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Achtes Kapitel

Am nächsten Mittag reiste Georg ab, ohne die Geliebte noch einmal gesehen und gesprochen zu haben. Sie stand hinter der Gardine in ihrem Erker, als der Wagen vorfuhr, der ihn zum Bahnhof bringen sollte, und wartete vergeblich darauf, daß er zu ihrem Fenster emporblickte. Er sah vor sich nieder und stieg hastig ein, als fürchte er, seinen Entschluß nicht ausführen zu können, wenn er noch einmal in die Augen sah, von denen er wußte, daß sie auf seinem Wege ruhten. Es war ein grauer, aber regenloser Tag, und indem Frau Ina auf die leer gewordene Straße hinunterblickte, gingen ihr die Worte durch den Sinn: ›Zum Abschiednehmen just das rechte Wetter!‹

Es war ihr ein schmerzlicher Trost, am Nachmittag den Spaziergang zu wiederholen, den sie am Abend vorher mit Georg gemacht hatte, und sie empfand es beinahe als Freude, daß auch der finstere Himmel, an dem immer schwerere Wolken langsam dahintrieben, mit ihr zu trauern schien. Sie kam zeitiger heim, als am vorigen Tage, doch war die Dämmerung unter dem Wolkenschleier bereits ebenso weit vorgeschritten, und Frau Ina konnte die Gegenstände auf Flur und Treppe nicht genau mehr unterscheiden. So schrak sie heftig zusammen, als sie den Korridor zu ihrer Wohnung betreten hatte, und nur das Ohr, nicht das Auge ihr die Anwesenheit eines lebenden Wesens in ihrer Nähe verriet. Ein klägliches, wimmerndes Stöhnen drang zu ihr her, das wie das Klagen eines verwundeten oder gepeinigten Tieres klang.

Trotz der Dämmerung schritt Frau Henninger mutig auf die Treppe des zweiten Stockwerks zu, von der ihr die seltsamen, traurigen Laute zu kommen schienen. Und nun erkannte sie, daß es kein Tier war, das diese Klagelaute ausstieß; auf einer der untersten Treppenstufen saß die zusammengekauerte Gestalt eines grauhaarigen, bärtigen Mannes, der die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte und ununterbrochen vor sich hin jammerte in unverständlichen, unartikulierten Tönen. Frau Henninger sprach ein paar milde, teilnehmende Worte zu ihm, doch schien er sie nicht zu hören, und erst als sie ihn leise an der Schulter berührte, blickte er ihr in das Gesicht. Jetzt wußte sie, wer es war; sie hatte den Taubstummen und sein Töchterchen, den Schützling der alten Karoline, mehrfach im Hause gesehen und stets ein inniges Mitleid mit diesem Manne empfunden, dem der Himmel zwei köstliche Güter auf einmal versagt hatte. Sein Jammer, dem er keine Worte zu verleihen vermochte, traf ihr Herz, das gerade in diesen Stunden dem Mitgefühl weit geöffnet war, und sie winkte dem Taubstummen, ihr in das Zimmer zu folgen.

Hier machte sie Licht und bat ihn durch Geberden, ihr sein Leid zu vertrauen. Zuerst stieß er auch jetzt wieder seine tierischen, klagenden Laute aus, dann aber griff er, von vertrauter Gewohnheit geleitet, zu der Tafel, die er unter dem Rocke verborgen bei sich trug. Hastig begann er zu schreiben und reichte Frau Henninger dann, mit bebenden Fingern auf das Geschriebene deutend, die Tafel dar. »Hannchen krank! Mein Kind krank! Im Fieber, kann sterben! Er, der Hund, Jaksch, der Hund, kein Erbarmen! Hat versprochen, will für Hannchen sorgen. Läßt mir das Kind jetzt sterben. Gott möge ihn strafen!«

Gemischte Gefühle regten sich beim Lesen dieser Worte in Frau Inas Brust. Zuerst das Mitleid, zu gutem, hilfreichem Thun sie mahnend; eine jähe Ueberraschung daneben, die zugleich eine eigene, dunkel gehegte Empfindung zu bestätigen schien. Sie hatte sich's nicht gestehen wollen, daß ihre instinktive Abneigung gegen Jaksch zu einem bestimmteren, wenn auch bisher nicht fest geformten Verdacht sich gesteigert hatte, zu dem Verdacht, ihr und dem Geliebten drohe Unheil von diesem Manne. Nun erfuhr sie, daß auch noch ein anderer übel von ihm dachte und ihn mit scheinbar verdientem Hasse verfolgte, und bei dieser Wahrnehmung bildete sich ihr eigenes Gefühl plötzlich zu einer heftigen, leidenschaftlichen Empfindung des Zornes und des Mißtrauens aus. Ja, der Gedanke fuhr ihr durch die Seele, ob nicht auch bei der Geistererscheinung, die sie erschreckt hatte, die sie jetzt aber bestimmt für das Werk eines Betrügers hielt, der Doktor seine Hand im Spiele gehabt habe.

Im Augenblick jedoch galt es, nicht zu überlegen, sondern zu handeln. Ein Unglücklicher hatte für sein Kind ihr Herz um Hilfe angerufen, und es stand bei ihr fest, daß sie diese Hilfe nicht verweigern werde. Sie nahm Tafel und Griffel und schrieb in Hast ein paar tröstende Worte. »Ihrem Kinde soll Hilfe werden. Ich selbst gehe jetzt gleich mit Ihnen und sehe nach der kleinen Kranken.«

Als Bäsmann das freundliche Versprechen gelesen hatte, schlug er die Hände zusammen und offenbarte seinen Dank in seiner wortlosen, jetzt mit hervorströmenden Thränen untermischten Sprache. Frau Henninger, die Hut und Mantel noch nicht abgelegt hatte, war zu dem neuen Gange schnell bereit, nachdem sie noch ein paar Mittel aus ihrer Hausapotheke und eine Flasche Wein eilig herbeigeholt hatte.

Es hatte zu regnen begonnen aus einem finsteren, beinahe schwarzen Himmel, als sie die Straße betraten, und in dieser traurigen Beleuchtung erschien der rasch erreichte Eingang zu Bäsmanns düsterer Gasse noch abschreckender als sonst. Ohne Zaudern aber folgte Frau Ina dem stummen Führer in die drohende Höhlung hinein und erstieg an seiner Hand die enge, unter ihren Tritten schwankende, von keinem Licht erhellte Treppe zu der Behausung des unglücklichen Mannes. In ihrem Herzen brannte eine warme Flamme, und inmitten der tiefen Dunkelheit um sie her sandte sie ein leises, rasches Dankgebet zum Himmel, der sie gerade heute, am Tage der Trennung von dem Geliebten, hierher geführt hatte. Es war ihr wie ein tröstliches, glückverheißendes Zeichen, daß sie die Zeit ihrer Einsamkeit mit einem guten Werke beginnen konnte.

Eine tropfende, flackernde, tief herabgebrannte Kerze, die in den Hals einer Bierflasche gesteckt war, schuf in dem Zimmer, das sie nun betraten, ein schwaches, unsicheres Licht. Neben dem Ofen, in dem ein ersterbendes Feuer nur schwach noch glühte, war ein ärmliches Lager hergerichtet, und hier, mit einem Haufen alter Kleider bedeckt, lag Hannchens zarte, blasse Gestalt. Frau Ina trat sogleich zu ihr heran, ergriff ihre heiße Hand und sprach freundliche Worte. Das Kind schien sie zu erkennen, aber sie versicherte sich dessen noch durch eine Frage. Hannchen nickte mit schwacher Kopfbewegung und flüsterte: »Sie sind Frau Regierungsrat, Sie sind gut, Karoline hat es mir gesagt.«

Mit Freude erkannte Frau Ina, daß die Kleine bei voller Besinnung war, und nun suchte sie durch vorsichtiges Forschen auch die Ursache der Krankheit zu erfahren. Gleich aber geriet das Kind in fieberhafte Erregung. »Fragen Sie mich nicht, bitte, bitte, fragen Sie mich nicht! Seit vorgestern bin ich so krank, seit ich ihn gesehen habe, und nun steht er immer da neben mir oder an der Thür, oder er faßt mich an. Bitte, bitte, fragen Sie mich nicht weiter.«

Erschüttert erhob Frau Henninger den Kopf, den sie dicht über die Kranke gebeugt hatte. Sie verstand, was diese stammelnden, zuckenden Lippen meinten, sie wußte, daß die Erscheinung, die ihren festen Sinn hatte erschüttern sollen, hier den schwachen Geist eines Kindes in seinen Tiefen hatte erbeben machen. Mit noch verdoppeltem Mitgefühl sah sie auf das elende Gelaß, in dem die beiden Menschen vegetierten, auf diese vom Alter geschwärzten Wände, auf die niedrige, lastende, von schweren Balken durchzogene Decke, auf die kleinen Fenster, zu eng und zu klein, um Licht und Luft hereinzulassen, auch wenn da draußen anstatt dieser düsteren, armbreiten Gasse eine freie Straße oder ein offenes Feld gewesen wäre. Der Anblick des Elends aber erzeugte in ihrem guten, durch Liebe und Schmerz noch weicher gemachten Herzen einen raschen, hilfreichen Entschluß.

Mit einem Wink erbat sie sich von dem Taubstummen, der mit unruhigem Bangen jede ihrer Bewegungen verfolgt hatte, die Schreibtafel, trat zu dem ärmlichen Tische heran und schrieb in dem auf und niedersinkenden Lichte der schlechten Kerze Worte des Trostes für den Harrenden. »Ich glaube nicht, daß Hannchen sehr krank ist. Aber es fehlt ihr hier an Luft und Licht und guter Pflege. Ich will es ihr geben und sie, bis etwas anderes sich gefunden hat, selbst zu mir in mein Haus nehmen. Sind Sie damit einverstanden?«

Der Taubstumme las das Geschriebene, und seine Hände zitterten vor Freude, als er seine Antwort darunter setzte. »Dank, Dank, tausend, tausend Dank! Nun Hannchen gewiß gesund. Muß hier fort. Wollte schon an Schwester schreiben, aber weit von hier. Hätte Hannchen nicht mehr gesehen, wenn dorthin gegeben. Vielleicht nie mehr gesehen. Müßte dann selber sterben. Gott segne Sie!«

Frau Henninger las die Worte und empfand es wohlthuend, daß sie mit einem Segenswunsche für sie schlossen, während die erste Aufzeichnung des Taubstummen an diesem Abend mit einer Verwünschung des Doktor Jaksch geendet hatte. Seltsam, daß ihre Gedanken immer wieder zu diesem Manne zurückkehrten! Hatte er heimlich, hinter den Coulissen an ihrem bisherigen Schicksal mitgewirkt, spann er vielleicht jetzt im Verborgenen mit an den Fäden für das Gewebe, das ihre Zukunft hieß? Der einmal erweckte Verdacht kam wieder und wieder, und ohne daß ihr selbst es gleich klar vor der Seele stand, reifte in dieser Stunde, in der öden Behausung des Taubstummen in ihr der Entschluß, den Schleier zu lüften, den sie bisher nicht berührt hatte, weil sie in dem Doktor den Verwandten des Geliebten gesehen hatte. Jetzt aber wollte sie diesen Schleier hinwegreißen, um einem verdächtigen Menschen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen.

Ueber ihrem Sinnen und Grübeln vergaß sie das Nächste nicht. Sie hob das Kind vorsichtig von seinem Lager empor, half ihm, sich ankleiden, und hüllte es in den eigenen Mantel, den sie von ihren Schultern nahm. Dann hieß sie den Taubstummen einen Wagen besorgen, und während er forteilte, sprach sie immer von neuem tröstende, ermutigende Worte zu der zarten, bebenden Gestalt in ihren Armen. »Wirst du dich auch nicht fürchten, wenn du bei mir bist?« fragte sie. »Es ist dasselbe Haus, wo du neulich den Schrecken gehabt hast.«

Einen Augenblick überlegte das Kind und sah angstvoll in die Ecken des Zimmers. Dann aber schmiegte sich's fester in die Arme seiner Beschützerin und sagte mit dem Ausdruck eines festen Vertrauens: »Nein, bei Ihnen fürchte ich mich nicht. Sie sind so gut! Und seit Sie hier sind, ist er nicht mehr da.«

Das Rollen des Wagens, das gedämpft heraufklang, hieß sie Abschied nehmen von der düsteren Stätte des Elends, in der das Kind bis heute seine Jugend verlebt hatte, und sorgsam die kleine Kranke führend, stieg Frau Henninger jetzt die Treppe hinab, in der freien Hand die Flasche mit der Kerze tragend. Ein Zugwind verlöschte die Flamme, doch die freundliche Helferin war unten angelangt und hatte in dem ersterbenden Lichte Bäsmann erkannt, der die Hausthür geöffnet hatte. Rasch ging sie, von ihm gefolgt, zum Wagen, gab ihm die Hand zum Lebewohl und sah im Schein der Laterne, wie sein häßliches Gesicht in diesem Augenblick durch den verklärenden Schimmer der Dankbarkeit und Freude sich merkwürdig verschönte.

In ihrem Hause geleitete Frau Henninger das schwache Mädchen die Treppe hinan und bettete sie mit Karolinens Hilfe, die ihre Teilnahme wortreich äußerte, in einem Gemach neben dem eigenen Schlafzimmer. Und als die Kleine nun, durch eine Tasse Thee gestärkt, bald in einen ruhigen, friedlichen Schlummer versank, da saß ihre Schützerin mit der beglückenden Empfindung an ihrem Lager, ein armes, vom Schicksal vernachlässigtes Wesen aus dem Dunkel hervorgeholt zu haben in die Helle.

Die Krankheit erregte schon am nächsten Tage keine Besorgnis mehr, und auch der alte Hausarzt bestätigte, daß Ruhe und Pflege in gesunder Umgebung hier die besten Medizinen seien. Je mehr aber Frau Inas Gedanken von der Sorge um das Kind befreit wurden, um so nachdrücklicher wandten sie sich auf die Spur, die zu Doktor Jaksch hinüberleitete. Gleich an diesem Tage beschloß sie, ihn wegen seines Verhaltens gegen Bäsmann und seine Tochter vorsichtig zur Rede zu stellen, und um die Stunde, in der er von seinen Krankenbesuchen heimzukehren pflegte, stand sie geduldig am Fenster, ihn zu erwarten.

Wie zufällig trat sie auf den Korridor hinaus, als er die Treppe emporstieg. Er begrüßte sie mit großer Höflichkeit, doch meinte sie zugleich aus seinem Wesen etwas wie mühsam unterdrückte Freude herauszufühlen. Sie hatten einander seit Georgs Abreise nicht gesehen, und seine ersten Worte galten ihm.

»Der arme Junge ist ja nun abgereist. Er hat mir herzlich leid gethan, aber ich konnte ihm nicht abraten; die letzte Zeit hat ihm böse mitgespielt, und seine Gesundheit ist ernstlich erschüttert. Ich denke, die Riviera wird ihm gut thun. Mir ist es freilich recht schwer geworden, ihn herzugeben, und vielleicht auf immer.«

»Auf immer?« Unwillkürlich that sie die Frage, von jähem Schrecken ergriffen.

»Er sprach mancherlei durcheinander, als er mir Adieu sagte, und nicht alles ganz klar. Ich will nicht bestimmt behaupten, daß er diese Worte ›auf immer‹ gebraucht hat, aber als er fortging, hatte ich das sichere Gefühl: Ich werde den lieben Kerl nicht wiedersehen.«

Frau Henninger hatte, während seiner Worte mit ihren Gedanken beschäftigt, vor sich niedergeblickt, jetzt aber schaute sie auf, und indem ihre Augen den seinen begegneten, meinte sie darin einen lauernden und zugleich frohlockenden Ausdruck zu finden. Blitzgleich verschwand er wieder, doch ihr Empfinden sagte ihr, daß sie sich nicht getäuscht habe, und sie fühlte sich merkwürdig getröstet durch die Wahrnehmung, daß die Worte dieses Mannes aus keiner wahrhaftigen Seele kamen. Mochte er jetzt von dem Geliebten sagen, was er wollte, ihr sollte er das Gefühl nicht mehr verwirren. Mit der Sicherheit einer klugen Frau jedoch, die ihre Züge und den Ton ihrer Worte in der Gewalt hat, verbarg sie die Regung ihrer Seele. In herzlichem Tone gab sie die Antwort: »Das wäre sehr traurig! Aber ich hoffe mit Ihnen, die Reise wird ihn gesund machen.« Und rasch das Thema wechselnd, fügte sie hinzu: »Da ich Sie gerade spreche, Herr Doktor, sind Sie vielleicht so freundlich, mir einige Auskunft über einen Mann Namens Bäsmann – den Taubstummen, wissen Sie – und sein Töchterchen zu geben. Er hat mir mitgeteilt, daß er Sie kennt.«

Der Doktor hob den Elfenbeingriff seines Stockes und blickte sinnend einen Moment darauf nieder, während seine Stirn sich in finstere Falten legte. Als kämpfe er mit einer zornigen Regung, sagte er dann: »Dieser Bäsmann ist der undankbarste Mensch, den ich kenne. Der undankbarste, sage ich Ihnen! Ich bin wahrhaftig nicht der Mann, mich dessen zu rühmen, was ich im stillen für andere thue; das gehört zum Beruf des Arztes wie zu dem des Geistlichen, das Wohlthun ist ihnen Pflicht. Ich verlange auch keine laute Dankbarkeit, sie ist mir sogar in tiefster Seele zuwider; aber sich verleumden zu lassen für gern geübte Wohlthaten, sich verlästern zu lassen, weil man das Beste eines Menschen gewollt hat, das geht denn doch zu weit! Und dieser Bäsmann verleumdet und verlästert mich, ich weiß es, – vielleicht hat er es gar bei Ihnen gethan, bei der es mir besonders schmerzlich wäre.«

Frau Ina vermied eine direkte Antwort, »Ueber den Mann vermag ich nicht zu urteilen, aber ich meine, so sehr gefährlich kann ein Stummer doch nicht sein, selbst wenn er lästern und verleumden wollte. Mich dauert sein Kind, sein Hannchen. Er hat mich um Mitleid für die Kleine angerufen, und ich habe sie vorläufig zu mir ins Haus genommen, um sie gründlich herauszupflegen.«

»Ich habe es schon gehört, – ja, ja, das Gerücht von solchen Thaten geht schnell in unserer Zeit, wohl weil sie selten sind. Ich verehre Sie nur noch mehr, gnädige Frau, seit ich darum weiß. Und ich wünsche, daß Ihnen das Kind keine weitere Sorge, als um seine Gesundheit, bereitet. Ich kenne es von klein auf, habe es mehrfach behandelt – natürlich unentgeltlich bei den Verhältnissen der Leute – und habe es genau beobachtet. Es stecken gute Anlagen in der Kleinen, freilich ist sie auch mit einigen moralischen Defekten erblich belastet. Sie ist unwahr, hat einen Hang zu liederlichem Herumtreiben – nein, nein, ich sage nichts gegen das Kind,« fügte er auf eine unwillkürliche Bewegung Frau Henninger's eifrig hinzu. »Es steckt ein guter Kern in ihr, ich wiederhole es, und in den richtigen Händen kann sie sich vortrefflich entwickeln.«

»Ich hoffe, dazu ein wenig helfen zu können. Die nächste Sorge freilich ist, das Kind gesund zu machen. Wie soll im ungesunden Körper der Geist sich gesund erhalten?«

»Ihnen wird es nicht schwer fallen, Geist und Körper des Kindes gesund zu machen. Sie haben eine Atmosphäre von Gesundheit um sich her, die notwendig auch auf Ihre Umgebung wirken muß. Und ich wette, solche Thätigkeit für andere macht Ihnen selber Freude.«

»Ob sie mir Freude macht? Giebt es denn etwas Schöneres? Zu sehen, wie solch' eine verkrüppelte Pflanze sich dehnt und wächst und gesund und kräftig wird – kann man sich etwas Erfreulicheres denken?« Ihr Gefühl hatte sie fortgerissen, sie vergaß für einen Augenblick, mit wem sie sprach, und offenbarte rückhaltlos die reinen, guten Gefühle ihres Herzens, indem das Mitleid aus ihren Augen und ihren Zügen sprach, gleich dem Strahl eines Lichtes aus einer anderen Welt.

»Sie sind eine barmherzige Samariterin ganz nach der Schrift,« sagte der Doktor, und ein beklommener Ton in seinen Worten, als vermöge er nur mit Mühe zu sprechen, ließ sie die Blicke auf sein Gesicht wenden. Zum erstenmal sah sie in seinen Augen das Aufleuchten einer Glut, die sie nie zuvor darin bemerkt hatte, von der sie aber im selben Augenblick wußte, daß ihr eigener Reiz – der Reiz ihres Körpers, nicht ihrer Seele – sie entzündet hatte. Und obwohl bei dieser Erkenntnis ihre Blicke starr und durchdringend auf ihm ruhten, erstarb die düstere, verzehrende Glut nicht gleich; ihre Hand ergreifend, flüsterte der Doktor mit heiserer Stimme: »Wie schön Sie sind, wenn Sie so sprechen!«

Sie zuckte zusammen unter der Berührung seiner Hand, aber sie schrie nicht auf und stieß ihn nicht zurück. Eine Kette von Gedanken und Schlüssen bildete sich innerhalb weniger Sekunden in ihrem Geiste. Der Mann hier liebte sie, begehrte sie. Das empfand sie mit dem sicheren Instinkte der Frau. Aber wenn es der Fall war, dann lag zugleich das Motiv offen vor ihr da, weshalb er ihrer Verbindung mit seinem Neffen entgegen war; daß er es war, hatte sie aus halben, unwillkürlichen Aeußerungen Georgs erfahren können. Dann ward auch der Zweck der Geistererscheinung offenbar, die sie schrecken und ihrer Liebe entfremden sollte. Das alles flog ihr mit der Raschheit des Blitzes, der die Wolken zerreißt und blendende Helle hervorlodern läßt, durch die Seele. Zugleich aber stand es bei ihr fest: hatte er sich so weit vergessen, so mußte sie noch mehr von ihm erfahren. Sie durfte ihn nicht erschrecken, ihn nicht von sich weisen, wenn er sein Inneres ganz vor ihr enthüllen sollte.

Sie ließ ihm ihre Hand und sah schweigend vor sich nieder. Eine Lüge vermochte sie nicht auszusprechen, aber ihr Schweigen schon ermutigte ihn. Er preßte die Hand fester in der seinen und trat ein wenig näher zu ihr heran. »Wie weich diese Hand ist!« flüsterte er mit halberstickter Stimme. »Wie weich und schön! Und dieser Arm, dieser herrliche Arm!« Er begann mit den Fingern der anderen Hand leise an ihrem Arm emporzutasten, sein Atem ging rasch und laut. Nun wurde der Ekel über seine Nähe, seine Berührung doch zu stark in ihr; sie machte sich los, aber sie war klug genug, es ruhig, ohne Hast zu thun, und auch ihre Stimme klang nicht unfreundlich, als sie nun sagte: »Herr Doktor, was machen Sie? Wir stehen hier auf offenem Korridor! Auch muß ich wieder hinein zu meiner kleinen Kranken.«

Er war zurückgetreten und schloß mit einem tiefen Atemzuge die Augen für einen kurzen Moment. Als er sie wieder aufthat, sah er aus, als sei er aus einem tiefen, unruhigen Schlafe erwacht; sein Gesicht war bleich, und die Schatten unter den Augen hatten sich vertieft. Aber die gewohnte Selbstbeherrschung hatte er jetzt wiedergefunden und er sprach in seiner üblichen, glatten, höflichen Weise: »Sie erinnern mich an meine Pflicht, gnädige Frau. Auch ich muß noch zu einem Kranken, hier oben.«

»Hier im Hause?«

»Im Giebel oben. Ein Schlossergeselle, Neuert heißt er, –«

»Ganz recht, jetzt fällt es mir ein. Ich habe davon gehört. Ist der arme Mensch bös verletzt?«

»Aeußerlich nicht, bis auf eine Schramme, die bald heilen wird. Aber er hat eine Gehirnerschütterung davongetragen, und ein hitziger Geist hindert bei ihm die Heilung. Noch kämpft er mit dem Fieber und der Bewußtlosigkeit, aber ich fürchte, die Sache wird keinen normalen Verlauf nehmen. Wenn es schlimmer mit ihm wird, muß er natürlich ins Krankenhaus.«

»Und er hat niemanden, der sich seiner annimmt, keinen Verwandten, keinen Freund?«

»Verwandte hat er meines Wissens hier am Orte nicht. Und einen Freund verdient er wohl kaum; er ist ein unruhiger Geist, ein Umstürzler, ich habe allerlei schlimmen Verdacht gegen ihn. Aber der Arzt muß ja darin der Sonne nacheifern, daß er Gerechte und Ungerechte gleichmäßig bedenkt, und Ihr mitleidiges Wort für den Burschen, gnädige Frau, soll ihm zu gute kommen. Ich werde für ihn thun, was ich kann.«

»So lassen Sie ihn nicht länger auf Ihre Hilfe warten. Guten Morgen.« Ihre Hand vermochte sie nicht noch einmal seiner Berührung auszusetzen, der Widerwille war zu stark in ihrer Seele. An der Thür ihres Zimmers aber bezwang sie sich und wandte sich zu ihm zurück. »Auf Wiedersehen,« sagte sie.

»Auf Wiedersehen!« wiederholte er, und der Strahl einer wollüstigen Freude brach aus seinen Augen.

Frau Henninger ging nachdenklich durch ihre Gemächer, widersprechende Gefühle, Triumph und Vorwurf gegen sich selbst, kämpften mit einander in ihrer Brust. Auf einer schwarzen Etagère neben dem Ofen stand in einfachem Rahmen eine kleine Photographie Georg's; die nahm sie in die Hand, betrachtete sie lange und stellte sie mit beruhigtem Antlitz wieder an ihren Platz. »Was ich thue, das thue ich für dich,« sagte sie. Dann ging sie ins Krankenzimmer hinüber und setzte sich leise an Hannchens Bett, in dessen großen, weißen Tüchern und Kissen die schlanke Gestalt des Kindes beinahe verschwand. Auf dem Gesichte der Schlummernden aber lag ein erster, zarter Hauch der Genesung, und ihr ruhiger Atem sagte der stillen Beobachterin, daß hier ihr Gefühl sie das Rechte hatte thun lassen, und daß ihre gute That bereits ihre Früchte trug.

Zur selben Zeit saß oben im Giebel der Doktor Jaksch an einem anderen Krankenlager. Seine Diagnose hatte ihn nicht getäuscht, er hatte den Zustand des Schlossers ungünstiger gefunden, als am Tage zuvor, und er beobachtete nun die beginnenden Fieberdelirien seines Patienten. Die Nähe des Arztes, die oft allein schon hinreicht, einem Kranken Erleichterung und Frieden zu geben, eine wunde Brust freier atmen zu lassen und einen nagenden Schmerz für Augenblicke zu stillen, sie schien an dieser Stelle das Gegenteil zu wirken. Unter den scharfen und kalten Blicken des Doktors wuchs die Unruhe des Kranken, der letzte Schimmer des Bewußtseins verschwand aus seinen Augen, Fieberröte erglühte auf seinem Gesicht, und die Hände griffen krampfhaft in die Decke, sie hinabzuschleudern von dem brennenden Körper.

Der Doktor hatte Eis herbeischaffen lassen und stand jetzt auf, einen Gummibeutel damit zu füllen. Das Geräusch seiner Schritte, bei denen die Stiefel einen harten, knarrenden Ton von sich gaben, erregte den Kranken aber nur noch mehr. Er hatte bis jetzt geschwiegen, ein dumpfes Stöhnen allein war dann und wann über seine Lippen gekommen; nun begann er zu sprechen aus wirren, wechselnden Phantasien heraus.

»Der Wagen ist ja schon da. Rechts müßt ihr fahren, rechts! Die Esel haben die Thür zugeschlossen, aber ich habe den Schlüssel. Ich habe ihn selbst gemacht, unten, im Dunkeln!« Er lachte leise in sich hinein, dann fing er von neuem an mit zorniger Stimme. »Und ich thäte es zum zweitenmale wieder und zum dritten- und vierten- und hundertstenmale! Wenn nur die Rosen keine Dornen hätten! Ich habe mich daran gerissen und ich blute, hier und hier und hier!«

Er faßte wild nach Herz und Kopf, bäumte sich im Bette empor und stieß einen dumpfen, schmerzlichen Schrei aus, der in einem Stöhnen endete. »Sie will nichts von mir wissen, aber ich tränke es ihr ein. Ihr und ihm, ihr und ihm! Sie sollen die Gewichte wegnehmen, daß ich freie Bahn habe. Sie sollen sie nicht nach mir werfen, ich will noch nicht sterben!«

Er wollte aus dem Bette emporspringen, mit festen Händen aber drückte der Doktor ihn wieder auf das harte Lager zurück. Dann legte er ihm den Eisbeutel auf den Kopf und sagte mit scharfer Betonung: »Sie müssen ruhig liegen, wenn Sie gesund werden wollen, ganz ruhig.«

Der Ton dieser Stimme und der Blick der fest auf ihn gerichteten Augen übten eine momentane Wirkung auf Neuert aus. Er wurde ein wenig ruhiger, und auch seine Stimme klang leiser, als er weiter sprach. »Ein Mal habe ich sie geküßt,« sagte er, und ein Lächeln flog über sein Gesicht, »das war schön! Wenn ich nur wüßte, wo es gewesen ist. Nein, in der Gruft war es nicht. Dahin ist sie niemals gekommen.« Er warf sich auf die andere Seite, und in neuer Erregung fügte er hinzu: »Aber die Hunde bellen schon wieder! Die Hunde in bunten Röcken mit blanken Knöpfen. Laßt sie nur kommen, ich fürchte mich nicht. Laßt sie alle herein, und wenn sie darin sind, gehe ich nach unten, und dann –«

Er brach ab; seinem Fieber zum Trotz mochte er den lauernden Ausdruck in des Arztes Augen bemerkt haben, und ein dunkles Gefühl der Vorsicht gleich einer leisen Warnung hielt ihn ab, ein Geheimnis auszusprechen, das ihm schon auf den Lippen lag. Doch gleich verschwand diese schwache Spur des Bewußtseins, das schutzreich ihm für ein paar Sekunden zurückgekehrt war, wieder aus seinen Blicken. Er lachte in sich hinein und zeigte die weißen Zähne zwischen den blutlosen Lippen. »Wir sind doch stärker als sie, wir hauen sie noch alle zusammen. Was will denn die Frau dazwischen? Nein, nein, ihr sollt ihr nichts thun, sie ist gut gegen mich gewesen. Was haben Sie denn hier zu thun?«

Sich halb emporrichtend, schrie er es mit wütender Stimme dem Doktor entgegen, der nahe zum Bette getreten war, den herabgeglittenen Eisbeutel wieder auf den Kopf des Kranken zu legen. Aber indem er die Hand dazu erhob, kam ein seltsames Gefühl über ihn, das ihn zaudern und festgebannt stehen ließ. Was war in den Augen dieses Menschen, das ihn beängstigte, weil er es zu kennen meinte und doch nicht zu deuten wußte? Woher kam dieses lähmende Gefühl, das wie der Schatten einer gestorbenen Erinnerung in ihm auftauchte, wesenloser als der Schatten eines Blattes, eines Grashalms auf sonnebeschienenem Boden, und doch zugleich mächtiger, die Seele in den verborgensten, dunkelsten Gründen stürmischer bewegend, als eine wirkliche, greifbare Gefahr? Eine Gefahr? Drohte sie ihm von der hageren, abgezehrten, von Fieber und Leidenschaften geschüttelten Gestalt auf dem einfachen, eisernen Lager?

Er ließ die Hand sinken, mit der er dem Leidenden hatte Linderung bereiten wollen, setzte sich dicht an das Bett und heftete seine Blicke fest auf die Lippen des Kranken, der ermattet zurückgesunken war und jetzt für kurze Zeit die Augen schloß. Im Halbschlaf murmelte er unverständliche Worte, auf seinem beweglichen Gesicht aber zeigten die Regungen der Seele sich so deutlich wie auf einer Wasserfläche der wechselnde Lufthauch, der sie zittern macht, kräuselt und wieder glatt streicht mit sanfterem Fittich. Jetzt schien eine Hoffnung oder eine angenehme Erinnerung den Kranken zu bewegen, er lächelte, seine Stimme wurde wieder deutlicher, und auch seine Augen thaten sich von neuem auf. Aber das Bewußtsein leuchtete doch noch nicht darin, als er die Blicke nun im Zimmer umherschweifen ließ, bis sie auf der Ecke hinter dem Ofen hafteten. »Es ist gut für uns, daß sie so dumm sind! Diese feisten Burschen, die sich wie all' das andere Lumpenpack vom Blute des Arbeiters mästen. Ja, sucht nur, sucht nur! Lachen muß ich über euch einfältiges Lumpengesindel. Was meint ihr? Ja, geht nur weg, eure Mühe ist umsonst. Wenn ich euch die Diele da in der Ecke nicht zeige, ihr findet sie nicht mit euren roten Nasen, und ich werde mich hüten, sie euch zu zeigen. Wer hat gesagt, daß ich ein Verräter bin? Nein, ich bin's nicht! Wie einen tollen Hund sollt ihr mich niederschießen, wenn ich es bin!«

Die Anstrengung der leidenschaftlichen Rede hatte ihn erschöpft, und er sank ermattet zurück. Jetzt erneuerte der Doktor den kühlenden Umschlag auf dem Kopfe des Kranken, legte ihm die Hand, die er mit Eiswasser genetzt hatte, auf die Stirn und faßte die seine mit ruhigem Druck. So saß er geduldig, den Blick fest auf Neuerts Antlitz geheftet, und wartete regungslos, bis dessen Atemzüge sich sänftigten, bis die Augen sich schlossen, und der Mund sich ein wenig öffnete, wie es bei Schlafenden geschieht. Langsam, leise löste der Doktor nun seine Hand aus der des anderen und erhob sich geräuschlos von seinem Sitz. Den Ton der Schritte selbst wußte er zu dämpfen, als er behutsam nach der Ecke des Zimmers hinüberschlich, auf der vorhin die Blicke des Kranken geruht hatten, im Vorübergehen die Thür sorgsam und lautlos verriegelnd. Dort im Winkel der geweißten Wände stand hinter dem niedrigen, eisernen Ofen eine flache, mit brauner Oelfarbe gestrichene Kiste, die hie und da schon abgestoßen war und die Naturfarbe des Tannenholzes hervorblicken ließ, während zwei durch Löcher der Schmalseiten hindurchgezogene Stricke ihr als Handhabe dienten.

Vorsichtig prüfte der Doktor das Gewicht der Kiste; sie war ziemlich leicht, er vermochte sie mühelos, ohne Geräusch emporzuheben und beiseite zu stellen. Zunächst bemerkte er nichts Absonderliches auf der leer gewordenen Stelle des Fußbodens; erst, als er niederknieend sorgsamer die weißgescheuerten Dielen musterte, sah er einen feinen Spalt, der quer über die eine von ihnen hinwegging. Er holte ein Messer hervor, warf noch einen Blick auf den jetzt ruhig Schlafenden und schob die Spitze der Klinge in den Spalt der Diele. Es kostete keine große Mühe, ein viereckiges Brettstück herauszuheben, und in der entstandenen Oeffnung unter dem Fußboden zeigte sich ein ansehnliches Packet von Zeitungen, Schriften und Briefen. Ganz leise, durch das geringste Knistern des Papiers zu immer erhöhter Vorsicht gemahnt, nahm der Doktor alles, was er gefunden hatte, an sich und legte es beiseite, um noch einmal in die Oeffnung hineinzuspähen. Nein, es war noch nicht alles. Ganz unten auf dem Boden lag noch etwas Viereckiges, Dunkeles. Mit einem letzten Griff holte er auch dieses hervor und sah im helleren Lichte, daß es ein kleines Buch von geringer Stärke war in braunem Einband mit Lederrücken und Ecken von hellerem, gelblichem Braun.

Aber dies Buch interessierte den Suchenden vorläufig am wenigsten. Er ließ es achtlos zu Boden gleiten und griff hastig nach einigen der Papiere und Briefschaften. Ein kurzer Blick überzeugte ihn, daß die Erwartung, die in seiner Seele bereits die Gestalt einer Hoffnung angenommen hatte, ihn nicht getäuscht hatte; es waren sozialistische und anarchistische Schriften, die er in Händen hielt, und unter den Briefen sah er einige Namen von Männern, die in den Zeitungen mit Abscheu oder Furcht genannt wurden. Noch auf den Knieen richtete Doktor Jaksch den Oberkörper zu voller Höhe empor, und ein Blick des Triumphs glitt zu dem Lager hinüber. Er hatte sich in einen Kampf mit diesem Menschen begeben, – er wußte selbst nicht, weshalb. Er gab dem dunklen Gefühl, das ihn antrieb, keinen Namen und hätte gelacht, wenn ein anderer es das Schicksal seines Lebens genannt, wenn er auf eine mächtige, unsichtbare Hand ihn hingewiesen hätte, die den Menschen leitet und den Schuldigen treibt, sich selbst das Verderben zu bereiten. Er wußte nur, daß er nicht anders hatte handeln können, als es geschehen war, daß eine Leidenschaft ihn getrieben hatte, mächtiger als Vernunft und Ueberlegung. Er zitterte nachträglich bei dem Gedanken an die Gefahr, die er auf sich genommen hatte, an die Vernichtung seines Rufes als Arzt, wenn diese That so, wie sie wirklich geschehen war, dieser Vertrauensbruch an einem bewußtlosen Kranken jemals bekannt wurde. Aber alle diese Bedenken, die nur aus der Furcht, nicht aus der Reue entsprangen, wurden übertönt und niedergedrückt durch das Gefühl des errungenen Sieges. Ja, nun hielt er diesen Menschen in der Hand, sein Geschick, seine Zukunft! Jetzt hatte das Fieber ihn niedergeworfen, ihn hilflos und elend gemacht, aber auch wenn er sich wieder erhob von dieser Niederlage, dann stand ein anderer vor ihm, feindlicher und mächtiger als die Krankheit und jeden Augenblick bereit, von neuem ihn niederzuwerfen und für immer!

Ein paar von den Briefen und Zeitungen steckte der Doktor zu sich als Waffe und Beweis, die übrigen versenkte er wieder in die halbdunkle Höhlung, der ein modriger Geruch entströmte. Nun warf er auch einen Blick in das kleine Buch, das er öffnete und durchblätterte. Ein Gebetbuch! Mit einem Ausdruck, in dem Hohn und Verwunderung häßlich sich mischten, sah er zu dem Schlummernden hinüber. Ein Gebetbuch bei einem Anarchisten! Der Doktor lachte jetzt, die Geschichte begann ihn zu amüsieren, und noch einmal blätterte er ein paar Seiten des Büchleins durch. Aber plötzlich verschwand diese freche Heiterkeit von seinem Gesicht; ein Gefühl, wie aus einem Hinterhalt ihn überfallend, jenem anderen Gefühl geheimnisvoll verwandt, das er vorhin beim Blick in die Augen des Kranken empfunden hatte, war mit unvermuteter, schreckender Gewalt über ihn gekommen. War es nicht wie ein ferner Glockenton aus den Tagen der Kindheit, der in sein Ohr geklungen war, ihm Bilder weckend, die lange erloschen waren? Für einen Augenblick meinte er sich selbst zu sehen, wie er vor langen Jahren gewesen war, jung und unschuldig, mit gleichaltrigen Genossen zum Gottesdienste der Kinder gehend, ein Buch wie dieses hier in der Hand. Nein, dieses selbe Buch! Wie ein Stoß vor die Brust, so traf ihn dies jähe Gefühl. Dieses selbe Buch! Kannte er es wirklich oder glich es nur einem anderen, das er einstmals besessen hatte? Er meinte es zwischen seinen Fingern brennen zu fühlen, als er es wieder und wieder durchblätterte und seine Blicke über die frommen Worte dahin gehen ließ, die ihm so fremd geworden waren und nun plötzlich mit einem feierlichen und drohenden Klang an sein Ohr zu tönen schienen. Und er kannte nicht nur die Worte; seltsam vertraut war ihm auch das Aeußere dieses Buches, dieser halbabgegriffene Einband, diese verwischten Goldbuchstaben des Titels auf dem Rücken, dies gelbliche, altmodische Papier, in dem Sandkörner hie und da sich fanden, die zum Teil herausgekratzt waren, wie er in langweiligen Unterrichtsstunden es zu thun gepflegt hatte. Und hier dieser Fleck, – stammte er nicht von einer Thräne, die er geweint hatte in einer Zeit, bevor er das Weinen verlernte? Wie ein gespenstiger Schatten trat seine vergangene Jugend mit einem Male vor ihn hin, traurig zugleich und drohend auf ihn blickend.

Die Blätter des alten Buches knisterten so laut zwischen seinen bebenden Fingern, daß er meinte, der Kranke habe sich geregt, und es erschrocken verbarg. Aber Neuert lag ruhig, sein Atem ging leiser und regelmäßiger. Und nun setzte der Doktor seine hastige, zitternde Untersuchung des Buches fort, blätterte bis zum Titelblatt zurück und zu dem Blatte, das noch vor diesem war. Seine Pupillen erweiterten sich, seine Stirn zog sich zusammen, als er die Worte las, die hier standen: ›Meinem lieben Franz zur Erinnerung‹. Der wüste Traum, der ihn während der letzten Minuten geängstigt hatte, wurde zur Wirklichkeit; Phantasiegestalten gewannen Fleisch und Bein, er hielt ein Geheimnis in Händen, das seines eigenen Lebens Geheimnis war. Er wußte jetzt, daß in fernen Tagen in Wahrheit dieses Buch sein Eigentum gewesen war, er kannte die Handschrift der Widmung, er wußte, daß eine Mutter für ihr Kind diese Worte geschrieben hatte, und daß diese Mutter seine Geliebte gewesen war.

Aber noch sträubte er sich gegen den Glauben an eine Entdeckung, die ihn fast lähmte. Ganz leise legte er das Buch beiseite, erhob sich mühsam vom Boden, wo er noch immer gekniet hatte, glitt geräuschlos, aber mit Anstrengung – zuweilen zusammenzuckend vor einem Ton, den er zu vernehmen meinte, – zu dem Lager hinüber und schob mit unmerklicher Bewegung das Haar von der Schläfe des Kranken, dicht über dem rechten Ohre, zurück. Eine Narbe ward sichtbar, schon stark verwachsen, aber deutlich zu erkennen, einer weißlichen, erhabenen Naht vergleichbar. Da war das Zeugnis, das ihm noch gefehlt hatte! Er konnte sich nicht mehr gegen die Wahrheit sträuben, die augenblendend vor ihm aufging; der Kranke hier war sein Sohn! Der Schlosser, der Anarchist, der Feind der Gesellschaft, er war sein Sohn! Er hatte ihn zu entfernen gesucht von seinem Lebenswege, hatte seine Spur verloren für lange Jahre, hatte gehofft, er werde untergehen und verschwinden, – und nun war er hier, unter einem Dache mit ihm, so nahe ihm selbst, so verderblich nahe!

Er atmete tief und trat von dem Lager zurück, von weitem den Kranken eine Weile unverwandt betrachtend. Der erste Schrecken über die Entdeckung war so stark gewesen, daß er sich an den Ofen lehnen mußte; denn er fühlte, daß die Kniee unter ihm zitterten. Allmählich aber beruhigte sich der Sturm in seiner Seele. Er vermochte gefaßt den Dingen ins Auge zu sehen, die sich ihm so plötzlich enthüllt hatten. Sein Sohn! War nicht auch in der Brust dieses Mannes ein ferner, verlorener Winkel, wo das liebeheischende Wort einen milden Widerhall weckte? Regte sich nicht auch in ihm ein Gefühl, das die Tiere der Wildnis sogar beseelt und sie menschenähnlich erscheinen läßt, das Gefühl der Liebe zu den Geschöpfen, die ihnen ihr Dasein verdanken? War auch dieser letzte Rest des Guten verschwunden aus der Brust des Mannes, der das Ich zum Gotte gemacht hatte und seinem Kultus das Leben weihte?

Nein, für einen Augenblick wurden seine Züge weich, und ein Strahl von Zuneigung schimmerte in seinen Augen. Er blickte, ein wenig näher herantretend, auf den Schlafenden und gedachte der Zeit, als er selbst noch hart und unter Entbehrungen um das tägliche Brot gerungen hatte. Die Spuren solcher Entbehrungen und unterdrückter Leidenschaften, wie er selbst sie kannte, zeigten sich scharf und deutlich auf dem Gesichte des Sohnes. Er hatte die Macht, ihn herauszureißen aus seiner finsteren Existenz, ihm den Weg des Lebens zu ebnen, und wenn er es that, mußten Dankbarkeit und Anhänglichkeit sein Lohn sein. Er schwankte, er überlegte, er zauderte. Plötzlich aber verlor sein Gesicht alle Weichheit; sie war gekommen und gegangen, wie ein rasch vorübergleitendes Sonnenlicht, das aus dichten Wolken hervorstrahlt und gleich wieder von den Schatten besiegt wird. Eine Erinnerung hatte sie verscheucht, die Erinnerung an jene Frau, deren Hand er an diesem Morgen in der seinen gehalten hatte. Nein, dieser Mensch hier stellte sich zwischen ihn und sie! Wenn sie erfuhr, daß er sein Sohn war, daß seine Mutter als ihre eigene Gesellschafterin in ihrem Hause lebte, dann mußten verborgene, glühende Wünsche begraben werden für immer. Es war entschieden, – der Schlafende mußte ihm ein Fremder sein und bleiben, das Hindernis, das ihm in den Weg getreten war, mußte hinweggeräumt werden um jeden Preis!

Doktor Jaksch hatte lange Zeit sinnend gestanden, jetzt ging er unhörbar zu der Oeffnung im Fußboden, legte das Dielenstück wieder darüber und stellte die Kiste an ihren Platz zurück. Das Buch steckte er zu sich, zu den Papieren, die er vorher schon an sich genommen hatte. Nun war jede Spur seines Thuns beseitigt; er setzte sich an das Bett des Kranken, erneuerte leise das Eis, ohne daß der Schlafende erwachte, und grübelte in den langen Stunden des Nachmittags stumm in sich hinein. Er hatte die Mittel in Händen, sich von dem Menschen hier, der sein Sohn war, zu befreien, ihn aus seiner Nähe zu entfernen, ihn hinauszutreiben aus der Stadt, ohne daß jemand auch nur ahnte, was er ihm war. Sollte er warten, bis die ruhige Entwickelung der Dinge ihn von der Last befreite, die auf ihn gefallen war, oder sollte er jene Mittel, die er besaß, gegen den Sohn gebrauchen? Nicht ihn zu verderben für immer, – nur freie Bahn zu schaffen für sich selbst. Das war die Frage, die er wieder und wieder erwog, von ungewissen, schwankenden Gefühlen hin und her getrieben. Er kämpfte in diesen Stunden einen Kampf, wie er ihn ähnlich schon einmal im Leben gekämpft hatte, und er endete wie jener. Der Tag ging hin über diesen Grübeleien, aber als die Schatten des Abends gleich grauen Nebeln auf die Welt sich legten, da hatten auch in der Seele des Sinnenden die Schatten gesiegt, und der Entschluß war unabänderlich gefaßt worden, über Zukunft und Glück des Sohnes hinweg den Weg erbarmungslos fortzusetzen, von dem er glaubte, daß er ihn aufwärts führte.


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