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I. Teil. Der Knabe

Ein elfjähriger Knabe schlich sich durch den Garten der Lepida. Der Regen strömte in Güssen auf ihn herab. Der braune Sklavenmantel, der ihm bis auf die Füße reichte, färbte sich auf den Schultern in breiten Flecken dunkel vor Nässe und auf der Brust im Tupfenmuster dunkel vor Tränen.

Das Gebüsch rauschte nah und schaurig, so daß der Knabe vor Angst zu laufen begann. Aber als der Hund Argos im Häuschen des Torwächters zu bellen anhob, erstarrte er vor Schreck und verharrte lange in einem Tümpel hockend, weil er gelesen hatte, daß die Bluthunde im Wasser die Spur verlören. Er haßte den Hund Argos und in ihm alle Hunde der Welt.

Jetzt endlich erreichte er das Palasttor.

Es war hoch und bronzen und alt. Sein mächtiger Riegel lief in Haspen über die ganze Flügelbreite. Der Knabe legte seinen lodenen Mantel um den Griff und zog und zerrte mit aller Kraft an ihm. Er keuchte, seine Zunge trat zwischen den Zähnen vor, seine regennasse, sehr schmutzige Hand glitt ab und er scheuerte sich an einer der gehämmerten Verzierungen die Fingerknöchel blutig. Vor Schmerz und Zorn und Mitleid mit sich selber begann er zu weinen, riß die runde Hand an den Mund und sog das Blut fort.

Seine Stirn, an der die nassen roten Haarsträhnen klebten, sank an die eisige Bronze.

Er wußte nicht, was furchtbarer sei, hier draußen in Nacht und Regen und in des Hundes Argos Bereich noch länger zu verharren oder in sein »Heim« zu Drumio zurückzukehren. Er dachte schluchzend: »Wäre ich doch schon endlich groß, um sterben zu können!« Er dachte: »Paris!« und: »Hunger«.

Es schien Ewigkeiten, seit Paris von ihm gegangen war. Er hatte sich über das Bett des schlaftrunkenen Knaben geneigt, um die Decke am Fußende noch hübsch festzustopfen, und gesagt: »Sei brav, Kleiner. Morgen nachts, wenn du aufwachst, bin ich wieder da.«

Aber die nächste Nacht war gekommen und die tastende Knabenhand hatte nicht an Paris' gestört fortzuckende Schulter gerührt. Drumios trunkenes Schnarchen und die wilde Angst hatten ihn wach gehalten – die alte Angst, daß Paris nicht mehr wiederkehren könnte. Vielleicht sah der Leiter einer Pantomimengruppe seinen Faunentanz und kaufte Paris frei?! – Vielleicht hatte Paris heimlich schon mehr Geld erspart, als er zugab, und konnte sich selber von Lepida freikaufen? – Vielleicht merkte die Hündin Messalina, um wieviel schöner Paris tanzte als ihr Mnester, und nahm ihn zum Geliebten?

Der Knabe vergaß alles um sich her, er warf sich in Verzweiflung stöhnend gegen das bronzene Tor, an das er mit seinen dicken Fäusten hämmerte.

Die Türe zum Wächterhaus flog auf und Lichtschein brach heraus. Der Pförtner hielt die Leuchte in der Rechten, mit der Linken faßte er den knurrenden Hund am Halsband.

»Wer ist denn da?«

»Ich«, sagte eine kleine, erstickte Stimme aus dem Regen.

»Wer ist das: ich?«

»Ich – Domitius!«

»Was machst du denn da? Schau, daß du heimkommst! – Wenn die Tante das erfährt! Wird's bald, oder ich lasse den Argos los!«

»Nein!« schrie das Kind gellend. »Nein!« Es wurde von einem neuen Schrecken emporgeworfen, denn dicht neben ihm dröhnte und, donnerte der Klöppel draußen ans Tor.

Von dem kläffenden Hunde mit fortgerissen, den das anhaltende Pochen rasend zu machen schien, schrie der Pförtner: »Ich komme ja schon, ich komme.«

Der Riegel, den Domitius nicht zu bewegen vermocht hatte, flog zurück.

Im Torbogen stand ein Jüngling, die tropfnassen, langen Locken gelöst, in denen Goldstaub glimmerte.

Der Knabe warf sich ihm mit einem Schrei entgegen; an das durchnäßte griechische Festkleid angeklammert, fragte er: »Warum bist du nicht schon gestern gekommen, Paris? – Paris! Du hast es mir doch versprochen! – Wie ist der Faunentanz geworden, Paris?«

Die Augen zwinkernd, vor all dem Lärm zusammenkneifend, den Mund verzogen, streckte der Jüngling, ohne des Kindes zu achten, die Rechte mit abwärtsgespreiztem Daumen gegen den Pförtner aus. Ein höhnischer Triumph zuckte über sein schönes Gesicht.

»Wer denn schon wieder?« fragte der Pförtner, die Todesgeste gewahrend. »Hat sie schon wieder einen um die Ecke gebracht?«

»So sprich doch zu mir, Paris, ich habe solche Angst gehabt, Paris!« schrie, seinen Arm fassend und schüttelnd, das Kind, schrie gellend, um das Bellen des Hundes zu übertönen.

Paris drängte mit unwilliger Gebärde den kleinen Arm zur Seite. »Nein, diesmal ist sie selber verreckt, die Hündin!« sagte er.

»Was? Die Messalina?« fragte ungläubig der Pförtner.

»Ja, endlich! Narcissus hat sie erschlagen lassen!«

 

Vordem war der niedrige, langgestreckte Saal der Warteraum für fremde Boten – für die Läufer und für die Sänftenträger der Domitier gewesen. Vormittags, wenn der Knabe sehr still auf seinem Lager wach lag – denn Paris brauchte seinen Morgenschlaf –, dann vertrieb er sich die Zeit damit, die plumpen Inschriften zu enträtseln, die, von unzweideutigen Zeichnungen begleitet, die Wände – soweit Männerfäuste zu reichen vermochten – deckten.

Drumio war fort, um die Sklavinnen der Lepida zu frisieren, und wenn Paris erwachte und sich streckte und zwinkernd lachte, dann brachte Dominus ihm die Bohnensuppe ans Bett, die Drumio auf dem Kohlenbecken warmgestellt hatte. Dominus hockte auf Paris' Bett, kichernd erregt und ausgelassen, und sie aßen aus einem Blechnapf.

Später sah Domitius vom Bette aus zu, wie Paris zehn-, fünfzehn-, zwanzigmal seine Übungen wiederholte. Des Tänzers gepreßter, taktmäßiger Atem erfüllte den Raum, während der schöne, schweißbedeckte Körper in schwerster Arbeit die Freiheit und Grazie seiner Geste erzwang. Manchmal fuhr Domitius hüpfend hoch und jubelte: »Jetzt war es aber gut! Jetzt war es schon wunderbar, Paris!«

Dann begann der große Freund keuchend und offenen Mundes blasend, seinen Körper, der ihm Mittel zum Unterhalt und Freibrief für eine bessere Zukunft war, mit Sorgfalt abzureiben, und der Knabe wartete wie ein Hündchen, mit gespitzten Ohren, auf den Pfiff. Und wenn Paris pfiff, fuhr der rosige, nackte Kinderkörper aus den Decken. Angestrengt und glücklich begann der Knabe die Übungen zu proben, die seinen geringen Kräften zustanden. – Da war er geschickt, gelöst, flink und anstellig, und diese Stunden schienen ihm die schönsten des Tages, wie jene, da ein griechischer Sklave der Lepida ihn die Grammatik seiner Sprache lehrte, die scheußlichsten. Mittags kam eine Negerin, die den dreien aus der Küche der Lepida die Hauptmahlzeit brachte. – Es gab keine Speiselager, und sie zogen, während sie aßen, die Füße auf die Sesselleiste hoch, um dem nassen Fetzen auszuweichen, mit dem die Alte aufwischte.

Manchmal ward Domitius zur Dame Lepida befohlen. Er wußte nie, ob er diese Besuche ersehnte oder fürchtete.

Sicherlich haßte er Lepida, weil sie Paris im Sklavenstande festhielt und die Loskaufsumme von zehntausend Sesterzen für ihn festgesetzt hatte. Aber, seiner eigenen Angst eingedenk, begriff er wohl, daß dies nicht aus Geiz geschah, und weil auch Lepida den Tänzer zu verlieren fürchtete, haßte er sie doppelt.

Er biß die Zähne zusammen, wenn Drumio nicht versäumte, ihm nachzurufen: »Arme Verwandte, Klienten und Hunde müssen hübsch aufwarten!«

Und doch war es ein Wohlgefühl, durch Lepidas Säle zu gehen, die reinlich und reich, blumengeschmückt und voll der wächsernen Bilder seiner Ahnen waren. Es gefiel ihm wohl, Sklaven auf den Wink der schönen Lepida herbeieilen zu sehen und ihre Hand an seinem Kinn zu fühlen, deren Finger so zart waren wie Schmetterlingsflügel. Er ward zornig, wenn er Lepida auf ihrem Ruhebett sah, in einem Müßiggang, der zur Beschäftigung erhoben war. Und doch fühlte er den Reiz, der von ihr wie von Kalypso ausging, von ihrem weißen Fleisch, ihren unvertrauten, vollen Brüsten.

Manchmal erledigte Lepida die übernommene Pflicht, sich um den Sohn des verstorbenen Bruders zu kümmern, indem sie Domitius zusehen ließ, während sie Toilette machte. Sie lachte ihr nachsichtiges, gurrendes Lachen, wenn sie den Knaben besessen mit ihren Schminken und Salben hantieren sah, die er rasch und sicher der Schminksklavin darreichte. Sie sagte: »Du hättest eine Frau werden sollen!«, wenn das Kind den arabischen Khol in seine langen Wimpern rieb und Rot auf seine Lippen legte. Manchmal fragte Dame Lepida, im Spiegel – den die Sklavin vor Anstrengung zitternd stundenlang hielt – ihre blendenden Zähne prüfend, über die Schulter hin: »Fehlt es dir an etwas? – Wünschst du dir etwas?«

Dann antwortete Domitius mit dem Satz, den der griechische Sklave ihm mittels Griffelschlägen auf die runden Kinderhände eingeprägt hatte: »Dank deiner Güte mangelt es mir an nichts.« Es fiel ihm nicht ein zu schwatzen, damit die Großen kamen und drüben Ordnung machten. »Der Arme muß still sitzen wie die Maus auf der Trommel«, sagte Drumio. Er bekam nur eine von den fünf Mahlzeiten, weil Lepidas Haushofmeister die anderen »über die Gasse« verkaufte und mit Paris den Erlös teilte.

Er hatte nur dies eine gute Kleid, obgleich er deren jährlich drei bekam, denn auch die anderen Kleider waren zu Geld gemacht worden.

Drumio mußte seinen Wein haben, und »von den kleinen Geschenken der Liebe allein bringt man keine zehntausend zusammen«, pflegte Paris zu sagen.

»Geh jetzt zu deinen Aufgaben!« lächelte Lepida und dann zog sie das schöne Kind in die Arme und küßte es genauso heiß und lange, wie dies mit ihrer mütterlichen Rolle eben noch vereinbar war. – Und von dieser gepflegten und üppigen Frau geküßt, dachte Domitius mit Triumph an die oft beweinte Tatsache, daß sich Paris des Nachts wiederholt wegstahl, um auf den Festen vornehmer Römerinnen zu tanzen, und erst bei Morgengrauen heimkehrte.

Paris saß, krebsig gesotten vom brühheißen Bade, neben der hohen Holzkufe voll gebrauchten Wassers, aus der immer noch der Dampf aufstieg. Er hielt das muskelrunde Tänzerbein gegen den Kufenrand gestemmt, und neben ihm kniete Domitius, bemüht, das Öl in seine feuchte Haut zu reiben. Das immer noch vom Grünspan des Palasttores beschmutzte Kindergesicht glühte vor Eifer. »Fester, fester! Das ist gar nichts!« befahl Paris.

An dem Trinktisch, dessen edle Citrusplatte verbrannt, zersprungen, durch müßige Messerschnitte entstellt war, hockten Drumio und der Pförtner, der herübergekommen war, um den großen Neuigkeiten zu lauschen.

»Du kannst mir erzählen, solang du willst, ich glaube es nun einmal nicht!« sagte Drumio. »Wie kann es denn das geben, daß die Hündin Messalina vor aller Augen mit dem Silius Hochzeit feiert, wenn sie doch schon die Kaiserin des Kaisers Claudius ist?«

»Aber das ist es ja eben, was ihr endlich doch den Hals gebrochen hat!« erklärte Domitius, mit eifrigen Gesten zu ihm gewendet.

»Du salbe mich und mische dich nicht in Dinge, die dich nichts angehen!« verwies Paris. »Wenn ich dir sage, Drumio, daß ich in ihrem Hochzeitsreigen mitgetanzt und sie und Silius mit Weizen beworfen habe. Und nachher waren wir alle Faune und Korybanten, und das Ganze stellte ein Weinlesefest vor, und betrunken waren sie alle! – Den anderen Fuß jetzt! – Da kriecht der Valens auf einmal nur so aus Übermut auf einen Baum –«

»War das der Flavius Valens? Bei dem ist mein Neffe Oberkoch!«

»Zum Henker mit deinem Neffen – nein – der Vettius Valens! Also der kriecht in seinem Leopardenfell auf einen Baum, und die Messalina lachte: ›Was siehst du denn da oben?‹ – schieb uns auch einmal den Krug her, Drumio! – Ruft der herunter: ›Ein furchtbares Unwetter von Ostia her!‹«

»Hat er denn den Claudius wirklich kommen gesehen?« fragte der Pförtner.

Paris zuckte die Achseln, während er trank, dann wischte er mit der Linken über den Mund und fuhr fort, den Nacken unter des Domitius trommelnden Fäusten duckend: »Wie soll ich das wissen? Im nächsten Augenblick stürzt Urbicus herein und ruft genauso pathetisch wie unser Phryxos auf der Bühne: ›Der Kaiser kommt und Narcissus ist mit ihm!‹«

»Was für ein Gesicht sie da wohl geschnitten hat?« kicherte der Pförtner.

»Gar nicht. Die anderen sind wie Ameisen durcheinander gelaufen. Sie hat bloß gesagt: ›Silius, du mußt jetzt aufs Forum, und ich muß mit den Kindern Claudius entgegen!‹«

»Na eben – sie hat gedacht: Husch ins Bettchen, und alles ist wieder gut! Die Hure, die dreckige, die mannstolle!«

»Ja, aber – Kinder, als sie nach Ostia wollte, da gab es keine Wagen mehr und keine Mauleselinnen mit Straußfederbüschen und Klingling – du, Kleiner, bist du zum Maulaffenfeilhalten da oder um mich zu salben?«

»Er gibt sich ja ohnehin soviel Mühe!« legte sich der Pförtner ins Mittel, der dem Knaben, losgelöst vom Hunde Argos, beinahe liebenswert erschien. »Im Theater des Pompejus nähmen sie ihn sofort als Masseurlehrling!«

»Masseur werde ich nicht!« lachte Domitius verächtlich.

»Er hat bei mir gelernt«, sagte Paris. »Er weiß ganz gut, wie man aufzutreten hat und daß man dem Publikum nicht den Rücken wendet und sich nur mit dem eigenen Gewand den Schweiß trocknet – na, mein Kleiner, zeig einmal deinen Hermes! – Da rechts ist dein Auftritt! – Los!«

Der Knabe warf sich in die Geste, wie ein Fisch in die Feuchte zurückschnellt. Nur mehr mit der Spitze des linken Fußes – der geflügelt zu denken war – den Boden berührend, das rechte Bein nach dem Abstoß rückwärtsgestreckt, schien er, den guten Wind nützend, mit gebreiteten Armen zu schweben.

»Da schau dir das an!« staunte der Pförtner bewundernd. »Aber das muß ihn ja anstrengen!«

»So muß ein Mime eine Viertelstunde lang aushalten können!« prahlte Domitius, hochrot und atemlos.

»Schluß jetzt. Marsch ins Bett!« befahl Paris.

Ohne Mucken schlich Domitius zu seinem Lager, begann seine Kleider abzulegen und kroch, schmutzig wie er war, unter die Decke. Paris erhob sich pfeifend und schlenderte, überglitzert vom Licht, das sich in seinem gesalbten Körper fing, zum Winkel hin, wo an Haken kunterbunt seine Kostüme hingen, das Götterkleid neben dem Tierfell des Fauns und dem Königspurpur. Er nahm einen schmutzigen weißen Mantel herab, der ihm als Hauskleid diente, um ihn anzuziehen.

»Also? Was ist denn? Bekomme ich endlich zu hören, wie das war mit der Messalina?«

»Nichts war! Auf der Straße ist sie gestanden mit ihren drei Begleitern, so arm war sie schon, und hat jedem Wagen gewinkt, sie mitzunehmen. Und jeder ist weitergefahren. Endlich hat sie der Gärtner aufsitzen lassen, der eine Fuhre Mist nach Ostia geladen hatte, und da oben ist sie dann gesessen, rechts ein Kind und links ein Kind, und hat geweint!«

»Götter! Eine Kaiserin!« murmelte der Pförtner.

»Gar kein Mitleid! Sollen nur die Großen auch einmal auf dem Mist liegen, damit sie erfahren, wie's schmeckt!« schrie Drumio.

Paris beugte sich über des Knaben Bett, um von dem darüber angebrachten Wandbrett den Brotlaib herabzuholen. »Der Britannicus hat mir gefallen!« sprach er dabei. »Hat die Mutter noch getröstet. Ein netter Junge – Au! Domitius! Bist du toll!?«

Paris riß seine Linke zurück, in die der Knabe mit aller Kraft gebissen hatte. Der Tänzer und das Kind starrten einander mit wütenden Augen an.

»Du Esel!« lachte Paris plötzlich und strich, bei den roten Haaren beginnend, über Stirn und Nase herab schloß das ganze weiche Gesicht in seine Hand ein.

»Die Decke!« forderte Domitius triumphierend. Paris stopfte mit seinen geschickten, starken Händen die Decke an drei Seiten ein.

Das Kind schloß die Augen, der bereite Mund lächelte.

»Schlaf jetzt«, sagte Paris weich und küßte ihn.

Und an den Tisch zurückkehrend, fuhr er anderen Tones fort: »Aber der Narcissus hat sie erst gar nicht zum Kaiser gelassen. Er hat gewußt: jetzt oder nie. Und am Abend haben seine Centurionen sie umgebracht.«

Sie tranken. Nach einer Weile fragte der Pförtner:

»Wie wird denn ihre Tochter, die Octavia?«

Paris warf die üppigen Lippen auf: »Hat ganz die Entenschnabelnase vom Vater.«

»Wird auch eine Hur' werden wie die Mutter!« knurrte Drumio.

»Weißt du, was ich mir jetzt denke?« fragte der Pförtner, seine Stimme zu bedeutsamem Flüstern senkend. »Wenn das alles wahr ist, was du sagst, und die Hündin wirklich hin ist – meinst du nicht, daß dann der Kaiser dem seine Mutter zurückruft?« Er wies mit den Augenbrauen nach dem roten Schopf auf dem Polster.

»Schon möglich«, achselzuckte Paris, mit seiner rechten Hand unter dem offenstehenden, fleckigen Mantel seine Brustmuskeln liebkosend.

»Äh! – und meinst du, daß die ihr Kind dann hier bei der Lepida und bei dir läßt, die Agrippina? Stolz, wie die ist?«

»Na und? Glaubst du, ich reiße mich darum, Kindsmagd zu bleiben? Ich bin zwanzig Jahre alt! Und jetzt, da Mnester so gut wie tot ist, werde ich noch ganz anders mit den Herrschaften reden. Jetzt mache ich die Preise! Ich brauche nur mit Silus nach Korinth zu gehen und –«

Paris wandte den Kopf und sah Domitius aufrecht im Bette sitzen, mit offenem Munde und entsetzensgeweiteten Augen. Der Schemel fiel, als Paris aufsprang.

»Kann man denn keine Minute Ruhe von diesem Balg haben? Schlafen jetzt – oder –« Der rote Kopf verschwand unter der Decke.

 

Narcissus – einst Freigelassener des Kaisers Tiberius, nun Freund und Schatzkanzler des Kaisers Claudius – saß vor seinem Arbeitstisch. Zwischen Stößen von Schreibtafeln und Bergen von Schriftrollen stand schier verschüttet die elfenbeinerne Statuette eines lächelnden Mädchens mit Edelsteinaugen.

Diesen Schreibtisch hatte Claudius in der Kurie »das Ehebett« genannt, »auf dem Pflicht und Staatstreue die Ordnung des Weltreiches zeugten«. Vollkommen gerade in seinem lehnenlosen Sessel sitzend, wirkte Narcissus wie ein Riese und erreichte doch kaum Mittelmaß, wenn er auf zu kurzen Beinen dahinhastete. Sein mächtiger Schädel mit den buschigen Brauen und der kaum noch ergrauten Haarbürste war von unzähligen Bildhauern und Gemmenschneidern wiedergegeben worden, und doch überraschte jeden neuen Audienzsucher die funkelnde, kalte Klugheit dieser Augen, die tiefdröhnende Munterkeit des sehr seltenen Lachens.

Der Schreiber, seit mehr als vierzig Jahren in des Narcissus Dienst, jünger als jener, aber ganz greisenhaft wirkend, entrollte die Akten vor ihm, beschwerte deren Ränder, reichte die frisch eingetauchte Feder zur Unterschrift, siegelte mit dem Staatssiegel das unterzeichnete Pergament. Seine Bewegungen waren durch jahrelange Gewöhnung so taktgemäß wie die eines Sämannes oder Schnitters.

Ein Sklave Ansager, altersweiß auch er, glitt geräuschlos durch die geölte Türe, kam zum Schreiber und hauchte einen Namen.

Des Narcissus kalte, helle Augen warteten, seine emporzuckenden Brauen fragten.

»Der Knabe Domitius«, meldete der Schreiber.

Des Kanzlers zerknitterte, gerötete Lider sanken herab, und der Schreiber dolmetschte: »Der Herr empfängt!«

Dann machte die schmale, stark geäderte Greisenhand eine karge Geste. Der Schreiber rollte die Akten auf, verwahrte sie in Ständer, verbeugte sich und ging zu der Türe, auf der der helle Blick seines Herrn wartend ruhte. Der Schreiber öffnete, ließ den Knaben und den geputzten Pfleger ein und schloß die Türe hinter sich.

»Hier sind wir, Herr!« sagte Paris. Er hatte sein bestes Kleid angelegt, seine viel zu lang gelockten Haare waren im Versuch bürgerlicher Strenge zurückgestrichen. Er gedachte den alten Dachs mit seinem bewährten Lächeln eines netten Jungen zu nehmen. Die scharfen, alten Augen sahen ihn an, sahen durch ihn hindurch. Narcissus registrierte ohne jedes Vorurteil, wie er war und daß man ihn also nicht brauchen konnte, ganz wie er es vorher angenommen hatte.

»Was sieht er ihn so an? Paris gefällt ihm nicht. Alter Esel!« dachte Domitius und erschrak, denn ihm schien, als hallten seine Gedanken laut in dem stillen Raum.

Narcissus sagte mit seiner tiefen Stimme, die noch immer im Dialekt sprach: » Du wartest draußen. Mein Schreiber hat mit dir zu reden.«

Narcissus sah interessiert zu, wie Paris in der großen Verbeugung des »Königsboten« zusammensank. Als der Knabe ihm nachhasten wollte, sagte der Baß: » Du bleibst!«

Der Kanzler prüfte dieses amorettenschöne, blasse, erregte Kindergesicht und dachte: »Wie er Agrippina gleicht! – Die Sommersprossen und das Haar hat er von seinem Vater, diesem Schandkerl, dem Domitius Ahenobarbus. Dumm scheint er nicht zu sein. – Aber er sucht sich über die Menschen, so jung er ist, nur für eigene Zwecke klar zu werden, nicht aus Interesse an ihnen, wie unser Britannicus. – ›Aus wildem Samen gezeugt, von maßlosem Schöße geboren.‹ – Es war ein Fehler meines Hasses oder vielleicht auch meines Zeitmangels, ihn diese vier Jahre hindurch einer Frau wie Lepida zu überlassen. Jetzt werden wir mit diesem Enkel des Germanicus zu rechnen haben!«

Der Baß, der wie aus Erdentiefen kam, fragte überraschend: »Willst du ein Staatsmann werden oder ein Krieger?«

Und ebenso überraschend kam des Kindes Antwort: »Ein Mime!«

Die buschigen Brauen zuckten hoch: »Was?! Wie dieser Mnester?« Narcissus sah Claudius und sich selber zu Gericht sitzen. Silius, dem schönsten Patrizier von Rom, war das Todesurteil gesprochen worden und dem Vater des Silius und dem Proculus, der Trauzeuge bei Messalinas wahnwitziger Hochzeit zu Lebzeiten des ersten Gatten gewesen war. Das beste Blut von Rom war vergossen worden, nur der Mime Mnester hatte Aufenthalt verursacht, indem er um sein Leben bettelte. Er hatte sein Gewand zerrissen, um die Striemen der Geißelhiebe zu weisen, mit denen Messalina ihn hatte züchtigen lassen, als er gewagt hatte, sich ihrer Lust zu weigern. Claudius hatte ihm schon das Leben schenken wollen, als er, Narcissus, angeekelt von der Lebensgier dieses am Boden kriechenden Wurmes, den Kaiser gefragt hatte, ob ein Mime frei ausgehen sollte, wenn die Blüte des römischen Adels das gleiche Verbrechen mit ihrem Blute büße.

Die tiefe Stimme fragte nochmals voll Verachtung: »Solch ein Tänzer?«

Domitius schwieg.

Des Narcissus Hand, viel greisenhafter als das Gesicht, schob vorsichtig die Papierberge fort, die die Statue des lächelnden Mädchens zu verschütten drohten. Er sagte unzufrieden und zufrieden in einem: »Neulich habe ich Britannicus gefragt. Und obgleich er so viel jünger ist als du, hat er geantwortet: ›Cäsar!‹«

Der Knabe dachte: »Jetzt bin ich im Vorteil!« und antwortete schnell: »Ihm steht dies zu. Er ist Casars Erbe.«

Die buschigen Augenbrauen zuckten. »Nein. Du bist nicht dumm.« Narcissus sah scharf in diese blanken Kinderaugen. Dann dachte er müde: »Wer vermag Jugend zu enträtseln? Wer mag es wagen zu prophezeien?«

Er sagte: »Gehe jetzt. Man wird dich baden und kleiden. In zwei Stunden siehst du deine Mutter wieder.«

Über das kleine Gesicht flog ein Zucken. Narcissus erriet nicht, ob von Schrecken, ob von Freude. »Ja, aber Paris muß mitkommen!« stammelte das Kind.

»Liebt er den Kerl von vorhin mehr als die Mutter?« überlegte Narcissus.

Ein Sklave öffnete geräuschlos die Schiebetür. Domitius tat eine Bewegung, als wolle er Paris, den er draußen warten sah, entgegenstürmen. Aber er bezwang sich, kam zum Tisch zurück, verbeugte sich mit überraschender Grazie und sagte mit einem süßen Lächeln und seinem süßesten Stimmchen dem Manne, von dem Paris gesagt hatte, wie wichtig er für ihn sein könne: »Ich danke dir von Herzen, Narcissus.«

Als er gegangen war, trat der Schreiber lautlos ein. Er sah seinen Herrn vor der Statuette sitzen, die er zu sich herangezogen hatte, den Blick fragend auf das lächelnde Gesichtchen und die Edelsteinaugen seines einzigen Kindes gerichtet. Narcissus hatte geträumt, ihr die Erde zu einem Rosengarten zu machen, und man hatte sie mit sechzehn Jahren an ihrem Gürtelbande erhängt gefunden, ohne eine andere Auflösung des Rätsels als das Täfelchen in ihrem Busen mit den Worten: »Vater, gönn es mir!«

 

Der Namenansager in festlicher Toga stieß den Goldstab auf den Estrich und kündigte an: »Julia Agrippina, die Tochter des Germanicus!«

Der große, hagere Mann mit den klugen dunklen Augen und dem häßlichen üppigen Mund, der Claudius, Cäsar von Rom, war, erhob sich hastig von seinem Thronsessel und stolperte fast über eine Falte des Teppichpurpurs, als er die erste der sechs Stufen hinabstieg, seine Nichte zu grüßen.

Die Prätorianerwache zur Rechten und Linken des Thrones trat klirrend in Salut.

Domitius hatte die linke Hand fest auf den dummen Fleck in dem neuen Kleide gedrückt. Auf den Zehenspitzen sich reckend, fühlte er sein Herz bis in den Hals schlagen.

Das also war seine Mutter. – Mit Stolz, mit Triumph erkannte er, daß sie schöner und fürstlicher schien als alle anderen Herrinnen im Saale.

Agrippina kam aufrecht und ohne Hast über den Purpurstreif geschritten. Sie hielt den kleinen Kopf hoch, das starke runde Kinn vorgestreckt, die Nüstern ihrer schmalen, stolzen Nase bebten. Ihre großen dunklen Augen strahlten, ein Lächeln voll Triumph lag um den rotgeschminkten Mund. – Sie stieg die Stufen empor – »anders als ihr kurzsichtiger Sohn!« dachte Domitius –, ohne einen Augenblick hinzusehen, wohin sie trat. Der feinstgefältelte Wollstoff ihres weißen Gewandes staute sich weit um sie, als sie sich neigte. Wie Venus aus dem Schaum der Brandung, so leicht hob sie sich, sprach allen hörbar und bewegt zugleich: »Oheim Claudius!« Sie schmiegte ihr Gesicht an den langen Hals des Kaisers, der sie, zu Tränen gerührt, küßte, während seine verlegene Hand ihre schöne entblößte Schulter tätschelte.

Narcissus, der auf zu kurzen Beinen hinter ihm stand, zeigte ein völlig unbewegtes Gesicht, aber die Höflinge und Minister schienen die Sekunden dieser langen Umarmung zu zählen. Die Freigelassenen des Kaisers verharrten wie ein griechischer Chor in ihren Gesten der Anteilnahme.

Domitius hatte bei Paris gelernt, daß es das größte Vergehen eines Künstlers sei, die Zuschauer durch übermäßiges Verbleiben in der gleichen Stellung zu langweilen. Aber just zur rechten Zeit löste sich Agrippina, schien Tränen von ihren herrlich lebendigen Augen fortzuwischen und fragte: »Wo sind die Kinder?«

Domitius begriff sogleich, daß sie nicht nur nach ihm allein gefragt hatte, und es tat ihm weh. Er sah nach Octavia, die mit ihrer braven Klein-Mädchen-Zopffrisur neben ihm stand, ernst, langnäsig und traurig, und Britannicus, der wie ein Schelm lachte, und er schämte sich vor ihnen beiden, vor allen Leuten im ganzen Saal, die zusahen, wie er seine Mutter nach vier Jahren begrüßte.

Aber im nächsten Augenblick roch er taumelnd die Narzissen von Cumä, Mutters Parfüm. – Ja, ja – das war Mutter. Das war ihre Hand, so war es, von Mutter ans Herz geschlossen zu werden – ganz anders als von Tante Lepida! – So war es, wenn Mutter einen küßte! – Glücklich, aufgelöst warf er die kleinen Arme um sie und hörte ihr scharfes Flüstern: »Natürlich wieder in einem fleckigen Kleid beim Empfang! Hast du nicht achtgeben können?!«

»Ja – was – was? Was habe ich denn schon wieder gemacht?« dachte das Kind und sah geneigten Hauptes vor sich hin, als lägen die Scherben seiner zerbrochenen Freude ihm zu Füßen.

Agrippina hob Britannicus auf ihren Arm, obgleich er mit seinen acht Jahren schon viel zu groß dazu war, küßte ihn und lachte. Britannicus glich Messalina Zug um Zug, er hatte ihre beim Lachen halb geschlossenen dicken Augenlider, ihre Wangengrübchen, ihre ganze leichtsinnige Grazie.

Claudius sah das Haupt der schönen Frau von siebenundzwanzig Jahren neben dem seines Kindes, und sein gutes, langes, häßliches Gesicht strahlte. Dann zog Agrippina die ernste Octavia an sich und zwang Domitius durch einen Ruck an seinen Gewandfalten mit in die Gruppe.

»Oheim!« sagte die tragende, schwingende, zauberhaft dunkle Stimme, »wie schön ist es, wieder daheim zu sein!«

Domitius streckte behutsam seine runde Hand aus und kniff Octavia neben sich mit aller Macht in ihren bloßen dünnen Arm. Im nächsten Augenblick erschrak er furchtbar, denn nun würde sie wie eine Gans losgackern, und Mutters Zorn kam siedend über ihn.

Aber Octavia gackerte nicht los, sie sah ihn nur aus ihren schwarzen, eng beieinanderstehenden Augen an, als wollte sie sagen: »Sollen wir einander auch noch quälen!«

Domitius sah weg, wurde rot und haßte sie und ihre lange Nase schrecklich.

Eine fremde Hand legte sich auf seine Schulter. »Wie du deiner Mutter gleichst!« sagte eine Männerstimme.

Domitius sah unsicher zu dem großen Mann auf. Sein offener Mund zuckte nervös in die Breite, als er den klaren Augen begegnete.

»Deine Mutter wünscht, daß wir beide Freunde werden, mein Domitius!« sagte die Stimme, und ihr werbender Tonfall machte den Knaben mißtrauisch und voll Nichtachtung. Paris hielt es nie für nötig, um ihn zu werben. Er sagte: »So und so!«, und man hatte es zu tun.

»Ich heiße Seneca«, sagte der Mann.

»Seneca!« Domitius entsann sich des Namens sehr wohl. Paris hatte davon gesprochen, daß Seneca Mutters Verbannung teilte. Damals hatte Paris dazu gelächelt, und was Paris' Lächeln bedeutete, ahnte Domitius. Er stand da und sah verstockt seinem Fuße in der Sandale zu, der sich auf dem Platze hin und her bewegte.

»Ich habe dir eine kleine lebende Schildkröte mitgebracht«, sagte Senecas Stimme. Eine Rednerstimme, voll, weich und angenehm. Domitius gab viel auf Männerstimmen. »Und eine kleine griechische Kythara.«

Des Knaben Blick flog auf. »Eine echte Kythara?« Was würde Paris sagen, wenn er ihn nun richtig als Kytharöde begleiten konnte? »Eine, auf der man richtig spielen kann?«

Der Mann lächelte: »Kannst du denn richtig spielen?«

»Nein!«

»Du sollst es lernen. Du sollst viele neue und nützliche Dinge lernen!« Seneca streckte eine große, feste Männerhand aus. »Nun, Domitius? Wollen wir also Freunde werden?«

Domitius ließ die Falte mit dem Fleck los und legte beide Hände in die große Hand.

»Nie beide Hände auf einmal! Hüte dich, zu viel darf man von sich nicht geben!«

Ein Höfling kam, flüsternd geneigt, und Seneca lächelte dem Knaben noch zu, ehe er dem Kämmerer des Kaisers folgte.

Domitius sah Seneca bei Kaiser Claudius stehen, der ihm mit großen Gesten etwas zu erklären schien. »Der Kaiser sieht aus wie ein Philosoph und der Philosoph wie ein Kaiser«, dachte der Knabe.

Er war müde und verzog den Mund zum Gähnen. Da traf ihn der Mutter herüberblitzender Blick, und er entsann sich, daß Paris ihn gelehrt hatte, man dürfe vor der Menge niemals eingestehen, daß man müde sei. – Paris. – Sicherlich saß er irgendwo und fluchte saftige Flüche, weil er, Domitius, schon so lange nicht kam. Wenn Mutter nicht hersah, konnte man sich vielleicht bis zur Türe stehlen, obgleich man Angst vor den Prätorianern zu beiden Seiten hatte – aber die würden sich wohl nur um Erwachsene kümmern.

»Herr!« sagte jemand neben dem Knaben, der, nach Agrippina spähend, nun ernstlich die Flucht erwog, und nochmals: »Herrchen!«

Domitius sah sich um, als er das Zupfen an seinem Kleide fühlte, und begriff voll Erstaunen, daß die Anrede ihm galt. »Mir ist befohlen, dich in deine Gemächer zu führen«, flüsterte der Sklave mit Ehrfurcht.

Domitius suchte Mutters Blick, aber sie sprach eben mit des Kaisers Staatsminister Pallas und schien nichts auf der Welt zu sehen als diesen.

Domitius wandte sich zu Octavia, zeigte ihr rasch in einer Grimasse die Zunge und ging dem Sklaven nach.

»Wenn du mir nur den Weg bis zum Tor zeigst nach Hause finde ich dann schon«, sagte er vertraulich zum Sklaven in der weißen kaiserlichen Haustracht, aber der gab keine Antwort.

Gänge. Säle. Hallen. Fackeln. Marmor. Prätorianer. Höflinge. Eilende Sklaven. Neue Gänge.

»Was wird Paris zu all dem sagen? Hoffentlich hat er auch neue Kleider bekommen! – Hoffentlich können wir morgen den dreckigen Fleck da herausbringen, damit Mutter nicht mehr schilt! Ich bin müde. – Wenn ich nur nicht heute noch üben muß! – Ach, die Decke gut festgestopft bekommen und schlafen – schlafen –«

Der Sklave hielt plötzlich an, als seien sie zur Stelle, und öffnete, sich verbeugend, eine Tür vor Domitius. Ein Empfangssaal. Säulen. Vasen. Götterbilder. Sklaven. Blumen. Ströme von Licht. Aber wo war Paris?

Da war noch eine Türe, bemalt mit Göttern und Genien – er lief auf sie zu. Ein anderer Sklave sprang vor und riß sie vor ihm auf.

Ein Speisesaal. Mischkrüge – waren sie aus Gold? Silberlager, Tafeln, Blumen, neue Sklaven. Oh! Dort war Paris! Er warf sich im Ansturm vor und rief ihn an. Ein fremder Bursche, der sich wendete, ein fremdes, leeres, verfluchtes Gesicht! – Domitius hielt doppelt verwirrt inne, mit seinen Füßen scharrend, weil er meinte, in weggeworfene Speisereste getreten zu sein, und bemerkte nun erst, daß ihn das kunstvolle Mosaik des Estrichs getäuscht hatte. Er fühlte sich genarrt, er fühlte sich fremd, die alte Angst des Verlierens stieg siedend in ihm auf – er schrie: »Paris!« und meinte erlöst das gewohnte, trag gezogene »Ja!« der Antwort hinter der nächsten Türe zu hören. In eifersüchtiger Hast klinkte er sie selber auf.

Ein Schlafgemach, oh! Ein einziges breites Bett!

Aber es war leer! Wo war er? Wo war Paris?

Er hastete weiter wie in bösem Traum.

Nicht im Bad! – Nicht in der Dampfkammer! – Nicht im Kaltstrahlsaal! – Nicht im Saal der Turngeräte! – Nicht im Fechtsaal! – Nicht im Ruhesaal! – Nicht in der Bibliothek!

»Paris! Paris!«

Türen. Türen. Immer noch eine Tür!

Prätorianer! Gekreuzte Lanzen! »Kein Durchlaß. Befehl des Kaisers!«

Des Kaisers? Was geht er den Kaiser an? Was der Kaiser ihn? – »Zurück!«

Von der zögernd wieder geschlossenen Türe her, von der er sich nicht trennen kann, lachen die gemalten Putten ihn kichernd aus. – Aus allen Spiegeln stiert ihn ein weißes Gesicht mit verzweifelten, wahnsinnigen Knabenaugen an. »Paris! – Paris! – Wo bist du, Paris?«

Ein alter Sklave murmelt mitleidig: »Wir wissen es nicht, Herrchen!« Da ist es Domitius, als könnte er dies Mitleid um nichts in der Welt ertragen – um nichts in der Welt die Runzeln, die Zahnlücken, das Alter in diesem Sklavengesicht – das da ist, da! –, und des Paris einzigstes, angebetetes Gesicht ist fort, ist ihm weggefoppt worden, und die Mutter meint ihn mit Blumen und Goldkrügen und Schriften und Marmorbädern zu bestechen? Er ballt seine runden Fäuste und schlägt sich vor die Brust wie Paris, als er Ceres mimte, die um Proserpina klagt. Er rennt, schluchzt, stolpert, fällt – schreiend vor Weinen – aufs Gesicht, wird aufgehoben, kratzt und beißt und stößt um sich – rote Nebel sieden vor seinen Augen. Er stolpert bis zum großen Bett ohne Paris – wirft sich hinein, brüllt, schluchzt – schlägt um sich. Es tut schamlos wohl, sich so loszulassen. Paris, oh! Paris.

Plötzlich spricht eine Stimme, eine süße, tränenvolle Stimme tröstet: »Weine nicht so, Domitius! Ich muß sonst mitweinen, mein Herz, mein kleiner Junge – so höre doch!«

»Paris! Paris!«

Mitten im Schluchzen reißt er sich auf. Ist das die Mutter, die spricht?

Aber es ist nicht die Mutter. Ein fremdes, breites, gutes Gesicht. Bloß eine Sklavin. Und er wirft sich in seinen hemmungslosen Jammer zurück.

»Schau, Domitius, Paris ist fort –!«

Ein Schrei des Entsetzens. – Die Kinderlippen zittern, das ganze Kinn zittert, die Augen starren wild, er sagt fast drohend: »Die Mutter hat ihn fortgeschickt!?«

»Nicht die Mutter –«, antwortet die Frau überstürzt. »Er hat – er ist –«

Domitius glaubt zu verstehen. »Er ist freigekauft worden?«

Sie nickt hastig.

»Oh! Von Silus?! Dann geht er sicher nach Korinth?«

»Nach meiner Heimat! Der Glückliche!« sagt die süße Stimme. Weiche Hände kühlen seine verschwollenen Augen, weiche Lippen küssen sein tränennasses, rotglühendes Gesicht.

»Und wird er wiederkommen? Hat er gesagt, wann er wiederkommt?«

Die Hände betten ihn, schmeicheln das zerdrückte Kleid von seinem Körper, die schweren Schuhe von seinen Füßen. Die Frau zieht die Decke über ihn – wie sonderbar, sie beginnt sie am Fußende einzustopfen. Und da er, von Erinnerung überwältigt, in neue Tränen ausbricht, lügt sie barmherzig weiter: »Er hat gesagt, daß er in einem Jahr wiederkommt, wenn du gelernt hast, was du wissen mußt, um deines Großvaters würdig zu werden!«

»Das hat Paris gesagt? Das hat er nicht gesagt!«

»Nicht in diesen Worten vielleicht –«, gibt sie zu, »aber es war der Sinn!« Neues Schluchzen.

»Ist er fort und hat mir nicht einmal einen Gruß geschickt? Oh! Oh!«

Die Hand drängt ihn sanft zurück. »Er hat mir gesagt – ›Akte‹ – hat er gesagt –«

»Akte? Das ist schön!«

»Ja, so heiße ich, mein Liebling. ›Akte, sage dem Domitius –‹«

»Das ist gelogen! Das sagt er nicht! – ›Domitius‹ hat er nicht gesagt!«

»Wie denn? Warte – es wird mir gleich einfallen!«

Das Kindergesicht verzerrt sich ungeduldig, unter stürzenden Tränen murmelt er: »Mein Kleiner«.

»Ja! So sagte er! ›Sage meinem Kleinen, daß ich ihm mein ganzes Herz sende!‹«

»Sein Herz?« fragt das Kind erschöpft zum Sterben und lächelt ein wenig.

Akte, die Freigelassene, die mit Agrippina aus der Verbannung zurückgekehrt ist, kniet neben dem Lager. Sie hat längst die Lichter löschen lassen, längst die Sklaven fortgewiesen. Sie kniet, sie hält die fiebrige runde Hand und summt eine traurige, wortlose Weise, ein paar arme Takte, endlos wiederholend, endlos wiederkehrend wie das Meer, wie das Leid im Leben. Die Nachtlampe brennt knisternd, und sie kann sich nicht satt sehen an diesem leidenschaftlichen Kindergesicht.


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