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II.

Alle diese abwechslungsvollen Umstände zusammen bewirkten ja, daß Luschinskij bereits fast eine ganze Woche an Bord gewesen war, ohne eigentlich sonderlich viel davon bemerkt zu haben, daß seit seiner Abreise eine so geraume Zeit vergangen war.

Denn ungefähr um sechs Uhr des Abends, wenn die Arbeit für den Tag endlich vorbei war, konnte er sich nur mit Mühe und Not in eine einigermaßen ordentliche Uniform werfen, und gleich darauf kam der Obersteward, steckte sein kreideweißes Gesicht mit der blauen Nase durch die Kammertür und meldete, daß das Mittagessen angerichtet sei, Euer Hochwohlgeboren!

Nachdem sie gegessen hatten, saßen die Offiziere ja freilich eine Stunde oder auch zwei da unten in der Messe zusammen und tranken ein Glas Whiskysoda oder einen trockenen Madeira nach den vielen Gängen. Aber sie waren müde und schläfrig, sie waren matt vom Wetter und angegriffen von der Seeluft – oder was ihnen sonst fehlen mochte:

Oberleutnant Simoff hing jedenfalls immer über dem Flügel und spielte seine französischen Aubaden mit zwei Fingern, war aber zu schlapp im Halse, um singen zu können. Und die anderen saßen um den langen Tisch herum, auf dem der silberne Aufsatz in dem elektrischen Licht kristallweiß geworden war; sie wippten mit den Stühlen, ohne sonderlich zu reden, und waren mit den Augen ein paar Tagereisen weit entfernt. Sie hatten wohl jeder sein Eigenes, dachte Luschinskij; und dann erinnerte er sich selbst ein wenig der steif daliegenden Exzellenz oder Eudoxias, an die er einen Brief schreiben mußte! Ja, ja, sagte er leise, seufzte ein wenig und starrte dem Zigarettenrauch nach, der in milchigen Wolken auf und nieder schwebte.

Dann erhob der Kommandant seinen Pokal, sah jeden einzelnen mit seinen ernsten und blassen Augen an:

»Ich danke Ihnen für den heutigen Tag, meine Herren!« sagte er, und steckte seine dünnen Lippen in das Glas hinein wie einen Fliegenrüssel. »Ich erinnere Sie daran, daß ich zurzeit Wert darauf lege, daß Sie nicht zu lange aufsitzen. Die Ruhe, die man gehabt hat, die kann einem niemand nehmen!

Präzise zwölf Uhr melden Sie mir also, daß hier in der Messe alles dunkel und still ist, Kapitän Trutzkoij! –

Unter Verhältnissen wie die vorliegenden spielt es ja eine Rolle, frisch und kampfbereit zu sein, von einer Stunde zur anderen, meine lieben Herren!« fügte er hinzu und nickte, während er sich erhob und nach seinen Räumen ging.

Und schon fünf Minuten später – sie warteten nur so lange, um mit einem Schein von Recht tun zu können, als hätten sie nun doch Zeit genug gehabt, sich darüber zu freuen, allein miteinander zu sein, ohne Gregorow – fingen die anderen an, sich zu trennen. Simoff war eingeschlafen, alle zehn Finger über den weißlich-gelben Tasten ausgespreizt. Er stieß einen kleinen Schrei aus, als er geweckt wurde; gleich darauf aber lachte er, machte eine Bewegung mit den Händen und sagte, nom de Dieu, wie abscheulich er doch geträumt! – Die älteren Oberleutnants standen an der Tür, gähnten unaufhörlich, brauchten aber eine ewige Zeit, um gute Nacht zu sagen: als wollten sie gern in die Koje, ohne doch recht Lust zu haben, allein zu bleiben.

Schließlich gelangte man aber doch in seine Kammer; während sich Luschinskij entkleidete, nahm er sich jeden Abend vor, nun wollte er sich hinlegen und über eine Epistel an Eudoxia nachdenken. Ganz sicher wollte er das tun, es war geradezu sündhaft, daß er ihr nicht schon lange Nachricht und Antwort gesandt hatte!

Aber natürlich kam er niemals weiter, als daß er eben den Kopf auf dem Kissen in Sicherheit gebracht hatte, dann schlief er.

Schändlich war es aber doch, daß er immer so zusammenklappte, denn nun hatte er bereits nicht weniger als zwei Briefe von Eudoxia bekommen. Beide waren obendrein mit Weihwasser besprengte Heiligenbilder – eingehüllt in hochrote Umschläge und mit einer Aufschrift, die der frühere Bursche Doruschko, ein gelehrter Mann, besorgt hatte. Hinten auf die Karten aber hatte sie eigenhändig mit ihrer Augentusche einige kleine Figuren gemalt – ungefähr wie Stuhlbeine, Zirkel und schiefe Vierecke: Zeichnungen, die, jede für sich gesehen, freimütige Liebeserklärungen bedeuteten und zusammengenommen die Tiefe ihrer Sehnsucht nach ihm Ausdruck verleihen sollten.

Eudoxia konnte nämlich nicht schreiben; ihre Mutter hatte so oft gesagt, erzählte sie, daß alle die guten Menschen, die sie gekannt hatte – so wahr uns Gott helfe –, ganz unbewandert in der Schrift gewesen seien; und das Leben ihrer Mutter war auch ein Beweis dafür, daß sie recht gehabt hatte mit dieser Behauptung, pflegte Eudoxia hinzuzufügen: denn sie selber hatte niemals geschriebene Sachen gesehen, die nicht Rechnungen, Kündigungen, Gerichtsvorladungen oder andere schlimme Sachen gewesen seien. Daher habe sie die gottlose Kratzerei nie lernen wollen, schweinigelte sie einem doch obendrein noch die Finger, den Frisiermantel und die Zungenspitze so fürchterlich ein! –

Freilich, ja! zwei liebliche Ikone hatte Peter Romanowitsch von ihr bekommen: eins von dem brennenden Mutterherzen der Jungfrau und eins von dem heiligen Georg mit der Lanze – daher war es auch ganz arg und abscheulich, daß er ihr noch nicht geantwortet hatte. Aber daran war ja selbstredend Gregorow schuld, dies perpetuum mobile, das ganz einfach an Arbeitsdelirium litt – in bezug auf sich selbst wie auf andere!

Und erst als ungefähr eine Woche vergangen war, seit das Geschwader den Hafen von Libau verlassen hatte, gestalteten sich die Verhältnisse plötzlich und eigentümlich derartig, daß Luschinskij eines Abends reichlich Muße hatte – wenigstens was den Dienst betraf –, um an Eudoxia schreiben zu können.

Bei ruhigem Wetter und aller anderen äußerlichen Zuverlässigkeit waren die dreißig Schiffe über die Ostsee gefahren; sie waren ein paar Tage in einer Gegend herumgetrieben, die Smaalandsfahrwasser hieß, und bei Sonnenschein gingen sie dann durch den Großen Belt unter dänischem Convoi – die Luft um sich herum mit dem Zittern unzähliger Fragen, Antworten und Orders der drahtlosen Telegraphie erfüllend.

Das Wasser war majolika-blau und geriefelt; zu beiden Seiten lagen die Inseln gleich einigen langen, goldenen und dunklen Nebelbänken. –

Bis zu diesem Augenblick war, mit anderen Worten, alles genau so zugegangen wie es sollte – wenigstens nach außen hin!

Aber an dem Abend, wo sie Skagen passiert hatten, geschah der Umschlag:

Die Armada ging wie eine Schar lauernder Haifische im Dunkeln vorwärts, das phosphorisierende Kielwasser wie einen Rückenfloßstreif hinter sich – und gegen zehn Uhr erteilte Kommandant Gregorow Befehl, daß binnen fünfzehn Minuten sämtliche Offiziere und Offizianten des Schiffes sich unten in der Messe einfinden sollten.

Da standen sie nun, den Platz zwischen dem Tisch und den Wänden ausfüllend; sie steckten die Köpfe zusammen, zupften einander am Ärmel und fragten sich gegenseitig unausgesetzt, was zum Teufel dies zu bedeuten habe! War es ein Nachtmanöver, das bevorstand? Oder hatte Herr Gregorow etwa die Absicht, Champagner über die ganze Linie schenken zu lassen? Hahaha! Oder ...

Dann kam der Kommandant aus seinem Arbeitszimmer herein, ein Stück Papier in der Hand schwenkend. Kapitän Trutzkoij kommandierte »Ordnung!« mit seiner feinsten Hoboestimme, die Offiziere schrappten die Absätze zusammen, und Gregorow grüßte mit vier Fingern, während Trutzkoij ihm meldete, daß alle zur Stelle seien.

»Ich danke Ihnen!« antwortete der Kommandant. Er stellte sich oben am Ende des Tisches auf, hob die Oberlippe in die Höhe, machte plötzlich eine Bewegung mit beiden Armen und teilte mit – die Worte hackend hervorbringend, als könne er selbst weder recht begreifen noch billigen, was er zu sagen hatte –: daß infolge dieses Tagesbefehls, den er hier in der Hand hielt, äh, und der ihm vor einer halben Stunde vom Admiralschiff herübergefunkt sei, meine Herren: in Übereinstimmung mit diesem Befehl soll das ganze Geschwader nichts Geringeres tun, als sich während der ganzen Fahrt an der englischen Küste entlang zum Kampf bereit halten, keh –:

»Verstehen Sie, meine Herren Kameraden: es sind also offenbar einzig und allein diese verdächtigen Fahrzeuge – die hier oder da gesehen sein sollen, Gott mag wissen wann, wo oder von wem – schuld an der ganzen Geschichte!

Und ich glaube deswegen kaum, daß selbst der allerzivilste und unwissende Zeitungsreporter in bezug auf Vorsicht noch mehr von uns verlangen könnte, als dies! Wie?

Oder, was meinen Sie, kiheh, ist es nicht amüsant? Wie? Hahaha!« fügte Gregorow hinzu, auf einmal ganz weiß im Gesicht, mit blauen Säcken unter den Augen und in das Licht der elektrischen Lampen hineinblinzelnd, die gerade vor ihm hingen; er sah nach rechts und nach links und fing an zu lachen, leise, in den Schultern zuckend, gleichsam mit Pflöcken aus den Blicken heraus.

Dann zog er indessen die Mundwinkel wieder an sich und verkündete, daß er die Worte des Admirals, Klarschiff betreffend, auf folgende Weise aufgefaßt habe: daß sich zurzeit die eine Hälfte der Offiziere und Mannschaft völlig angekleidet bereit halten, während die andere zur Koje ging und schlummerte – die Wachezeit könne aber vorläufig gern unten in den Kammern oder den Schlafräumen zugebracht werden.

»Ich wünsche deswegen!« sagte Gregorow schließlich, erhob sein Gesicht, und setzte auf einmal seine Knöchel in den Tisch – »ich bitte diejenigen Herren, die um zwei Uhr die Wache übernehmen sollen, sich sofort zur Ruhe zu begeben!

Mich werden Sie die ganze Nacht in meinem Arbeitszimmer antreffen können!« –

Infolgedessen legte Luschinskij – der zu der ersten Ablösung gehörte – sogleich, als er in seine Kammer hinunterkam, seine Uhr und einen Bogen Schreibpapier auf den Mahagonitisch. Er lachte schweigsam und rieb sich die Hände darüber, daß diese witzige und mystische Geschichte ihm endlich die Extrafreizeit verschaffte, die offenbar notwendig war, um diesen Brief an Eudoxia dichten zu können!

Er zündete eine Zigarette an und bohrte sich in die dreikantige Ecke zwischen das braune Samtsofa und die Seiten des Verschlages.

Aus der Kammer neben ihm hörte er die tiefen Atemzüge des Unterleutnants Weronoff, der zu denen gehörte, die die zweite Wache haben sollten, und deshalb jetzt schliefen.

Der Schein der Lampette, die an einem gelben, geschmiedeten Messingarm von der Wand abstand, verlieh dem Mondstein, den Luschinskij in dem Ring am kleinen Finger trug, Ähnlichkeit mit einem Stück rosenfarbener und blanker Frauenhaut oder mit einem von Eudoxias seidenschimmernden Nägeln.

Peter Romanowitsch schickte sich jetzt an, zu überlegen, was er ihr eigentlich schreiben wollte, außer Gesundheitsbulletins und Sehnsuchtsergüssen: Doruschko würde den Brief ja daheim vorlesen, so daß der Sinn im ganzen wahrhaftig gut umhüllt werden mußte, nicht wahr?

Selbstredend mußte er damit anfangen, ihr zu erzählen, wie der Zar die Laufbrücke der »Knjas Ssuwarow« bestiegen und die Flotte in Reval gesegnet hatte; und von der Abreise aus Libau; wie er selbst oben auf der achteren Kommandobrücke stand und landeinwärts starrte, als ob – ja, ganz als ob sie dadrinnen gewesen wäre, seine liebe und geliebte und taillenschlanke Eudoxia!

Und er mußte von dem Geschwader selbst berichten; von allen den großen Schiffen, die sich ihren Weg durch die Tausende von Werst preschten, weit weg von St. Petersburg und von ihrem schaumweißen Wogenbusen, ganz hinüber nach der entgegengesetzten Seite der Welt! Von den guten und kameradschaftlichen Offizieren – die übrigens hin und wieder merkwürdig schwerfällig und langsam sein konnten, alle miteinander, oder zu anderen Zeiten sonderbar hastig, höchst wunderlich, was?

Jawohl; und um ihr richtig zu zeigen, welch eine ernste Sache das Ganze war – und als Entschuldigung, weil so lange Zeit vergangen, ehe sie diesen Brief bekam – und auch, um ein wenig Farbe und Dramatik in den Bericht hineinzubringen, weiß Gott –: da wollte er ihr erzählen, daß auch die Rede davon sei, man könne vielleicht noch hier oben, in diesen nordischen Gewässern, mein Schatz, auf japanische Seeminen und japanische Torpedos stoßen! Wohl könne man das: und deswegen fahre man auch keinen einzigen Fußbreit vorwärts, in den letzten Tagen, ohne daß nicht das Meer vorher von einer Stahlleine durchschleppt werde, die im Bogen zwischen zwei dazu gemieteten Kauffarteischiffen herabhinge – welche Dampfer auf den Zehen unserer ganzen Armada vorangehen, was sagst du dazu!

Ja, ja, und so handgreiflich versprach dies alles zu werden, daß man sogar jetzt, heute abend, diese Nacht während er schrieb, Befehl erhalten hätte, halbwegs klar Schiff zu halten, bereit, einen Angriff aufzunehmen ...

Aber zu gleicher Zeit, als sich Luschinskij entschloß, über alle diese Dinge zu schreiben, sickerte da – aus jedem einzelnen von ihnen – ein ganzer Haufe von kleinen Zügen heraus, die er bisher nicht recht beachtet hatte. Kleinigkeiten, die er an und für sich allerdings deutlich gesehen und gehört hatte, jedesmal wenn sich eine von ihnen ereignete, die aber auf die eine oder die andere unbegreifliche Weise bis zu diesem Augenblick in ihm niedergehalten waren – aufgehoben oder nachgeschoben unter all seiner Geschäftigkeit, unter all dem Ungewohnten, das ihn umgab, unter all der unablässigen Arbeit, die ihm nicht die geringste Zeit zum Nachdenken gelassen hatte:

Betonungen und Worte fielen ihm allmählich ein, die bisher nicht das Geringste für ihn bedeutet hatten, die aber jetzt, wo sie sich zu Mengen ansammelten, gleichsam anschwollen – Gewicht voneinander ansogen – sich untereinander massenhaft vermehrten –, ihn ganz und gar anfüllten ...:

Da war nun zuallererst der Abend, vor einer Woche, wo die Flotte die Anker gelichtet und aus der Reede von Libau in See gegangen war. Luschinskij und eine Reihe anderer Offiziere waren nach Achtern auf die Kommandobrücke gegangen, die sich quer über das Deck spannte, dicht an dem hintersten Schornstein – wie ein langes Maurergerüst aus grauangestrichenem Eisen. Der Scheinwerfer erhob sich über ihnen gleich einer großen, schwarzen Trommel auf einer Stange; es dröhnte leise darin vom Winde.

Sie standen alle zusammen einen Schritt oder zwei voneinander entfernt und starrten nach der Stadt hinüber. Das Wetter war grau und naßkalt – eine rohe Luft, die gleichsam erkältend auf die Nerven wirkte und einen sonderbar frostig machte.

Die See war still und schwer.

Die Salutschüsse von den Küstenbatterien rollten wie hohles Tiergebrüll zu ihnen heraus über das Wasser hin; die Blitze glichen gelben Zungen in dem grauen Rauch.

Die Stadt versank langsam, nach und nach: als könnte man sich vorstellen, daß sie bei dem Antwortsalut des Geschwaders in Grund geschossen und jetzt im Begriff sei, sich auf den Boden des Meeres zu bubbeln.

Nur noch die Toppsflaggen auf den beiden hohen Leuchttürmen waren zu sehen; eine Minute sah es so aus, als signalisierten sie um Hilfe.

Dann verschwanden auch sie.

Da war gar nichts mehr zu sehen. –

Aber gleich nachher kam die Abendfinsternis herauf, genau von der Stelle her, wo die Stadt versunken war. Luschinskij zog seinen Mantel um sich zusammen. Der Rauch von den Schiffsschornsteinen ging über seinen Kopf hin; er roch bitter und scharf. Die Laute aus den Maschinen bewegten sich wie tiefe, unruhige Schläge inwendig im Fahrzeug hin und her; er fühlte sie unter seinen Füßen beben.

Es wurde halblaut geplaudert zwischen zwei ganz jungen, bartlosen Leutnants, die nach links zu ohne Mantel dastanden; ihre Gesichter sahen weiß aus in der Dämmerung. Sonst sprach niemand. Luschinskij hatte auf einmal ein Gefühl, als sei irgend etwas in ihm zugleich mit der Stadt versunken oder mit ihr ertrunken – und statt dessen kam da nun etwas anderes, etwas, das zugleich mit der Dunkelheit und der Kälte in ihn einzog.

Er streifte den Kragen bis über die Ohren hinauf.

Dann sah er sich nach den anderen um. Sie standen, ebenso wie er selbst, und starrten nach dem Lande hinüber: als hätten sie plötzlich den Einfall bekommen, alle miteinander, daß es viel für sie bedeute, wenn sie sich ganz genau erinnern konnten, wie das Ganze ausgesehen hatte. Eine Sekunde spürte er eine Unruhe inwendig, hinter seinen Augen – und auf einmal war es ihm, als sei er doch wohl der einzige, der nicht ausschließlich froh und zufrieden darüber war, daß sie jetzt endlich unterwegs, sich jetzt endlich auf der Tausendmeilenfahrt befanden, dort hinüber, wo Togo und seine graue Armada ...

»Ja!« sagte auf einmal einer mit einer leisen Stimme, die Luschinskij, ohne zu wissen weshalb, wie eine von innen kommende Kälte im Blut empfand; er erhob den Kopf, trat ein paar Schritte näher an die anderen heran, und wollte gern etwas sagen.

Aber im selben Augenblick schlug Oberleutnant Tscherikoff von der Marine seine Hand auf das eiserne Geländer nieder, so daß es klirrte.

»Was in aller Welt!« sagte er, drehte sein großes, bärtiges Gesicht von rechts nach links und lachte wie ein Hagelwetter. »Nun liegt, mit anderen Worten, die Zukunft vor uns, mit Avancement und Ruhm in ihrem Schoß, meine Herren!

Ich möchte wohl wissen, wessen Phantasien in diesem Moment am höchsten gespannt sind!

Wie – Weronoff?«

Sie lachten alle zusammen – noch großartiger als Tscherikoff. Peter Romanowitsch hatte ein Gefühl, als wenn der Seeoffizier möglicherweise seine Gedanken erraten hätte – seine Wangen glühten, er sah stier zu dem Oberleutnant hinüber und war unter denen, die am meisten lachten ...

Hieran also mußte Luschinskij denken, jetzt, als er sich klarmachen wollte, was er an Eudoxia schreiben sollte.

Aber gleich nachdem er die Geschichte zu Ende gedacht hatte, fiel ihm ein: daß da doch möglicherweise auch andere gewesen waren, die in Wirklichkeit an jenem Abend auf der Kommandobrücke etwas Ähnliches gemeint und gefühlt hatten wie er! Selbstredend!

Erstens: warum sollten sie eigentlich nicht gerade dasselbe empfunden haben wie er!? Er war ja alle Zeit ein ebenso schneidiger Soldat gewesen wie sie, hatte ja überhaupt in keiner Hinsicht jemals »außerhalb« gestanden!

Nun, und außerdem war es ja auch ganz einfach sowohl natürlich als erklärlich, daß einem ein wenig lau zumute war, wenn man auf eine solche Fahrt hinausging: hinüber nach dem anderen Face der Erde, zu den gelben Satans und ihrer unflätigen Kriegführung!

Ganz sicher: ihnen allen miteinander war gewiß höchst sonderbar ums Herz gewesen! Ganz und genau wie ihm! Die Sache stand fest!

Aber, warum in Gottes Namen hatten sie sich denn versteckt, alle ohne Ausnahme!? Warum war er selbst förmlich angst und bange davor gewesen, daß ihm die Kameraden etwas anmerken könnten? Warum hatte man nicht ganz ruhig zueinander gesagt: Herr Jesus, jawohl, ach ja, nun ziehen wir fort aus dem uralten Lande und wieviele von uns werden wohl wieder zurückkehren!?

Ja, wahrhaftig, welche Ursache konnte doch vorgelegen haben, daß man sich so voreinander versteckte? Warum hatte man entweder baumstill geschwiegen mit seiner Beklemmung – oder sogar gelacht, trotz derselben? Warum?

Bedeutete dies vielleicht, schließlich, daß noch etwas Tieferes dahinter steckte: daß es, mit anderen Worten, gar kein gewöhnliches, gar kein einfaches Abschiedsgefühl war, das man dort auf der Brücke gehabt hatte, während Libau nach und nach ertrank, gerade vor ihren Augen!?

War es möglicherweise etwas, das mit den langsamen und steifen Gesichtern in Verbindung stand, mit denen die Kameraden plötzlich hin und wieder unten in der Messe dasitzen konnten?

Oder hing es mit dieser Tatsache zusammen, daß man heute abend halbwegs einen Angriff erwartete: schon hier oben, bei Skagen, noch tausend Meilen fern von der Stelle, wo man sich eigentlich gedacht hatte, daß der Kampf erst beginnen würde?

War es also in Wirklichkeit gar keine Abschiedswehmut – sondern böse Ahnungen, bittere Träume und herbe Gewißheiten, was sie alle an jenem Abend erfüllt hatte, als sie so eifrig nach ihrem Heimatsland hinübergestarrt hatten, das ins Meer versank und verschwand? War es eine Art unabwehrbarer Vorausempfindungen von irgend etwas Dunklem und Ungeheurem und Unabwendlichem, das sie schon jetzt bedrohte? Wie? ...

Und als Peter Romanowitsch soweit gekommen war, entsann er sich auf einmal noch mehrerer Kleinigkeiten, die er hier oder da von den Kameraden gehört hatte – und die sehr wohl darauf hindeuten konnten, daß er wirklich vollständig recht hatte in seiner Annahme, daß die meisten von ihnen vielleicht sogar weit ärgere Krämpfe und Sorgen im Herzen gehabt als er selbst:

Zum Beispiel vorgestern abend! Er war plötzlich von seinem Sophaplatz in der Messe aufgestanden, spazierte ein paarmal auf und nieder über dem dunkelblauen Teppich – als wisse er selbst nicht, was er wolle; und dann ging er langsam, allein, die Treppe hinauf, auf das oberste Deck hinaus: mochte es nun sein, um eine Zigarette droben in der Luft zu rauchen, oder nur um die Lichter auf den anderen Schiffen des Geschwaders zu betrachten!

Auf alle Fälle war er gleichsam von einem unpäßlichen, unruhigen Gefühl erfüllt gewesen – dessen entsann er sich noch sehr wohl.

Himmel und Meer hingen pechschwarz übereinander. Es wehte – als käme die Finsternis gelaufen und renne gegen ihn an. Er drückte die Mütze fest in die Stirn und beugte den Kopf ein wenig vornüber.

Als er um den Panzerturm herumgekommen war – der sich von dem Achterdeck erhob wie eine große, dunkle Halbkugel, auf ein breites, kurzes Rohr gesetzt – und sich auf die eiserne Leiter zwischen den beiden Kanonen stellen wollte, die aus ihren Öffnungen in der Turmwand herausragten, da entdeckte er, daß dieser Platz offenbar schon besetzt war. Er gewahrte eine hohe, finstere Gestalt, die schon dortstand, den linken Arm um die eine Kanone geschlungen, und eine lange, schwarze Zigarre rauchte; die Glut leuchtete einen Moment auf, und Luschinskij konnte das scharfe und bartlose Gesicht des Mannes mit dem viereckigen Kinn sehen: es war der Oberleutnant zur See Starck. Jawohl, dachte Peter Romanowitsch –: ganz recht, Starck war ja einen Augenblick vor ihm aus der Messe gegangen!

Dahinter in der Ferne sah man den Schimmer einer roten Laterne – wie ein Loch in der kohlschwarzen Nacht, zu irgendeiner Feuersbrunst hinein.

»Ei, ei! Bei Gott! Also hier stehen Sie, mein lieber Starck!« sagte Luschinskij, mit einer lauten Stimme, die verwundert klingen sollte. Er stellte sich auf eine Stufe, unter der, auf der des anderen Füße standen, und lehnte den Rücken gegen die Kanone zur Rechten.

Es war, als stünde man auf einem Kirchturm oder auf einer Ausguckleiter, die ein wenig in Wind und Dämmerung schwankte.

Der Rauch des Schornsteins strich an ihm vorüber, hoch oben; er war tief wie Samt und mit einer Menge von Feuerpunkten; so müsse sich das Schießen bei einem nächtlichen Angriff ausnehmen, dachte Luschinskij.

Er hatte eine Empfindung, daß Starck vielleicht am liebsten allein sein wollte – und zugleich war er plötzlich ganz sicher, daß er selbst sehr wohl gewußt hatte, daß der Oberleutnant hier hinaufgegangen war; eben darum war er auch selbst hierher marschiert: denn da war nämlich irgend etwas, wonach er ihn gern fragen wollte; etwas, das ihm sehr am Herzen lag; etwas, worauf er gern eine fachmännische Antwort haben wollte – am liebsten unter solchen Verhältnissen, daß er im Dunkeln stand, sowohl während er fragte, als auch während er hörte, was der andere sagen würde. Aber in diesem Augenblick konnte er sich nur nicht entsinnen, was für eine Sache das sein konnte.

Darum lachte er ein wenig und atmete kräftig, als schwelge er mit aller Macht in der Luft:

»Verstehen Sie!« sagte er. »Es ist ein glücklicher Zufall, daß man diese Fahrt mitmacht, lieber Herr Oberleutnant! Schon allein der Frischheit halber!

Oder habe ich nicht recht?« Er versuchte zu schweigen, um Starck Raum in der Unterhaltung zu geben. Im innersten Innern aber suchte er sich beständig zu erinnern, wonach er ihn doch hatte fragen wollen.

Dann wurde ihm die Pause zu lang:

»Ich kann hören!« fügte er hinzu und lachte von neuem, »daß auch Sie hier stehen und sich die Lungen großsaugen.

Jawohl!

Die Luft hier draußen auf See ist durch und durch lebendig, sobald man sie nur in den Mund bekommt. Sie bläst sich auf sozusagen inwendig in einem. Man wächst dadurch.

Nicht wahr?«

Starck nickte ganz leise; die Zigarre, die in seinem Gesicht saß, zog ein paar kleine, rote Feuerlinien im Dunkeln. Luschinskij runzelte die Brauen; eine Sekunde wandelte ihn die Lust an, unangenehm zu werden, über das Schweigen des anderen; aber er unterließ es trotzdem:

»Hören Sie einmal, Oberleutnant! Erzählen Sie mir eins!« sagte er langsam.

Und sofort nachher wußte er auf einmal, was er die ganze Zeit hatte fragen wollen. Er hatte obendrein ein Gefühl, daß diese Entdeckung sicher keinen anderen Grund hatte, als daß Starck in Wirklichkeit dastand und an ganz genau dasselbe dachte! Er selbst und der Seeoffizier hatten also – gerade weil keiner von ihnen derjenige sein wollte, der das Thema anschnitt – durch ihre Stummheit, buchstäblich gesprochen, sich gegenseitig das erzählt, was sie nicht mit Worten nennen wollten: aber welche Ursachen konnten es nur sein, die auch Starck bewogen, nicht über diesen Stoff reden zu wollen, mußte Peter Romanowitsch plötzlich denken.

Deshalb lachte er laut und sehr scherzhaft:

»Sagen Sie mir doch, Liebster!« äußerte er mit einer witzigen Stimme und starrte dabei – sich im Schutz des nächtlichen Dunkels wissend, den Atem ausschließlich unterhalb des Hosenbundes ziehend – in das Gesicht des anderen, das wie ein bleichgrauer Fleck erschien, lose oben in der Finsternis schwebend. »Erzählen Sie mir doch, verehrter Oberleutnant Starck: wann meinen die Herren Seeoffiziere denn, daß wir unsere allerherzlichsten Freunde, die kleinen Japaner, treffen werden?

Wie?

Und wo wird die Schlacht vonstatten gehen, glauben Sie?

Ein jeder hat seine Meinung hier an Bord – daher würde es mich freuen, die Ihre zu hören, die eines wohlbewanderten Fachmannes!?

Hahaha!

Nicht wahr?

Was sagen Sie?«

Starck zögerte ein wenig mit der Antwort; dahingegen nahm er offenbar einen vollen Zug aus seiner Zigarre: denn sein Mützenschirm hüpfte auf einmal aus der Dunkelheit heraus, die untere Seite seiner Nase zeigte sich rosenfarben, und die Augen erschienen schwarz. Er lachte – mit genau demselben umschweifreichen Lachen wie Luschinskij. Peter Romanowitsch fror ein ganz klein wenig in den Lungen dabei.

» Die Schlacht!« sagte der Marineoffizier dann und fuhr fort zu lachen; es lautete ein klein wenig zischend, als entweiche die Munterkeit einzig und allein zwischen seinen Oberzähnen. Er schüttelte darauf umständlich die Asche von seinem Glimmstengel, indem er mehrmals damit jäh durch die Luft fuhr.

Während aller dieser Pausen hörte Luschinskij plötzlich das siedende Geräusch, von dem Gang des Schiffes durch die See, bis hier herauf brausen: als sei man in die Nähe eines Wasserfalls gekommen, oder als stürzten Wellen durch die Flanken des Schiffes herein. Die Möven schrien in steifen, knackenden Stößen. Hin und wieder krachten die kantigen Schläge ihrer harten Flügel. Man fühlte den Wind und die Dunkelheit wie eine Art sehr dünnes und kaltes Wasser, durch das man schnell hindurchgezogen wurde.

»Ich weiß, hol' mich der Teufel, wirklich nicht, von was für einer Schlacht Sie reden, haha, lieber Luschinskij! Verzeihen Sie!« begann Starck endlich. »Offen gestanden, halte ich es für Ihren eigenen Fehler, wenn Sie naiv genug gewesen sind, überhaupt zu glauben, daß wir ausgeschickt sind, um zu kämpfen!

Das Ganze ist ja nur eine große Demonstration – oder eine Parade, wenn Sie wollen! Es mußte endlich etwas getan werden, der Stimmung halber – sowohl daheim wie auch drüben in Japan.

Die Welt hat das Bedürfnis, unser blaues Kreuz über den Wassern zu sehen, ganz einfach!

Voilà tout!

Weiter ist nichts los! – – –

Da haben Sie den wahren Standpunkt!« fügte er hinzu. Aber dann war es, als sei ihm der Mund jetzt ins Gleiten gekommen – oder als sei er auf einmal von Luschinskijs kurzen Atemzügen angesteckt worden; oder er hatte vielleicht auch selbst die Unsicherheitspausen entdeckt, die er vorhin, ehe er sprach, gemacht hatte, und nun wollte er Peter Romanowitsch bewegen, dieselben hinterher zu überhören.

»Im übrigen wissen Sie ja sehr gut selbst Bescheid, lieber Freund, wie unsere Armada hier beschaffen ist. Auf alle Fälle ist das wenigstens mehr als oft genug hervorgehoben worden, in den Zeitungen wie auch überall sonst!« fuhr er fort, mit einer dünnen und hastigen Stimme: einem tiefen Ton, der Peter Romanowitsch auf eine sonderbare Weise die Rippen zusammenschrob, so daß er mit weit geöffnetem Rachen dastand und völlig vergaß, seine Zigarette in Brand zu halten. »Sie haben es ja oft genug daheim gehört, überall, daß unsere Schiffe hier im Geschwader ganz einfach nicht zum Kampf taugen! Wie? Entweder veraltet – oder viel zu neu, alle zusammen! Und schlecht gebaut und übel bemannt – mögen sie nun alt sein oder jung!

Hahaha! Ja: das ist ja einer von den Vorteilen der Methode, nach der wir unser ganzes Marinewesen hierzulande eingerichtet haben! Wie? Finden Sie nicht: oder sind Ihnen noch nicht die Augen aufgegangen für dieselben Resultate innerhalb des Heerwesens?

Nun, wie gesagt:

Nein, lieber Luschinskij, beruhigen Sie sich nur, diesmal kommen wir, weiß Gott, nicht nach Japan! Glauben Sie mir das! Und das ist es ja, was uns alle doch, so hin und wieder einmal, ohne daß man sich so recht klar darüber ist, ein wenig Kopfschmerzen bereitet! Haben Sie das nicht bemerkt? Die meisten von uns leiden an einer ganz leisen Verstimmtheit, nicht wahr? Hier haben Sie also die direkte Ursache dazu! – – –

Ach nein: diesmal wird, weiß Gott, keiner von uns bis nach Japan gelangen!« wiederholte er ganz sacht – als wüßte er es nicht. Aber gleich darauf lachte er plötzlich mit einem fröhlichen Lachen, als habe er selber auf einmal gefühlt, daß seine Stimme gleichsam diese letzten Worte, ›diesmal wird keiner von uns bis nach Japan gelangen,‹ viel zu leise und hohl ausgesprochen hatte – fast als solle ihnen jetzt eine ganz andere und tiefere Bedeutung untergelegt werden, als sie von Anfang an gehabt hatten; oder hatte Starck vielleicht den von neuem veränderten Ton von Peter Romanowitsch' Atemzügen bemerkt und dachte daher, daß jener diesen Satz mißverstanden – oder hatte der Marineoffizier etwa nur die Richtung seiner Gedanken verändert?

Jedenfalls streckte er auf einmal die Arme aus, legte den rechten kameradschaftlich Luschinskij um den Hals, nickte vor sich hin und fing an, mit halblauter und vertraulicher Stimme weiterzuplaudern:

»Freilich, ja! Japan! Wer wollte nicht gern dahinüber! Tod und Teufel!« sagte er. »Sie können mir glauben: es ist ein höchst verblüffendes Diminutiv von einem Weltteil, dies Nippon! Ich bin dreimal da gewesen, wissen Sie!

Zuletzt ein halbes Jahr!

Brauche ich Ihnen anzuvertrauen, daß ich mir selbstverständlich eine Ehegenossin kaufte, gleich am allerersten Tage. Hahaha, lauschen Sie nur jetzt! Es wird uns beide amüsieren, wenn ich diese entzückenden Angelegenheiten auffrische! Sie sind ja ein junger Mann, der nicht wenig lernen muß.

Noch!

Und die Luft heute abend fordert sozusagen zu Erinnerungen auf, hier auf dieser Lustfahrt, wie!« – und dann erzählte Starck darauflos, von der kleinen und schlanken Uruma mit ihrem unglaublichen Sattelschwung in den Lenden; von dieser gelben Dirne mit dem schwarzen Haar – die zuletzt wie eine Sonnenblume hinter ihm herhing, vor Zärtlichkeit; und die sechsundzwanzig – hören Sie wohl, mein Herr: sechsundzwanzig Methoden der Umarmung kannte! Man konnte kaum genug in einem Monat hindurchgelangen, bei Gott! Handbuch der Hausgymnastik nannte ich sie. Sie war, weiß der Himmel, eine absolute Académie des Dames! Aber hören Sie nun und urteilen Sie selbst, lieber Luschinskij! ...

Und so kam es denn, daß Peter Romanowitsch über alles das, was nun folgte, bezaubert von den Details des Themas, nach und nach, ohne sich eigentlich klar darüber zu sein, vorläufig Starcks voraufgegangene Bemerkungen über den miserabelen und malheurösen Zustand der Flotte vergaß. Ja. Alles, mit Stumpf und Stiel, vergaß er – zu diesem angenehmen Ergebnis gelangend, teils also durch Starcks Bericht, mehr noch aber durch ebendasselbe, was ihm bisher sowohl zu See als zu Lande über alle Widerwärtigkeiten des Militärdienstes hinweggeholfen hatte: eine Art Hoffnung auf alles Mögliche und ein Wille zu allem Möglichen: zu Avancement wie zu Vaterland und Ruhm, zu Abenteuer, zu Kameradschaft und Löhnungszulage! Ach ja, alle seine Bedenken legte er ruhig beiseite, Krieger und Mannsperson, der er war – während er mit einer Menge süßlich schwellender Empfindungen den Erzählungen von Urumas wissenschaftlicher Leidenschaftlichkeit lauschte ...

Aber übrigens war es ja auch eigentlich erst heute abend, zugleich mit allen den anderen Ereignissen, an die er nun denken mußte – und verstärkt durch das Bewußtsein von dem Befehl, der ihnen erteilt war: diese Nacht klar Schiff zu halten – erst jetzt bekamen Starcks Bemerkungen von den unbrauchbaren Schiffen und von der ekelhaften Mannschaft, ihre gemeine und vollgültige Bedeutung! Und deswegen entsann sich Luschinskij in diesen Augenblicken der ganzen Unterredung: mit Gedankenstrichen wie mit Ausrufungszeichen! o ja: Peter Romanowitsch Luschinskij hatte ein besonders blühendes Gedächtnis! Er hatte nicht das Geringste von der Unterhaltung mit Herrn Starck vergessen – und im übrigen entsann er sich ebenso genau des unheilsprühenden Mißverständnisses seines Vaters mit der Braut und mit der unendlichlangen Reise! Und er erinnerte sich auch an Ubuseffs allzu deutliche Witze, die wahrlich auch nichts Besseres verhießen! Nein, Peter Romanowitsch gehörte – leider! – nicht zu denen, die alles Mögliche zu dem einen Ohr hinein- und spornstreichs aus dem anderen wieder hinausgehen lassen! Er hatte sogar Eudoxias herzzerreißendes Weinen und ihre garstige Behauptung behalten, daß sie ihn nie im Leben wiedersehen würde ...

Luschinskij hatte eine Empfindung, als wenn irgend etwas im Begriff sei, drinnen hinter seiner Stirn zu einer großen, schwarzen, schwälenden Lache zusammenzugleiten; und gleich darauf stiegen noch eine Menge Kleinigkeiten, Blasen werfend, plötzlich in seiner Erinnerung auf: buchstäblich, als wenn alle diese Sachen in verfaulter Stille in ihm gelegen und sich langsam zu Haufen verschleimt hätten, eine nach der anderen, um sich dann gemeinsam jetzt zu melden, heute abend, wo das Verblüffende geschehen war, daß man erfuhr, man könne faktisch darauf gefaßt sein, von dem Feind überrumpelt zu werden, in Grund gebohrt, ertränkt, getötet zu werden, obwohl man sich noch hier oben an den Küsten Dänemarks befand. So erinnerte er sich auf einmal, daß die Offiziere in der Woche, die vergangen war, ja eigentlich so erstaunlich wenig zusammen gewesen waren – ganz als ob ihnen gerade unbehaglich dabei zumute war, wenn sie miteinander reden sollten – oder als wenn sie bange wären, irgend etwas zu verraten, womit sie ungern herausrücken wollten! Und dabei machten sie sich auf der anderen Seite offenbar auch nichts daraus, allein zu sein: deshalb saß man stundenlang, Seite an Seite, da unten in der Messe, aber alle wie ein Mann, ohne eigentlich die Lippen zu öffnen! Und alle zusammen waren sie zuweilen so merkwürdig fahrig in ihrem Wesen:

Sie konnten gleichsam ihre äußeren Teile nicht in Ruhe halten: sie wippten mit den Knien, strichen sich jeden Augenblick mit den Händen um die Nase herum, sprangen plötzlich von ihren Plätzen auf und wanderten ein paarmal in dem Raum auf und nieder, mit den Fingern in den Westentaschen kribbelnd; dann kamen sie auf einmal auf ihre Sitze zurück, lachend, mit den Armen fechtend, warfen die Köpfe in den Nacken und erzählten, indem sie ihre Nachbarn auf die Schenkel klatschten, ellenlange Geschichten über alles Mögliche, im voraus aus vollem Halse greinend, sobald sie sich in ihren Anekdoten irgendeiner Pointe näherten. Oder sie setzten sich ebenso plötzlich hin und starrten unendlich vor sich hin, stundenweise, ihren Mund mit herabhängenden Winkeln geschlossen, und auf alles, was ihnen gesagt wurde, nur mit einsilbigen Worten oder mit einem Kopfnicken antwortend.

Aber wenn man sie dann schließlich fragte, ob ihnen irgend etwas fehle, ob sie krank seien, oder schlechte Briefe von Hause hätten, oder ob die See ihren kleinen Magen tanzen und opfern mache, wie, mein lieber Kamerad – dann wurden ihre Gesichter blitzschnell kurz, als wollten sie mit einem einzigen Haps die ganze Welt wieder verschlingen und sowohl ihre eigenen Augen als Lippen Lügen strafen; sie lachten, schwammen mit Armen und Beinen aus und riefen, daß sie ganz im Gegenteil, noch nie, solange ihr frohes Leben gedauert, sich so wohl gefühlt hätten wie jetzt!: wunderbare Fahrt, überhaupt diese Reise, natürlich – sagten sie!

Und was für eine Karriere wird es für nous tous! Und welche Spannung, welche Sehnsucht nach Kampf! Das heilige Rußland, nicht wahr? Nicht um vierzigtausend blanke Rubel wollten sie auch nur vierundzwanzig Stunden von dieser Lustfahrt entbehren – schrien sie; und dann waren sie auf einmal wieder im Gange: girrend und redend, ins Unendliche, Dutzende von Erzählungen auftischend, aus alten Zeiten sowohl wie in bezug auf die Zukunft, die vor ihnen lag und sie anlächelte, hören Sie nur einmal! ...

Jaha und jawohl: sie greinten, sie schrien laut auf und sie schwuren!

Aber jetzt, von diesem Moment an, wußte Peter Romanowitsch gottlob besser Bescheid! Jetzt war er sich völlig klar darüber, daß es alles Prahlerei und Heuchelei war, jedes Wort, jeder Satz, jede Lachsalve der Kameraden! Bei Jesus und Georg! Ganz einfach Lügen, hol mich der Teufel, jedesmal, wenn sie aufbrüllten oder lachten!

Luschinskij klemmte seinen Nacken gegen die Wand und wiegte ihn hin und her, so daß er die Leisten an dem Holzwerk fühlte, als seien es Striche oder Rubriken in seinem eigenen Kopf; er schleuderte seinen Zigarettenstummel weit über den Fußboden hin, zog die Spitzen seines Schnurrbarts nach der Nase in die Höhe und greinte durch die Nasenlöcher hinaus:

Selbstredend war es Humbug, immer und ewig, wenn die Kameraden so taten, als amüsierten sie sich!

Freilich war es das!

Da waren Hunderte von Beweisen für die Richtigkeit dieser Entdeckung!

Schon früher war es ihm ja doch bereits wiederholt begegnet, daß er sich gewaltig über irgendein plötzliches und unvorhergesehenes Aufbrausen seitens eines seiner Kollegen drunten in der Messe gewundert hatte; wieder und wieder war es geschehen, daß einer von ihnen, mitten in allerlei Scherz und Gemütlichkeit, auf einmal mit den Knöcheln auf das Tischtuch schlug und mit heiserer Rabenstimme sprach – ganz, als ob es ihnen plötzlich völlig unmöglich geworden sei, länger an sich zu halten, oder ihr intimes Zähneknirschen auf die Dauer zu unterdrücken!

Zum Beispiel entsann sich Peter Romanowitsch jetzt, daß vor ein paar Tagen einige von den Marineoffizieren am Frühstückstisch gesessen und darüber gescherzt hatten: daß sowohl der »Orel« als auch ihr eigenes Schiff und die beiden andern neuen Jahrgänge von demselben Typ, offenbar von trinkfälligen Eltern gezeugt seien, wie, hahaha! Ja, weiß Gott, das waren sie, meine Herren!

Sehr richtig: sie schlenkern ja alle vier mit den Füßen, oder sie wackeln in den Hüften und haben eine Neigung, sich auf den Rücken zu legen – ganz und gar wie eine blutjunge Dirne, die von einem Trinker und einer Trinkerin in die Welt gesetzt ist! Hahaha! ...

Aber auf einmal beugte sich Kapitän Trutzkoij mit einem Ruck über seinen Teller vor, starrte Leutnant Timon Lwow an, der ihm gegenübersaß, und schrie plötzlich auf – bleichfett auf einmal im Gesicht und weit an den Wangen hinab geschwollen:

»Reden Sie nur frisch von der Leber weg, Verehrtester! und sparen Sie sich Ihre Umschweife!

He!

Hol mich der Teufel, junger Mann!

Es ist ja auch widerlich, mit anzuhören, wie Sie dasitzen und Witze machen über so einen Skandal, wie diesen hier mit dem ›Orel‹! Plaudern Sie lieber so, wie's Ihnen ums Herz ist, mein Herr, wenn Sie sich doch nicht bezwingen können; und erzählen Sie nur die reine Wahrheit – erwachsene Leute können es wohl ertragen, sie zu hören, da sie sie ja doch alle zusammen kennen: daß nämlich der ›Orel‹ und die drei andern Schwesternschiffe, um es kurz auszudrücken, von Idioten konstruiert und von Schafsköpfen gebaut sind! Mit einer Neigung zu kentern, alle vier! Sachkundige daheim haben sich ja Heiserkeit und Katarrhe an den Hals geheult vor Empörung! Leugne es, wer es wagt! Und verschonen Sie uns dann gefälligst mit weiteren Geistreichheiten von der Art, Leutnant!

Hahaha!

Wie beliebt?

Verzeihen Sie übrigens mein Aufbrausen, lieber Kamerad!

An und für sich waren Ihre Bemerkungen amüsant genug, das mögen die Götter wissen!

Hahaha!« –

Nun, dergleichen Scenen – mit plötzlichen Wutanfällen beginnend, und ebenso schnell mit Scherzhaftigkeiten und Kleinbeigeben endend – hatte Luschinskij ja selbstverständlich schon früher erlebt. Hin und wieder hatte er ja auch ein wenig darüber gestutzt. Aber jedesmal hatte er gleich hinterher, ohne die geringste Mühe, irgendeine wahrscheinliche und plausible Ursache entdeckt, die ihm als Erklärung ausreichend erschien: bei einigen von den Offizieren waren diese Anfälle wohl ganz einfach die Folge eines gallsüchtigen und auffahrenden Temperaments – und das war ja doch am schlimmsten für sie selber, nicht wahr? Bei anderen war es vielleicht eine gewisse mürrische und höchst berechtigte Müdigkeit, erzeugt durch den überreichlichen Dienst, den man hatte; bei einer Anzahl vermutlich eine ganz natürlich gesteigerte Reizbarkeit, hervorgerufen durch all das Neue, an das man sich gewöhnen mußte – verdammt und verflucht; und endlich konnten diese blitzschnellen Wallungen wohl auch ihre Ursache in kleinen, ganz zufälligen Verdrießlichkeiten über irgend etwas haben, ist das nicht ganz wahrscheinlich, wer kennt das nicht selbst?

Auf diese Weise hatte also Peter Romanowitsch bisher diese Fragen abgetan; jetzt aber, wo das eine Beispiel dieser jähen Umschläge in der Stimmung nach dem andern in seinem Gedächtnis auftauchte – jetzt sah er allmählich ein, daß alle diese gelegentlichen Ursachen keineswegs erschöpfend waren!

Nicht die Spur!

Oder was sollte man wohl von einem Fall, wie dem folgenden sagen? Neulich hörte Luschinskij, wie der Schiffsarzt Dr. Nakinskij eine Bemerkung machte – er leitete seine Erzählung ganz in derselben gewöhnlichen, überwitzigen Fasson ein, der sich alle Welt bediente; ging dann plötzlich in Gezisch und Schelten über, und endete schließlich damit, daß er seine eigenen Worte wieder in sich hineinzog: also der Doktor fing damit an, etwas darüber zu sagen, daß er keineswegs einen Schlaganfall vor Verwunderung bekommen würde, wenn man schon hier in diesem Fahrwasser eines schönen Morgens jäh mit einem dolor infamus erwache und unten auf dem Seesand liege, in der ersten besten dunklen Nacht durch einen ungeahnten Torpedoüberfall auf Grund gedonnert, wie, meine Herren, hahaha, ich bin gespannt auch Ihre Gesichter bei einem solchen Kladderadatsch zu sehen! Und im übrigen, fügte der Arzt, schneller und schneller sprechend, hinzu, indem er den linken Mundwinkel ganz bis auf das Kinn hinabzog: übrigens würde es ihn bei Gott keineswegs überrumpeln, wenn man jetzt in diesem heiligen Moment ein Krachen vernähme, das Himmel und Meer bersten machte, und dann erführe, daß es nur der »Knjas Ssuvaroff« oder eins der andern Schiffe des Geschwaders sei, das mit der Nasenspitze auf eine japanische Mine gestoßen war, die dem Kasten jetzt den Bug einschlüge und ihn in zwei und einer halben Minute auf den Meeresgrund versenkte – hatte der »Petropavlosk« nicht so lange gebraucht, um den Kiel nach oben zu wenden, da unten bei Port Arthur im April, als der brave Makaroff und die siebenhundert Mann, die sich an Bord befanden, alle zusammen in einem Nu aufgeschlitzt oder erstickt wurden, frisier mich der Deubel, haben Sie je etwas Ähnliches von Roheit, Barbarei und Widerwärtigkeit gehört! Heh? Und doch sagt man, daß wir in dem zwanzigsten Jahrhundert leben! Und nun sind wir also ausgeschickt, um eine treue Kopie von alledem zu erleben – nur in einem zwanzigfachen Maßstab! Wie? Hahaha! Nun! Scherz beiseite! Und im übrigen: als Arzt garantiere ich Ihnen dafür: einen leichteren Tod, als so in zehn Sekunden zu verschwinden, den gibt es nirgends! Prost, meine Herren! Auf eine glückliche Reise! Hahaha! ...

Das erstemal, als Luschinskij eine derartige Äußerung gehört hatte, war er ja gewiß, wie gesagt, ein wenig überwältigt gewesen von dem geradezu phänomenalen Widerspruch, in dem sie zu der üblichen und gewöhnlichen Gemütlichkeit stand – und einen Moment hatte er daher auch zu Graf Praxin und einigen anderen intimeren Kameraden hinübergesehen, um zu erfahren, ob man dies wirklich glauben sollte: sowohl daß die Schiffe derartig gebaut waren, daß sie kentern würden, als auch, daß man von diesem Punkt der Reise an, und hinfort Meile für Meile auf dieser ganzen unendlichen Fahrt darauf gefaßt sein konnte, auf Seeminen zu stoßen!!?

Aber der Graf hatte nur in die Hände geklatscht und aus voller Gurgel über die Behauptungen des Arztes und der andern Herren gelacht:

»Brillant!« sagte er unaufhörlich, und hickste förmlich vor anerkennender Wonne und Belustigung. »Vous êtes vraiment gigantesquement spirituel, mon cher docteur!

Es ist mir fast, als könnte ich die Japaner schon vor mir sehen – so lebhaft ist Ihre Phantasie!

Vous êtes un poète! Et des plus grands!

Bei Gott!

Hahaha, hahaha!«

Und seit dieser Zeit hatte natürlich auch Luschinskij nur gelächelt und aus voller Kraft applaudiert, wenn er mehr dergleichen Bemerkungen hörte. Aber in diesem Augenblick begriff er – und faßte es kaum, wie er so lange gebraucht hatte, um zu dieser geringfügigen Entdeckung zu gelangen: daß es wahrlich des Doktors voller Ernst damals gewesen war. Ja, nicht nur das: aber da waren offenbar auch noch andere, da waren zweifellos viele andere, die mit fester Hand und völlig wachem Vertrauen diese Geschichten aufnahmen, in bezug auf die Möglichkeit plötzlicher Attacken, hinterlistiger, blitzschneller Überfälle aus der Tiefe wie auch verräterischer und unmenschlicher und unrechtmäßiger Meuchelmördereien bei Nacht und Finsternis!

Weiß Gott, so war es!

Eben derselbe heimliche Glaube war es ja im Grunde gewesen, – das wußte Peter Romanowitsch jetzt – der ihn selbst gestern abend veranlaßt hatte, hinter Starck her auf das Achterdeck zu schleichen: in einer Art dunkler Absicht, seine, eines erfahrenen Marineoffiziers, Ansicht über diese zweifelhaften Sachen zu hören; in einer halb unbewußten Hoffnung, sich eine fachmännische Gewißheit zu verschaffen, inwieweit diese blutigen und erbleichenden Erzählungen berechtigt waren oder nicht!

Jawohl! – aber trotz alledem war Luschinskij also doch naiv genug gewesen, sich von diesem Herrn Starck an der Nase herumführen zu lassen! Der Marineleutnant hatte ihn, sozusagen, mit schoflen Details abgespeist, statt gerade und frisch von der Leber weg zu reden! Starck hatte, mit andern Worten, nicht herausrücken wollen mit seinen wirklichen, intimen und persönlichen Ansichten über die betreffenden Fragen! Der Marineoffizier hatte ganz einfach gelogen. Aber damit war es also auch bewiesen, daß er faktisch etwas zu verbergen gehabt hatte! Nicht wahr? Starck hatte nicht gewagt, seinen allerinnersten Glauben, sein ureigenstes Wissen auszusprechen!

Gut: aber ergo war die einzige Erklärung hierfür auch die, daß es ganz richtig war, alles das, was Luschinskij heute abend erraten oder sich ausgeklügelt hatte!!

Man erwartete wirklich einen Angriff von Minute zu Minute!

Und nicht genug damit, daß man auf diese Weise ganz sicher war, überfallen zu werden, – aber man war auch vollständig sicher, daß eine solche Überraschung zu den allerschlimmsten Konsequenzen führen würde! Eine sowohl sekundenlange, totale Niederlage wie eine darauf folgende Rauferei mit sich selbst und seinem Atem unten auf dem Grunde des Meeres – auf das alles war man gefaßt! Man wußte geradezu, daß man – früher oder später – besiegt und getötet werden würde, alle miteinander, plötzlich, ohne Vorbereitung oder Kampf! Und gerade dieses selbe Wissen also hatte Starck sich nicht erkühnt, an jenem Abend auszusprechen – sondern hatte es verschwiegen und verborgen hinter seinen unartigen und von grobem Lachen getragenen Geschichten über Urumas Schweinigeleien! Und genau auf dieselbe Weise hing es vermutlich auch mit der abwechselnden Wortkargheit und Munterkeit der Kameraden zusammen! Sollte das möglich sein? Warum denn nicht?

Selbstverständlich!

Und, mit einem plötzlichen Gefühl, daß seine Stirn sich jäh der Länge nach spaltete, – so begriff er, in der ganzen Ausdehnung, wie unwiderleglich recht er in allem gehabt, was er hier gedacht hatte:

All dies wechselnde Schweigen und Lächeln heute, als Gregorow den Befehl betreffs Klar-Schiff verlesen hatte, und auch so oft sonst – sowohl das der andern, am meisten von allen Praxins und vielleicht auch sein eigenes: alle diese geräuschvoll lachende Munterkeit bedeutete ganz und gar keine ehrliche Heiterkeit!

Aber sie war, auf der andern Seite, auch kein Humbug, keine Lüge, so wie er es noch vor kurzem geglaubt hatte!

Im Gegenteil!

Sie war nämlich in Wirklichkeit gerade die Schirmwand, hinter der sie alle zusammen ihr Wissen darüber verbargen, wie schlecht es in bezug auf das Ganze bestellt war! Sie war, mit andern Worten, nur das einzige, stillende Medikament, das sie besaßen! Ihre einzige Stimulanz, ihr einziges Hausmittel, das ihnen selber nur einbilden sollte, wie unsagbar erfreulich doch das Ganze im Grunde war! Daß da, weiß Gott, nicht die geringste Ursache vorlag, nervös zu sein –:

Jawohl, wenn sie wirklich korrekt gewesen, diese Behauptung, daß jede einzige Meile von dieser Erdreise da hinüber mit Minen gespickt war, so wie es Zeitungen und Gerüchte vom Morgen bis zum Abend erzählten: überfüllt mit diesen rotglühenden Medusen, die zu Vulkanen und Brandgeschwüren wurden und in die Höhe sausten, sobald man sie nur berührte, und die nach zwei und einer halben Minute – so wie es beim »Petropavlosk« geschehen war – ohne die allergeringste Möglichkeit einer Revanche oder einer Verteidigung oder eines Nutzens für Rußland, einen mit geballten Fäusten, starrem Haar und Todesübelkeit auf den Grund eines unermeßlichen Weltenmeeres hinabexpedierten; ja, wenn das alles wahr gewesen wäre! (Und in den Momenten, wo man, aus irgendeiner Ursache, für eine Weile wirklich glaubte, daß diese Gerüchte wahr redeten – in den Augenblicken überfielen einen diese schuß-plötzlichen und geräuschvoll-lachenden Anfälle von Zähnefletschen und Gewaltsamkeit!)

Aber sicher waren sie nicht zuverlässig, diese Sensationsneuigkeiten, nein!

Weit davon entfernt!

Hahaha!

Man lachte ja selbst darüber, über alle diese idiotischen Ondits und Zeitungsenten, nicht wahr, das tat man wahrhaftig, hört nur: hahaha, hahaha! Wohl amüsierte man sich darüber – und folglich mußten sie Unsinn und Scherz sein und Geistreichheiten, von Anfang bis zu Ende! Hahaha!

Die reine Komödie und Farce, jede kleinste Kleinigkeit, ganz einfach: die Flotte eine Karnevalfestlichkeit (denn die Mannschaft konnte ja weder schießen noch gehorchen; und die Schiffe taugten nicht; entweder waren es alte Küstendampfer, die sich nicht für die Ozeanfahrt eigneten; oder es waren neue und schundkonstruierte Wackelpeter, die große Neigung zum Kentern hatten): die Aufgabe der Flotte also nur eine Parade- und Dogenfahrt, die Gerüchte von den japanischen Minen reine Feenmärchen, zur Unterhaltung und Zerstreuung für jedermann an Bord gedichtet! Und die Order, über Nacht, Klarschiff zu halten, eine haarsträubend pikante Geschichte – schließlich nur ein Vorwand, Zeit zu haben, um schöne und witzige Briefe an Frauen und Bräute zu schreiben! Sehr gut! Kehe-kehe! Ja, mein Gott, wie kolossal amüsant war die ganze Sache, wie? Kommt her und lacht mit! ...

Das alles bedeutete also das Lachen der Kameraden – begriff Peter Romanowitsch: es war ihr einziger, fast immer vorzüglicher Ausweg! Die in ihrem ganzen Leben einzige und oft brillante Hoffnung, sich selber und alle andern zum Narren zu haben! Ihr einziger und in der Regel sehr anwendbarer Trost und ihre Erquickung! Keheh!

Jawohl: nun war es alles freilich gründlich und engelhaft durchsichtig und verständlich, weiß Gott, das war es! Hahaha! ...

Aber dann hatte Luschinskij auf einmal ein Gefühl, als greife ihm eine steifgefrorene und naßkalte Faust unter seine Weste.

Sie tastete mit dem einen Eiszapfenfinger nach dem andern durch sein Manschettenhemd hindurch und machte ihn triefend kalt in der Herzgrube: Bewahre, da war keine Spur von Zweifel in bezug auf dies alles! Selbst die Seeoffiziere, die doch an alles gewöhnt waren, was man in einem Seekrieg zu riskieren hatte, selbst sie waren, mit andern Worten, während der ganzen Zeit, alle zusammen, in tötlicher Angst und Nervosität umhergegangen! Gleich von dem Tage an, als die Abreise stattfand, hatte ihr Mut angefangen, zu ersticken, und zu röcheln in all dieser intimen und heimlichen Hoffnungslosigkeit – denn schon damals waren sie ja gut im Gange gewesen mit diesem Lachen, das gerade der entscheidende Beweis für ihre inneren Verzweiflungen war! Ja, hichsend bange waren sie gewesen, alle die Seeoffiziere, jeder einzelne, die Hälse voller Grundwasser und Kloakengestank! Girrend erschreckt, schon von dem allerersten Tag an Bord an: denn sie wußten ja, in ihrer Eigenschaft als Seeleute, noch besser darüber Bescheid, als unsereins, wieviel da fehlte und wie vieles schlecht bestellt war auf dieser desperaten Armada!

Vielleicht war das ganz einfach der Grund, weswegen das Ministerium so viele Landoffiziere und Festungsartilleristen mit auf diese Fahrt kommandiert hatte: denn die allein würden ja getrost an Bord dieser verwesten und bestohlenen Kästen gehen – und das Ganze obendrein noch für eine persönliche Auszeichnung halten: denn sie allein konnten ja unmöglich etwas Tatsächliches und Handgreifliches davon ahnen, das der »Orel« und die andern die Neigung hatten zu kentern, und daß jedem einzelnen Schiff eine Menge von dem geraubt war, was es gebrauchen mußte – und sie allein stellten sich auch nicht die wahnsinnige, widerliche Möglichkeit vor, daß schon hier oben, hundert Tagereisen vom Kriege entfernt, die Ozeane mit Dynamit und Shimose vollgepfropft sein konnten, die sie in zwei und einer halben Minute auf den Grund sprengten, ohne ihnen auch nur Zeit zu lassen, zur Rache und zum Widerstand mit den Zähnen zu knirschen! ...

Luschinskij fühlte eine rote und spritzende Welle durch seinen Kopf hinaufrasen; sie beulte seine Augen in einem Nu aus und brüllte in seinen Schläfen: auf die Weise also hatten seine »Kameraden«, die Seeoffiziere, ihn hintergangen!

Die Regierung, das Ministerium, Kommandant Gregorow, sie alle hatten ihm Schlingen gelegt!

Namentlich aber die Leutnants – diese Hyänen, die selbst jede Stunde des Tages grinsend krank waren vor Hilflosigkeit und Hass, die sich aber fälschlicherweise bemühten, ihn sorglos zu machen: natürlich, um desto sicherer ihr eigenes Leben retten zu können!

Vielleicht waren diese Herren von der Marine obendrein, wenn es darauf ankam, ganz überzeugt, daß das Unglück geschehen würde, daß es überhaupt unmöglich sein würde, ihm aus dem Wege zu gehen, daß das Schiff auf irgendeine von diesen Minen stoßen sollte, mußte und würde!!

Man konnte sich möglicherweise sehr gut denken, daß sie sogar den Zeitpunkt wußten, zu dem die Explosion eintreffen würde??!

Wahrscheinlich war er einzig und allein unter allen den Offizieren des Geschwaders völlig unwissend über die Stunde des Überfalles!!!!

Waren die andern vielleicht schon jetzt, in diesem Augenblick, im Begriff, alles zu ihrer eigenen Rettung in Bereitschaft zu halten: denn sie sagten ja alle, verdeckt hinter ihrem Gegrein und ihren nackten Zähnen, daß man überall, auf jeder Meterstrecke der Reise, darauf gefaßt sein könne, auf diese Minen zu laufen, die in zwei und einer halben Minute ...

Es war Luschinskij während des Bruchteils einer Sekunde, als unterscheide er ein ungeheures Brüllen, das sich wie ein Berg unter ihm erhob, und ihn in der Luft schwindelig machte. Er sah gleichsam eine turmhohe Flamme durch den Fußboden aufschwälen. Ahnte den spaltenden Schmerz, den er mitten in diesem Himmelsscheiterhaufen empfinden würde. Und gleich darauf glaubte er sich selbst liegen zu sehen, halb verkohlt, in einer Blase aus Blut und See, heulend von Brandwunden und Feuer am ganzen Körper, schwimmend mit schwarzen Armstummeln, hilflos und wahnsinnig, unaufhaltsam hinabgezogen zu der Urnacht und der Eiskälte auf dem Meeresgrunde, von den riesengroßen und kochenden Wellen!

Ohne es zu wissen, sprang er aus der Sofaecke heraus.

Es dröhnte in seinem Kopf, so daß er nicht sicher war, ob er geschlafen und geträumt hatte – oder ob das Ganze nur eine Idee war, eine sinnlose und verwirrte Phantasie, die in seinem Gehirn hierauf explodiert war.

Eine Weile stand er, ohne sich zu rühren, mit tausend pfriemkalten Punktempfindungen in seinem Scheitel, da, und lauschte – mit entzündeten Knoten an den Hörnerven: um zu entdecken, ob er wirklich in den andern Offizierskammern irgendwelche Vorbereitungen bemerken konnte.

Der Wellenschlag gegen die Seiten des Schiffes stieg plötzlich gleich flüsternden und klangvollen Seufzern aus den Wänden und dem Fußboden der Kammer auf – als liege die Mannschaft da unten, tief auf dem Boden des Fahrzeuges und jammere im Schlaf; oder als habe sich das Meer selber mit ihm in Verbindung gesetzt und pflanze sich schwer und kalt wie Quecksilber an seinen Nerven und Adern entlang fort, als fülle es seine Gehirnschale aus; oder – und er warf auf einmal den Kopf in den Nacken, mit schlotternden Knien, keuchend: oder war es der Schiffskiel, der über irgend etwas hinwegschrammte? Über ein Riff da unten? Oder über Metall – über eine Mine?!?

Noch gewaltsamer als bisher spannte er seine Ohren an; er kniff die Augen zu und legte förmlich das ganze Gesicht in Falten, um alle Sinne nur zum Lauschen zu benutzen – bis das Blut in den Adern hinter den Schläfen laut schrie. Sein Bewußtsein versank, in eine unermeßliche Ozeankälte, langsam hinab durch Risse in allen Fibern.

Aber im selben Augenblick gelang es ihm, ohne daß er eigentlich wußte wie, auf einmal über dieses alles hinwegzukommen.

Denn aus der Hinterwand der Kajüte, wo Unterleutnant Weronoff seine Kammer hatte, drang ein tiefer und dicker Gaumenlaut von seinem Schnarchen.

Luschinskij fing ein ganz klein wenig an zu lachen:

»Hahaha!« – sagte er und seine Augen füllten sich mit Tränen – offenbar von dem Lachen, nicht wahr?

Und gleich darauf war er sich klar darüber, daß, wenn jemand von den Kameraden zufällig die Komödie gesehen oder gehört hätte, die er hier, mitten in seiner Kajüte stehend, gespielt hatte – so wäre er in Zukunft als Offizier platterdings unmöglich gewesen!

Ja, freilich – dachte er und lachte wieder, diesmal leise und leicht; er rieb seine Handflächen gegeneinander und bemerkte, daß sie so waren, als habe er sie unten in das Wasser gehalten; er drehte den Kopf von rechts nach links, als wolle er seinen Augen und seinem Gehirn so recht beweisen, wie gut und solide alles war: es war ja nicht das geringste Schlimme geschehen – das konnten sie ja doch selbst sehen, nicht? –:

Ja, freilich, dies hier war geradezu lächerlich!

Im Grunde ein wenig beschämend!

Es paßte sich, bei Gott und allen Heiligen, keineswegs für einen Offizier, der niemals »außerhalb« gewesen, sich aber im Gegenteil (ja, Praxin, der wußte Bescheid!) stets mitten im Zentrum gehalten hatte! Für einen Offizier, dessen fast sterbender Vater, General und Exzellenz, gesagt hatte, das Allerwichtigste sei, ein schneidiger Soldat zu sein! Und Eudoxia, das fromme und rechtgläubige Kind, das immer sagte, Peter Romanowitsch müsse bestimmt entweder ein Osterkind sein oder sonst irgendeins von Gottes Lieblingssöhnchen, da sie ihn so liebe!

Und die Kameraden! Wie hatte er doch nur so von ihnen denken können?! Was? War das hübsch?! Mußte er nicht eher ein klein wenig beschämt über sein Benehmen sein? ...

Aber dann fiel ihm auf einmal wieder ein, daß ihm ja gerade die Manieren der Kameraden und die Worte der Kameraden zu dieser Gewißheit verholfen hatten – daß wirklich Ursache vorhanden war, sich hoffnungsverlassen zu fühlen, und daß die andern alles wußten, es aber vor ihm verbergen wollten!

O ja, ja: ohne eine einzige Ausnahme waren es gerade die Kameraden – und nicht er – die sich abscheulich und schändlich benommen hatten! Ja – so war es gewiß! Und er selbst hatte sich nicht das Geringste vorzuwerfen: mit voller Berechtigung hatte er sie heute abend alle miteinander ein wenig ausgescholten, sie Spitzbuben und Schakals genannt ...

Das heißt – dachte er weiter und entsann sich dabei: daß es sicher einige vereinzelte Abweichungen hiervon gab – und mit denen mußte er also im stillen eine Ausnahme machen und ihnen eine Entschuldigung zukommen lassen! Selbstverständlich! Aber wer war da nun von dieser besseren Art von Leuten hier an Bord?

Ja, ganz abgesehen, auf der einen Seite von Herrn Gregorow selber, dem man nie etwas Besonderes anmerken konnte – und auf der andern Seite von der großen Mehrzahl derer, die er eben jetzt, mit so vollem Fug, alle miteinander beschuldigt hatte, Poltrone und Skorpione zu sein; abgesehen von diesen beiden Gruppen also, waren da ja in der Tat noch ein paar geringere Abteilungen von Offizieren, die umhergingen und ihre ehrliche Arbeit mit Eifer und Entzücken verrichteten! Ja, die waren da! Offiziere, die ohne recht viel zu reden, sich jeden Abend langsam die Hände rieben, einem in die Augen sahen und hin und wieder ein kleines Wort fallen ließen, daß, wenn man jetzt in das japanische Meer kam, meine Herren, dann sollte es sicher etwas setzen für diese kleinen, gelben Dreckteufel da drüben unter Lord Togos verdammtem Blutsonnenbanner?!

Sehr richtig: dergleichen Menschen mußten offenbar ausgenommen werden, von den sonst allgemeingültigen Schimpfworten! Zweifellos! Aber was half das alles – insofern – in bezug auf den Stand der Dinge als Ganzes, hier auf dieser falschen Armada?

Denn Peter Romanowitsch hatte ja schon längst entdeckt, daß diese wenigen Leute, die so ruhig und erbaulich sprachen, entweder ganz grüne Jungen waren – oder bedeutend ältere Herren. Entweder reine Knaben, die teils anderen Gebrauch für ihr Blut hatten, als es das bischen Kreislauf in ihrem Kopf besorgen zu lassen: daher sprachen sie so hoffnungsvoll – und teils hinderte ihre Jugend im Dienstalter diese Kinder daran, überhaupt irgendwelche Gelegenheit zu haben, ihre Ansichten so zu äußern, daß man sie hörte: darum klangen ihre Worte so dünnstimmig, verhältnismäßig.

Und das war also die eine Gruppe von den »Ehrlichen«!

Die andere dahingegen, bestand ja aus diesen Knochenmännern, auf deren Schultern, außer den jüngern Offizieren, noch eine ganze Menge Verantwortung lag; und daher hatte sich Luschinskij immer genau so wenig aus ihren ermunternden kleinen Bemerkungen gemacht, wie aus denen der ganz jungen; denn er war, weiß Gott, persönlich alt genug als Soldat, um völlig vertraut damit zu sein, daß der Mangel an Kritik bei diesen Leuten nur darin seinen Grund hatte: weil die Bürden von Verantwortung, die auf ihren Schlüsselbeinen ruhten, ihnen ganz einfach nicht den Luxus gestatteten, viel Luft zum Sprechen zu verwenden. Hahaha!

Ach ja – dachte Peter Romanowitsch also: und einzig und allein diese beiden Menschenschläge waren es nun, die das Wohl und Gedeihen dieser unglückseligen Armada in vergoldetem Lichte sahen: entweder die ganz jungen, deren rotes Blut immer bereit war, sich zur Auffrischung der grauen Kuleuren aller Welt gebrauchen zu lassen – oder die sehr gesetzten, die älteren Offiziere, die, deren höchsteigene Großzufriedenheit allmählich reich genug geworden war, um ein klein wenig Glanzlack auch auf die Umgebungen um sie her zu werfen!

Ach Gott, ja: die Kinder und seine Vorgesetzten! ...

Aber da füllte sich plötzlich, wie durch eine Flamme, Luschinskijs Herz zum zweitenmal mit Wärme: seine Vorgesetzten! Sie waren seine Vorgesetzten, diese Männer, die niemals einen Zweifel geäußert hatten! Seine Vorgesetzten! Mit anderen Worten: Soldaten, die einen höheren Offiziersgrad einnahmen als er selbst; aber folglich besaßen sie wahrscheinlich auch eine höhere Einsicht, ein größeres Wissen?! Freilich war das der Fall! Eben so war es. Und gerade seine Vorgesetzten waren es ja, die sich immer voller Hoffnung und Zutrauen geäußert!

Aber dann war es doch recht zivilistisch von ihm, jetzt hierzustehen und ganz offen anzudeuten – durch seine schmutzige Zweifelsucht und seinen Kleinglauben: daß diese Vorgesetzten lögen und simulierten: nur weil sie älter waren als wir anderen und weil sie Verantwortung und Pflichtgefühl besaßen und weil ihre Worte anders ausfielen als die anderer!

Selbstverständlicherweise sprachen gerade sie, in Wirklichkeit, die Wahrheit!

Sie allein!

Natürlich!

Das fehlte auch noch! Man zählte wohl an die zehntausend lebender Seelen, auf diesem Geschwader, da hatte die Regierung doch wohl etwas, das Verantwortlichkeit hieß, Gott und Menschen gegenüber! Und hatte nicht der Zar, damals, als er da draußen war, um die Flotte vor der Abreise zu inspizieren, hatte er da nicht zuletzt die Hände zu dem blauen Himmel erhoben und gesagt: daß diese Schiffe, auf die er jetzt den Segen des höchsten Kriegsherrn, des ewigen Gott Vaters, herabflehe, die ganze Stärke und Zukunft des heiligen Rußlands, seien!

Nun: und das alles sollte der Kaiser gewagt haben, zu sagen, wenn die Armada wirklich, mit Offizieren und dem allen, nur hinausgeschickt war, um zu sterben, ohne eine Hand rühren zu können! Nein, wahrlich! Nein, nein! So würde sich der Zar niemals benehmen! Nie und nimmer!

Luschinskij hatte sich an den kleinen Mahagonitisch gesetzt, der aus der gelbgestrichenen Wand herausragte, wie eine rotbraune Handfläche irgendeines übermenschlichen und ungeheuren Wesens, das im Schiffe anwesend war; die Maschinengeräusche machten sich wie ganz schwache Pulsierungen bemerkbar. Tief drinnen in dem blanken Holz konnte Peter Romanowitsch ein kleines, glührotes Spiegelbild der Lampe sehen: als sei es ein Wunder, das ihn an die runde, ewigbrennende Lampe vor der Jungfrau Marie-Statue daheim bei dem General erinnern wollte. Nicht wahr, dachte er und lächelte eine kleine Weile, als sei er sehr müde gewesen und jetzt nach und nach zu einer daunenweichen Ruhe gelangt: natürlich hatten seine Vorgesetzten recht! Darin bestand ja gerade das Vorgesetztsein ganz einfach: daß man mehr wußte, als die jungen, und dann hatte man recht, nicht wahr – man hatte tout simplement immer recht! Wenn die Vorgesetzten also sagten, daß diese Fahrt zu Ehre und Beförderung führen würde – gut, eh bien, so kehrte man selbstverständlich mit Sieg und neuen Ärmelstreifen heim! Genau so, wie es Eudoxia, das kleine Kind Gottes, behauptet hatte! ...

Er erhob sich und lachte wieder ein wenig, streckte seine Arme in die Höhe, so daß die Fingerspitzen die glatte weißlackierte Decke berührten, sah nach der Uhr und entdeckte, daß es ja schon ein paar Minuten nach zwei war, Herr Gott im Himmel! Er stand also hier und vergeudete buchstäblich die karg bemessene Schlafenszeit, wie, hahaha! – Und aus der Kammer hinter ihm hörte er ja auch Weronoff gegen die Wand poltern, im Begriff, seine Stiefel anzutrampeln! Gut, er selbst sollte jetzt also zu Bett!

Er schmiß den Zigarettenstummel hin, entkleidete sich in einem Augenblick und stieg in die Koje, die kalt und klar war wie ein Sturzbad.

In demselben Nu, als seine Haut das Bettuch berührte, sah er, wie in einem Aufblitzen, die kalten Winternächte da unten bei Porphyrij in der Kadettenschule vor sich: wenn er selbst und alle die anderen sich mit einer Schar junger und kichernder Frauenzimmer hin und wieder aus den Schlafsälen herausgestohlen hatten; nackend wie die Satans schlichen sie die knarrenden Treppen hinab in die Reitbahn, um sich im Schnee herumzuwälzen, einander zu überschütten und schließlich alles Mögliche und Unmögliche mit den Mädchen vorzunehmen, in die weichen und weißen Massen gehüllt, die alle Nerven erschauern machten, so daß man die innere Wärme dreidoppelt fließend heiß empfand.

Er lächelte zu dieser Erinnerung, mußte an Eudoxia denken und an ihre großen Berggipfelbrüste; er gedachte der schweren Marmorhalbkugeln, die zu jeder Seite der Einfahrt zu der Villa des Generals auf Petrowskij lagen; erinnerte sich der weißbärtigen und unbeweglichen Exzellenz, und sein Gesicht nahm eine Weile einen ernsthaften Ausdruck an.

Dann wickelte er sich ein paarmal fest in die dicken, roten Decken, seufzte tief auf, als er die richtige Vertiefung in der Matratze fand, legte den Kopf auf das Kissen und fühlte eine kurze Zeit hindurch das Zittern der Schrauben, wie ein ganz leises Knistern da drinnen in der Federfüllung.

Er lächelte wieder – schon halb im Schlummer – sich selbst ermunternd an, weil er nun alle Teufelei und Bitterkeit gründlich aus seiner Seele ausgerottet hatte.

Und dann schlief er plötzlich ein – mitten im Lächeln, das gleichsam mit ihm zusammen in Schlaf verfiel, statt seiner Wege zu gehen, und lautlos, gekräuselt, auf seinen beiden Lippen liegen blieb. –

Den ganzen nächsten Tag ging er mit hoher Stirn und mit krummem Mund unter dem goldroten Schnurrbart umher. Er geriet fast nicht ein einzigesmal in Flammen über die Matrosen. Er schob wonnevoll seinen Arm unter den des Grafen Praxin, während sie ihre Zigarette nach dem Frühstück rauchten, und sprach ununterbrochen von Eudoxia und von all dem anderen Guten, das ihrer harrte, wenn sie jemals von dieser Fahrt zurückkehren würden:

»Herr du meines Lebens!« sagte er schließlich, streckte seine langen Arme in die Höhe und blies eine große Wolke aus dem Halse heraus. »Liebster Praxin: wer hat wohl eine Ahnung davon, was es heißt, jung zu sein – so lange man daheim ist und glaubt, daß man schon alles Mögliche erlebt hat!

Es gibt nur eins im Leben – wie Orloff einmal gesagt hat: und das ist: es aufs Spiel zu setzen! Wie! Meinen Sie nicht auch?

Oder sagen Sie mir: was würden Sie wählen? Entweder Ihre Mademoiselle Pinaud, die sich ihre schönen Augen vor Sehnsucht nach Ihnen ausweint, so daß Sie eine blinde Dame vorfinden, wenn Sie wieder nach St. Petersburg zurückkommen – oder: ein Georgskreuz auf der Brust; die Erinnerung an ein Dutzend getöteter Japaner; und ewigen Gratisaufenthalt auf dem Grunde des chinesischen Meeres!

Sagen Sie mir nun Ihre Ansicht – damit auch ich mich entscheiden kann!

Hahaha!

Was sagen Sie zu einer Unentschlossenheit von dieser Konsistenz?« –

Im übrigen waren auch alle die anderen Kameraden gewissermaßen in gleichmäßigerer Stimmung als je zuvor – mochte es nun seine Ursache darin haben, daß sie müde waren, oder was es, zum Teufel, sonst sein konnte.

Sie fingen ein wenig leicht an zu gähnen – nach dem geringen Schlaf der letzten Nacht –, und dies schuf eine vorzügliche Gelegenheit zu ruhiger und langsamer Unterhaltung: über die Annehmlichkeiten des Schlummers und über die glückseligen und dunklen Empfindungen, wenn einem die Augen ganz allmählich zu Samt werden oder zu Lippen, und einen, gelinde gesprochen, in Frieden und Sanftmut und Träume hinsinken lassen, nicht wahr? – Oder wissen Sie wohl noch, Leutnant Lwow, die beiden Nächte während der großen Manöver im vergangenen Jahr, als Sie und ich da obenan saßen und auf dem Beobachtungsstand des Forts Konstantin Observationen machten, Stunde für Stunde, schließlich jeder mit einem klatschnassen Hemd, um uns nur einigermaßen wach zu halten, hahaha! Die ganze Zeit hatten wir diese gleichsam sehr hohe und staunende Empfindung oben am Gaumen, wie sie die Herren wohl aus solchen Zeiten kennen, wo man absolut nicht schlafen darf, obwohl man förmlich haarig ist im ganzen Gesicht von der Gefühllosigkeit des Schlummerdrangs. Gegen Ende der Nacht vermochten wir die Tabellen kaum mehr zu schreiben; die Hände waren so herrlich schlaff und biegsam inwendig und zeichneten nur noch kleine Schnörkel mit Spitzen und Ecken hier und da. Nun, und abwechselnd fuhr dann der eine oder der andere von uns jäh auf, mit einem plötzlichen Ruck im Halse, wissen Sie, und sagte: »Wie! Ich hörte sehr gut, was für eine Zahl es war, die Sie da nannten! Ehé – hé!« – erinnern Sie sich dessen noch, lieber Timon, hahaha! ...

Man plauderte heute übrigens nur ganz wenig mit einander – aber sogar das Schweigen der Kameraden war sozusagen ruhiger, echter, als es zu sein pflegte – fand Luschinskij.

Infolge alles dessen befand sich Peter Romanowitsch, den ganzen Tag hindurch, auf der allerbesten Seite des Lebens und des Erdballs, und freute sich mit großer Kraft darauf, über Nacht schlafen zu sollen! – – –

Aber dann kam da ja, am Spätnachmittag, abermals diese merkwürdige und unerklärliche Meldung, daß die mystischen Fahrzeuge – Torpedoschiffe oder Zerstörer oder Unterseeboote – da oben im Norden, bei Skagen und bei Hornsriff, gesehen worden waren. Und gegen zwei Uhr in der Nacht traf also das Ereignis auf den Doggerbanks ein: wo eine Division des Geschwaders plötzlich, niemand wußte woher oder wie, aus dem Kurs gekommen war, sich mitten in eine Flottille von englischen Fischerbooten hineinwühlte und blindlings darauf loszuschießen begann:

Es fing ja damit an, daß Herrn Gregorow, gegen zehn Uhr des Abends – ebenso wie den anderen Chefs – der Funkenbefehl von gestern eingeschärft wurde, die nächsten vierundzwanzig Stunden hindurch jeden einzigen Mann in den Kleidern zu halten, da man ganz speziell in dieser Nacht einen Angriff von jenen fliegenden Holländern erwarte, die beobachtet worden waren.

Unter diesen Umständen war es also fast Mitternacht geworden, ehe Luschinskij in seine Kammer hinab kam.

Er war im Laufe des Tages erstaunlich müde und schläfrig geworden und hatte eine grützartige Dickigkeit in seinem Gehirn: jedesmal, wenn er heute abend nur einen Arm zum Gruß erhoben, oder ein Bein zu einem Schritt vorgesetzt hatte, war es ihm, als wenn die Muskeln, weich und hockerig, kaum mehr versuchen mochten, an ihren richtigen Platz zurückzukrabbeln.

Er hüllte sich in ein paar Decken, legte sich auf dem Bett zurecht – so gut es sich mit Uniform, Kragen, Beinkleidern und Stiefeln machen ließ – und nach einer Weile schlief er.

So wie gewöhnlich hatte er auch jetzt nicht, zu Anfang der Nacht, ein Gefühl zu träumen. Aber auf einmal – er war wohl kaum eben richtig tief in Schlaf versunken, meinte er – da war es ihm plötzlich, als werde eine scharfe Säbelklinge, in einem schwindelnden Hieb, von hoch oben herab, auf ihn niedergehauen. Sie blitzte und glitzerte in der Sonne und sauste ununterbrochen auf ihn herunter – erst links, dann rechts, vorne, hinten, wieder links und von neuem rechts. Er selbst lief auf einem Felde umher – ohne Kleider, eisigkalt bis ins Mark, und mit einer strammen Haut über den Beinen –, er sprang herum und versuchte, während ihm das Herz in der Brust trampelte, der Schwertklinge zu entgehen, die die ganze Zeit auf ihn herabfunkelte. Einen Augenblick glaubte er auch einen übermenschlichen und brüllenden, gelbfratzigen Feind zu erkennen, als denjenigen, der den Säbel schwang. Aber sonst sah er nur das Blitzen. Erriet den Schmerz, den es gäbe, wenn er getroffen würde. Er schrie auf. Das Brustbein sank gleichsam in ihn hinein und krachte. Der Hals war mit Blei angefüllt und zusammengeschnürt. Die Schwertklinge war noch näher als bisher. Ganz dicht. Das Sausen fuhr hart an seinem Kopf vorüber: er unterschied, wie ihm die Schneide ins Ohr pfiff. Er stürzte auf der Wiese um. Erfüllte den Himmel mit Geheul.

Und im selben Augenblick erwachte er.

Ein zitternder Schauer von Flötentrillern ging durch die Kammer. Der Raum war damit angefüllt. Die ganze Luft sang.

Er fühlte, wie sich seine Kleider an die Haut festsogen. Mit einem Satz war er auf dem Fußboden. Der Teppich sank zusammen unter seinen Stiefelsohlen – als seien die Planken bereit, nachzugeben und sich zu öffnen. Der Kragen saß wie ein geschlossener Eisenring um seinen Hals.

Dann ward sein Gehirn durch ein schütterndes und dröhnendes Krachen ganz wachgesprengt. Die Decke klirrte. Er begriff, daß dies ein Schuß von einer der Kanonen des Schiffes war. Und gleichzeitig erkannte er die Flötenwirbel: es war das Signal für Klar-Schiff zum Gefecht. Also Kampf – begriff er: Die Japaner! Die Mine! Hilfe! ...

Er knipste, ohne es zu ahnen, das elektrische Licht an.

Die Wände sprangen auf ihn ein – er empfand das wie eine Beschützung und atmete einmal tief auf. Sein Kopf gellte von einer Menge von Rufen und Schreien, die draußen vom Schiff herkamen. Laufschritte polterten über ihm hin und her.

Er schob die Tür mit einem Ruck auf und war draußen in der Batterie. Die Klarschiffslaternen erleuchteten den langen Raum halbwegs. Die Kanonen waren blank und schwarz. Messing sah aus wie Feuer. Die Finsternis stand wie dunkle Stofflappen vor den Lukenöffnungen bei den Kanonenmündungen. Matrosen liefen umher, verwirrt. Unteroffiziere schrien und fochten mit den Armen. Und wieder wurde geschossen; das Krachen fuhr fort zu rollen – wie eine schwere Kugel – drinnen in seinem Gehirn.

»Antreten!« rief ein Bootsmannsmaat, dicht neben seiner Linken; und die Mannschaft stand plötzlich still, jeder an seinem Platz, im Halbkreis rings um ihr Geschütz: als seien sie dahin explodiert.

»Es ist gut, Bootsmannsmaat Struve!« sagte Luschinskij, ohne etwas davon zu wissen; es waren keine zwanzig Sekunden vergangen, seit er aus der Kammer herauskam, dachte er: es war also noch Zeit! Zwei und eine halbe Minute, hatte Nakinskij gesagt! –

»Lassen Sie die Leute bei den Kanonen bleiben!« schrie er, schlug mit beiden Händen aus und konnte selbst seine Stimme vernehmen: sie hörte sich an, als stünde er eine Strecke entfernt hinter einer Bretterwand und lauschte auf das, was erzählt würde, um dann in Übereinstimmung damit zu handeln:

»Ich komme sogleich.

Machen Sie die Batterie klar zum Schuß!

Granaten!«

Und dann lief er weiter; kroch auf allen Vieren die Treppe hinauf, nach dem obersten Deck und wollte, aus irgend einem Grunde, nach der Kommandobrücke hin. Währenddes sagte er laut, einmal über das andere – und hatte vollständig vergessen, was er eigentlich mit den Worten meinte:

»Also mit Recht! Also mit Recht! Gott steh' uns bei: ich hatte also recht gestern abend!«

Er kam auf das Oberdeck hinauf.

Es war schwarze Nacht; an einer Wolke unten am Horizont war ein heller Rand, wie von Mondschein dahinter.

Gerade vor sich, aber in weiter Ferne, glaubte er einige grüne Laternen zu sehen: sie sahen aus wie etwas, das ihm auflauerte.

Lichtkegel schwankten wie silberne Stangen hin und her und kreuzten sich nach allen Richtungen hin.

Dann blitzte es irgendwo da draußen links von ihm auf – lang und gelb – ein Schuß. Ein wenig später traf ihn der Knall, und gleich darauf war es, als springe ein bullernder Riß in die Luft, über seinem Kopf. Er drückte seine Mütze fest in die Stirn; wollte nach vorn laufen. Er strauchelte; es war unmöglich, sich vorzusehen. Der Wind heulte ihm in den Mund hinein. Das Deck bewegte sich ganz wenig. In der Dunkelheit hatte er ein Gefühl, daß das, worauf er ging, in Wirklichkeit nur harte Luft war. Die Begegnung der Wellen mit dem Schiff hörte sich wie knappe Schläge unter seinen Füßen oder geradeaus an der Seite an.

Ein Offizier stieß gegen ihn an; packte ihn am Arm, den er eine Sekunde schüttelte:

»So, Sie sind es, Luschinskij!« sagte er, schnell und leise. Er ließ seinen Ärmel los und lachte einen Augenblick mit einem lauten und hastigen Gelächter:

»Ja, ja!« fuhr er gleich darauf fort, und sprach noch abgehackter als vorher; »verstehen Sie, es sind Fischerboote, die wir beschießen! Ist Ihnen das klar? Auf ein Dutzend englischer Trawler verschwenden wir unsere Granaten!

Gar nichts weiter, als friedliche Fischerboote!

Glauben Sie mir nicht: mir, der ich bis jetzt die Wache gehabt und schon seit langer Zeit gesehen habe, daß es sicher nichts anderes ist, als Fischer; sie haben ihre Laternen und alles in Ordnung! Aber trotzdem schießt sowohl das eine wie das andere von unseren Schiffen auf sie. Und der Rest ballert aufeinander los.

Verstehen Sie: wir sind verrückt geworden, alle miteinander.

Die Zeitungen haben uns toll gemacht vor Angst!

Die Regierung hat uns wahnsinnig gemacht vor Haß!

Das ist die Folge davon, wenn man eine solche Flotte aussendet! Wo jedermann weiß, daß uns alles Mögliche fehlt! Ohne ein Schiff, das in Ordnung ist. Jawohl, verstehen Sie: und mit einer Heerschar von Bauern und Idioten an Bord! Können Sie die Tragweite davon übersehen, Luschinskij?« und der Mann packte ihn noch einmal beim Ärmel, zerrte daran, blies ihm einen kochenden Atem ins Gesicht und lachte.

Luschinskij zog seinen Kopf ein klein wenig zurück.

Im selben Augenblick wurde es ringsumher heller, das Antlitz des Offiziers ward sichtbar; Peter Romanowitsch begriff, daß der Mond jetzt also durch die Wolken gebrochen war, sehr gut!: er erkannte den anderen, und hatte im selben Nu ein Gefühl, als werde mit einer dumpfen und schweren Hand von unten herauf gegen sein Herz gehauen: denn es war Bogduroff, der Held von Tientsin und Taku, der da vor ihm stand, mit seinem langen, schwarzen Schnurrbart, grinsend mit den spitzen Zähnen, seine Hände zitterten, als habe er das kalte Fieber! Ja, es war Bogduroff, es war wahrhaftig der Forteroberer Bogduroff, es war in der Tat der Chinesentiger Bogduroff, es war ...

»Fischerboote! Verstehen Sie!« hörte Luschinskij ihn weiterreden – »friedliche Trawler und Netzfänger!

Und morgen geht es durch die ganze Welt, daß die russische Flotte verrückt geworden ist. Toll. Idiot. Wahnsinnig vor Nervosität, wie ein unentjungfertes Frauenzimmer, verstehen Sie!

Und es ist richtig genug.

Es stimmt vorzüglich.

Denn es ist nämlich der Instinkt, der auf diese Weise in uns spricht: wir wissen, daß wir hinausgesandt sind, splitternackend von allem, was wir nötig haben. Hinausgeschmissen, um zu sterben, das sind wir. Um zu sterben, ohne irgend etwas auszurichten, ganz zwecklos. Und darum schlagen wir los auf alles, was in unsere Nähe kommt – denn da ist nur eins zu tun, wenn man zum Tode verurteilt ist: andere mit sich zu nehmen, auch andere mit in den Tod zu schleppen! Nur nicht allein sterben!

Keine Spur übertrieben, das Ganze!

Es ist alles ganz klar und menschlich!

Verstehen Sie die Tragweite hiervon? Und dann prägen Sie es sich ein, Luschinskij! Prägen Sie es sich ja endlich ein, Luschinskij!«

»Sehr wohl!« sagte Romanowitsch und nickte gewissenhaft; »das Ganze ist brillant!

Wir sollen alle sterben, ohne auch nur das Geringste ausrichten zu können!

Ich werde mir Ihre Worte einprägen, Herr Bogduroff!

Ich verspreche Ihnen, daß ...« – er sah auf, aber da war der andere weg:

»Sehr wohl!« wiederholte Luschinskij daher und wußte ganz instinktiv, daß jetzt also wirklich kein Zweifel möglich war, seit der Mann von Tientsin und Taku so geredet hatte. Nein! alles war, weiß Gott, jetzt klar!

So also! ...

Er sah um sich. Die Finsternis war grau geworden. Es lag wie ein sehr feiner Nebel in der Luft, oder vielleicht war es, als sehe er mit seinen Augen durch Wasser. Er hatte plötzlich ein sonderbares und leichtes Gefühl, leer geworden zu sein: es war in der Tat, als habe er sein ganzes Leben zu Ende gelebt, während er hier stand und Bogduroff zuhörte; als habe er alles Wesen in sich aufgebraucht, habe es gänzlich erschöpft, um zu lauschen und zu verstehen – um alles zu sammeln, was er selbst gestern durchdacht hatte, und es mit dem zu verbinden, was Bogduroff sagte: Jawohl, wir sollen alle sterben – ganz zwecklos; wir sind zum Tode verurteilt – ohne Nutzen; wir sollen getötet werden – aber wir haben nichts Böses getan! Wir sollen ertrinken und verschwinden alle wie ein Mann – nur weil einige ganz wenige Menschen daheim einen Teil von dem Gelde gestohlen haben, das benutzt werden sollte, um unsere Schiffe zu bauen: daher waren nur die Mittel zu diesen schlechten Fahrzeugen vorhanden, und auf die sind wir nun kommandiert; wen schert es, daß wir ins Wasser fallen und röcheln und sterben! Kih-heh! ...

Nach allen Seiten in weiter Ferne wurde hin und wieder, mit immer längeren Zwischenräumen, ein Schuß abgefeuert – also vom Geschwader selbst, nach dem, was Bogduroff erzählt hatte.

Die Lichter der Scheinwerfer hüpften ab und zu über die See hin mit ihren weißblauen Silberplatten.

Hier an Bord war es ganz still geworden, als sei nicht nur man selber, sondern auch das ganze Schiff entweder leer geworden oder gestorben.

Sieh' mal, dachte Luschinskij, das war also Bogduroff! Das war Bogduroff: und so hatte dieser Boxerbezwinger über die Sache geredet! dieser Mannesmensch, der fast nie den Mund öffnete – sondern nur der Held von Tientsin und Taku war!

Er selbst hatte also gestern nacht recht gehabt in dem, was er von den Kameraden geglaubt hatte: daß sie alle wie ein Mann herumbeberten und überzeugt waren, daß diese Fahrt nur auf eine einzige Art enden konnte: nämlich, daß sie alle starben, entweder unterwegs oder drüben! Sie sollten und mußten sterben – aber, wohl zu merken (und prägen Sie sich das ein, Luschinskij, hatte Bogduroff gesagt): ohne auch nur das Allergeringste erkämpft zu haben, weder für sich selbst noch für Rußland!

Sie waren zum Tode verurteilt, jeder einzelne von ihnen!

Wie Mörder, die hingerichtet werden zur Strafe für ihre Missetaten, obwohl der Richter sehr wohl weiß, daß der Ermordete dadurch nicht wieder lebendig wird und daß die Menschheit also nur Arbeitskraft verliert: das hatte er selber sagen hören, damals bei den Verhören über den Sergeanten Schmidt daheim, der infolge von Politik plötzlich verrückt geworden war und seinen Abschied verlangte, gerade als der Krieg ausbrach, weil seine Ansichten ihm nicht gestatteten, Menschen zu töten. Und es war wirklich im Grunde gar nicht so wenig Wahres an der Auffassung dieses Mannes von dem Selbstwiderspruch, der in den Todesurteilen lag, dachte Luschinskij: gar nicht so wenig! Aber hier an Bord war man nichtsdestoweniger doch zum Tode verurteilt – alle miteinander und sogar, ohne auch nur das unschuldigste Verbrechen begangen zu haben!

Man war zur Lebensstrafe durch Wasser oder Blei verurteilt, nur weil ein Dutzend Admirale und Fabrikanten von den Geldern der Marine gestohlen hatten!

Auf dem Schafott war man – und man wußte das sehr wohl selber, ohne Ausnahme! Sie waren sich ganz klar darüber, daß diese Fahrt einzig und allein mit dem Tode enden konnte!

Dies war vielleicht ganz einfach, wenn es darauf ankam, möglicherweise der einzige wirkliche Zweck, die alleinige gediegene Absicht mit der Aussendung der Armada: daß sämtliche Schiffe untergehen und versinken und gleich verschwinden sollten: denn dann konnten sie doch hinterher weder kritisiert noch untersucht oder als corpus delicti vorgelegt werden! Und dann waren die diebischen Offiziere und Aktionäre ja fein heraus! Wie höchst natürlich und logisch!

Wohlan! Diese Fahrt sollte also für sie alle mit dem Tode enden, ohne weitere Redensarten! Eines schönen Tages – wenn man nicht schon vorher ertrunken war – würde einen irgendein Schuß ganz zufällig treffen; z. B. hier oben in der Brust: man spürte auf einmal gleichsam einen trockenen Stoß in die Rippen hinein und taumelte infolgedessen ein wenig auf den Füßen, man hichste und greinte ein bischen, hielt in seinem Kommando inne, griff sich mit den Händen an den Busen und wurde naß und warm und rot an den Fingern. Dann gab man einen kleinen Schrei von sich, einen Pfiff der Verblüffung – und im selben Augenblick brühte eine große, dicke, runde Schmerzblase durch die Wunde hinaus, ganz bis in den Rücken. Korrr, sagte es in den Lungen, krrr, rrr ... Es wurde plötzlich kohlschwarz mit feuergelben Punkten, die einem gerade vor den Augen auf und nieder schwirrten – nicht wahr? Man heulte in die Luft hinauf, die Nase nach oben – und wollte nicht fort. Das Gehirn lief einem da droben im Kopf herum, und drückte die Nägel in die Schleimhäute – weil es nichts Besseres zu tun wußte, um zu protestieren. Es quoll eine mächtige Kürbisblase durch die Speiseröhre hinauf. Und auf einmal schwankte man, fiel, fühlte, wie sich der Fußboden einem direkt in den Nacken hinein erhob – und dann war es aus mit einem! Ja, nicht wahr, so sollte es ihnen allen ergehen! hahaha! Aber, wohl zu merken, ohne Spur von Ausbeute! ...

Er hatte, mit anderen Worten, keineswegs unrecht gehabt gestern abend, als er die Kameraden im stillen ausschalt. Nein, im Gegenteil! Es geschah, weiß Gott, mit der vollsten Berechtigung!

Jawohl, alle miteinander hatten sie ihn im höchsten Maß belogen! Statt seine guten und treuen Freunde zu sein – und Freunde muß man wirklich um sich herum haben, wenn man hinaus soll, um gegen Feinde zu kämpfen –, statt seine ehrlichen Kameraden zu sein, hatten sie ihn betrogen! Sie hatten alles Mögliche verschwiegen, um ihn mit hinauszulocken; denn sie wußten alle aus sich selber, natürlich, daß, wenn er alle diese Dinge daheim erfahren hätte: nie im Leben wäre er mit auf die Fahrt gegangen! Er hätte sich krank gemeldet, so wie Frau Audotja es ihm sehr klugerweise geraten hatte ...

Sie waren hinterlistig stumm gewesen, seine sämtlichen Kollegen; und erst jetzt, wo es zu spät war, ließen sie ganz ruhig den Puder von ihren kreideweißen Fratzen fallen!

Kihe-he-he!

O, diese »Kameraden«!

Jawohl: die waren wahrhaftig seine vorzüglichen Kameraden, das waren sie wirklich! Und nun hatten sie ihn also nur in diesen Hinterhalt gelockt! Ihn, der sowohl einen sterbenden Vater in St. Petersburg hatte, als auch seine kleine geliebte Eudoxia! Kihe-kihe-kihe! ...

Luschinskij drehte sich auf dem Absatz herum und hielt nach allen Seiten Ausschau.

Der Mond war verschwunden, offenbar, denn die Dunkelheit war wieder finsterer geworden.

Er spürte die Fahrt des Schiffes und den Wind, wie an einem Winterabend, wenn man aus der Oper kommt – plötzlich mutterseelenallein, nach der Musik, dem Licht und allen den Tausenden von Menschen – und vorn auf einer läutenden elektrischen Stadtbahn steht und eiskalt in Einsamkeit wird.

Gleich links war einer von den Schornsteinen: er sah so aus, als sei er nur ein dickerer Streif der Nacht.

Ein wenig weiter vor mußte die Kommandobrücke sein; ihre graue Farbe schimmerte ein wenig hervor, wie ein länglicher, wagerechter Nebelfleck.

Rechts konnte er einige weiße Striche draußen in dem dunklen Wasser unterscheiden: das waren vielleicht Menschen, die jetzt während des Kampfes ertrunken waren, dachte er; er runzelte die Brauen und kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen: Gott weiß, wie die Leichen in der Nähe aussahen; von hier aus betrachtet, waren sie bleich und gipsartig. Waren sie denn nackend? Ob sie noch lebten? Wie lange konnte man überhaupt so da draußen, mitten im Meer, schwimmen? War ihr Schiff auf eine Mine gestoßen? Waren sie tot, ehe sie über Bord stürzten? Sollten sie gerettet werden? ...

Er ging ein paar Schritte auf die Schanzverkleidung zu und starrte wieder hinaus.

Da verstand er, daß die hellen Streifen da draußen ja nur Wellenkämme waren. Es waren gar keine Menschen. Es war niemand dort, der wieder ins Leben zurückgerufen werden mußte! Heh!

Der Wind machte ihn metallkalt in den Augen – als presse er sie fieberhaft gegen ein Opernglas, das man unterwegs zum Theater in der Tasche getragen hat.

Er konnte plötzlich auch seine Zähne fühlen: als seien sie auf einmal mürbe geworden.

Und das Schiff, das wie verlassen, wie ausgestorben war!

Von da unten her war kein Laut zu vernehmen!

Vielleicht würde das Fahrzeug nun lange Zeit hindurch in diese Finsternis hinaussegeln, immer und ewig weiter in diese schwarze Dunkelheit hinein, und nach und nach würde es untergehen, verschwinden, nie mehr gesehen werden, ertrinken in der einen Nacht nach der anderen!

Er schlug mit beiden Händen aus und hatte ein Gefühl, als erwache er noch einmal, gleichsam mehr inwendig, wie vorhin, als er da unten in seiner Kammer aus dem Schlaf gerissen wurde: zu einer sonderbar nüchternen und gleichzeitig abgelebten Ruhe war es, daß er jetzt erweckt wurde.

Nun ja, sagte er mit einer lauten und langsamen Stimme: dies also war sein Leben! ...

Er hörte selbst diese Worte und begann darüber zu grübeln: ja, gewiß, dies war wahrhaftig sein Leben, dies; so weit er zurückzusehen vermochte, schien es ihm, daß diese Geschichte zurückreichte.

Er war ja nur ein Kind, so unschuldig in bezug auf das alles, und so unwissend war er, offen gesagt, als er da unten aus seinem Traum aufschreckte, damals, als der Kampf begonnen hatte. Er hatte Muße zum Jüngling zu werden, noch ehe alle die Unendlichkeit von Zeit und die Tausende von unvergeßlichen Ereignissen hinter ihm lagen, bis er auf die Batterie hinausgelangte. Mann wurde er wahrlich in den Reihen von Jahren, die vergingen, während er sich den Weg die Treppe hinauf bahnte, Stufe für Stufe. Und nun war er gealtert; das war er wirklich – uralt war er geworden, unter der Bürde der Ewigkeit, die sich auf ihn herabgesenkt und ihn mit Wissen und Klarheit, mit Gewißheit und Todesurteil erfüllt hatte, während er hier stand und Bogduroffs Leichenrede lauschte!

Ja, er war ein Greis.

Er hatte gewiß sein Leben aufgebraucht, während dieser »Kampf« stattfand. Er hatte ganz einfach seine ganze Lebenskraft ausgelebt. Er war also ein Greis. Er war zum Tode verurteilt. Er stand am Rande des Todes. Er war – sozusagen – tot!

Und im selben Nu hatte er ein Gefühl, als wenn irgendein großer und schwerer, sickernder Beutel in ihm platzte – oder war es eine Ader vielleicht, oder das Herz, das mit einemmal zusammenfiel. Es rann etwas Warmes und Brennendes aus seinen beiden Augen, seine Brust schwoll auf – als ob der Knochen dadrinnen im Begriff sei, sich auszuheulen, wie ein zu sehr gesteiftes Manschettenhemd. Er hob die Hände vor das Gesicht, seine Finger wurden naß, er wunderte sich ein wenig – sah sich um, senkte den Kopf, und dann tastete er sich nach der Treppe, die zu dem Deck hinabführte, wo seine Kammer lag.


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