Jurist werden sollen, Herr Doktor.«

Die Ironie in ihren Worten überhörend, lächelte er höflich. »Vielleicht wäre das ganz passend gewesen. Aber der Beruf des Arztes fordert ebenso, wie der des Juristen, einen ruhigen Verstand und einen klaren Blick.«

»Ich habe mir freilich sagen lassen, daß es Aerzte und Juristen genug giebt, die mit dem Verstände allein auszukommen meinen und auch wohl in Wirklichkeit auskommen. Aber ich habe immer gedacht, gerade bei den Männern dieser Berufe sollte das Herz eine mindestens ebenso große Rolle spielen, wie der Kopf. Ein Arzt, der jemals das Mitgefühl für die Leiden seiner Kranken verlernt, ist in meinen Augen kein wahrer Arzt. Und mit gerade so warmem Herzen sollte der Jurist die Krankheiten der Menschenseele zu erkennen suchen, denn oft ist das sogenannte Verbrechen doch nur eine Krankheit.«

Sie hatte sich in Eifer gesprochen, von der Beschäftigung mit einem häufig gedachten Gedanken mit fortgerissen und durch die Erinnerung an Doktor Jakschs Kaltherzigkeit dem kleinen Hannchen gegenüber noch heftiger aufgestachelt. Aber jetzt bereute sie es doch, auch nur ein Stückchen ihres Herzens diesem Manne gezeigt zu haben, und in halber Verlegenheit schaute sie nach der anderen Seite des Zimmers hinüber, wo der entschwindende Sonnenschein durch die bunten Glasscheiben im Erkerfenster farbige Muster auf den Fußboden zeichnete. Sie hatte ihre linke Hand, die sich bei der lebhaften Rede ein wenig geballt hatte, auf den Tisch sinken lassen, und sie lag noch dort, während Frau Henninger jetzt von ihrem Besucher abgewandt dasaß.

Nach einem drückenden Schweigen, das auch er mit keinem Laut unterbrochen hatte, fühlte sie plötzlich, wie seine Finger, kalt und feucht, sich um die ihren legten, und ehe sie es hindern konnte, hatte er ihre Hand mit seinen beiden Händen fest umspannt, zog sie an sich und drückte seine Lippen darauf. Sie wollte sich von ihm losreißen, wollte ihm ihren Abscheu und ihre Verachtung ins Gesicht schleudern, aber sie dachte an Busenius' Mahnung, ihn seine ganze Seele enthüllen zu lassen, und duldete einen Augenblick schweigend seine Nähe. Dann machte sie sich los und preßte ihr Taschentuch auf die Hand, die seine Lippen berührt hatten.

Noch ehe sie sich wieder von ihm frei gemacht hatte, begann er zu sprechen mit entstellter, heiserer Stimme. »Das ist es ja, was Sie so schön macht, diese Wärme des Herzens. Wenn Sie wüßten, wie Ihr Gesicht leuchtet in solch' einem Augenblick! Wenn Sie ahnten, welche Gewalt Sie über die Menschen haben, – aber Sie sehen es ja an mir. In Ihrer Nähe bin ich willenlos wie ein Kind. Ich thue Dinge, über die Sie mir zürnen müssen, aber ich bin nicht imstande, mich zu bezwingen. Wehrlos und waffenlos bin ich in Ihrer Macht!«

»Sind Sie gekommen, um mir das zu sagen?«

»Ich wollte es sagen, aber anders, nicht so. Ruhig und verständig, wie es einem Manne in meinen Jahren wohl ziemt.« Er lächelte ein wenig und strich sich mit der Hand über die Stirn, während der große Diamant an seinem kleinen Finger in wechselndem Feuer leuchtete. »Aber in Ihrer Nähe bin ich nicht Herr meiner selbst. Es macht mich rasend, so neben Ihnen zu sitzen und Sie nicht an mich zu reißen.«

Sie machte eine Bewegung, um sich zu erheben, er aber erfaßte von neuem ihre Hand. »Verzeihen Sie mir, ich will so etwas nicht wieder sagen. Ich will jetzt wirklich ganz ruhig und verständig sein. Aber hören müssen sie endlich, daß ich Sie liebe, daß ich Sie schon geliebt habe, als Ihr Mann noch lebte, und daß der Wunsch, Sie zu besitzen, nur noch heißer geworden ist seit dem Tage, an dem er starb.«

»Sie wagen es, mir das zu sagen, obwohl Sie wissen, daß ich Ihren Neffen liebe?«

»Ich weiß, daß Sie geglaubt haben, ihn zu lieben und von ihm geliebt zu werden. Aber ich weiß auch, daß er seit Wochen von Ihnen getrennt ist, ohne Ihnen ein Wort, eine Zeile zu schreiben, ich weiß, daß er Ihre Liebe nicht verdient hat und Sie vergißt!«

»Daß er mich vergißt!« Das Gift, das er ihr eingeflößt hatte, begann seine Wirkung. Ihre geheimen, flüchtigen, bangen Gedanken hatte er jetzt eben in Worte gekleidet, und für einen Augenblick meinte sie zu fühlen, er habe recht mit dem, was er sprach. Ihm aber schien ihr schmerzlicher Ausruf eine Verheißung dessen, was er begehrte, er machte ihn unvorsichtig und tollkühn.

»Der eine vergißt Sie dort in der Ferne, er ist Ihrer Liebe nicht wert. Aber hier ist ein anderer Mann, dessen Neigung nach Jahren zählt, der im stillen um Sie geworben und gedient und gewartet hat, bis seine Stunde gekommen wäre. Sagen Sie mir, daß sie jetzt da ist, daß ich Sie in meine Arme nehmen darf!«

Sie sah die glühende Röte auf seinem Gesicht und sah, wie er zitterte in rasender Sinnlichkeit, die nach ihrem Besitz begehrte. Sie stellte in Gedanken die Gestalt des Mannes, den sie liebte, neben ihn und weckte dadurch ein mildes Gefühl reiner Wärme in ihrem bewegten Herzen. Auch Busenius' ehrwürdiges, leidenschaftsloses Gesicht meinte sie für einen Augenblick hinter ihm auftauchen zu sehen und gedachte der Worte, die er zu ihr gesprochen hatte. Darum bezwang sie sich noch jetzt und sagte nur, als Jaksch laut atmend schwieg: »Sie kennen ja doch das Versprechen, das ich meinem Manne gegeben habe.«

»Sie hätten es meinem Neffen zuliebe gebrochen.«

Sie schwieg und sah vor sich nieder; sie fühlte es, dies Versprechen war keine Waffe mehr gegen ihn. Er aber blickte zur Seite, ob sie auch wirklich allein seien, um sich dann wieder nahe zu ihr heran zu beugen. Sie fühlte seinen heißen Atem, als er nun ganz leise zu ihr sprach. »Auch könnte ich Sie von diesem Gelübde und seiner Last befreien, wenn Sie dann frei sein wollten für mich.«

»Mich befreien?«

»Durch ein Wort Ihres verstorbenen Mannes, das ich allein kenne.«

»Wenn das möglich wäre!« Für einen Augenblick überwog die plötzlich erweckte Hoffnung, der Jubel über die fern auftauchende Möglichkeit einer glücklichen Zukunft ihre Zweifel an seinen Worten, das Mißtrauen ihrer Seele gegen ihn selbst. »Wenn das möglich wäre!« rief sie noch einmal und umklammerte seinen Arm, ohne sich bewußt zu werden, daß sie es that.

Ihm aber nahm ihre Berührung den letzten Rest von Vorsicht und Berechnung. »Es ist möglich, es ist! Sie wissen, daß ich als Hausgenosse und Arzt der erste war, der am Morgen nach seinem Tode gerufen wurde. Ich konnte nichts thun, als konstatieren, daß er schon vor mehreren Stunden gestorben sei, aber damals blieb ich eine kurze Zeit mit der Leiche allein. Sie wissen, daß er in seiner letzten Nacht aufgestanden ist und versucht hat, zu schreiben; auf seinem Schreibtisch liegt ja noch das Blatt Papier, auf dem die Feder abgeglitten ist. Aber er hat doch noch etwas niedergeschrieben in jener Nacht.«

Sie wollte fragen, sie rang nach Worten, aber die Stimme versagte, und ihr Atem kam laut, fast wie ein Stöhnen aus ihrer Brust. Ihre Finger umspannten fester seinen Arm, und ihre Berührung durchzitterte ihn von neuem wie ein elektrischer Strom. Auch ihm kamen die Worte immer heiserer und gebrochener vom Munde, während er weiter sprach und mit seinen Blicken den Körper der Frau gleichsam umklammerte, die ihm endlich so nahe war. »Er muß sich wieder niedergelegt haben,« fuhr er fort, »nach jenem vergeblichen Versuch am Schreibtisch. Aber er hat sich ein Blatt Papier aus dem Notizbuch gerissen und hat mit Bleistift noch ein paar Worte geschrieben. Er hielt den Zettel zusammengepreßt in der Hand, ich aber habe ihn genommen und gelesen und – ich muß es Ihnen heute gestehen – ich habe ihn behalten.«

»Das kann nicht wahr sein!« Sie sagte es mit einem Seufzer, alle die Zweifel, die während der letzten Minuten geschlummert hatten, waren mit einem Male wieder erwacht. Er aber tastete mit unsicheren Händen auf seiner Brust umher und holte eine Brieftasche hervor, die er eilfertig öffnete. »Sehen Sie her,« sagte er und hielt ihr ein kleines, zerknittertes Blatt entgegen, das nachträglich wieder war geglättet worden.

Sie nahm es und las. Und indem sie die Handschrift ihres Mannes erkannte, verzerrt und entstellt durch die furchtbare Nähe des Todes, die ihn zum Schreiben gedrängt hatte, doch zweifellos echt und unverfälscht, kam ein befreiendes Gefühl über sie, wie sie es niemals mehr geträumt hatte. Hier war die Lösung der Zweifel auch für den Geliebten. Wie sie sich befreit hatte durch eigene Kraft, so wurde er frei gemacht durch die letzten, lösenden Worte des Sterbenden. Sie hatte vergessen, aus wessen Händen sie das Papier empfangen hatte, wer neben ihr saß. Ein weiter, sonniger Weg that sich vor ihr auf, und eine Gestalt kam ihr im hellen Lichte von weitem darauf entgegen, die ihr teuer war über alles in der Welt.

Wieder und wieder las sie die Worte des Toten: »Dem Sterben nahe, fühle ich, daß du dem Leben gehörst. Mit Unrecht habe ich das Versprechen von dir gefordert, ich mache dich wieder frei davon. Sei glücklich.« Von dem Namen ihres Mannes standen nur noch die Anfangsbuchstaben darunter, dann war ihm die erkaltende Hand erlahmt. Aber soviel der Mann da neben ihr gelogen haben mochte in seinem Leben, dieser Zettel war echt. Sie war frei und schuldlos auch in den Augen der Welt, sie durfte glücklich werden, ohne des Vorwurfs Augen auf sich gerichtet zu fühlen!

Mit jähem Wechsel, auf eine leise Bewegung des Doktors, der sie aus ihrer seligen Träumerei zu erwecken suchte, wandelte sich ihr die Empfindung des Glücks in die des Zornes. Des Zornes auf ihn, der sie hatte dulden lassen Wochen und Monate hindurch, ohne den Finger zu rühren, um sie zu erlösen von ihrer Qual.

»Warum geben Sie mir dies erst heute?«

Er beugte sich im Sessel zurück vor der glühenden Entrüstung in ihren Augen. Aber er gab sein Spiel nicht verloren. »Weil ich Sie liebte,« sagte er leise.

»Das ist keine Entschuldigung für einen Diebstahl.«

»Die Liebe hat schon größere Sünden entschuldigt. Sehen Sie, als ich dies fand, da war mein Wunsch, Sie zu besitzen, schon ganz so glühend wie heute. Ich wußte, daß Sie Ihren Mann geliebt hatten, und daß ich warten mußte ruhig und geduldig. Aber indem ich dieses Blatt Papier an mich nahm, glaubte ich Sie von jeder anderen neuen Liebe frei zu halten. Wenn dann die Zeit gekommen war, wenn ich mir langsam Ihre Liebe erobert hatte, dann wollte ich Sie auch von dem letzten Skrupel durch diese Worte hier befreien, wie ich es heute nun wirklich thue. Und ich wäre schon eher zu meinem Ziele gelangt, wenn ich nicht selber so unklug gewesen wäre, Ihnen meinen Neffen ins Haus zu bringen, den schönen Geist, an dessen Gefährlichkeit für die Frauen ich niemals gedacht hätte. Jetzt aber –«

»Sie sind ein Schurke!« Sie hatte sich erhoben, nicht hastig und leidenschaftlich, sondern mit ruhiger Hoheit und stand ihm gegenüber, die Hände auf die Platte des Tisches gestützt. Als hätte sie ihm einen Schlag ins Gesicht gegeben, so taumelte er empor, den Sessel zurückstoßend, und hob die Fäuste, als wolle er sie zerschmettern.

»Ein Schurke, sage ich! Und auch den Beweis will ich Ihnen nicht schuldig bleiben, wenn Sie ihn haben wollen. Sie sind ein Dieb, das Papier in meiner Hand hier beweist es. Sie sind ein Verräter, denn Sie haben das Vertrauen eines Freundes verraten. Denken Sie an Ihre Vergangenheit und hören Sie genau auf das, was ich sage. Sie sind ein Betrüger, denn durch Betrug haben Sie sich in den Besitz des Vermögens gesetzt, von dem Sie leben, und von dem Ihnen kein Pfennig gehört, weil der Mann noch lebt, dessen Tod Sie erdichtet haben. Mit Hilfe meines unglücklichen Bruders, den Sie verführten und ins Elend brachten!«

Die Hände waren ihm herabgesunken, als lähmte ihn das Gewicht der Anklagen, die auf sein Haupt niederfielen. Bei der Erwähnung ihres Bruders aber belebten seine erstarrten Züge sich wieder und erfüllten sich mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Bosheit und Haß.

»Der Hund! Er also hat geschwatzt! Hätte ich ihn hier vor mir!« Es war etwas so Mörderisches in seinem Blick, daß sie unwillkürlich zurückwich. Aber in ihrer mutigen Rede ließ sie sich nicht beirren und hemmen.

»Ein Mord fehlt freilich noch in der Liste Ihrer Verbrechen. Dazu waren Sie doch wohl zu klug, wenn Sie auch sonst ein dummer Schurke gewesen sind. Wie alle Schurken, denn sie berechnen die anderen Menschen nach sich und lassen bei ihren Exempeln immer die Treue und Wahrhaftigkeit aus der Rechnung. Hätten Sie sonst jemals glauben können, daß ich nach wenigen, kurzen Wochen dem Manne untreu werden könnte, dem meine Seele und mein Leben gehört? Hätten Sie sonst –«

»Was soll das alles? Warum sagen Sie mir das?« Er hatte sich von seinem Schrecken erholt, und seine ohnmächtige Wut wandte sich nun gegen sie.

»Weil es mich ersticken würde, wenn ich es noch länger auf der Seele behielte. Aber auch nicht ohne Zweck, ohne äußeren Zweck. Sie haben gehört, was ich von Ihnen weiß, und ich brauchte nur zum Gerichte zu gehen, um Sie noch heute zum Gefangenen zu machen. Wenn ich es unterlasse – vorläufig nur, merken Sie sich das – dann geschieht es aus Rücksicht auf Georg, nicht auf Sie selbst. Aber ich stelle meine Bedingungen. Sie verlassen nach Verlauf von acht Tagen diese Stadt, um niemals hierher zurückzukommen. Sie –«

Ein höhnisches, heiseres Lachen unterbrach sie, aber sie achtete nicht darauf und fuhr fort: »Sie ersetzen der Versicherungsgesellschaft, die Sie betrogen haben, bei Heller und Pfennig das geraubte Geld. Was mein Bruder davon erhalten hat, werde ich Ihnen geben, ich will nicht, daß er von Ihrer Güte, wie Sie es vielleicht nennen würden, gelebt hat. Sie versprechen ferner –«

»Weiberideen und Weibergewäsch! Damit bin ich noch immer fertig geworden. Sparen Sie sich Ihre weiteren Worte; ich thue nichts von dem, was Sie verlangen.«

»Sie weigern sich?«

»Und ich werde mich weigern, solange ich Atem habe zu sprechen.«

»Sie wollen meine Forderungen nicht erfüllen – gut. Vielleicht hat ein anderer mehr Gewalt über Sie, als ich. Es ist ein sonderbarer Zufall: Sie haben heute mit diesem Blatte Papier eine Wendung in mein künftiges Leben gebracht, auch ich habe ein Blatt Papier in Händen, das vielleicht eine ähnliche Wirkung auf Sie ausübt.«

Sie ging zu ihrem Schreibtisch und nahm aus einer verschlossenen Mappe, die dort lag, und die sie öffnete, das Papier, das Busenius ihr gegeben hatte. Langsam reichte sie es Doktor Jaksch, er aber hatte kaum einen Blick darauf geworfen, als er einen Schreckenslaut ausstieß und, die Hände ausstreckend, davor zurückwich bis zu der Wand des Zimmers. »Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr!« stammelte er. Dann aber, als sie die Schrift ihm noch immer ruhig entgegenhielt, griff er nach seinem Hals, als müsse er ersticken.

»Wer hat es Ihnen gegeben?« flüsterte er.

»Das werden Sie niemals erfahren.«

»Ich aber will es wissen, hören Sie wohl, ich will! Wer hat Ihnen dieses Blatt gegeben?«

»Sie erfahren es nicht, ich habe es Ihnen gesagt.«

»Ueberlegen Sie es wohl!« Er war dicht vor sie hingetreten, bebend vor Angst und Zorn, mit weißem, verzerrtem Gesicht. »Ich ermorde Sie, wenn Sie es mir nicht sagen!«

»Ich habe mein Wort gegeben, zu schweigen, und ich werde es halten.«

Er vermochte nicht mehr zu reden, die Wut erstickte ihn, mit geballten Fäusten und zuckenden Lippen stand er lautlos vor ihr, so furchtbar in seinem schweigenden Haß, daß sie fühlte, wie Kraft und Mut sie verließen. »Soll ich um Hilfe rufen?« So viel Stärke hatte sie noch, um es laut und spöttisch zu sagen, im selben Augenblick aber hob er die Hände, packte ihre Schultern und preßte sie zusammen mit der Gewalt eines Raubtiers.

»Soll ich Ihnen helfen?« Er zuckte zusammen bei dem Ton dieser Stimme, die plötzlich hart und kraftvoll hinter ihm erklungen war. Wie zu einem freundlichen, hilfreichen Geist aber blickte Frau Henninger zu der dunklen Gestalt von Fräulein Tietjens hinüber, die so plötzlich, die Portière lautlos zurückschlagend, ihr gegenüber stand.

»Soll ich Ihnen helfen?« wiederholte sie ihre Frage noch einmal. »Ich habe die Mittel dazu und thue es gern.«

»Schweigen Sie,« sagte der Doktor leise, »es ist genug.« Er hatte sein Taschentuch hervorgezogen und wischte den Schweiß von seiner Stirn, der in dicken Tropfen darauf stand. Aeußerlich hatte er seine Ruhe und Haltung jetzt wiedergefunden, und zu seinem Hute greifend, sagte er zu Frau Henninger: »Was wir vorhin besprochen haben, bedarf der Ueberlegung. Wollen Sie mir drei Tage dafür gewähren? Ich verspreche, am Abend des dritten Tages Ihnen pünktlich meine Entscheidung mitzuteilen.«

Sie zauderte einen Augenblick, dann sagte sie: »Ich verstehe den Zweck nicht ganz, aber ich bin bereit, Ihren Wunsch zu erfüllen. Am dritten Tage also, nicht wahr?«

»Am dritten Tage.« Mit einer Verbeugung gegen die Damen, die nicht erwidert wurde, verließ der Doktor das Zimmer.

Frau Ina stand, von der Erregung der letzten Stunde beinahe gelähmt, einen Augenblick schweigend. Dann aber faltete sie den Zettel, den sie wie ein kostbares Kleinod noch immer fest in der Hand gehalten hatte, auseinander, und ein einziger Blick auf das rettende Vermächtnis ihres gestorbenen Mannes brachte ein heißes, freudiges Leben in ihre Adern zurück.

»Das war eine schwere Stunde,« sagte sie zu Fräulein Tietjens, die ihr gegenüber stehen geblieben war, »aber sie hat mir zugleich das Beste gebracht, was das Leben mir bringen konnte. Wenn ich doch heute auch andere Menschen so recht, recht glücklich wüßte! Sie sind mir vorhin zu Hilfe gekommen, womit kann ich Ihnen danken, womit kann ich Ihnen eine Freude machen?«

»Sie haben mir heute schon eine große Freude gemacht. Ich danke Ihnen dafür.« Fräulein Tietjens sagte es langsam, mit eigentümlichem Nachdruck. Dann wandte sie sich ab und ging mit ruhigen Schritten hinaus.

Frau Henninger aber eilte zu der schwarzen Etagère, von der sie Georgs Photographie herabnahm, um sie vor sich auf den Tisch zu stellen. Den Zettel breitete sie davor aus, warf sich auf die Kniee und küßte zwischen Lachen und Weinen zuerst das Bild und dann das Papier. »Du mußt es lesen, siehst du,« flüsterte sie. »Da liegt unser Glück ja vor dir, und jetzt, – nicht wahr, jetzt läßt du mich nicht mehr lange allein?«


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