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Siebentes Kapitel

Nachdem Frau Henninger aus ihrer tiefen Ohnmacht erwacht war, kam ihr nur langsam die Erinnerung an das Geschehene zurück. Zuerst grübelte sie in dumpfem Sinnen, ob das Brausen, das sie vernahm, in ihren Ohren sei oder von außen komme. Dann unterschied sie die Stimme des Windes, erkannte das vertraute, erhellte Gemach und erhob sich mühsam, mit schmerzenden Gliedern vom Boden. Aber erst als ihr Blick nun auf das Bild ihres Mannes an der Wand fiel, trat mit plötzlicher Deutlichkeit das Erlebnis des Abends ihr vor die Seele, und zugleich erwachte wieder jenes zitternde Grausen, das sie vorhin empfunden hatte, und das ihr fremd gewesen war bis zu dieser Stunde. Sie hatte sich gegen Aberglauben und Nervenerschütterung gefeit geglaubt durch die Kraft ihres gesunden Geistes, um nun zu erfahren, daß es Ereignisse giebt, vor denen diese Kraft zerbricht und zersplittert wie ein leichtes Rohr.

Sie schalt sich thöricht, feige und schwach, aber das nervöse Beben der Glieder wollte nicht nachlassen, und sie wagte die Augen nicht wieder zu dem toten Abbild des Verstorbenen zu erheben, weil sie fürchtete, daß etwas Furchtbares geschehen könne, wofür sie keinen Namen hatte. Stundenlang ging sie im Zimmer hin und wieder, den Kopf gesenkt, die Lippen in lautlosem, unendlichem Selbstgespräch bewegend. Und auch, als sie endlich den Mut gefunden hatte, in ihr Schlafgemach hinüberzugehen, – erschreckt von der Dunkelheit, die ihr aus Gängen und Winkeln des alten Hauses entgegensah, gejagt, wie von einer drohenden Menschenstimme, durch das heulende Toben des Sturmes – wagte sie es nicht, ihre Lampe zu löschen. Angekleidet warf sie sich auf ihr Bett und lag mit offenen Augen, bis der Morgen sich nahte. Nun endlich schlief sie ein, und in einem unruhigen Schlummer, der keine Träume brachte, suchte die gequälte Seele sich neue Kraft.

Als Frau Ina die Augen öffnete, war das erste, das sie erblickte, ein heller Sonnenstrahl, der ihre Hände umspielte. Sie lächelte ihm zu wie einem guten, hilfreichen Freund, und dieses Lächeln war nicht verschwunden, als sie nach einer Weile ruhigen, gesammelten Nachdenkens sich erhob. Sie trat an das Fenster, das auf den Garten hinter dem Hause ging, stieß es auf und atmete tief. Aus der finsteren Sturmnacht war ein Frühlingstag geboren worden, hell, friedlich, ruhig, mit noch durchfeuchteter, aber von Lebenswärme erfüllter Luft. Auf den braunen, gelockerten Beeten regten die Schneeglöckchen ihre weißen Kelche, die Stare schwatzten in den Zweigen der hohen Akazien, und aus der Goldschmiedswerkstätte klangen, von der hellen Stimme des Gesellen fröhlich herausgeschmettert, die Worte eines Liedes zu ihr her.

Und wenn du wärst mein eigen,
Wie lieb sollt'st du mir sein –

soviel war zu verstehen, und sie erkannte das alte Liebeslied voller Sehnsucht und Hingebung. Und in dem Sonnenschein des jungen Tages, der die Schatten besiegt hatte, unter dem Ton der gesunden, heiteren Stimme, die jene Worte wie eine Mahnung zu ihr herüberzusenden schien, verschwanden aus ihrem Geiste die letzten Schatten der vergangenen Nacht, verhallten die letzten Klänge von Sturm und Grausen, die noch in ihrer Seele zurückgeblieben waren. Sie hatte sich wiedergefunden, der Glaube an die eigene Kraft war ihr zurückgekehrt, der graue Nebel war zerrissen, der sich für kurze Zeit ihr um die klaren Augen gelegt hatte; stolz hob sie den Kopf und atmete noch einmal aus voller Brust.

Nein, es gab keine Geister! Keine drohenden Schattengestalten, die aus finsteren Tiefen emporstiegen oder aus überirdischen Sphären sich niedersenkten, den Menschen zu leiten. Was sie gesehen hatte am vergangenen Abend, es mußte eine Täuschung oder ein Betrug gewesen sein, – sie grübelte in dieser Stunde nicht viel darüber nach. Das Gefühl der Freude über die Befreiung von einem fremden, geheimnisvollen Einfluß überwog für den Augenblick alle anderen Empfindungen in ihrer Brust; denn aus diesem Gefühl wiedererrungener Freiheit und ungehinderter Selbstbestimmung durste auch ihre Liebe erfrischt und gekräftigt, sieghaft sich erheben.

Sie wäre am liebsten gleich zu Georg hinübergegangen und hätte ihm zugerufen: »Der letzte Kampf ist bestanden, jetzt gehöre ich dir erst ganz,« aber sie wollte nicht unter dem Eindruck eines momentanen Gefühls handeln, wollte der neugewonnenen Festigkeit der Empfindung Zeit lassen, sich zu bewähren. Auch fühlte sie die geheime Hoffnung sich regen, er werde gerade an diesem Tage, nach solcher Nacht wieder den vertrauten Weg zu ihr finden, würde kommen, sie zu beruhigen, ihr beizustehen, wenn sie eines Beistandes bedurfte. Aber der Tag ging hin, ganz erfüllt mit hellgoldigem Frühlingslicht, ohne daß der Geliebte erschien oder ihr Botschaft sandte. Am Nachmittag ertrug sie die Ungewißheit nicht mehr und schickte das Stubenmädchen zu ihm hinüber mit der Bitte um sein Kommen.

Aber Johanna kam zurück mit der Nachricht, daß der Assessor schon vor ein paar Stunden fortgegangen sei; vermutlich mache er einen seiner langen, einsamen Spaziergänge. Frau Henninger nickte nur, und zum erstenmal an diesem Tage zog eine finstere Wolke über ihre Stirn. Bald aber zeigte ihr Gesicht wieder den Ausdruck ruhiger, heiterer Entschlossenheit. Sie nahm Hut und Mantel und verließ gleichfalls das Haus, um den hohen Wall zu ersteigen. Sie wußte genug von Georgs Gewohnheiten, um zu vermuten, daß er von dort zurückkehren werde, und als sie den Platz am Kriegerdenkmal erreicht hatte, erblickte sie auf einer Bank, abgewandt von ihr, die gesuchte Gestalt des geliebten Mannes.

Leise trat sie nahe zu ihm heran und betrachtete ihn schweigend, wie er in dem reinen Abendlichte dasaß, ohne zu bemerken, was um ihn her vorging. Sie erschrak über den Anblick dieses abgemagerten, bleichen Gesichtes, das ihr niemals zuvor so alt und leidend erschienen war, wie in dieser hellen, frühlingsklaren Beleuchtung. Wie traurig und düster war der Ausdruck dieser Züge, wie groß der Gegensatz der gebeugten, vergrämten Menschengestalt zu der erwachenden, von keimendem Leben erfüllten Natur!

»Guten Abend, Georg,« sagte Frau Henninger mit halblauter Stimme und legte die Hand sanft auf seine Schulter. Wort und Berührung ließen ihn jäh zusammenfahren, aber nur einen halben, scheuen Blick warf er von unten herauf ihr zu.

»Darf ich mich zu dir setzend« fragte sie in demselben milden Ton, in dem sie die ersten Worte gesprochen hatte. Er nickte nur und rückte von ihr fort an das End« der Bank, als fürchte er ihre Nähe. Sie überlegte noch einen Augenblick und schaute flüchtig zu den Gestalten einiger Spaziergänger hinüber, die in der Ferne herankamen.

»Wenn es dir recht ist, könnten wir auch ein wenig weiter gehen zu einem einsameren Platze. Ich habe mit dir zu sprechen.«

Wieder gab er keine Antwort, sondern erhob sich nur und blieb, als sie nun weiterging, ein wenig hinter ihr zurück. So kamen sie, an der Böschung des Walles hinuntersteigend, zu einer abseits gelegenen Bank; wie von oben, konnte auch hier der Blick frei hinaus in eine freundliche Ferne schweifen.

»Wie schön die Welt heute ist!« sagte Frau Ina, indem sie sich niederließ. Es war ihr, als müsse sie sich Mut machen durch diese Worte und durch einen Blick in das durchsichtige, blaßgoldene Himmelsgewölbe, auf das verjüngte, sich regende Leben um sie her.

Georg folgte ihren Blicken nicht; er wandte das Gesicht zu ihr hin mit dem Ausdruck eines fragenden Staunens, als könne er nicht verstehen, wie ein Mensch von der Schönheit der Welt zu reden vermöge. Dann schüttelte er langsam den Kopf und wandte seine Augen wieder von ihr hinweg, um sie nun starr in die Ferne zu richten. Aber er sah nichts von dem Glanz des ersterbenden Tages, nichts von dem hellen Wiederschein der Wasserlachen, die aus gelbgrauen Wiesenflächen gleich klaren Augen der Landschaft zu ihm emporleuchteten, nichts von den schwellenden Knospen um ihn her, von dem ersten grünen Schimmer auf den wintersdunklen Tannen, von dem bläulichen Frühlingsdunst auf den Bergen am Horizont.

Er hatte sich zu ihr gesetzt, aber wieder hatte er vermieden, ihr nahe zu kommen. Und auch jetzt überließ er es ihr, das erste Wort zum Beginn ihres ernsten, vielleicht über beider Leben entscheidenden Gesprächs zu finden.

»Ich hatte gehofft, du würdest heute zu mir kommen,« sagte sie ruhig und freundlich, ohne einen Ton des Vorwurfs. »Du weißt doch wohl, was ich gestern erlebt habe?«

Er nickte und machte einen vergeblichen Versuch zu sprechen. Dann benetzte er die trockenen Lippen mit der Zunge und brachte nun endlich ein paar Worte hervor. »Ich weiß es und wäre gekommen.«

»Aber wann? Ich habe mich so nach dir gesehnt!«

»Heute abend, – ja, vielleicht heute abend. Ich weiß es nicht genau.«

»Und wenn du gekommen wärest, was hättest du mir gesagt?«

»Von dir wollte ich hören.« Das war alles, was er mühsam, nach erneutem Kampfe hervorbrachte. Sie blickte ihn schweigend, voll Mitleid an; das Herz that ihr so weh, wenn sie diesen Ausdruck untilgbaren Schmerzes auf seinen Zügen fand! Nach einer Pause erst begann sie wieder zu reden.

»Du hast recht, und ich will dir sagen, was du vermutlich von mir hören möchtest. Ich glaube nicht an das Gespenst, das ich gestern gesehen habe. Für ein paar Stunden bin ich schwach gewesen; die Herrschaft über meinen Körper und meinen Geist war mir für kurze Zeit verloren gegangen. Jetzt aber bin ich wieder ich selbst und nun sehe ich so klar wie immer. Es giebt keine Geister. Was mich gestern erschreckt hat, war vermutlich ein absichtlicher Betrug, dem ich noch einmal auf die Spur zu kommen hoffe. Ich glaube nicht an den Spuk und ich fürchte mich nicht mehr davor.«

»Betrug?« Er blickte fast zornig zu ihr hinüber, mit brennenden Augen und gerunzelter Stirn.

»Betrug oder Täuschung oder Einbildung, ich weiß es nicht und ich frage auch heute nicht danach. Daß es keine Macht über mich hat, das ist mir die Hauptsache. Und solche Macht, wie gestern, wird es nicht wieder gewinnen. Du hast mich einmal gefragt, ob ich auch dann noch an meiner Liebe zu dir festhalten würde, wenn der Geist meines Mannes zwischen uns träte. Nun ist er ja gekommen; für ein paar Stunden wenigstens habe ich an ihn geglaubt, ein Zufall oder mein Schicksal hat mir die Probe auferlegt, von der du gesprochen hattest. Aber glaube mir, auch in allen Qualen und Zweifeln dieser Nacht ist meine Liebe zu dir nicht schwächer geworden, und heute weiß ich wieder so fest und bestimmt wie je zuvor: der Tod hat kein Recht an das Leben. Mein Versprechen bindet mich nicht, ich bin frei vor mir selbst, und darum lasse ich nicht von dir! Aber nun gieb mir auch deine Hand, bleib' mir zur Seite, laß' uns nicht schwach und feige sein –«

»Schwach und feige?« Er war emporgesprungen, als hätte ein Peitschenhieb ihn getroffen. Heftig atmend, mit geballten Händen stand er vor ihr. »Nennst du die Stärke des Gewissens eine Schwäche? Mir ist sie es nicht, Gott sei es gedankt! Mir ist sie die einzige Waffe in dieser Not und Versuchung. Ich bin, was ich bin, durch Geburt und Erziehung, und ich kann nicht mit einem Male in die vier Winde werfen, was mir teuer und heilig gewesen ist, solange ich denken kann. Ich müßte den Glauben an meinen Vater, an meine Mutter, an meinen Gott verleugnen, wenn ich den Wortbruch gutheißen und rechtfertigen wollte. Ich kann es nicht und werde es niemals können; und darum –«

Er hatte doch nicht den Mut, zu vollenden. Sie that es statt seiner. »Und darum müssen wir uns trennen, nicht wahr?«

Als er den Ton ihrer Stimme vernahm, aus der mühsam unterdrückte Thränen hervorklangen, als er ihr nun in die Augen sah, die feucht und schmerzlich auf ihn gerichtet waren, da schwanden ihm Zorn und Kraft. Er sank neben ihr auf die Bank, ergriff ihre Hand, die er weinend küßte, und sagte mit bebender, gebrochener Stimme: »Es ist ja nicht anders möglich! Der Geist, der dir gestern erschienen ist, hat dich den Weg der Pflicht nicht wiederfinden lassen, so muß ich ihn dir zeigen. Sieh, es ist das Glück meines Lebens, auf das ich in dir verzichte, es sind alle meine Hoffnungen und Wünsche. In dir standen sie verkörpert vor mir, und ich selbst muß sie nun von mir weisen. Du hast mich vorhin schwach und feige genannt, – vergieb mir, wenn ich heftig geworden bin. Ich kann dir sagen, ich habe noch niemals mehr Mut und Stärke bewiesen als heute, wo ich mich von dir scheide. Mein Herz wird dir gehören, meine Seele, alle meine Gedanken immer und immer, – aber ich kann und darf es nicht dulden, daß du eine Schuld auf dein Gewissen lädst um meinetwillen.«

Sie machte eine Bewegung, als wolle sie ihn unterbrechen, er aber hielt und preßte ihre Hand, um ihr Schweigen zu gebieten. »Es wäre eine Schuld, an der wir beide zu tragen hätten unser Leben lang. Auf solchem Grunde darf man kein Haus bauen wollen. Du hast es gesagt, wir müssen uns trennen, müssen versuchen, wie wir ohne einander leben können. Ich weiß nicht, wie es möglich sein wird, aber ich weiß, daß es geschehen muß. Und nun –«

Er verstummte, und tiefes Schweigen entstand um die beiden her. Man hörte das leise Hüpfen der schon ermüdeten Vögel in den Zweigen, der Klang einer fernen Glocke drang gedämpft herüber, fast wie der Schatten eines Tones.

»Und was soll nun geschehen?« fragte Frau Ina endlich.

Er hatte von einer der Tannen, die neben der Bank standen, einen kleinen, im Winter verdorrten Zweig abgebrochen und zerdrückte ihn zwischen den Fingern, daß der Staub zur Erde niederrieselte. »Ich möchte fort von hier,« gab er zur Antwort, ohne sie anzusehen. Die Spannung war wieder aus seinen Zügen und seiner Gestalt gewichen, eine lastende Müdigkeit lag von neuem auf ihm.

»Fort? Wie meinst du das?«

»Ich glaube, ich möchte reisen.«

Frau Inas Augen erhellten sich plötzlich; sie meinte bei seinen Worten einen fernen, schwachen Hoffnungsstrahl aufleuchten zu sehen. »Reisen?« wiederholte sie voll Eifer. »Ja, ich glaube, das ist ein guter Gedanke. Ich habe selbst schon erfahren, daß eine Reise eine vortreffliche Medizin für die Seele ist. Als ich damals an der Riviera war, habe ich zum erstenmale nach dem Tode meines Mannes wieder etwas wie Lebensmut und Lebensfreude gefühlt. Man kommt sich kleiner vor in dem großen Treiben unter den fremden Menschen, und zugleich besinnt man sich in der Einsamkeit und beim Anblick einer mächtigen Natur am leichtesten auf sich selbst. Und nun weiß ich auch, wohin du reisen mußt: an die Riviera, nach Mentone! Ich sage dir alles, was nötig ist, und du hast nicht erst die Mühe des Fragens und Suchens.«

»Du bist so gut,« sagte er leise.

»Weil ich dich von mir forttreibe, freiwillig zur Trennung dränge, meinst du? Doch nicht so sehr. Man läßt einen geliebten Kranken ja gern für eine Zeit in die Ferne gehen, wenn man hoffen kann, ihn dadurch gesund zu machen. Sei mir nicht böse, aber in meinen Augen bist du jetzt krank. Die grauen Winter hier machen uns allen zu schweres Blut. Und nun ist dies noch dazu gekommen, diese ganze Zeit, – wir wollen nicht wieder davon anfangen. Fahr' du dem Frühling entgegen, mach' dich gesund und frei, und dann erst entscheide über unser zukünftiges Leben. Laß' uns zu vergessen suchen, was wir vorhin gesprochen haben, und laß' es« – sie beugte sich nahe zu ihm heran, so daß er ihren warmen Atem auf seinem Gesichte fühlte – »laß' es keine Trennung für immer sein.«

Er vermochte ihr die Bitte nicht zu bejahen, vermochte sie nicht zu verneinen. So nahm er wieder nur ihre Hand, um sie zu küssen. »Ich werde reisen, wohin du willst,« sagte er dann, »und bald, recht bald!«

»Damit du um so eher zurückkommst, nicht wahr?« fragte sie, und etwas von der gewohnten, ruhigen Heiterkeit war wieder in ihrem Wesen.

Eine Zeitlang saßen sie noch nebeneinander, ohne weiter zu sprechen, und im Niedersinken hüllte die Sonne sie in einen warmen, glänzenden Schleier, als wolle sie ihnen die siegreiche Kraft des Lichtes über die Schatten verkünden. Dann, als der goldene Ball sich den blaudämmerigen Höhenzügen mehr und mehr näherte, stand Frau Ina von der Bank auf und sagte: »Komm', laß' uns gehen, du sollst keine Zeit verlieren für deine Reisevorbereitungen.«

»Ich brauche nicht viel,« gab er zur Antwort. »Urlaub denke ich zu bekommen, mein Chef hat ihn mir selbst schon angeboten, weil er mich leidend aussehend fand. Und Abschiedsbesuche habe ich nicht zu machen, ich habe ja so einsam gelebt.« Er hatte sich gleichfalls erhoben, und sie stiegen nun langsam an der Böschung des Walles wieder empor. Georg aber verbesserte seine letzten Worte: »Doch, von einem einzigen muß ich Abschied nehmen, und ich will es heute noch thun.« »Von wem?«

»Von unserem Hausgenossen, dem alten Busenius.«

»Den möchte ich kennen!«

»Du kennst ihn nicht?«

»Fast nur vom Sehen, was doch kein Kennen ist. Er sieht seltsam aus, aber gut und klug. Und du hast ihn gern, das macht ihn mir schon lieb.«

»Er ist wie ein Mensch aus einer anderen Welt,« gab Georg zur Antwort. »Willst du nicht mitkommen, wenn ich jetzt zu ihm gehe?«

»Ich zu ihm?«

»Du kannst es ohne Scheu. Vor ihm gelten die gesellschaftlichen Formen und Konventionen nichts. Und er wird sich freuen, wenn du kommst, denn er kennt unser Schicksal und unseren Kummer.«

»Ich gehe mit dir,« sagte Frau Ina nach kurzem Bedenken, und da sie jetzt die Höhe des Walles erreicht hatten, der noch von Spaziergängern belebt war, schritten sie, nur hie und da ein gleichgiltiges Wort mit einander wechselnd, ohne weiteres ernstes Gespräch ihrem Hause zu.

Sie waren in die Straßen eingebogen, hatten ihr Ziel aber noch nicht ganz erreicht, als ihnen eine heitere, lachende Gesellschaft entgegenkam. Es war die Goldschmiedsfamilie mit Fritz Köhler, dem schmucken Gesellen. Die beiden Alten in feierlichem Sonntagsstaate schritten voran, dann kamen Martha und Köhler, beide nett und frühlingsmäßig in helle Farben gekleidet, zum Schluß ein paar Lehrlinge, denen die auf Zuwachs gemachten schwarzen Gewänder locker um die noch mageren Glieder hingen.

»Sie sehen ja aus, als gingen Sie zu einem Feste,« sagte Frau Henninger, nachdem sie die Hausgenossen freundlich begrüßt hatte. Von Erregung und Schmerz war in ihrer Stimme und ihren Zügen nichts mehr zu bemerken; sie hatte die ruhige Freundlichkeit wiedergefunden, die sie der Welt zu zeigen pflegte.

»Das thun wir auch, Frau Regierungsrat,« gab Martha Wernicke statt der Eltern fröhlich zur Antwort. »Und diesem Menschen hier zu Ehren, der es eigentlich gar nicht verdient.«

»Das wollen wir erst einmal sehen heute abend,« warf Köhler ein, »ob ich es nicht doch vielleicht verdiene.«

»Wohin geht es denn?« fragte Frau Henninger weiter.

»In den Athletenklub, gnädige Frau,« entgegnete der Geselle. »Dort ist heute große Vorstellung, und ich wirke zum erstenmale mit – im Ringkampf nämlich.«

»Nun, da wünsche ich viel Glück zum ersten Debüt,« sagte Frau Ina. »Das darf man doch, oder ist es, wie bei der Jagd? Jedenfalls wünsche ich Ihnen allen einen schönen, vergnügten Abend.«

Noch ein paar Dankes- und Abschiedsworte, dann trennte man sich. Ferner und ferner klangen Lachen und Plaudern der zum Feste Wandelnden, in tiefem Schweigen gingen Georg und Frau Henninger weiter.

»Ich verstehe dich nicht,« sagte er nach einer Pause, »wie du in solcher Stimmung imstande bist, mit gleichgiltigen Menschen gleichgiltige Dinge zu sprechen.«

»Und ich meine, es thut gut, wenn man sich dazu zwingt. Man lernt sich beherrschen und am Schicksal anderer Interesse gewinnen.«

»Ich wollte, ich wäre wie du,« entgegnete Sybel mit einem Seufzer.

»Das möchte ich nicht. Ich will dich nicht anders, als du bist.«

Sie hatten das Haus der Schatten jetzt erreicht; mit seinen mächtigen Giebeln, den steilen, gewaltigen Dachflächen, den übereinander vortretenden Stockwerken und ihren alten Holzschnitzereien stand es im grauen Mantel der zunehmenden Dämmerung ernst, beinahe unfreundlich da. Noch war kein Licht im Innern entzündet, nur hoch oben in den äußersten Giebelfenstern weckte die hier unten bereits unsichtbare Sonne einen letzten, flammenden Wiederschein. Auf diesen zu ihnen herableuchtenden Schimmer lenkten die beiden gleichzeitig die Blicke, von ein und demselben Gedanken getrieben.

»Wollen wir gleich zu ihm hinaufgehen?« fragte Georg.

Sie nickte nur, und ohne weiter zu reden, durchschritten sie die dunkle Wölbung der Hausthür, gingen über den Flur und stiegen die vielen Stufen zum Giebel hinan.

Ein Dämmerlicht, in dem noch ein wenig vom Goldglanz des Abends geblieben war, erfüllte das Stübchen des Mannes, zu dem sie nun eintraten. Er kam ihnen entgegen, als hätte er sie schon erwartet, mit freundlichem Gruß und ausgestreckten Händen.

»Das ist schön,« sagte er, seine Worte an Frau Henninger richtend. »Ich wußte, daß Sie kommen würden.«

»Sie wußten es?«

»Die Seelen können ohne Worte und aus der Ferne zu einander sprechen, man muß es nur lernen, diese lautlosen Stimmen zu verstehen.«

Erstaunt blickte die Besucherin zu ihm auf; sie fand nicht gleich ein Wort der Entgegnung. Sybel brach das entstandene Schweigen, indem er in schwermütigem Tone sagte: »Ich komme, um Abschied zu nehmen.«

Busenius beugte den Kopf, als habe er auch das schon gewußt, und ließ den anderen fortfahren, ohne ihn zu unterbrechen. »Sie kennen ja mein Schicksal und wissen, was mich von hier forttreibt. Ich habe Ihnen alles erzählt und alles gebeichtet. Auch Frau Henninger hier ist Ihnen keine Fremde mehr, ich habe Ihnen ja gesagt, daß wir uns lieben. Wir lieben uns und könnten glücklich mit einander sein, so glücklich, daß ich gar nicht daran denken darf, wenn mir das Herz nicht brechen soll, aber der Tote will unser Glück nicht dulden. O, wie ich diesen Toten hasse, diesen selbstsüchtigen Mann! Noch in sein Grab hinein möchte ich ihm fluchen –«

»Georg!« Frau Ina hatte es mit leiser, bittender, zugleich aber fester Stimme gesprochen und ihre Hand auf seinen Arm gelegt, den er erhoben hatte mit geballter Faust.

Busenius schüttelte mit einem Ausdruck des Mitleids den Kopf. »Wenn Sie wüßten, was ich weiß,« sagte er in mildem Ton, »dann würden sie niemanden hassen und niemandem fluchen.«

»Ich bin nicht so milde, wie Sie; ich bin noch jung und habe Sehnsucht nach Glück. Soll ich ihn etwa lieben, der mich um alles bringt, was ich mir wünsche?«

»Zwischen Liebe und Haß liegt ein weites Meer. Der Haß auf einen Menschen ist unklug und voreilig, denn ich sagte Ihnen schon: jede von unseren Thaten trägt ihren Lohn in sich selbst. Wir schaffen uns durch unser gegenwärtiges Leben unsere nächste Existenz. Wer Böses thut, wird bei seiner bevorstehenden Wiederverkörperung auf einer tieferen Stufe leben, die er sich selbst verdient hat. Armut und Krankheit und geistiger Rückschritt werden ihn bedrücken zur Strafe für seine Thaten. Und weil ich die Gewißheit der Strafe kenne, darf ich keinen Menschen hassen, der mir oder anderen Uebeles zufügt. Die irdische Gerechtigkeit ist nur ein kleines und schwaches Abbild von dieser ewigen Gerechtigkeit, nach deren Willen alle die Welten und die Schicksale der Wesen gelenkt werden, die wir auf dieser Erde Menschen nennen.«

Frau Ina blickte ihn mit noch immer erstaunten, aber doch freudig und begeistert aufleuchtenden Augen an. Mit rascher Empfindung sagte sie jetzt: »Darf ich zuweilen zu Ihnen kommen, wenn Georg nicht mehr hier ist? Ich glaube, Sie haben große Kraft, die Menschen zu trösten.«

»Kommen Sie, es wird mich freuen. Mein Wissen gehört nicht mir allein, es gehört allen, die Trost oder Nutzen daraus schöpfen können.«

Georg hatte sinnend und traurig zugehört; auf ihn hatten Busenius' Worte nicht gewirkt. »Ihr Lebensweg ist wohl immer glatt und friedlich verlaufen,« sagte er, und ein versteckter Vorwurf klang aus seinen Worten. »Da ist es nicht schwer, weise und milde zu sein. Ihnen ist wohl niemals ein Glück versagt worden, das Sie leidenschaftlich begehrten, Sie haben wohl niemals vergeblich um den Besitz eines geliebten Menschen gerungen!«

»Mehr als das,« entgegnete Busenius ernst, »ich besaß einen Menschen, den ich liebte, und ich verlor ihn durch seine Schuld.«

Keiner von den beiden wagte, ihn weiter zu fragen, unaufgefordert aber fuhr er nach kurzem Schweigen fort.

»Es war keine Frau, von der ich spreche, es war ein Freund, der mir über alles teuer war. Die Freundschaft ist zuweilen ebenso blind wie die Liebe. Jetzt weiß ich, daß ich es damals war; ich habe auch sonst die Menschen spät erkennen gelernt. Auch haben die schlechten Eigenschaften bei ihm sich erst entwickelt, als er in den Kampf des Lebens eintrat. Ich hatte einen Plan ersonnen, ihm seinen Weg zu erleichtern und seine Zukunft zu sichern. Es dauerte ihm zu lange, und er warf mich, den Lebenden, zu den Toten, er löschte mein Dasein aus, bevor eine andere, mächtigere Hand es that, und so stehe ich hier vor Ihnen, ein Lebendig-Toter.«

Auch jetzt war kein Zorn, aber doch eine gewisse feierliche Erregung im Ton seiner Worte, deren rätselhafter Inhalt die Hörer verwirrte. Es dauerte geraume Zeit, bis einer von ihnen zu einer Antwort sich sammelte. Frau Ina war es, die zuerst das Schweigen brach, das auf dem dämmeriger werdenden Gemache ruhte. »Und auch diesen Menschen hassen Sie nicht?« fragte sie leise. »Ich verstehe nicht, was er Ihnen angethan hat, aber ich fühle, er hat Sie verraten und betrogen.«

»Er that beides, aber ich hasse ihn nicht. Ich bewache ihn und verfolge sein Leben; er ist mir jetzt, nachdem ich das Geheimnis des Daseins erkannt habe, ein interessanter Gegenstand der Beobachtung. Ich stehe über ihm und blicke auf seinen Weg, um vielleicht, wenn es mir möglich ist, ihm noch einmal die Hand entgegenzuhalten und ihn zurückzureißen von dem letzten, tiefsten Abgrund, in dem er auf eine Stufe hinunterstürzen würde, wo die Materie unbedingt herrscht, wo der Mensch vom Tier sich kaum mehr unterscheidet. Um das zu können, bin ich in seine Nähe gekommen.«

»In seine Nähe?« Diesmal war es Georg, der die Frage that.

»Er ist nicht fern von mir und er kreuzt auch den Weg Ihres Lebens.«

»Unseres Lebens?« Beide riefen es gleichzeitig, denn ein Blick des Sprechenden hatte, vom einen zum andern schweifend, ihnen gesagt, daß er von ihnen beiden geredet habe.

Busenius gab keine direkte Antwort; er legte Georg die Hand auf die Schulter und sagte: »Sehen Sie nach den Sternen, mein lieber Sybel. Es freut mich, daß Sie sich entschlossen haben, zu reisen. Sie werden in der Ferne zur Ruhe und Klarheit kommen und werden noch etwas anderes, Gutes finden.«

»Das ist ein freundliches Wort, lassen Sie mich damit scheiden. Ich werde suchen, verlassen Sie sich darauf.«

»Suchen Sie in sich selbst; in uns liegen die besten Schätze.«

Georg gab ihm die Hand und sah ihm tief in die Augen. Auch Frau Henningers Hand ergriff Busenius, nickte ihr freundlich zu und sagte: »Bei uns heißt es auf baldiges Wiedersehen, nicht wahr? Und zur Beruhigung Ihrer Seele kann ich Ihnen noch etwas sagen: was Sie gestern gesehen haben, war nicht der Geist Ihres Mannes.«

»Es war nicht –, also mein Gefühl hat recht!«

»Es war nicht der Geist Ihres Mannes.« Er sagte es mit einem ruhigen, festen Blick auf Georg, der sich eilig zur Thür wandte und noch vor Frau Henninger die Schwelle überschritt. Sie folgte ihm, in tiefes Nachdenken versunken. »Ein seltsamer Mann!« sagte sie, auf ihrem Wege für einen Augenblick stehen bleibend. »Mein Verstand protestiert gegen vieles, was er sagt, aber mein Herz giebt ihm recht.«

»So geht es mir auch,« entgegnete Georg, »und er hat wirklich eine wunderbar beruhigende Kraft. Heute habe ich es noch stärker gefühlt, als sonst. Was mag das Gute sein, das ich da draußen finden soll?«

»Erwarte es ruhig, ohne zu fragen. Du wirst es erkennen, wenn du es gefunden hast, und es ist ja schon genug, wenn du mit einer Hoffnung reisest.«

Sie waren in das erste Stockwerk hinuntergelangt; vor dem Eingang zu ihren Zimmern blieb Frau Henninger stehen. »Willst du nicht noch einmal mit hineinkommen zum Abschied?« fragte sie leise.

Er schüttelte traurig den Kopf. »Es darf ja nicht sein. Wir müssen wie Fremde von einander gehen und müssen, wenn nicht ein Wunder geschieht, für immer einander Fremde bleiben.«

»So laß' uns auf das Wunder hoffen und an seine Möglichkeit glauben,« sagte sie bittend.

»Glücklich, wer es kann!« gab er mit einem Seufzer zur Antwort.

Ohne Kuß, nur mit einem festen Händedruck und einem kurzen Lebewohl gingen sie auseinander. Sie wußten, es war ein Abschied für lange Zeit, vielleicht für immer, und als sie in der Einsamkeit ihrer Zimmer nun beide allein waren, da drang in dem Abendgrau und der tiefen Stille des alten Hauses mit grausamer Gewalt die Frage auf sie ein: »Werden wir uns Wiedersehen?« Die Wände gaben ihnen keine Antwort, und die Bilder blieben stumm. Keine der überirdischen Mächte, die im Hause der Schatten walten sollten, verriet ihnen die Zukunft, und immer banger, immer hoffnungsloser schien den beiden, von einander geschiedenen Menschen die ruhelos wiederholte Frage zu klingen: »Werden wir uns Wiedersehen?« – –

Als Georg und Frau Henninger, die Treppen niedersteigend, den unteren Bodenraum durchschritten hatten, war die Thür zu Neuerts Zimmer von innen leise geöffnet worden, und durch den Spalt hatten seine dunklen, brennenden Augen forschend hervorgespäht. Als er jedoch die Gestalten der beiden erkannt hatte, war der Ausdruck der Spannung aus seinen Zügen gewichen, und er hatte die Thür wieder leise ins Schloß gelegt. Seitdem war eine halbe Stunde fast verstrichen, und er hemmte nun eine ruhelose Wanderung durch sein Zimmer. »Es ist eine Schande!« murmelte er. »Daß ein Kerl wie ich um solch' ein Weibsbild jammert, es ist eine Schmach!« Er fuhr sich mit der Hand durch das kurze Haar und sah nach der Uhr. Dann nahm er einen weichen, schwarzen Hut vom Nagel, stieß das Fenster auf und warf einen Blick auf die vielen Dächer und Giebel unter ihm, die in dem Dunst des Märzabends verschwommen und ihre festen Linien verloren. Er wandte sich bald wieder ab, nahm einen kleinen Handkoffer vom Boden, trat hinaus, verschloß die Thür mit Sorgfalt und verließ das Haus.

Sein Weg führte ihn in die Mitte der Altstadt zu einem stattlichen und altertümlichen Gasthaus, vor dem eine rote Laterne schon von weitem ihn grüßte. Eine warme, mit dem Geruch von Bier und Speisen erfüllte Luft kam ihm entgegen, als er den Flur betreten hatte, und ein Geräusch von vielen, halbgedämpften Stimmen drang zu ihm her, als er einer braunen, zweiflügeligen Thür sich näherte. Ein Portier, der ihn kannte, nickte ihm zu und öffnete ihm. »Es geht bald los,« sagte er dabei, Neuert aber gab keine Antwort. Er trat in einen großen, niedrigen, langgestreckten Saal, der schon ganz mit Menschen gefüllt war. Von der Decke mit verräucherten Malereien hingen von weißen Kuppeln umkleidete Gasflammen nieder und beleuchteten die Reihen hintereinander aufgestellter Tische, von denen nur die beiden ersten mit rot und blau gewürfelten Tischtüchern bedeckt waren. Die Stühle waren so aufgestellt, daß die Sitzenden alle nach der am einen schmalen Ende des Saales aufgebauten Bühne hinüber blickten. Es war gedrängt voll, die Weiblichkeit überwog. An den beiden Ehrentafeln im Vordergrund saßen die Honoratioren, meist würdige Handwerksmeister mit Frau und Familie, gut, wenn auch altmodisch gekleidet. Weiter zurück vorwiegend junges Volk: Mägde, Gesellen, hie und da eine Uniform. Die Männer tranken und rauchten, die Mädchen schwatzten, stießen einander an und lachten.

Am Eingang war ein brauner Tisch als Kasse aufgestellt, ein Haufen von Silber- und Kupfergeld blinkte auf einem weißen Teller. Ein Mann von gedrungener Gestalt, mit einem sonnverbrannten Gesichte, dem heute künstlich gelocktes Haar einen theatralischen Anstrich gab, saß als Kassierer dahinter. Er begrüßte die Ankommenden und reichte ihnen blaue Zettel mit dem Programm, auf dem ein paar mächtige Gewichtsstücke und gekreuzte Eisenstangen als Abzeichen des Athletenklubs prangten. Um diesen Tisch hatte sich eine Schar von jungen, kräftigen Männern geschart, die eifrig auf einander einsprachen, oder in dem kleinen, hier freigebliebenen Raume mit dem schweren, wiegenden Gange der Kraftmenschen auf und nieder gingen, der dem der Seeleute verwandt ist.

Neuert nickte ihnen zu und wechselte mit einigen von ihnen ein paar flüchtige Worte. Während er aber sprach, glitten seine Blicke zu den ersten Reihen der Zuschauer hinüber, und seine Lippen preßten sich zusammen, als er gefunden hatte, was er suchte. Dort, ganz nahe vor der Bühne, saß die Familie Wernicke, und in ihrer Mitte, als müßte es so sein, der Geselle, Fritz Köhler. Er hatte seinen Arm um die Lehne von Marthas Stuhl gelegt und beugte sich dicht zu ihr heran; die Gesichter der beiden jungen Menschen leuchteten in gleich freudiger Helle. Die Eltern sprachen mit einander und thaten, als sähen sie die Annäherung nicht, die sie im stillen wünschten.

Die rechte Hand Neuerts preßte sich um den Ledergriff des Koffers, als wolle er ihn zermalmen; die Frage eines Genossen ließ er unbeantwortet und schritt jetzt an der Bühne entlang, unmittelbar vor der ersten Reihe der Zuschauer her zur anderen Seite des Saales hinüber. Er streifte im Gehen fast Marthas lichtblaues Kleid, aber er wandte den Blick nicht zu ihr hin und sprach keinen Gruß; mit zusammengebissenen Zähnen und geradeausblickenden Augen ging er vorüber. Die Backenmuskeln zuckten und arbeiteten auf seinem Gesicht, als bewegten die Kiefer sich krampfhaft unter dem Fleisch.

Er durchschritt eine Thür in der gegenüberliegenden Saalwand und erreichte rasch den Garderoberaum für die Athleten. Hier war er noch allein, und ein stöhnender Seufzer drang aus seiner Brust. Einen Augenblick setzte er sich nieder, als überkomme ihn eine plötzliche Schwäche, und blickte starr auf eine dunkle Stelle im Fußboden. Dann öffnete er, sich zusammenraffend, den Koffer, holte das Athletengewand hervor und begann sich zu entkleiden. Er prüfte dabei seine Muskeln, ob sie gestählt genug seien; einmal erhob er auch den nackten Arm und schüttelte die Faust in der Richtung des Saales.

Die lauten, sich nähernden Stimmen der Genossen hießen ihn eilen, und bald war der ganze Raum angefüllt mit frischen, jugendlichen Gestalten, die das moderne Gewand von sich warfen im frohen Gefühl, ihre Kraft und Schönheit an diesem Abend offen zeigen zu dürfen. Wie er als erster die Garderobe betreten hatte, so war Neuert auch mit dem Ankleiden zuerst fertig und ging auf die noch leere, mäßig erhellte Bühne hinaus. Ein kleiner, lichter Fleck zeigte ihm das Loch im Vorhang, und nun preßte er sein Auge dagegen und starrte unverwandt auf das leicht gerötete, von krausem Blondhaar umspielte Mädchengesicht in der ersten Reihe der Zuschauer. Einmal war es, als fühle sie diesen Blick, der scharf und hart wie ein geschliffenes Schwert zu ihr hinüberdrang; sie bewegte unmutig den Kopf und strich mit der Hand über die Stirn. Dann aber lächelte sie wieder vor sich hin, ein stilles, gesammeltes Lächeln des Glücks.

Musik begann draußen vor dem Vorhang zu spielen, ein seltsames Orchester von zwei Geigen und zwei Klarinetten. Ohne darauf zu hören, blickte Neuert unablässig hinaus; die Bühne fing an unter den schweren Gewichten zu erdröhnen, die von den Genossen jetzt hereingetragen wurden, – er vernahm es nicht und wandte sich nicht um. Erst als der Vorsitzende des Vereins zu ihm herankam und ihm die Hand auf die Schulter legte, zuckte er leicht zusammen und trat vom Vorhang zurück auf die jetzt hellerleuchtete Bühne, wo die Kämpfer bereits im Halbkreis sich aufgestellt hatten. Neuert als einer der Kleinsten hatte seinen Platz nahe am linken Flügel, und indem er ihn einnahm, warf er einen scheuen Blick zu Fritz Köhler hinüber, der etwas nach rechts fast in der Mitte der Bühne stand. Dem Manne ebenso sehr wie seiner Tracht galt dieser Blick Neuerts; er wußte aus des glücklichen Nebenbuhlers eigenem Munde, daß Marthas Finger ihm das Gewand geziert hatten. Es war von dunklem Rot, mit satter, brennender Farbe vom helleren Fleischton der Tricots sich abhebend; auf der Brust und den Schultern aber verschlangen ein paar zierlich gestickte Rosenzweige mit blaßrot leuchtenden Blüten sich anmutig ineinander. »Ihm die Rosen, mir nur die Dornen!« dachte Neuert und kehrte den Blick wieder ab, um ihn an seiner eigenen Tracht hinuntergleiten zu lassen. Als einziger von allen Genossen trug er Tricots von einem feurigen Rot, ein schwarzes Wamms darüber ohne jeden Schmuck, ohne jede Blume, und von dieser diabolischen Tracht hob das blasse Gelb seiner Haut an Gesicht und Armen sich fast leichenhaft ab. In glühendem Leben aber brannten seine Augen, und seine Sehnen spannten sich in verhaltener Wut.

Ein Glockenzeichen ertönte, der Vorhang rollte empor, eine heiße Welle von Menschendunst und Qualm strömte vom Saal auf die Bühne herein. Mit Gewichtübungen und Kraftproben leichterer Art begann das Spiel, um zu immer größeren Beweisen von Gewandtheit und Stärke vorzuschreiten. Schüchtern zuerst regten sich die Hände zum Beifall, bald aber erklang er lauter und stürmischer, und mit den Gesichtern der Athleten zugleich röteten sich die der Zuschauer in wachsender Erregung. Ein Ringkampf war schon vorüber, ein Knabe von wenigen Jahren war von seinem Vater unter lautem Jubel des Publikums vorgeführt und mit einem auf die Bühne niederprasselnden Regen von Apfelsinen belohnt worden, als nach kleiner Pause der Vorsitzende wieder hervortrat und einen zweiten Ringkampf ankündigte. Fritz Köhler und Franz Neuert waren die Kämpfer, und nun stellten sie sich einander gegenüber, eine blonde, blauäugige Siegfriedsgestalt der eine, Loke, dem verderblichen, feindlichen Gotte, vergleichbar der andere.

Nach Ringersitte reichten sie sich die Hände zum Gruß, dann nahmen sie Aufstellung, indem sie die in Kampfesübung gestählten Beine fest auf den Boden stemmten und die Köpfe vorbeugten wie zwei zum Angriff bereite Stiere. Mit prüfenden, vorsichtigen Griffen faßten sie einander zuerst, bald aber packten ihre Hände fester, und ein wilder, leidenschaftlicher Kampf begann. Die Kräfte der beiden schienen einander gleich; was der eine an Wucht und Größe des Körpers voraus hatte, ersetzte der andere durch gelenke Gewandtheit. Ein paarmal hob Köhler den Gegner in fester Umschlingung vom Boden empor und warf ihn, im Sturze selbst mit zur Erde gerissen, auf das erkrachende, Staubwolken in die Höhe sendende Podium nieder. Aber niemals gelang es ihm, des Gestürzten Schultern auf die Erde niederzudrücken und ihn so zu besiegen; immer wieder entschlüpfte Neuert seinen Händen und stand ihm gegenüber, scheinbar nicht zu ermüden, zu stets erneutem Kampfe bereit.

Bisher war das Ringen nach den feststehenden Regeln vor sich gegangen; bei einem frischen Angriff seines Gegners aber fühlte Köhler, daß etwas Anderes, Besonderes ihm drohte. Mit gewandten Bewegungen, mit wohlberechneten Griffen drängte der Schlosser den Goldschmied immer näher an die Bühnenrampe, an die Reihe von Gasflammen heran, die eine glühende Hitze zu ihnen emporsandten. »Was wollen Sie?« flüsterte Köhler zwischen den Zähnen hervor. »Das werden Sie sehen!« knirschte der andere. Die schrillen Klänge der Musik, die verworrenen Zurufe einer dichten Menge, die sich im freien Raume rechts vor der Bühne zusammengedrängt hatte, übertönten ihre Worte; nur die Bewegung der bleich gewordenen Lippen war im Saale zu bemerken, kein Ton kam über den Glutstrom hinüber, den die Gasflammen zwischen Kämpfer und Zuschauer legten. Und jetzt machte der Schlosser sich bereit zu einem erneuten Ansturm, zu einem Angriff, den Hunderte von Augen mit Spannung und Schrecken erwarteten. Wenn es ihm gelang, den Gegner zu werfen, hier an der Bühnenrampe, wenn er ihn niederschleuderte auf diese Kette von Flammen, wenn er ihn hinunterstürzte, kopfüber hinab in den Saal – »Fritz! Fritz!« erklang eine laute, angstvolle, weibliche Stimme von unten zur Bühne empor. Und mehr noch als der gleichzeitig ertönende Zuruf des Vereinsleiters, mehr als die drohenden Worte der Genossen, die mit ausgestreckten Händen auf ihn zustürzten, vermochte diese Stimme über den rasenden Kämpfer. Für einen Augenblick ließ Neuert von seinem Gegner ab und trat zurück, als wolle er den Kampf nach Regel und Vorschrift wieder aufnehmen. Die erregten Genossen scharten sich wieder im Hintergründe um ihren Führer, die Musik spielte ununterbrochen ihren schrillen Walzer, und die Menge der Zuschauer, die sich in plötzlichem Schrecken zur Bühne herangedrängt hatte, zog sich, einer ebbenden Welle gleich, langsam wieder zurück.

Köhler allein erkannte es, daß Neuert auch jetzt nicht daran dachte, einen Kampf mit ihm fortzusetzen, der nicht mehr bedeuten sollte, als ein harmloses Spiel der Kräfte. Er sah die rotunterlaufenen Augen sich entgegenglühen, und als der andere nun wieder näher zu ihm herantrat, hörte er die heiseren, auch jetzt nur ihm vernehmlichen Worte: »Was ich will, haben Sie gefragt? Sie sollen es sehen!« Und mit einem Sprunge wie ein Panther auf ihn zustürmend, packte Neuert ihn an der Gurgel, griff in sein Gewand, riß es in Fetzen ihm von den Schultern, um dann wieder seinen Hals zu umklammern in fester, würgender, tödlicher Umschlingung. Sinnlos, schäumend vor Wut, schleuderte er ihm dabei in leisen, zischenden Worten all' seinen Haß, all' seine Eifersucht ins Gesicht. »Dich ermorden will ich, du Hund, dazu bin ich hergekommen. Hier vor ihren Augen, verstehst du! Die Lumpen dir vom Leibe reißen, die sie dir geschenkt hat –«

Der Vorsitzende war hinzugesprungen und hatte Neuert an der Schulter gepackt, die anderen Kämpfer drangen von allen Seiten auf ihn ein, ein verworrenes Rufen, wie fernes Brausen, klang aus dem Saale empor. Noch ehe jedoch der wilde, rasende Angreifer von seinem Gegner war hinweg gerissen worden, hatte dieser seine geballte Faust erhoben und ließ sie mit gewaltigem Schlage auf die Schläfe des Todfeindes, der ihm heute erstanden war, niederfallen. Nun lösten sich die zusammengekrampften, zuckenden Finger des Schlossers, die Augen verloren ihren Ausdruck, und hintenübertaumelnd sank er schwer zu Boden. Wie ein sieghafter Recke stand Köhler über ihm, die Hand noch erhoben, die blauen Augen im Feuer des Triumphs erglühend.

Als aber der Vorhang, sich langsam senkend, die strahlende Siegergestalt den Blicken entzog, da preßte Martha den Kopf an der Mutter Schulter, und zwischen Lachen und Weinen flüsterte sie: »Mutter, Mutter, gefällt er dir nicht auch?«


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