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I.

Der Vater des Oberleutnants Peter Romanowitsch Luschinskij war General und Chef einer Artilleriebrigade.

Lange Zeit hatte er in schlechten Verhältnissen gelebt – ein paar Jahre war es sogar so übel mit seinen Mitteln bestellt gewesen, daß er es – trotz der Klagen der Generalin – hatte durchführen müssen, ganz ohne Burschen zu existieren: um eine desto größere Anzahl von seinen Soldaten an andere, an Zivil- oder Militärpersonen, die besser situiert waren, vermieten zu können.

Aber dann gelang es ihm endlich, Präses der Kommission zu werden, die in St. Petersburg eingesetzt wurde, und die das Heer mit dem neuen Modell Feldkanonen versorgen sollte. Nach jener Zeit wurde es also schnell besser und zuletzt vollständig gut mit Seiner Exzellenz Geldangelegenheiten.

Peter Romanowitsch war einziges Kind.

Jahr für Jahr hatten verschiedene Schuldirektoren ihr Bestes getan. Der Junge bekam jeden Monat die ausgezeichnetsten Zeugnisse – denn wenn die Lehrer nur ganz unter sich waren, konnte die Sache ja leicht geordnet werden: es machte nicht mehr Mühe, ein schönes Zeugnis zu schreiben, als ein schlechtes; und es nahm sich immer deliziöser aus in den Augen der Eltern! – Schwieriger hingegen war es bei den alljährlichen Versetzungsprüfungen; falls nicht etwa die vom Staat bestellten Zensoren näher mit dem General bekannt waren.

In den letzten Jahren, ehe er das Abiturienten-Examen hätte machen sollen – es war gerade damals, als die Kanonenkommission in vollem Gange war; und der General musste jede Stunde des Tages zum Ordnen seiner Vermögensverhältnisse benutzen – in dieser Periode war Peter Romanowitsch zufälligerweise ganz ungewöhnlich unglücklich in bezug auf die Zensoren gewesen; und er war übrigens auch persönlich in steigendem Maße von mancherlei Dingen in Anspruch genommen, die eine Folge des Alters waren, in das er jetzt eingetreten, die aber in keiner Weise zu den Examenfächern gehörten.

Schließlich, nach noch ein paar vergeblichen Versuchen, sah der Schuldirektor ein, daß er wohl oder übel in den sauren Apfel beißen müsse.

Er faßte sich deswegen ein Herz, zog seine besten Kleider an, ging zum General, ließ sich – von den zwei klafterhohen Dienern mit Alexandervollbart – in das Allerheiligste führen, wo Seine Exzellenz zwischen Frühstück und Mittagessen auf dem roten Ledersofa ruhte: und erzählte ihm, daß er sich jetzt, Gott sei's geklagt, gezwungen sähe, alle Hoffnung aufzugeben: das Schicksal wäre wahrhaftig ungünstig gewesen, das wäre es – oder Seine Hochwohlgeboren, der junge Herr Peter Romanowitsch habe möglicherweise seine Schulbücher etwas zu wenig abgenutzt.

»Es ist gut!« – antwortete der General und gab dem Diener einen Wink, den Mann wieder hinauszubegleiten.

Schon eine Woche später gelang es der Exzellenz Zeit zu finden, dem Sohn sagen zu lassen, daß er sich nach dem Frühstück bei ihm einfinden solle:

»Du bist ein großes Rindvieh, mein lieber Peter Romanowitsch!« – sagte der General; er lag auf dem Diwan – die Nase, den Schnurrbart und das Kinn in roter Beleuchtung von der kleinen runden Lampe, die vor dem Madonnenbilde zu seinen Häupten brannte; er streckte die Hand nach dem Zigarrenkasten mit den großen Henry Clays aus, reichte sie seinem Sohne hinüber und nahm selbst nach ihm: »Es war meine Hoffnung – und auch die deiner teuren und seligen Mutter – daß du Student werden solltest. Dann würde ich dir eine gute Stellung irgendwo bei der Zivilverwaltung verschafft haben. Das ist die sicherste Karriere. Und ich selbst werde wohl kaum imstande sein, dir etwas zu hinterlassen.

Aber nun müssen wir diese Seite der Sache ja aufgeben. Und daher will ich dir den Vorschlag machen, Offizier zu werden. Ein wenig, hoffe ich, werde ich auch da für dich tun können!« – Dann nickte er dem Sohne zu und zog seine Beine auf das Sofa hinauf:

»Du brauchst es dir natürlich nicht zu Herzen zu nehmen, daß du ein Rindvieh bist!« – fuhr er fort, sobald er seine Zigarre in Brand gesetzt hatte. – »Mit Ausnahme des Antlitzes spielt der Kopf ja überhaupt keine Rolle hier in dieser Welt – so weit ich sehen kann. Ich begreife nicht, was Gott und die Heiligen sich eigentlich gedacht haben, als sie ihn uns gaben. Aber vielleicht sind es ausschließlich architektonische Rücksichten gewesen. –

Und jetzt gehe, mein Sohn, damit ich noch ein wenig ruhen kann. Es war ein sehr schweres Frühstück heute. Und ich hoffe, das Mittagessen wird nicht dahinter zurückstehen!« –

So kam denn Peter Romanowitsch auf eine Kadettenakademie unten in Südrußland. Er wurde, mit dreiundzwanzig andern jungen Söhnen hervorragender Männer, unter scharfer Fuchtel gehalten von dem alten Hauptmann Nikodemus Porphyrij, dem Vorsteher der Schule, der das Prinzip hatte: daß der Dienst das einzige sei, was eine Bedeutung im Leben habe; was sich aber in dem Schlafsaal der jungen Leute an den Abenden und in den Nächten zutrug, das ging ihn ganz und gar nichts an – wenn er nur hin und wieder in der Stadt eine belustigende Geschichte darüber hören konnte, und wenn nur niemand mit schlotternden Knien oder als Schlappschwanz zur Morgenparade erschien.

Daher geschah es denn, daß der junge Luschinskij – ebenso wie alle die anderen Kadetten – während der zwei Jahre, die er auf der Akademie zubrachte, sich mager und braun und rank ritt, lernte, turnte, exerzierte und amüsierte. Und sieben, acht Monate nach der Abgangsprüfung wurde er zum Offizier ernannt und seinem Wunsche gemäß einem Feldartillerie-Regiment in der Nähe von Petersburg zuerteilt.

»Das ist wahrlich erfreulich!« – sagte der General, als der neue Leutnant kam und von seiner Ernennung erzählte. Seine Exzellenz war ein wenig unbeweglich geworden; das linke Bein hatte die Angewohnheit bekommen, sich beträchtlich nach innen zu krümmen; der weiße Bart war ziemlich dünn geworden. »Ich bin überzeugt,« bemerkte er weiter, nachdem er den Kuß des Sohnes empfangen und erwidert hatte – »daß du deinem Namen Ehre machen und dein Lebelang ein schneidiger Soldat sein wirst!

Vergiß auch nicht, daß du dich natürlich erst dann verheiraten darfst, wenn deine Schulden so groß geworden sind, daß du ganz sicher sein kannst, alle die Frauen abzuschrecken, die nur ehrgeizig sind und danach streben, versorgt zu werden. Es ist dies das einzige Mittel, das wir Männer haben, um nicht von den Frauenzimmern an der Nase herumgeführt zu werden –: bettelarm zu sein!

Und nun gehe, mein Sohn. Schließ die Tür kräftig hinter dir – es ist angenehm, hin und wieder mal einen Laut zu hören; es erinnert einen daran, daß es doch noch andere Menschen gibt, als einen selbst.

Lebe wohl, lieber Peter Romanowitsch, du kannst deine Uniformrechnung aufs Bureau schicken. Grüße deinen Obersten von mir, und Gott befohlen!«

Luschinskij tat natürlich, was in seiner Macht stand, um den Rat seines Vaters, die Schneidigkeit betreffend, zu befolgen; es wurde ihm an und für sich auch nicht schwer, dies Talent zu entwickeln: ein gut Teil Anlage hatte er ja geerbt, sowohl von der Exzellenz, die in vier Kriegen avanciert war, wie auch von Ihrer Gnaden, der Generalin, die sozusagen auf einem Pferderücken in Südrußland geboren und aufgewachsen war, und die später, zusammengezählt, wohl einige hundert Meilen auf sämtlichen Standesgenossenbällen in St. Petersburg durchtanzt hatte, noch ehe sie verheiratet war. Und endlich hatten ja auch die Kadettenakademie und Porphyrijs Metallhände, nach jeder Richtung hin das Ihre dazu beigetragen, diese Disposition zur Unerschrockenheit, die ihm die Eltern also mit auf den Weg gegeben hatten, zu erhärten.

Es gab überhaupt keinerlei Feld des Offizierlebens – weder auf rein dienstlichem, noch auf sportlichem Gebiet – auf dem es ihm nicht gelungen wäre, mit seinen Kameraden völlig auf der Höhe zu sein.

So vollständig, daß sogar der exklusive Graf Praxin ihm einmal eine Einladung verschaffte zu einem, wegen seiner Dummdreistigkeit, außerordentlich aufsehenerregenden Unternehmen in dem Preobaschenskijschen Schlittschuhklub – dem aristokratischsten Verein in der Stadt.

Großfürst Michael, der hohe Protektor des Klubs, sagte freilich hie und da – mit einer mehr deutlichen, als feintournierten Anspielung auf des Grafen eigenartigen Eifer für das betreffende Ereignis: daß Praxin, nur um noch einen Leidensgefährten mehr zu haben, auch Luschinskij habe auffordern lassen.

Aber genug davon, Peter Romanowitsch war seelenfroh, und eine folgenschwere Tatsache wurde es auf alle Fälle, daß er auf diese Weise die Ehre genoß, teilzunehmen an dem großen, auf seine Art splitternagelneuen und einzig dastehenden Schlittschuhwettlauf die Newa hinauf, den das Garderegiment Nummer Eins im Januar dieses Jahres, in einem Anfall von rücksichtslosem Raffinement zu arrangieren den Einfall hatte.

Ohne Laterne und Fackel, und ohne irgendwelche Ruhepause unterwegs, sollte man den Fluß gerade hinauflaufen, von Hereinbruch der Dunkelheit am Abend, bis es am andern Morgen wieder hell wurde. Von den fünfundzwanzig Offizieren, die an dem Wettlauf teilnahmen, endeten sieben ihr Leben dabei: zu irgendeinem Zeitpunkt des nächtlichen Dunkels sausten sie durch die Waken oder Fischlöcher hindurch; niemand hörte ihr Geheul um Hilfe, indem sie hinabfuhren, und so blieben sie in dem markgefrierenden Flußwasser, dicht unter dem Eise liegen, – bis man sie am nächsten Tage fand: ausgestreckt in ihrer vollen Länge, die weißen Gesichter flachgeklemmt gegen die durchsichtige Decke, mit unmenschlich großen und offenen Augen und blauen Mündern – als stünden sie unmittelbar vor einer reichen und lichten Welt und starrten mit Hungerblicken durch die Fensterscheibe, die sie davon absperrte.

Dieser Lauf wurde – aus tiefen Gründen – der eigentliche Anfang zu Praxins und Peter Romanowitschs näherer Bekanntschaft. Der Graf stellte ihm seine Pferde zur Verfügung: denn er selbst hatte, in einem törichten Augenblick – sagte er – seinerzeit seiner frommen Mutter geschworen, niemals Gott und die Jungfrau versuchen zu wollen, indem er sich an den Wettrennen beteiligte!

Auf diese Weise gelang es Luschinskij, fast jedes Jahr, die Offiziersrennen mitzumachen – worüber er sehr froh war, teils aus kameradschaftlichen Rücksichten, und teils wegen der Möglichkeit, ein wenig Geld zu verdienen. Dreimal gelang es ihm denn auch, größere Preise zu erwerben.

Bei der letzten dieser Leistungen wurde obendrein in den guten Kreisen ziemlich viel von ihm geredet.

Außer dem Ehrenpokal der Czarewna gewann Luschinskij nämlich eine ziemlich große Geldsumme – etwas, was seinem Portemonnaie wirklich äußerst gelegen kam; aber bald darauf erzählte man sich – er selbst fand übrigens auch nicht, daß ein Grund vorliege, die Sache seinen nächsten Kameraden gegenüber zu verschweigen, und von da wanderte die Geschichte weiter herum: daß er ein paar Tage nach dem Rennen den größesten Teil der gewonnenen Summe einer alten Dame schenkte; sie war die Witwe eines seiner früheren Batteriechefs und lebte in so beschränkten Verhältnissen, daß sie nicht die Mittel besaß, ihren Sohn die hinreichende Zeit auf der Akademie zu belassen; aber nun gestaltete es sich ja ganz wunderbar für sie, und der Junge konnte dableiben, ewig Dank der unvergeßlichen Güte Peter Romanowitsch Luschinskijs! –

Der Oberleutnant hatte indessen auch noch Anlagen zu etwas anderm als nur in und außer dem Dienst ein schneidiger Soldat zu sein. Er war ein in hohem Maße unermüdlicher Tänzer, und er spielte Karten auf eine galante und unangefochtene Weise, die davon zeugte, daß er nicht der erste seines Stammes war, der zwischen Offizieren und Damen an einem grünen oder Mahagonitische saß. Und da er nebst allem diesem, ein dienstwilliger Kamerad und Untergebener war, so verging fast kein Abend in der Saison, wo er nicht auf irgendeinem Ball in den Kreisen erschien, wo es für einen Regimentschef ein Vergnügen ist, seine Offiziere zu treffen.

Nun, gleich amüsant war sie natürlich nicht überall, diese nächtliche Wirksamkeit – weder die Diners und Bälle, noch die langausgedehnten Spielpartien hinterher, nicht einmal die einigermaßen häufigen Regimentsbesuche bei jenen Klassen von Damen, die gewinnen, was die Herren verlieren. Nicht immer hatte man Lust dazu, so ungefähr jede einzige Nacht den Winter hindurch sich mit sechs oder sieben Stunden Schlaf begnügen zu müssen. Zuweilen konnte einen ein förmlich schwüles Verlangen überkommen, wie ein Blitz in die Mannschaft einzufahren, wenn es nicht möglich war, ihnen den richtigen Eifer einzublasen.

Noch eine Unannehmlichkeit bei diesen mondainen Zerstreuungen war außerdem, daß man um ihretwillen viel zu wenig Zeit fand, seine mehr privaten Vergnügungen zu pflegen, als da sind entweder seines Herzens Sehnsucht bei der Frau zu verausgaben, die man für den Augenblick ewig liebte – oder denselben Körperteil mit neuer Süße zu füllen, indem man hin und wieder in die Oper ging und dort ein wenig gute Musik und Gesang hörte ...: die beiden einzigen, wirklich gewichtigen Freuden, die man in dieser braven Welt hat!

Ach, wie ärgerlich an und für sich.

Nicht wahr?

Aber was soll man übrigens sagen: man muß, weiß Gott, den größten Teil seiner persönlichen Bedürfnisse resolut streichen und ostentativ alles geradeswegs zum Fenster hinauswerfen, was man an Geld zusammenscharren kann, – wenn man so arm wie ein hufeisenloses Pferd ist und doch gern auf gleichem Fuß mit den andern leben möchte?!

Denn teuer war es ja obendrein auch, all das kameradschaftliche Plaisier.

Aber es war, wie eben angedeutet, auf der andern Seite allerdings der einzige Weg zu vielen Zirkeln, in denen sich zu bewegen auf alle Fälle einen gewissen praktischen Gewinn gab – ergo durfte es nicht vernachlässigt werden!

Und allmählich gelang es Luschinskij wirklich, Mitglied einer Anzahl von diesen feinen Cliquen zu werden – wo die Auserwählten mancherlei Arten zusammenkamen; teils um sich im allgemeinen bei diesen Assemblées zu langweilen; teils um gerade durch dies Beieinandersein andern zu zeigen, daß sie »außerhalb« standen – und endlich, um mit Hilfe dieser beiden Mittel sich selbst zu den Avancements zu vervollkommnen, die man sich dadurch gesichert hatte:

»Ich will Ihnen eins sagen, mon cher Luschinskij!« – sagte Oberleutnant Graf Praxin, der sein Regimentskamerad war und ein Dutzend Schlösser in der Umgegend von St. Petersburg besaß. Er und Peter Romanowitsch saßen oben in dem Beobachtungsstand, der sich gleich einem ungeheuren, stengeligen Auge über den Zementkörper des Forts erhob; es war während einer Übung; um die Mittagszeit; die Wärme war schwer und dick. Der kleine kreisförmige Raum, in dem sie sich aufhielten, war mit dem herben Geruch nach Metall angefüllt. Das Fernrohr stand gespreizt auf seinen sechs dünnen Messingbeinen mitten auf dem Betonboden und glich einer riesenhaften, gelben Mücke. Es war eine Pause in dem Schießen entstanden, das sie beobachten sollten, und sie rauchten eine Zigarette, während Graf Praxin einen seiner gewöhnlichen Vorträge über die Pflichten eines Offiziers hielt; er war Philosoph und letzte Instanz im Regiment in allen Ehrenhändeln:

»Nun!« sagte er, und lächelte langsam und wenig mit seinem schmalen Munde, »ich bin ja nur zwei Jahre älter im Rang als Sie. Aber etwas hat man ja freilich im Ausland gesehen. Und wissen Sie was, mon cher: die wichtigste Regel für uns – falls wir doch wünschen, Karriere zu machen – die ist, finde ich: niemals außerhalb zu stehen! Glauben Sie nicht, daß ein tieferer Sinn darin liegt, daß beim Schießen, dem wichtigsten Zweig unseres Dienstes, wir das Zentrum, den Punkt, den wir treffen sollen, ganz genau in der Mitte der Scheibe sitzen haben. Nicht wahr?

Und das Zentrum, verstehen Sie, lieber Luschinskij –: das ist, mit anderen Worten, der Platz der Offiziere!

Wenn er also Wert darauf legen sollte, sich für das Avancement geeignet zu erweisen!

Meiner unmaßgeblichen Ansicht nach!« –

Auf die Weise gingen die Jahre hin, ohne daß Luschinskij auch nur einen einzigen Tag vergaß, ein schneidiger Offizier zu sein – und sich dem Zentrum so nahe wie möglich zu halten.

Und dann kam der Krieg mit Japan. –

Wohl ein halbes Jahr später – ungefähr Mitte August, ein paar Monate ehe Roschdjèstwenskij mit einer neuen Armada nach dem Osten abgehen sollte, mit dem Auftrag, die japanische Flotte aufzusuchen und zu zerstören, und dann Port Arthur zum Entsatz zu kommen – an einem Spätsommertage wurde Oberleutnant Luschinskij und vier Kameraden zu ihrem Regimentschef befohlen:

»Ich habe die Herren rufen lassen!« sagte der Oberst; er bog seinen weißen Kinnbart mit der linken Hand nach oben und biß in die Spitze; in der Rechten hielt er ein breites, zusammengefaltetes Papier. Der Sonnenschein stand hinter ihm auf dem Rouleaux in viereckigen, gelblichen Flecken, mit Peter des Großen galoppierender Reiterstatue in der Mitte, »ich habe die Herren rufen lassen, um Ihnen mitzuteilen, daß das Kriegsministerium laut der heutigen Bekanntmachung Ihnen auf Ihr Gesuch hin gestattet, an der Fahrt des neuen Geschwaders nach Ostasien teilzunehmen.

Natürlich weiß Seine Exzellenz ebensogut wie Sie und ich, daß Sie kein hierauf bezügliches Gesuch eingereicht haben. Aber,« – er sah plötzlich nieder, eine Sekunde, und sprach schneller als sonst – »der Marine fehlen nämlich, wie ich vermute, einige Offiziere für alle die vielen neuen Schiffe. Daher wollen sie uns Artilleristen an den Stellen einschieben, wo es sich machen läßt – nehme ich an!

Aber es ist selbstredend notwendig, daß diese ganze Angelegenheit nicht offiziell genannt wird. Die Herren werden sich also erinnern, daß Sie alle miteinander wirklich ein Gesuch eingereicht haben – und daß es viel Mühe gemacht hat, die Bewilligung zu erreichen. Haha! Nicht wahr! Na! –

Morgen werden Sie sich im Marineministerium zum Dienst melden!«

Die fünf Glücklichen waren außer sich vor Freude: dies bedeutete ja sowohl eine hohe Auszeichnung als auch große Aussichten auf ein Springeravancement; es verhieß spannenden Dienst und anschwellende Extragehaltzulage!

Laut lachend tanzten sie die breite steinerne Treppe hinab, die Mützen vorschriftswidrig auf dem Kopf; sie warfen den Schildwachen Handküsse zu und verabredeten – noch ehe sie die Stufen ganz hinunter gekommen waren – daß sie sich heute abend wieder treffen wollten, um das Grundwasser zu einem ungeheuren und gegenseitigen Beglückwünschungsfest zu legen.

Damit trennten sie sich vorläufig, um die Runde zu machen und die Neuigkeit überall zu erzählen, ehe die gedruckte Bekanntmachung sie allgemein verbreitet hätte.

Luschinskij sprang in eine Droschke, verhieß eine Sintflut von Trinkgeldern, fuhr in freiem Trab über die Nikolaj-Brücke nach der Petrowskij-Insel, wo die Villa des Generals lag, und berichtete ihm in einem ununterbrochenen Strom so viel wie er erzählen durfte – und noch ein wenig mehr.

Die Exzellenz lag noch auf dem Sofa, obwohl der Diener gemeldet hatte, daß das Frühstück serviert sei: es wurde ihm in der letzten Zeit ein wenig schwer, die Verbindung mit der Außenwelt aufrecht zu erhalten; er starrte unverwandt zu der Decke empor, mit seinen alten Opalaugen, und die Finger der linken Hand bewegten sich unaufhaltsam. Er hatte nicht recht gehört, was gesagt worden war, aber er nahm – nach der festvollen und jähen Volubilität des Sohnes – an, daß nur von einer außerordentlich vorteilhaften Verheiratung die Rede sein könne:

»Ja!« sagte er deswegen, »ich segne dich von ganzem Herzen. Wenn sie ein gutes Mädchen ist – und das hoffe ich – wird sie schon glücklich werden. Und wenn nicht, so hat sie es ja auch nicht verdient! –

So gehe denn, mein guter Peter Romanowitsch. Vergiß nicht, daß, was unerwartet kommt, von Gott kommt. Möge ER mit euch beiden sein, auf eurer Wanderung!

Du brauchst mir den Aschbecher nicht zu geben. Ich kann ihn doch nicht erreichen. Da ziehe ich es denn vor, die Asche auf meinen Rock fallen zu lassen. Die Diener können sie ja vor Tische abbürsten. Es ist sehr gut, wenn sie etwas zu tun bekommen!« –

»Ach, der alte Herr!« – dachte Luschinskij; er lachte ein wenig und schüttelte den Kopf, während er die weißen Gartenfliesen entlang ging und an die geschmiedete Gitterpforte kam, die einem großen Spindelgewebe glich: »Zufahren, in Teufels Namen!« sagte er und fühlte sich innerlich noch ein wenig schwerfällig nach den Worten des Vaters. Aber im selben Augenblick, als sich der Wagen in Bewegung setzte, fiel ihm ein, im Grunde sei es gewiß ein schönes Omen, daß der General geglaubt hatte, er habe eine Braut gefunden! Die Exzellenz hatte obendrein davon geredet, daß Gott seine Hand über der »Wanderung« oder der »langen Wanderung« halten möge, nicht wahr? Ja, das konnte doch sicher nur das Allerbeste bedeuten! Wahrhaftig! Ja!

»Nun, Väterchen! Beeilen wir uns ein wenig!« rief er zu dem Bock hinauf; er lehnte sich hintenüber, schob die rechte Hand unter den Rock und lächelte.

In dieser vorzüglichen Laune fuhr er über die Nikolaij-Brücke zurück – das Wasser war lila und blank wie Seide, da unten im Fluß; die winzig kleinen Wellen glichen Plissées.

Nach einer Weile war er am Offizierpalais angelangt. Die Sonne lag wie ein goldener Teppich über der linken Seite der Straße. »Warte hier, Freundchen!« sagte er zu dem Kutscher, als sie vor dem roten Turmportal hielten. Er sprang heraus, winkte mit beiden Händen den zwei Schweizern zu und schritt die Treppe zu dem ersten Stockwerk hinauf.

Die Frühstückszeit war eben vorüber, und ein Saal nach dem andern war daher leer. Die Diener schlichen auf ihren Filzschuhen umher und trugen das Geschirr auf großen, braunen, hölzernen Teebrettern hinaus. Sie tranken sich mit den Weinresten zu. »In Gottes Namen!« flüsterten sie und kehrten den Boden des Glases in die Höhe, so daß ihr Kinnbart wagerecht in die Luft stand.

»Hier, Kinder!« rief Luschinskij; er lachte, während sie sich in ihrer Überraschung fortwährend verneigten, und warf ihnen einige Silbermünzen hin. »Trinkt auf mein Wohl. Ich trete eine Riesenfahrt an!«

Schließlich kam er in das vordere Billardzimmer und erblickte Oberleutnant Ubuseff: diesen Bauernsohn, der alle Examina mit Auszeichnung bestanden hatte, ewig Kriegsgeschichte studierte, im ganzen Heer wegen seiner taktischen und strategischen Gaben bekannt war, sich nie mit etwas anderm belustigte, als daß er hin und wieder geometrisch-ballistische Aufgaben auf dem Billard löste, und schon dreimal beim Avancement übersprungen war. Luschinskij schauderte, als er seiner ansichtig wurde, und versuchte, sich augenblicklich geräuschlos durch die Tür wieder zurückzuziehen, um nicht bemerkt zu werden.

Aber selbstredend hatte Ubuseff, in dieser einzigen Sekunde, seine Augen von dem grünen Tuch und den weißen Kugeln erhoben. Er nahm das Queue unter den linken Arm, streckte gleich seine beiden großen und roten Fäuste vor, lachte mit seiner ganzen Ungeschliffenheit und fing an zu reden, die Zigarette tief im Bart hängend:

»Du gerechter Gott!« sagte er und schüttelte Luschinskijs Hände mit aller Gewalt. »Die Neuigkeit läuft ja schon durch die ganze Stadt! Darf ich gratulieren?

Aber hören Sie jetzt einmal zu, dann werde ich Ihnen etwas wirklich Gutes erzählen, Luschinskij! Gestern abend las ich in einer der Zeitungen, daß es ihnen an Bord der Flotte sowohl an Kohlen wie auch an Maschinen fehlt! Darum wollen sie euch Landoffiziere wohl dazu gebrauchen, die Panzerschiffe zu rudern! Können Sie sich selbst sehen, wie Sie dasitzen und ›Knjas Ssuwarow‹ während einer Schlacht quer über das chinesische Meer mit voller Kraft vorwärts bewegen! Wie! Was!?«

Und dann fing Ubuseff natürlich an, laut zu lachen, stocherte die Zähne mit der Spitze seiner Zunge, sah verschmitzt zu Luschinskij hinüber, machte sich daran sein Queue zu kreiden und wollte seine spaßhaften Bemerkungen fortsetzen.

Aber Peter Romanowitsch beeilte sich, Gebrauch von der Taktik zu machen, die er von Praxin gelernt hatte; er setzte eine lächelnde Miene auf:

»Ach, daß sich Christ erbarme, mon cher!« sagte er und lachte aus vollem Halse. »Aber – an dem, was Sie da sagen, ist wirklich etwas daran, Ubuseff!

Geistreich sind Sie, weiß Gott!

Es freut mich kolossal, zu bemerken, daß auch Sie der gleichen Ansicht sind!« dann nickte er freundschaftlich, machte eine verabschiedende Bewegung mit der Hand und ging.

Im Lesezimmer traf er endlich eine Gesellschaft von Kameraden, die ihn ermunternder empfingen. Sie erhoben sich mit Geschrei und Rufen, als er hineinkam, so daß der Tabaksrauch überall im Zimmer zerriß; sie bestellten spornstreichs Champagner und hüllten ihn in eine Wolke von unverfälschtem und duftendem Neid, die sein Herz leicht machte und seinen Zorn über Ubuseffs Witze abkühlte. –

Schon vom nächsten Tage an war Luschinskijs Zeit außerordentlich gut besetzt; und dies hielt ununterbrochen an, während der neun, zehn Wochen, bis zur Abreise.

Zu gemein früher Stunde fand er sich jeden Morgen – infolge einer Bestimmung des Ministeriums – zusammen mit den vier Kameraden, die aus seinem eigenen Regiment waren, und einem halben Dutzend von anderswoher, draußen in den Laboratorien der Marinewerft oder bei dem großen Trockendock ein, das – gleich einem Stadion aus grauem Zement – tief in die Erde hineinging; und dort machte er einen Kursus in dem Ansehen und der Einrichtung der Kriegsschiffe durch. Er lernte, daß das Wort »Knoten« die Knoten bedeutet, die alle 6,84 Meter an der Logleine sitzen; die Marineoffiziere belehrten ihn, daß Schiffe im allgemeinen schneller fahren, je länger sie sind – selbst mit denselben Maschinen; und darum sind die Kreuzer lang und schmal, um hohe Fahrt zu erzielen; die Panzerschiffe aber sind breit und kurz, um eine sichere Unterlage für ihre schweren Kanonen zu sein. Er wurde darüber in Kenntnis gesetzt, daß die Kohlenräume an Bord Bunker heißen, und daß sie infolge ihrer Lage dazu beitragen, die Maschine gegen Beschießung zu schützen. Sein ganzer Kopf wurde ihm mit tausenderlei Dingen angefüllt, mit großen und kleinen.

Die Marineoffiziere, die als Lehrer kommandiert waren, suchten Trost für diese Extraarbeit, indem sie ihre Schüler auch körperlich gehörig ausnutzten: sie wurden aus den Marsen oben, die zirkelrunden Balkons glichen, hinab in die naßkalten und treibenden Kielräume gehetzt; von den Panzertürmen vorn auf der Back in die Lazaretträume nach achtern, von den Buggeschützen zu den Wellenlagern. Wenn es nicht schnell genug ging, brüllte Kommandeur Warieff, der Vorsteher des Kursus war:

»Noch einmal, meine Herren! Sie müssen, hol mich der Teufel, dies viel alerter machen!« und er lachte, bis er hustete infolge der Versuche, sein Lachen zu verbergen.

Erst wenn die Landoffiziere anfingen, mit den Füßen in den Wanten hängen zu bleiben und aussahen, als wären ihre Arme, ihre Beine und ihr Körper kurz davor, das Ganze vor Anstrengung und Wut aufzugeben, hielt er einen Augenblick mit dem Unterricht inne und stellte sich kameradschaftlich zu ihnen, während sie eine Ruhezigarette miteinander rauchten.

Gegen zwölf Uhr pflegte der Kursus für den Tag vorüber zu sein. Und sobald Luschinskij und die andern Offiziere ein Brausebad genommen hatten – sie lachten, kreischten und keuchten wie die Jungen, während das kalte Wasser sie wie ein Regenmantel umfloß – wenn sie angekleidet waren, einen oder zwei Züge zu irgendeinem Gläschen geraucht hatten, fuhren sie mit der Dampfbarkasse in die Stadt zurück. Unterwegs redeten sie im Seemannsjargon miteinander und fanden, daß es scheinbar nicht so gefährlich schwer war, ein Schlachtschiff erster Klasse zu führen, wie? – und daheim begann der zweite Teil ihrer Geschäftigkeit. In erster Linie alle die Visiten, die bei Verwandten und Freunden zu machen waren. Da waren Tanten, die Schneiderrechnungen bezahlen sollten, und Basen, die Blumen haben sollten – zu denen die Väter der Damen selbst das Geld vorstrecken mußten; da waren Erbpatentanten, die umarmt, zu Goldtränen gerührt und dann zu hunderterlei Dingen mißbraucht werden sollten. Die Leutnants durchfuhren entweder einzeln oder in Gruppen die Stadt nach allen Ecken und Enden. Tagtäglich ging die ganze Zeit bis fünf oder sechs Uhr damit hin.

Dann mußten sie in Hopp und Galopp nach der Kaserne fahren – halb wirr vom Wein und von ihrem eigenen Knabenblut, das immer und ewig siedete; noch einmal mußten sie sich umkleiden, und dann folgten stil-steife Abschiedsgesellschaften in Familien – oder langausgedehnte Scheidefeste bei Kameraden oder bei Junggesellenvorgesetzten.

Und wenn es möglich war, versammelten sich – mindestens einmal die Woche – alle die fast zwanzig Landoffiziere, die mit dem Geschwader sollten, zu einem Beisammensein im Alexandra-Hotel oder im Kasino.

Dort saßen sie ein paar Stunden und redeten drauf los, laut und durcheinander; sie berauschten sich an all dem Neid, der ihnen, verborgen oder offen, entgegengetreten war, seit sie zuletzt versammelt gewesen. Fast alle hatten sie einen oder zwei gute Kameraden verloren, die nicht mehr mit ihnen verkehren wollten, »weil sie so hinterlistig ihr Maul gehalten hatten in bezug auf ihr Gesuch, diese Fahrt mitzumachen«; dann lachten sie vor Entzücken und mußten noch ein Glas miteinander trinken auf diese Bittschriften, infolge deren sie ihre Freunde verloren, und die sie doch niemals geschrieben hatten.

»Ach, du Allmächtiger!« rief Smirnow, der immer mit der Spitze seines langen Gesichts lächelte, in dem der Mund genau so aussah wie eine rote und frisierte Blume. »Welche Übung bekommen wir doch, in Groll und Neid zu schwimmen! Dieses Meer, dieser Ozean, schrecklicher als alle andern, weil er unendlich ist! Wie?

Ja, für uns wird es auf diese Weise nur eine Kleinigkeit sein, nach Yokohama zu gelangen!

Oder habe ich nicht recht, meine Herren?« –

Aber es kam auch wohl vor, daß sie von andern Dingen als von Neid zu erzählen hatten.

Denn die Zeitungen griffen, gleichgültig dagegen, was es sie kostete, die ganze Sache mit groben Händen an: fast jeden Tag erschienen wutschnaubende Artikel. Freilich in den Blättern, die von Offizieren nicht gelesen werden, sagte Graf Praxin, aber ein jeder von unsern Kammerdienern hat doch ein paar Augen, die buchstabieren und einen Mund, der reden kann, du mein Gott! –: Täglich also standen da lange Angriffe auf das Marineministerium und die Regierung, schäumend vor Wut über den ganzen Krieg im allgemeinen und über dies Geschwader im speziellen. Sie kamen mit ellenlangen Behauptungen – aus allen möglichen Quellen – über die Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit allen Materials; und sie äußerten in vielen und beredten Worten, daß ein völlig törichtes, ein absolut nutzloses Aufopfern von Menschenleben das einzige, das unvermeidliche Ergebnis von der Aussendung dieser Flotte um die Erde herum sein werde. Dies lumpige und bestohlene Geschwader auszusenden, zum Kampf mit der energischsten, der bestausgerüstetsten, der siegreichsten Armada der Welt!

Auch Luschinskij hatte – ebenso wie alle die andern – eine Menge Geschichten in diesem Stil zu erzählen.

Sowohl von den anonymen Briefen, die er erhalten hatte, unterzeichnet »eine heimliche Freundin, deren Mann im Marineministerium angestellt ist«, und in denen ihm geraten wurde, sich krank zu stellen, um nicht mitzubrauchen: verschiedene Marineoffiziere, die in den Zustand der Sachen eingeweiht waren, hätten bereits dasselbe getan, schrieb sie: und einzig und allein dies sei der Grund, weshalb Luschinskij und seine Kameraden mitgehen sollten, um diese Lücken auszufüllen:

»Was sagen Sie, meine Herren?« rief Luschinskij, und es war ihm gleichsam heiß in den Augen geworden. »Und obendrein weiß diese Dame offenbar sehr gut davon Bescheid, daß wir gar nicht selbst das Gesuch um Teilnahme an der Fahrt eingereicht haben!«

Da war ferner Madame Audotja Rusdorff, die unzertrennliche Freundin seines Obersten, die Peter Romanowitsch unter der Hand beschwor, daheim zu bleiben, koste es, was es wolle, denn ihr Onkel Lieven, der gierige Livländer, sei einer von den Lieferanten, die das Geschwader mit Lebensmitteln zu versehen hatten: »Hören Sie, Luschinskij, und was in aller Welt werden Sie dann an Bord zu essen bekommen,« fragte sie ihn, »bei meiner Seligkeit?«

Und endlich war da der mehr scherzhafte Bericht von dem Tage, an dem er seine Abschiedsvisite bei der Baronin Scherkowskij gemacht: »Aber, daß sich Gott erbarme, mein lieber Vetter,« hatte sie gesagt (»ja, nämlich,« erklärte Luschinskij, »die Mama ihrer Gnaden, der Baronin, war eine Schwester meiner Mutter!«), »liebster Vetter,« sagte sie, »ich preise den lieben Gott, daß die Generalin, meine süße Tante, gestorben ist, ehe sie etwas davon zu wissen bekam, daß ihr einziger Sohn ein Gesuch eingereicht hatte, an dieser schrecklichen Lustfahrt teilzunehmen. Ich höre aus sehr zuverlässiger Quelle, daß man ganz gewöhnliche Leute aus der Handelsmarine unter die Offiziere aufnimmt. Und ich hoffe doch, daß Sie es nicht werden ertragen können, am selben Tisch mit diesen Menschen zu speisen!« – »Nun,« erzählte Peter Romanowitsch weiter, während die Kameraden die Köpfe in den Nacken warfen und lachten: »Liebe Frau Cousine, antwortete ich mit einem völlig steinernen Gesicht. Sie haben recht, es ist entsetzlich! Und doch weiß ich etwas noch Schlimmeres: daß nämlich die ganze Mannschaft aus ... gemeinen Matrosen besteht!« –

Dann legten auch die andern mit ihren Geschichten los: es habe gewiss seine Richtigkeit damit, daß sich Zivilkapitäne unter den Offizieren befänden, und es würde ja ein netter Kampf werden, zusammen mit dergleichen Leute, die nicht einmal zu gehorchen gelernt hatten! Ja – und da war nicht ein einziger, faktisch nicht ein einziger von allen unseren Großfürsten, der sich an der Fahrt beteiligen würde: wahrlich ein Zeichen, das nicht mißzuverstehen war! Oder, was sagen denn die Herren zu diesem Abenteuer: daß der »Orel«, das neue Schlachtschiff, das eben erst fertig geworden ist, neulich morgens, als man nach der Werft kommt, auf dem Grunde des Wassers liegt, so daß nur noch die Spitzen der Masten herausragen! Ach, ja – und die Regierung versuchte, das Gerücht zu verbreiten, daß ein Arbeitsmann die Bodenventile des Kastens geöffnet habe, ehe er von Bord ging, am vorhergehenden Abend, um sich dafür zu rächen, daß man ihn verabschiedet hatte! Aber nein, an die Erklärung glaubte doch niemand, nein, aber das Schiff war aus altem Eisen gebaut, das war es! Und aus Abfallstahl gemacht, das Ganze! Vom Kiel bis zum Steven! Ja! Diebstahl und Unterschleife überall! Wie?

Sie wurden alle rot und heiß in den Gesichtern; sie setzten die Gläser hart auf den Tisch, warfen sich in die Sofas zurück, zündeten ununterbrochen ihre Zigaretten an und sprachen mit kurzen Stimmen, als kläfften sie:

»Heh! Und erinnern Sie sich dann dies anderen Fahrzeugs, – das plötzlich stillstand und nicht weiter wollte, Sie wissen doch, bei der Probefahrt gestern, und das liegen blieb wie ein lebloser Klotz, bei meiner Seligkeit. Da entdeckten sie ja schließlich, zu guter letzt, daß ganz einfach eine Handvoll Sand direkt in die Maschine hineingeschmissen war, so daß der ganze Mechanismus jammerte und schrie und sofort kassiert werden mußte! Hahaha! Ja, natürlich! Gewiss! Japanische Spione und die Schlingelstreiche der Lieferanten, die beiden zusammen werden diese Armada schon zu einer bezaubernden Lebensversicherung verwandeln – für sich selber, wohl zu merken! Tausende von kleinen zitronenfarbigen Asiatenfingern – und unzähligen klebrigen Fabrikantenfäusten mit im Spiel, sowohl hier auf der heimatlichen Werft, wie auch überall, wo die Flotte unterwegs sonst passieren sollte! Heh! Und solche armselige Schuten und verzweifelte Seelenverkäufer wollte man also hinaussenden, rund herum um die schöne Erde! Zum Teufel auch! Und zu welch einem Lustwandeln wird sich diese Geschwaderfahrt gestalten! ...«

Aber dann war da plötzlich irgendeiner von den Leutnants, der mitten in das Gekläffe hinein auf einmal wieder anfing, zu erzählen, wie ein höchst vermögender Kamerad – der selber nicht mit auf die Tournee sollte – gestern abend gekommen sei und ihm fünftausend, ja zuletzt zehntausend Rubel geboten habe, wenn er ihn an seiner Stelle reisen lassen wolle! Aber das fehlte auch noch! Nie im Leben, bewahre! Wenn man nun endlich einmal ein so schmetterndes Glück gehabt hatte, daß einem hier eine so einzig dastehende Gelegenheit geboten wurde, sich Ruhm und Ehre zu erwerben! Nicht wahr, meine Herren!?

»Ja, du gerechter Himmel!« sagte Oberleutnant Baron Orloff. Er war einundzwanzig Jahre alt und öffnete fast nie seinen Mund; er hatte zwei Schwestern zu erhalten – und zerstreute sich daher in seinen Mußestunden, indem er Unterricht im Französischen, Englischen, in Astronomie, Rechnen und Biblischer Geschichte gab. Er lachte mit seinen Zähnen, die drinnen in dem dunklen Bart saßen wie eine weiße Spitzenfranze in einem schwarzen, seidenen Schal; er hob seine langen Arme ellenhoch in die Höhe und schüttelte seine breiten Schultern:

»Ja. Es fehlt allerdings sowohl das eine wie das andere an Bord unserer Schiffe! Aber, mein Gott, wir gehen doch auch nicht hinaus, einzig und allein um wieder nach Haus zu kommen!

Und es wird uns schon gelingen, ein paar Japaner mit uns auf den Grund zu ziehen! Und was in aller Welt haben wir – oder andere – dann zu klagen!«

» Ich glaube auch,« bemerkte Oberleutnant Timon Lwow, dem eine Pistolenkugel vor einem halben Jahr bei einem Duell die linke Lunge ausgeblasen hatte, und der erst ganz kürzlich wieder geheilt war. Er sprach mit einer hastigen und leisen Stimme und bekam dabei rote Flecke auf den Wangen. » Ich glaube wirklich, daß keine Kunst beim Sterben ist, so lange man jung ist wie wir. Oder vielmehr: ich bin davon überzeugt! Ich glaube wirklich, daß ich ein Recht habe, das zu meinen ... ich finde das ... Das tue ich wirklich!« – er starrte mit seinen großen, schwarzen Augen umher und fing ein wenig zu lachen an – »nicht wahr?«

»Hahaha, vous êtes vraiment très spirituel, mon cher Lwow!« erwiderte Praxin und zündete sich eine neue Zigarette an, obwohl er mit der vorigen noch nicht fertig war. » Ich glaube, Sie sind kurz davor, Philosoph zu werden, mein Lieber! Sie machen ja Entdeckungen! Sie sind ein Genie. Wie?

Übrigens,« fügte er hinzu, indem er sich über das brennende Streichholz beugte, das sein Gesicht gelb erscheinen ließ. »Übrigens haben Sie selbstverständlich recht. Für sein Land ist es natürlich leicht zu sterben. Man mag jung sein oder alt! Was bedeutet es, daß wir Jungen so viel mehr zu verlieren haben?«

Sie lachten alle zusammen, als wenn ein ungeheurer Witz gemacht wäre; schenkten die Gläser voll und tranken aus.

Aber wenn sie sich an diesen Abenden trennen mußten, war es, als ob es einigen von ihnen ein wenig schwer würde, allein zu bleiben. Sie legten sich die Gewohnheit zu, sich nach Hause zu begleiten, je zwei und zwei. Dann saßen sie in Lehnstühlen und auf Diwans, die Beine auf dem Teppich lang ausgestreckt, und fuhren fort, über alles mögliche zu reden – unaufhörlich rauchend, so daß sich ihre Hälse zuletzt so trocken anfühlten wie Staubsaugerschläuche; und schließlich schliefen sie ein, ohne es zu wissen, mitten in irgendeinem Satz. –

Luschinskij ging Ubuseff noch mehr als sonst aus dem Wege, denn er hatte die Worte, die dieser Offizier neulich geäußert hatte, keineswegs vergessen; im Gegenteil: zu verschiedenen Malen waren sie ihm unbequem bedeutungsvoll erschienen. Nicht wahr, es konnte sowohl als ein gutes wie auch als ein schlechtes Vorzeichen ausgelegt werden, daß ihn sein Vater, der General, an jenem Tage mißverstanden hatte! Vielleicht bedeutete es wirklich Glück, daß die Exzellenz es so aufgefaßt hatte, als wenn von einer Braut die Rede sei; aber es konnte auch so ausgelegt werden, als wenn des Vaters Worte ihm den Rat erteilen wollten, sich lieber zu verheiraten, statt zu reisen! Nicht wahr?

Hierüber konnte man also streiten: ein gutes Omen oder ein böses, es war vielleicht nur eine Temperamentssache! Aber wenn man nun die Tatsache dahinzu legte, daß Ubuseff – im Grunde der erste Mensch, mit dem er nach der großen Neuigkeit geredet hatte – so herbe Andeutungen äußerte, da war es gewiß übereilt, an die schöne Auslegung des Wahrzeichens zu glauben! Da waren sicher mindestens ebenso viele Chancen für die bittere Auslegung, Gott sei's geklagt!

Aber trotzdem – und es währte nie recht lange, bis Luschinskij, trotz des ewigen Geheuls in den Zeitungen und anderer unerfreulicher Dinge, bis zu diesem Punkt gelangte: ja, selbstverständlich war es eine gegebene Sache, daß ein Teil von dem Offizierkorps des Geschwaders seine Tage da unten in Ostasien beschließen würde, irgendwo auf dem meilenweiten und urkalten Meeresgrunde, aber: warum sollte gerade er unter diesen Unglücklichen sein? Diese Vorbedeutungen und all dergleichen waren ja doch zum Teil nur Aberglaube! Und hatte nicht Eudoxia, das kleine und großbusige Mädchen, ihm gleich gesagt, als sie hörte, daß er mit Roschdjèstwenskij nach Japan sollte – sagte sie da nicht, dies Kinderköpfchen, während sie ihre beiden Hände um sein Gesicht legte und ihn unter einem Strom von Tränen küßte:

»Gottes Segen, mein liebster Peter Romanowitsch!« schluchzte sie; »ich bin ganz fest überzeugt, daß du in meine Arme zurückkehren wirst, mit höheren Rangabzeichen und mit Orden an der Brust. Denn der Mann, den eine Frau liebt, den werden alle Heiligen sicher in Ewigkeit beschützen. So sagte meine Mutter immer; sie hatte zwölf gesunde Kinder, weißt du, und ihr ganzes Leben war allerdings ein Beweis dafür, daß sie recht hatte!«

Ja, genau so hatte seine einzige Eudoxia zu ihm geredet: – und wenn Luschinskij so weit in seinen Gedanken gekommen war, lachte er wieder, erhob sich aus seinem Lehnstuhl, wo ihr grün- und gelbgesticktes Kissen an einem breiten Seidenband hing – wie ein Kohlwurm auf einem Blatt; er stellte sich vor den Spiegel und strich seinen roten Schnurrbart, der wirklich ein paar goldenen Quasten glich, wie sie immer sagte; ihm ward leicht und lächelnd ums Herz, und er mußte sie ja recht bald wiedersehen:

»Doruschkolein!« rief er dem Burschen zu, der im Schlafzimmer hantierte, »Doruschko! Sage mir doch: Hat Fräulein Eudoxia dir nicht heute morgen, ehe sie ging, Bescheid gesagt, um welche Zeit sie heute nachmittag aus der Probe kommt?« –

So ging es zu, daß, obwohl die Schreier in den Zeitungen immer unverhohlener und frecher wurden – ihr Ton war wirklich alles andere als nobel der Verwaltung gegenüber, und selbst wenn das Wort Diebstähle nicht sonderlich häufig gebraucht wurde, war der Sinn doch deutlich genug – dessenungeachtet sowohl Luschinskij als auch seine Kameraden mit jeder Woche, die verging, nur um so eifriger und sehnsuchtsvoller wurden, fortzukommen.

Schließlich erlebten sie ja auch – nach verschiedenen Orders, Konterorders und Desorders – den Tag, an dem sie den Befehl erhielten, allen Ernstes in Libau anzutreten, um sich zum Dienst an Bord ihrer Schiffe zu melden.

Luschinskij versuchte Abschied von seinem Vater zu nehmen; aber Seine Exzellenz liege sozusagen still für sich hin, erklärte der Arzt dem Oberleutnant: er könne freilich sprechen, aber weder sein Gesicht noch sein Gehör wolle funktionieren!

Ein paar Minuten stand Peter Romanowitsch dann dadrinnen in dem großen, halbfinsteren Schlafzimmer, wo das Himmelbett auf drei breiten Stufen angebracht war, gleich dem ungeheuren Fußstück zu einer Säule oder einer Statue, die man nur für eine Zeitlang entfernt hatte; die braunen Gardinen hingen an den Seiten des Kopfendes herunter, als seien sie die Flügel eines mächtigen und dunkeln Insekts, das irgendwo droben über dem Bette saß. Er beugte sich langsam über die Hand des Generals herab, die milchweiß war und gleichsam durch und durch weich; ein dichter und schwerer Blutstrom stieg ihm in den Kopf, lag drückend hinter seinen Augen und brannte in der Nasenhöhle.

»Vater!« stammelte er plötzlich, ohne es zu wissen. Dann richtete er sich auf und ging leise die Stufen hinab. Der Arzt stand am Fußende; mit seinem weißen Gesicht und dem langen, schwarzen Bart glich er einem Priester: »Ja!« sagte er, mit flüsternder Stimme, und hob die Achseln. –

Es währte lange an jenem Abend, ehe Eudoxia mit allen ihren warmen Tränen, ihren blanken Kohlenaugen, ihrem blonden Haar, das viereckig aufgesteckt war und aussah wie eine französische Uniformmütze aus Messing, und mit ihren weißen, runden und kühlen Armen Luschinskij wieder ein Lächeln entlockte.

»Gott sei uns gnädig!« sagte er, und seufzte ihr in den Mund hinein, mitten in ihrem Kuß. »Ja, Gott gebe, daß es so gut stünde, wie du sagst!«

Dann zog er sie an sich, legte sein Gesicht zwischen ihre großen, harten Brüste – die sich anfühlten, als seien sie aus Metall, so schwer waren sie; von außen aber waren sie gleichsam mit weißem Samt überzogen – und er mußte ihr versprechen, daß in diesen Stunden, die ihnen noch vergönnt waren, er sie für eine Ewigkeit umfangen wolle.

Aber auch die Nacht nahm ein Ende – Eudoxia saß zu allerletzt, während er ein klein wenig schlief, kauernd am Fußende seines Bettes, das schwarze Hemd über die Füße herabgezogen, so daß die Nägel der Zehen gegen die dünne Seide kratzten: als seien kleine, zahme Mäuse darin versteckt, die gern zu ihm hinaus wollten. Sie starrte ihn unbeweglich und weinend an, wiegte verzweifelt den Kopf hin und her, rang ihre weißen Arme – die aus dem schwarzen Stoffe hervorstachen, als seien sie inwendig aus Porzellan gemacht –, und mit ihrer leisen Stimme rief sie ihn mit meilenlangen und körperlich freimütigen Kosenamen.

Bei Tagesgrauen – als die Bäume draußen auf dem Kasernenhof zu brausen anfingen, und die Reveille von dem dicken Spielmann Wronskij geblasen wurde, der stets einen schrägen Blick und eine Extratremulade mit dem Signal zu den Schlafzimmerfenstern der Offiziere hinaufsandte –, bei Sonnenaufgang, als der Himmel zu einer weißen Stahlplatte geworden, weit weg hinter dem langen und gerippten Glasdach des Reithauses, mußte Luschinskij aufstehen.

Noch einmal schluchzte Eudoxia und legte jammernd ihre Arme an seine Wangen:

»Ach, du mein einziger Peter Romanowitsch! Mein geliebtes Brustkind, ich werde dich nie wieder sehen. Nie, nimmermehr im Leben! Aber reise jetzt, Geliebter, reise jetzt und kämpfe für dein Land. Und versuche hin und wieder einmal an deine Eudoxia zu denken, die hier in der Heimat weinend umhergeht und nach dir ruft!«

Sie begleitete ihn zum Bahnhof – trotz des bestimmtesten Verbots, das er erlassen hatte, weil eine ganze Anzahl Familien ihm gesagt hatten, daß sie dort sein würden. Sie waren da auch, sowohl Scherkowskijs und Dalins, als auch sein Oberst und noch viele andere. Aber das allerletzte, was er von Sankt Petersburg sah, das war nun doch trotz allem Eudoxia, die dastand und mit ihrem Taschentuch winkte, das sie schon zu Hause mit einem der hellblauen Bänder von ihren neuesten seidenen Beinkleidern an den Stiel ihres Sonnenschirms festgebunden hatte.

Luschinskij lachte und war inwendig heiß, er nickte hinaus und ärgerte sich auch ein klein wenig: wenn die Familien nur nicht bemerkten, womit sie winkte – oder wem. Und in seinem tiefsten Innern saß irgendein stechendes und schaukelndes Gefühl: ein wackelnder Druck um die Brust, der ihn während dieser ganzen Fahrt glauben machte, daß diese Wagen abscheulich unbequem waren: man wurde einfach asthmatisch, wenn man so hier saß und in diese schwammigen und staubsüßen Polster versank, nicht wahr! Hol' mich der Teufel!

Daher schalt er dem Schaffner die ganze Haut voll, als er hereinkam und die Fahrkarte des Oberleutnants koupieren wollte:

»Sehen Sie sich vor, Sie Bauer!« sagte Luschinskij, zerrte an seinem Kragen und schrie lauter, als es seine Gewohnheit war. »Fahrkarte? Zum Satan, können Sie denn nicht sehen, daß Sie einen Offizier vor sich haben! –

Und dann lassen Sie mich in Ruhe! – –

Sie stehen mir dafür ein, daß kein anderer Reisender in dies Abteil herein kommt!« fügte er mit leiserer Stimme hinzu; er war gleichsam ein wenig abgekühlt vor Erstaunen über die eigene Wut – oder infolge der Erleichterung, die sie ihm verschafft hatte. Er nickte dem Manne zu, warf ihm einen Rubel hin, sank in die hochroten Samtpolster zurück, zündete sich eine neue Zigarette an, legte den linken Arm in den Stützriemen am Fenster, und sah hinaus über die großen Felder, die sich ringsumher an ihm vorbei bewegten – wie die Hintergrundkulisse auf einer ungeheuren Drehbühne.

»Ich heiße Sie willkommen!« sagte Kapitän zur See Gregorow, der ihm sofort entgegenkam, als Luschinskij seinen Fuß an Bord gesetzt hatte; die Schildwachen, die an der Treppe standen, schulterten ihre Säbel und die Pfeifentriller liefen gleichsam bis auf den Boden des Schiffes hinab, um zu melden, daß Offizier am Fallreb.

»Natürlich wird Ihnen zu Anfang allerlei schwer werden.

Und ich bin gewohnt, alles von meinen Untergebenen zu verlangen.

Aber mit dem rein maritimen Teil des Dienstes werden Sie ja nichts zu tun bekommen. Daher bin ich auch überzeugt, daß sowohl Sie, als auch ich bald in hohem Maße Freude von unserem Zusammenarbeiten haben werden!« – Der Kommandant starrte Luschinskij eine Sekunde mit seinen ernsten und schweren Augen an; sein grauer Schnurrbart stand – als sei er im Laufe der Jahre nach und nach erstarrt – zu beiden Seiten des Gesichts spitz ab:

»Wenn Sie die Güte haben wollen, mit mir in meine Kajüte hinabzukommen, will ich Ihnen gleich Ihre Instruktionen geben. Es hat keinen Zweck, auch nur einen Augenblick zu verlieren!

Hierher, Herr Oberleutnant!«

Von diesem Moment an hatte also Peter Romanowitsch beide Hände voll und noch mehr zu tun. »Ich liebe es selber, total in Anspruch genommen zu sein,« sagte Gregorow mehrmals jeden Tag, »und meinen Offizieren denselben Genuß zu verschaffen. Sie werden sicher längst bemerkt haben, daß, je mehr man zu tun hat – um so mehr erreicht man! Nicht wahr? Aber hat man nur wenig zu tun, so kann man nicht einmal damit fertig werden!

Daher hat es keinen Zweck, auch nur eine Sekunde unbenutzt vergehen zu lassen!«

Luschinskij hatte mit anderen Worten alle zehn Finger und den ganzen Kopf mit Dienstangelegenheiten überfüllt. Die viel zu kurze Zeit vor der Abreise, die zur Einübung und zum Zusammenwirken zwischen der Mannschaft und den Offizieren vorgesehen war, sollte wieder eingeholt werden, indem man jeden Mann unterwegs zu dichter Arbeit anhielt, sagte der Kommandant.

Und Herr Gregorow erwies sich wirklich, schon gleich nachdem die Anker gelichtet waren, als ein Kommandant, der es vorzüglich verstand, daß es vierundzwanzig Stunden gibt, damit in denen doppelt so viel ausgerichtet werden kann, wie in den zwölf Stunden des Tages.

Und vom nächsten Morgen an, in offener See, begann der Dienst, sich in dem Galopptakt fortzubewegen, für den Gregorows zügellose Übungsliste den Raum gab.

Zuerst hatte Luschinskij Morgenparade in seiner Batterie. In aller Frühe, vor Tau und Tag, mußte der Bursche Iwan ihn aus der Koje zerren. Dafür schalt er dann den Matrosen aus, fuhr in seine Kleider – den Kopf infolge Schläfrigkeit ein wenig auf den Schultern herabhängend – und eilte an den Teetisch in die Messe, die Bartbinde wie ein strammes, hellrotes Pflaster über Oberlippe und Wangen. Sobald er einen kurzatmigen Morgengruß mit den anderen Offizieren ausgetauscht hatte, mit denen zu dieser gottverlassenen Zeit der Sonnenbahn wahrhaftig auch nicht zu spaßen war (Herr du meines Lebens, wie unaussprechlich ekelhaft sah nicht der berühmte Leutnant Tschukow tagtäglich an diesem Teetisch aus; der Schlaf saß ihm in Gestalt von kleinen Wunden in den Augen, und die Lippen waren angeschwollen nach dem Whisky des vorhergehenden Abends, du großer Gott!), sobald Peter Romanowitsch seinen Tee hinuntergeschlürft hatte, die Vorderzähne des Obermundes verbrennend, weil die Bartbinde da saß – mußte er in höchster Eile seine erste Zigarette anzünden, ein paar Mundvoll Rauch hinunterschlucken, um wieder einigermaßen zur Besinnung zu kommen, dem Obersteward Bescheid in bezug auf das Frühstück sagen, den Bart vor dem Spiegel auskämmen und in den Schlafraum der Mannschaft eilen. Die Leute standen vor ihren Kleiderkisten und sollten tadellos geputzt und rein gewaschen sein: »Auch im Gesicht, ihr Schweinigel, oder glaubt ihr, daß man es aushalten kann, einen ganzen Tag hindurch solche asphaltierte Fratzen anzusehen!«

Dann ging es an das Hängemattenverstauen, das Deckfegen und -waschen, das untersucht werden mußte; mit einer Fingerspitze seines Glacéhandschuhs sah er nach, ob alle Leisten und Ecken wahrhaft propper waren: »Ja, ja, liebe Kinder, hütet euch, auch nur ein Staubkörnchen liegen zu lassen, oder meint ihr, daß die Langmut in der Morgenstunde sproßt?« –

Wenn das alles beendet war – noch lange vor dem Glockenschlag, in der die Menschen, die Menschen sind, auch nur anfangen, ihre Haushälterin daran denken zu lassen, aufzuwachen –, folgten ein paar Stunden lebhaften Infanteriedienstes, mit Turnen, Schießen mit dem Abkommgewehr, Gewehrgriffen und Bajonettfechten. Luschinskij schrie seine Stimme heiser und heiß, bis der glühende Rest davon ihm wie eine Zündrute durch den Hals ging; er schoß wie eine schwälende und brennende Rakete zwischen den Leuten aus und ein, bis an den Rand angefüllt mit dieser sonderbaren und funkelnagelneuen Neigung, in Brand zu geraten, die er wieder und immer wieder bei sich entdeckte – und von der er glaubte, daß sie hauptsächlich auf den Mangel an Schlaf zurückzuführen sei: Wenn man bedenkt, daß man nur von zehn bis viereinhalb schlief, bei einer täglichen Arbeitszeit von vierzehn Stunden; o, dieser Gregorow!

Von der Batterie oben mit den beiden 15,2-cm-Schildkanonen, wo Praxin Zweitkommandierender war, vernahm man hin und wieder das klangvolle Dröhnen des Abkommrohres, das in das Geschütz eingesetzt wurde; oder Luschinskij unterschied des Grafen laute und fliegende Stimme, die unablässig über alles mögliche schalt und so tönte, als komme sie nicht aus dem Halse, sondern von irgendeiner Metallplatte oben am Gaumen.

Durch die Geschützpforten sauste die salzige Luft herein, und Peter Romanowitsch spürte sie als kühlendes, ein ganz klein wenig kitzelndes Empfinden in der Nase – ungefähr so, als wenn man in alten Zeiten in der Schule dasaß und sich in den Physikstunden über die Hartgummischeiben an dem Elektrisierapparat beugte.

Tief unten aus den Maschinenräumen rollten die schweren Laute der Kolben herauf: es fühlte sich so an, als kämen sie von einem selber, von einer Art Zittern im Magen, oder von einer unfaßlichen und unruhigen Erwartung unten in den Knien: ungefähr so, als sei man im Begriff zu springen! –

Nach dem Frühstück kamen die rein maritimen Teile des Unterrichts. Damit hatte Luschinskij freilich direkt nichts zu tun, und im voraus hatte er sich die Hände gerieben, als er auf dem Stundenplan las, daß er sich auf diese Weise täglich ein paar freie Stunden würde sichern können. Aber natürlich machte ihm Gregorow einen Querstrich, dies Arbeitstier! und sagte, daß es ihm eine große Freude sein würde, wenn der Oberleutnant auch bei diesem Teil der Übungen zugegen sein wollte, um selbst zu lernen: »Denn wir bedürfen alle der Belehrung, nicht wahr, mein lieber Luschinskij; und wir dürfen keine Minute verlieren unter diesen Umständen!« sagte der Kommandant, und fuhr fort, mit seinem schweren Gesicht vor sich hin zu nicken, so daß man eine wahre Lust bekam, seinen Kopf mit einer geballten Faust unter seinem Kinn zum Stillstand zu bringen!

Und folglich saß Peter Romanowitsch tagtäglich während dieser Stunden auf dem Vorderdeck, unter dem gestreiften Schatten der Kommandobrücke, sozusagen an eine Gitterbank gefesselt – aber ohne eine Hand zu rühren! Nur um Herrn Gregorows Prinzipien eine Freude zu bereiten, nicht wahr?

Nun ja, dachte er nach und nach, hier saß er und vertrödelte diese Zeit, die sicherlich zu besseren Dingen hätte verwendet werden können! Wer wußte, was die kommenden Tage an Freiheit bringen würden?

Er schaukelte sich auf der Bank, fuhr von Zeit zu Zeit ein klein wenig in die Höhe, ohne zu wissen, weswegen – als erwarte er, daß etwas geschehen würde oder als habe er irgendeinen häßlichen Traum in der Nacht geträumt, einen, der vielleicht plötzlich, im nächsten Augenblick, in böse Erfüllung gehen würde: man war ja doch auf Kriegsfuß, nicht wahr, und konnte insofern auf allerlei gefaßt sein! Hahaha!

Freilich! man war ja auf dem Kriegspfad! Ganz korrekt! Aber gerade daher sollte man ganz einfach: entweder in vollster Aktivität sein, wirklich jede Muskel und jeden Nerv benutzen, um sich abzuhärten und stärker zu werden als je zuvor; oder auch, man sollte, selbstredend, wirklich frei haben, vollkommen Ferien machen, so daß man sich ausruhen und Kräfte zusammenschaben konnte, um von neuem mit ganzer Vigueur an die Arbeit zu gehen!

Ist das nicht das einzig Vernünftige?

Auf Kriegsfuß zu sein, das bedeutet ja gerade: überall da an Energie zu sparen, wo man sie nicht notwendig gebrauchte – und sich dann mit göttlicher Stärke zu schlagen, wenn es Ernst wurde! Selbstredend! Aber hier saß man ja buchstäblich, und wurde sowohl schmutzig als schwarz und innerlich verwest, von allen möglichen unsauberen und ekelhaften Vorausahnungen in bezug auf diese Fahrt! Auf diese wunderliche Autodaféaffäre, der alle Zeitungen des Erdballs längst allen Ruhm, alle Ehre, alle Festivitas weggeschrieben hatten! Dies, ganz offen gestanden, geradezu dammlige Geschwader, von dessen sämtlichen Besatzungen keine einzige so recht aus noch ein wußte, wo der dritte Teil aller Offiziere und Mannschaften sozusagen nie im Leben ein Kriegsschiff von innen gesehen hatte: diese falsche Kriegsflotte, mit Kauffahrteischiffsführern und undisziplinierten Artilleristen in ganzen Haufen, dieser Kontor- und Handelszug, den Herr Togo natürlich in der allerersten Schlacht mit Mann und Maus in Mus und Grus schießen würde ...

Peter Romanowitsch begann plötzlich nach den anderen Fahrzeugen der Armada Ausschau zu halten: sie wanderten dahin durch das schwellende Meer mit Schaum um den Bug und krausen Kielstreifen hinter sich, wie ungeheure und dunkle Gigantentiere mit weißen Schnurrbärten und weißen pelzigen Schwänzen. Jawohl; alle diese vielen und schweren Kriegsschiffe! Wie ihre Stahlbrust durch die See schwamm! Wie der ganze Ozean ohne weiteres in lange Spalten zersprang unter den scharfen und flinken Steven! Nicht wahr? Aha! Mit einer Geschwindigkeit von achtzehn Meilen flitzte man dahin, unaufhaltbar! Ja, wie verblüffend weit würde man da nicht in etwa einem Monat gekommen sein!? Oder um Weihnachten – oder im Frühling?

Vielleicht in Yokohama, wie: gar nicht so übel! Oder auf alle Fälle in Wladiwostòk – oder etwa in Port Arthur; wenn diese Feste übrigens nicht inzwischen von den Japanern erobert war, wohl zu beachten, so wie die meisten Zeitungen es schon jetzt glaubten! Keh! Ja, und wenn die Flotte überhaupt jemals so weit gelangen würde! Wer wußte überhaupt etwas von der Zukunft! Möglicherweise war nicht allein Port Arthur gefallen – sondern es war vielleicht auch nicht mehr ein einziges von allen diesen ungeheuren Schiffen mehr vorhanden in einem halben Jahr! Sehr wahrscheinlich! Diese Lösung war wirklich an und für sich die annehmbarste von allen: wie hatte doch Ubuseff gesagt – und übrigens auch alle anderen Freunde und Bekannten –: daß es auf diesen armseligen Fahrzeugen sowohl an allen Maschinenreserveteilen, als auch an Kohlen und Munition fehle! Und daß das Material unmöglich und unbrauchbar sei! Abfallstahl und halbalter Eisenkram das Ganze! Keh! Ja, Gott weiß: ne, da war sicher nicht eine von diesen elenden Kästen, die auch nur um Afrika herumkommen würde! Natürlich! Der Stoff selbst, aus dem die Schiffe gebaut waren, stand selbstverständlich ganz auf der Höhe mit dieser gemeinen und untüchtigen Mannschaft, die die Besatzung bildete! Zweifellos! Keh, keh! Insofern gebrach es also nicht an Harmonie und Einklang! Bewahre! Einer nach dem andern würden diese verrückten Seelenverkäufer ganz einfach untergehen, weg damit! Alle, ohne Ausnahme, und die Mannschaft mit ihnen! Diese neronischen Lustfahrzeuge, diese Totsegler, die sämtlich auseinander fallen und stückweise auf den Meeresgrund sacken würden bei dem ersten besten Sturm und Meergang ...

Luschinskij erhob sich mit einem Ruck von der Bank, steckte die linke Hand in seine Westentasche, ging langsam und sich in den Knien wiegend an die Reling, lehnte die Ellbogen dagegen, stützte das Kinn auf seine Fingerknöchel und begann mit aller Macht hinauszustarren – als sei es für ihn von unüberschaulicher Bedeutung, einige neue Eindrücke zu gewinnen, mit denen er sich beschäftigen konnte, an Stelle aller dieser mumifizierten Gedanken von daheim.

Das Wasser war schnell und schwarz – wie irgendein blankes, unduldsames Metall; oder wie eine Art eiskalter und allesauflösender Regennacht.

In weiter Ferne war ein Handelsdampfer sichtbar; es war, als stünde er still in einem Zentrum. Er sah so lang aus wie das äußerste Glied eines Daumens. Dahinter lag ein ausgereckter, breiter Rauchstreif oben über dem Horizont; er glich einem dunkelbraunen, grobkörnigen Pulver, das in die Luft hinausgestreut war: Woher mochte dies Schiff wohl kommen, und wohin wollte es? Waren viele Passagiere an Bord? Geschäftsreisende, die mit ihren Probenkoffern auszogen; Vergnügungsreisende, den Krimstecher über dem Magen; junge, ewig zusammengearmte Ehepaare, und einzelne Männer, die während der ganzen Zeit draußen am Vordersteven standen, um dadurch speziell heimwärts zu eilen zu ihren süßen Damen! Wie? Hahaha! Heimwärts zu allen den weißen Armen und zu den Mündern, die gleichsam vor Sehnsucht bebten, nicht wahr?

Er schob die Oberlippe vor, drehte seinen roten Bart zwischen zwei Fingern und spürte den bitteren, pudertrockenen Geruch, der von den Zigaretten darin hängen geblieben war. Er mußte plötzlich an Eudoxia denken, die diesen Duft in seinem Haar liebte, und die oft seinen Schnurrbart in die Höhe hob, um auch ein wenig von seinem wirklichen, eigenen Mund zu sehen – sagte sie. Ach, jawohl, Eudoxia! Natürlich war sie noch nicht aufgestanden zu dieser Urzeit des Vormittags; sie lag in ihrem schmalen, weißlackierten Erbgitterbett, den vollen, kreideweißen Busen über dem Rande der hellblauen, seidenen Decke. Natürlich lag sie noch im Bett! Sie schlief selbstredend noch! Aber wenn sie erwachte, in ein paar Stunden, dann würde sie augenblicklich wieder anfangen auszurechnen, wann wohl ihr unveränderlicher Peter Romanowitsch wieder zu ihr zurückkehren würde: in vier Monaten, in fünf, sechs oder vielleicht erst in sieben!

Ach ja – dachte er weiter, beständig nach dem Dampfer aussehend, der jetzt nur noch ein Viertel so groß war, und den man fast nicht mehr sehen konnte, als sei er plötzlich im Begriff, auf den Grund zu versinken, während Luschinskij hier gestanden hatte: Ja, der Himmel mag wissen, wann man wieder zu Hause anlangte, zu Eudoxia und zu dem ganzen übrigen St. Petersburg! Zu Freunden und Bekannten – und zu ihren runden Schultern, und zu ihrer weißen, heißen und dabei doch kühlen Haut! Wenn man überhaupt, éhéh, zwischen den Wenigen und Glücklichen sein würde, die wieder nach Hause schlüpften! Nimmermehr im Leben würde sie ihn wiedersehen, hatte sie selbst den letzten Tag daheim gesagt; möglicherweise in einer Art Vorahnung, nicht wahr? Wer konnte das sagen? Dergleichen Frauen standen oft der Mitte von Vergangenheit und Zukunft gleichsam näher! Wahrscheinlicherweise waren ihre Worte ganz einfach eine Prophezeiung, ein gottgesandtes Omen, ein Todeszeichen ...

Peter Romanowitsch bog mit einem Ruck den Nacken hintenüber und beeilte sich, nach einigen Möven auszusehen, die ununterbrochen schrien: sie hielten sich in der Sonne, die holdseligen Tiere! Sie stiegen und sanken wie weiße Papierstücke in der hohen Luft! In dieser blauen Luft, die eiskalt war von Eile und Ungebrauchtheit – als sei es ein nie zuvor benutzter Weltenraum, in den man hineingeraten war! Würden sie dem Schiffe wohl andauernd folgen, die Vögel, so wie sie es bisher getan hatten, hungrig und bettelnd? Würden sie mitfliegen, Tag für Tag, Monat für Monat? Gierig und wohlgefüttert von einem Morgen zum anderen? Bis nach Port Arthur hinüber und bis zu den fernen Wassern dort? Bis zu Admiral Togo, der dort selbst umherfuhr, mindestens ebenso gierig wie die Möven hier, und nur darauf wartete, sowohl sie als auch diese ganze allzuwohl angerichtete Armada zu verspeisen, mit Mannschaft und Offi...

Luschinskij machte kehrt, ging zu seiner Bank zurück, knöpfte seinen Rock von oben bis unten zu und setzte sich, die Beine weit ausgestreckt.

Ja! diese unmenschliche – und insofern also göttliche – Idee von Herrn Gregorow, zu verlangen, daß man bei diesem Teil des Unterrichts zugegen sein sollte! Dieser Zelot von einem Kommandanten, der sich erlaubte, wie ein Säulenheiliger des Fleißes auf den Beinen und dem Schädel anderer Leute aufzutreten! Häh!

Er sah sich mit einem Girlandenblick nach den Matrosen um. Sie saßen, die Füße unter sich gezogen, in einer Gruppe auf Deck, während Oberleutnant Klado von der Marine ihnen Schiffsmodelle zeigte: entweder von den breiten Schlachtschiffen, die aussahen wie fünfstöckige Häuser, in denen die Stockwerke, je höher man kam, um so kürzer, schmäler und niedriger wurden, bis sie in den zirkelförmigen Balkons der Marsen endeten; oder von den schlanken und scharfen Kreuzern, die, wenn man sie von vorne sah, ungefähr Rasiermessern glichen.

Luschinskij mußte sich förmlich selbst von innen in die Augen kneifen, um nicht allen Ernstes einzuschlafen bei diesen meilenlangen Vorträgen über Kompaß und Windrose; über Hunderte verdammte Arten Laternenführungen, die selbstredend jede ihre besondere Bedeutung hatten; über teufelische Unmengen von höchst verschiedenen Nebelhornsignalen – ausschließlich zu Verwechslungen und Katastrophen für jedermann gemacht; über die großen Bedeutungen von törichten Bojen und Seezeichen: alles so verwickelt und kompliziert, bei Gott, daß man überzeugt war, nie im Leben in den geräumigsten und ungefährlichsten Hafen der Welt hineinfahren zu können, ohne gegen irgend etwas zu stoßen und zu ertrinken, gerade wenn man im Begriff war, in Sicherheit zu gelangen! Wie?

Kurz, das ganze war von einem Ende bis zum anderen um verrückt, um schwindelig, um verwirrt zu werden: – wie gemacht als Schlafmittel für aufgeregte Gehirne, nicht wahr? Gewiß ... Wie ... Ach Gott, ja! ... Jawohl: Nordnordwest zu West, und Nordnordwest zu Nord ... Nordnordwest zu ... Nordnordwest ...

Peter Romanowitsch duselte gereizt in einen anstrengenden und ärgerlichen Halbschlummer hinüber, fuhr jeden Augenblick in die Höhe, indem er mit dem Kopfe nickte, so daß er träumte, daß er ihn verloren hatte, gähnte noch einmal, so daß er inwendig gleichsam ganz luftleer und kraftlos wurde und zischte dann den Anfang eines unendlich langen und giftigen Fluches über Herrn Gregorow und über hunderterlei andere Dinge vor sich hin. Er versuchte ein paar Minuten sein Gesicht und sein Gehirn weit aufzusperren, um Klados Siebenmeilenstimme wirklich zu lauschen – der sich förmlich an jedem einzigen Worte delikatierte, das von ihm ausging, von diesem langgezogenen Tier –, verfiel aber gleich darauf wieder in Dreiviertelschlaf und erwachte von neuem: mit einem Ruck, der bis in die Schultermuskeln hinein weh tat – und mit einem brummenden Schädel, als sei darinnen, während der Sekunden, die er geschlafen hatte, ein Unglück geschehen ...

Auf diese beleidigende Weise wurde es – ein paar Tage später, so schien es – allmählich Mittag. Und im selben Augenblick, wo man gerade eben das Essen und eine einzige Zigarette hinuntergeschluckt hatte, da begann natürlich schon das Geschützexerzieren; jawohl, Gregorow hatte vollkommen recht, er pflegte die Minuten gar nicht zu vergeuden!

Also gleich nach Tische mußte man sich mit den Schießübungen abplacken – obendrein am liebsten, ohne zu schießen, denn es sollte an dem rauchfreien Pulver, an Geschossen, an Geschützrohren und an allem möglichen anderen in dieser Welt gespart werden – ausgenommen an der Zeit und den Kräften der Betreffenden natürlich! –

Eine kleine lumpige Abwechslung gab es ja an den Tagen, wo die Schiffe mit Brennmaterial von den Kohlendampfern versehen werden sollten, die dem Geschwader gleich einer Schar schwarzer Schweine auf den Fersen folgten; die Kohlen wurden in Barkassen geholt und in die Räume hinuntergereicht, Sack für Sack – oder es wurden lange Stahltrossen achtern vom Panzerschiff an das Kohlenboot gespannt, und dann glitten die Säcke über die Wasserfläche hin, von einem Fahrzeug zum anderen, gleich ungeheuren, staubqualmenden, grauen Insekten. Das Schiff sah dann aus, als sei es direkt in ein eingeräuchertes Spinnengewebe hineingefahren. Die Mannschaft hatte zuletzt schwarze, gestreifte Schleier über den Gesichtern, so daß ihre Augen weißer aussahen als sonst. Die Offiziere mußten mitten in der Prozedur, krähend vor Wut, in die Kajüten hinab, die Kleider vom Leibe reißen – die infolge des Staubes sauer und trocken stanken –, unter die Douche eilen und dann eine andere Uniform anziehen.

Wenn dann die Kohlen endlich an Bord gebracht und in den Bunkers an ihren Platz geschüttet waren und das Schiff zur Reinigung ein Sturzbad von Kopf bis zu Fuß bekommen hatte – so war die Uhr inzwischen auch gegen vier geworden und der Dienstplan meldete, daß jetzt der theoretische Unterricht der Mannschaft beginnen sollte.

Luschinskij mußte also in die Batterie hinab – die fast einem großen, niedrigen Saal, einem breiten und tiefen Gang in einem Theater glich: mit seinen Luken und Klappen und schmalen, schwarzen, eisernen Leitern; mit den runden Decksstützen hier und da; und längs der Bordwand den drei 7,5 cm hochbeinigen Kanonen, die kompliziert dastanden auf ihren massiven, grauen Stahllafetten, Rohr und Verschluß bekleidet mit dem groben Segeltuchbezug – wie sonderbar geformte, noch ungemalte Vorsatzstücke.

Der Wind fuhr leise pfeifend hinein, hin und wieder.

Die Geschäftigkeit aus den anderen Räumen stolperte vorwärts und rückwärts längsdeck, dröhnte plötzlich durch das Deck nach oben.

Luschinskij ging, auf der Unterlippe kauend, mit in die Höhe gezogenen Brauen, ein paar wunderlich unendliche Stunden auf den schmalen Planken auf und nieder und mußte alle diese Esel über die Einrichtung des Geschützes belehren; über den Namen, den Platz und die Anwendung jeder einzelnen Schrauben oder Mutter und jedes einzelnen winzig kleinen Stiftes oder Splints an den Kanonen; über die verschiedenen Sorten von Pulver und über die Arten von Geschossen, die gebraucht wurden. Oder der Unterricht handelte davon, wie die Achselstücke und Ärmelstreifen der Vorgesetzten aussehen; oder wie man jeden einzelnen von den Offiziersgraden anzureden hat, und welche Honneurs ihnen zukommen:

»Ein Kapitän zur See, also –« sagte er und hielt eine Minute in seinem Marsch inne; er starrte umher, die Leute an; sie saßen auf Kisten und Bänken, mit halboffenen Mündern, die Finger der einen Hand in die Turnschuhe hineingebohrt, zwischen Ferse und Hinterkappe; oder sie hatten die Fäuste im Schoß gefaltet, wie Kinder in der Kirche, die Bauernlümmel! Und alle miteinander folgten sie ihm Schritt für Schritt, mit ihren Knabenaugen Wache haltend – um rücklings dem letzten Satz zu lauschen, den er gesagt hatte, falls sein Blick belieben sollte, den Weg bis zu ihnen zu finden.

Peter Romanowitsch wählte stets ein Gesicht, das nicht zuviel Hoffnung auf eine richtige Antwort einflößte; denn einesteils waren zweifelsohne die meisten Gesichter von der Art, so daß es am wenigsten Mühe machte, sie zu finden! Anderenteils war es auch eine bessere Übung für die Leute, jedesmal, wenn verkehrt geantwortet wurde – und endlich war so ein Fehler ja immer eine Veranlassung auszuschelten und auf diese Weise das Herz zu erleichtern:

»Wieviel Streifen hat also ein Kapitän zur See am Ärmel, mein kleiner 47?« fragte er schließlich.

Und wenn 47 verkehrt antwortete – und das tat er ja selbstverständlich immer, der unaussprechliche Quatschkopf! –, so wurde Luschinskij, trotz seiner Grundsätze von dem pädagogischen Wert der verkehrten Beantwortungen, plötzlich ganz dick und heiß im Halse, ohne selbst zu wissen, warum.

»Zum Teufel auch!« schrie er, und sah sich um, den Kopf mit einigen kurzen Rucken im Nacken umdrehend. »Hütet euch wohl! Nehmt euch in acht! Oder ihr sollt, hol mich der Satan, bald etwas ganz anderes zu sehen bekommen auf dieser beschissenen Armada!

Verstanden!?« –

Überhaupt war das Merkwürdige mit ihm vorgegangen, daß gleich von dem Tage an, als er den Fuß an Bord setzte – oder vielleicht schon vor noch längerer Zeit, als die Herren Allwissenden in ihren Schmutzblättern über das Geschwader herfielen: gleich von dem Augenblick an war es ihm erstaunlich leicht geworden, irgendwo in den Lungen oder in der Kehle anzuschwellen und halbwegs zu ersticken. Hin und wieder konnte er, gelinde gesprochen, ohne allen Grund in die Höhe fahren; er raste wie eine Flagellantenepidemie zwischen den Matrosen – und nach einem jeden Anfall wunderte er sich selbst darüber.

Vielleicht waren es nur alle die Hunderte fremden Laute in dem Schiff – dachte er dann – die, bis man sich daran gewöhnt hatte, einem die Nerven böse und explodierend machten: alle diese Stahlklänge, Maschinenseufzer, dies Wellengeklatsche und Schraubengerassel: all dies unbegreifliche Tummeln und Bummeln ringsumher, das sich einem im Kopf anhäufte und damit endete, einen ganz holter die polter zu machen und so feuergefährlich wie eine Rumpelkammer, nicht wahr?

Oder war es möglicherweise alle die Arbeit – und der zu wenige Schlaf?

Oder vielleicht, weil die Gemeinen in dem Maße verwirrt und verschüchtert waren: als sei da irgend etwas an Bord, wodurch sie sich in aller Heimlichkeit beeinträchtigt fühlten?

Oder ... ja, der Teufel mochte wissen, was es war, das ihn so auffahrend machte; denn genügend Zeit, die Sache richtig zu ergründen, fand er selber nie! (Und dafür sei übrigens Gott gedankt! Wie? Hätte ich fast gesagt! Hahaha!). Nein, niemals hatte man auch nur eine einzige Minute zu intimer Benutzung und zu einer Untersuchung der daraus unweigerlich resultierenden, persönlichen Skrupeln! Nie und nimmer! Denn im selben Augenblick, wo die Nachmittagsübung beendet war, mußte man sich beeilen, in die Kammer hinabzukommen, um sich auf den Unterricht des nächsten Tages vorzubereiten. Peter Romanowitsch machte sich Notizen und Entwürfe, zeichnete Pläne und Bilder, spickte seine Taschenbücher mit Bleifederkritzeleien, und das alles, weil in den Archiven des Schiffes so mancherlei fehlte, was den Unterricht und die Belehrung betraf. Oder er mußte den Oberbootsmann Rurik kommen lassen, ihm einen Whisky einschenken und ihm eine Handvoll Zigaretten zustecken, um Aufklärung über alle möglichen maritimen Dinge zu erhalten.

Und immer und ewig war der Schiffer Gregorow, diese veraltete Ameise, im Gange; eiligst die Runde durch das Schiff machend, um den Arbeitseifer anzuspornen. Er stand plötzlich – fast ohne daß man wußte, woher er kam – mitten während des Unterrichts da und lauschte den Worten der Offiziere – beifällig nickend mit seinem langen Gesicht. Dann zog er die Lehrer beiseite, sobald sie ausgeredet hatten.

»Es freut mich! Sie haben eine außerordentlich anschauliche und schöne Art, die Leute zu unterrichten!« rief er laut. »Um so mehr erfreut mich das, als Admiral Roschdjèstwenskij gerade uns Kommandanten ans Herz gelegt hat, die Ausbildung noch stärker zu forcieren!« Dann lächelte er auf einmal und beugte sich näher hinüber, als wolle er andeuten, daß er, weiß Gott, jetzt im Begriff stehe, eine Indiskretion zu begehen aus reiner, purer Dankbarkeit gegen den Leutnant, mit dem er in diesem Augenblick gerade sprach.

»Der Admiral ließ sogar hindurchblicken, kann ich Ihnen anvertrauen, daß er die Absicht habe, sehr häufige Inspektionen auf jedem einzelnen Schiffe vorzunehmen! Vielleicht haben wir ihn an einem der ersten Tage hier bei uns an Bord – möglicherweise schon morgen, nicht wahr? Und im übrigen!« fügte er hinzu, und wurde noch einen Grad indiskreter im Gesicht; er schnürte seinen Mund zu nichts zusammen, zog die Brauen in die Höhe, zeigte gen Norden mit seinen Glacéhandschuhen und nickte, voller Vorbedeutungen in den Augen: »Vergessen Sie nicht: wir wissen nie, wann wir mit dem Feind zusammentreffen werden!

Nicht daß da etwas vorläge; selbstredend ist es wahrscheinlich nichts weiter als Kombüsenklatsch, verstehen Sie, Herr Oberleutnant: diese warnenden Fredensborger Gerüchte von verdächtigen Fahrzeugen, die in der Nordsee gesehen sein sollen. Hahaha! Nach aller menschlichen und strategischen Berechnung: nur unfachmännisches und bürgerliches Gewäsch! Zweifelsohne!

Aber an und für sich, auf der anderen Seite: natürlich soll man keineswegs irgend etwas abschwören, weder Lüge noch Wahrheit – in Kriegszeiten, und namentlich wenn man es mit Japanern zu tun hat! Begreifen Sie? Sogar unser hoher Chef, Seine Exzellenz Herr Admiral Roschdjèstwenskij, scheint ja etwas dergleichen zu glauben – werden Sie wohl bemerkt haben!

Und – auf alle Fälle – vergessen Sie nicht: was man seine Mannschaft gelehrt hat, das kann kein Feind einem je wieder wegnehmen, wie?

Also gilt es noch doppelt so scharf vorzugehen im Dienst!

Oder habe ich nicht unbestreitbar recht?« und dann lachte der Kommandant ganz leise, als triumphiere er nun schon dreifach im Namen seiner Offiziere: erstens über die Bewunderung, die sie sicher dem Admiral bei der Inspizierung abzwingen würden; dann über das fast Tragikomische in diesen freundschaftlichen Quellen, die die ganze Flotte beinahe überrieselten und tränkten mit ihren Geisterschiffen und anderen Holländern – vor lauter Fürsorge und Aufmerksamkeit; und endlich über die ungeheure Niederlage, die das einzige Resultat von einem Angriff der kleinen Nipponeser auf ein so großartig wohleingeübtes und ein so formidabel wohlbelehrtes Geschwader wie dieses bilden würde!

Und danach wanderte Herr Gregorow von dannen – um dasselbe allen den Lehrern, einem nach dem anderen zuzuflüstern, zuzutischeln und zuzuzischeln!

Luschinskij aber stand da und starrte ihm nach – und merkte selbst, daß ihm der Atem plötzlich gleichsam kürzer geworden als sonst: was zum Teufel auch, éhé, dieser Streber, dieser Gregorow, der einem sowohl mit dem Admiral als auch mit den kleinen Gelben drohte! Der Kommandant glaubte wohl, daß er – wenn er nur so recht deutlich tat, als scherze er – seinen Offizieren allen Ernstes alles mögliche aufbinden könne! Wirklich ganz unglaublich: einem so einen Haufen dummer Gerüchte aufzutischen, die sich gleich darauf als naive Vorwände entpuppten, um sie mit noch mehr Dienst, als sie schon im voraus hatten, zu überschütten! Kih! Welche Frechheit!

Oder – – wer konnte es übrigens wissen: sollte es wohl gerade Herrn Gregorows Absicht sein, anzudeuten, daß wirklich etwas daran war mit diesen mystischen Schiffen? Wie? Sowohl in den Zeitungen als auch in der Messe wurde ja schon sowohl das eine wie das andere erzählt! Und nun diese beiden Dampfer, die in den letzten paar Tagen vor dem Geschwader hergefahren waren: und die eine Stahlleine zwischen sich schleppten, um das Fahrwasser von zufälligen Minen zu reinigen, so wie es der Tagesbefehl von gestern so beruhigend erklärte. Jawohl! Sollte man es wirklich erleben, Togos graue Sieges-Armada hier oben in diesen Himmelsstrichen zu begegnen? Schon jetzt? Und mit diesen Leuten, die buchstäblich noch nicht eine Ahnung davon hatten, was es hieß, eine Kanone abzufeuern? Unmöglich, natürlich! Unsinn, das ganze! Selbstredend! Nur Schlauheit von einem Ende zum anderen, sowohl von des Admirals wie von Gregorows Seite: Kriegslist, um alle Welt zu veranlassen, auch ihre allerallerletzten Kräfte in diese verdammte Sparbüchse zu stecken! Heh! Eigentlich eine ganz köstliche Idee! Weiß Gott! Eine glänzende Erdichtung! Wie? Hahaha! ...

Aber noch während Luschinskij dastand, den Kopf im Nacken, und sich herzvoll über dies Stratagem amüsierte – spürte er auf einmal, ohne den Grund davon zu ahnen, wieder dies angeschwollene Gefühl oben im Halse: als sei seine Speiseröhre zu einem Knotentau geworden, an dem eine ganze Menge widerlicher Inwendigkeiten versuchten, durch seinen Mund hinauszugelangen.

Er beeilte sich, mit den Fingern an seinem Kragen zu zerren, rollte mit den Augen, stampfte auf das Deck, gab dem Gemeinen 83 zwei Tage Arrest und schalt dann den ganzen Rest der Mannschaft gründlich aus – um Luft zu bekommen nach außen wie nach innen.


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