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2.

Einige Zeit nach Hadems Abreise brachte der Buchbinder Ernsten eine Anzahl Bücher. Als Ernst sie in Empfang nahm, fand er vier französische Bände, die er ihm nicht gegeben hatte. Er gab sie dem Buchbinder zurück und sagte ihm: diese Bücher gehören vermuthlich einem Andern zu. Der Mann erklärte ihm: Herr Hadem habe sie ihm Donnerstag Abends gebracht und ihm anbefohlen, sie seinem Zögling Ernst von Falkenburg mit den andern zu übergeben.

Es war der Tag der Abreise Hadems, und Freude floß aus Ernstens Herzen nach seinen Wangen, in seine Augen. Er drückte die Bücher an seine Brust; und als ihm der Mann sagte: Herr Hadem habe auf die Gegenseite des Titels vor dem ersten Bande etwas geschrieben, eröffnete er ihn schnell. Er erkannte Hadems Hand und küßte die Schriftzüge. Dann trat er auf die Seite und las leise:

»Der Jüngling, der keinen Führer hat, wähle diesen. Er wird ihn sicher durch das Labyrinth des Lebens leiten, ihn mit Stärke ausrüsten, den Kampf mit dem Schicksal und den Menschen zu bestehen. Diese Bücher sind unter der Eingebung der lautersten Tugend, der reinsten Wahrheit geschrieben; sie enthalten eine neue Offenbarung der Natur, die ihrem Liebling ihre heiligsten Geheimnisse zu einer Zeit entschleierte, da die Menschen sie bis auf die Ahnung verloren zu haben schienen.«

»Du siehst, Ferdinand,« rief Ernst entzückt, »daß Hadem uns nicht verlassen hat, daß er uns nicht verlassen konnte. In diesem Buche muß sein Geist leben, und er wird zu mir reden, ich werde ihn wieder hören.«

Er schlug den Titel um und las: Emil.

Es war das erste Buch unsers Jahrhunderts, das erste Buch der neuern Zeit. Der Mann, der es schrieb, faßte den erhabenen Gedanken, – die durch Ueppigkeit, Selbstigkeit, Witz, überfeinerte Ausbildung, durch eine Philosophie voller Sophismen, eine Alles zerstörende, sich selbst dadurch endlich auflösende Regierung – erwürgte moralische Kraft in seinen Zeitgenossen wieder aufzuwecken. Dieses that er so wahr und kühn, als er es fühlte, und mit der Stärke der Beredsamkeit, deren nur Derjenige fähig ist, in dessen Brust und Geist diese moralische Kraft in ihrer ganzen Fülle wohnt. So tief, wie er, sah Keiner die Gebrechen der Gesellschaft; so tief, wie er, fühlte Keiner, daß wahre Menschen in derselben keine Stelle mehr finden können, auf welcher sie es ohne Gefahr verbleiben dürfen. Sein scharfes Auge, sein forschender Geist, sein zartes, verwundetes Herz entdeckten die Wurzeln des Uebels; und mit kühner Hand riß der Begeisterte die sich im Dunkel windenden Gänge auf, in denen sie vergraben lagen, und verjagte die Gespenster, welche Stolz, Wahn, Eigenliebe und Gewalt zu ihren schreckenden Wächtern bestellt hatten. Offen legte er das Gift dar, welches das Edle und Wahre im Menschen zernagt, und nichts konnte ihn bestechen, nichts ihn zurückhalten. Je mächtiger, je glänzender, je höher Diejenigen dastanden, welche dieses Gift erzeugten und unterhielten, desto schonungsloser, desto kühner griff er sie an. In weissagendem Geiste sagte er den Vergiftern, was ihnen bevorstände, und wie eben das Gift, das sie ausstreuten, am Ende sie selbst verzehren würde. Sie verschlossen ihm ihre Ohren. Er empfing von seinen Zeitgenossen den Lohn, der Jeden erwartet, welcher den Menschen die Wahrheit sagt; aber eben dadurch legten sie bei der Nachwelt ein Zeugniß ab, daß er der einzige Mann seines verderbten Zeitalters war, der ihnen den Spiegel der Wahrheit treu vorhielt und sie vor dem Abgrunde warnte, den sie in ihrem Taumel und Wahn selbst aufgruben.

Nach vielen Leiden und Verfolgungen ist er in das Land zurückgekehrt, in welchem er hier im Geiste wohnte: in das idealische Land, über welches der Witzling spottet, an das der Eigennützige nicht glaubt und dessen Ahnung, dessen Anerkennen unsern Ursprung und unsre Bestimmung allein beweisen. Und trügen uns die schnellen Flügel des Geistes nicht dahin, wenn der Druck der Gewalt, das Hohnlachen der Spötter, das Schauspiel der Thorheit und Bosheit uns drängt, verfolgt und empört – wo sollten wir Zuflucht vor ihnen finden? wie die marternden Zweifel, die bittern Empfindungen, die aufrührerischen Gedanken heilen?

In jenem Lande ist unsre Zuflucht, dieser Mann sprengte die goldnen Pforten unsers Vaterlandes auf, und vor dem Eingange rollte die Finsterniß weg, welche die Menschen davor gezogen hatten.

Ernst verschloß die Bücher sorgfältig und sagte in seinem Herzen: »Da du mir von Hadem geschenkt bist, so wirst du in diesem Hause nicht willkommen sein; du sollst mich ja lehren, woran sie nicht zu glauben scheinen. Ich verschließe dich vor meinem Oheim und Jedem, wie ich ihnen meine Brust verschließe. In der Nacht will ich dich öffnen und den Geist aus dir hervorrufen, der den Mann beseelte, welcher dich der Welt gegeben hat.«

Da Ernst in dem Französischen noch nicht sehr stark war, so enthüllte er mit vieler Mühe die ersten Worte dieses Buches: sie sind gleichsam die Inschrift an diesem Tempel der Natur, den ihr Liebling dem Menschengeschlecht wieder geöffnet hat.

»Alles ist gut, wie es aus den Händen des Urhebers der Dinge kommt; Alles artet unter den Händen des Menschen aus. Er zwingt ein Land, die Erzeugnisse des andern zu nähren, einen Baum, die Früchte des andern zu tragen. Er vermischt und verwirrt die Himmelsstriche, die Elemente, die Jahrszeiten, verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seinen Sklaven; er verkehrt, entstellt Alles; er liebt die Mißgestalten, die Ungeheuer und will nichts, wie die Natur es gemacht hat, selbst den Menschen nicht: man muß ihn für ihn zurichten, wie ein Schulpferd, ihn nach seiner Weise biegen, wie den Baum seines Gartens.« Emil, 1. B.

Kaum hatte Ernst den Sinn dieser Worte gefaßt, als ihm ein lauter Schrei entfuhr, der Ferdinand aus dem Schlafe weckte. Er beruhigte diesen und legte sich dann in das Fenster. Seine Brust dehnte sich aus, seine Augen durchflogen den gestirnten Himmel vom Niedergang zum Aufgang:

»Also ist sie nur des Menschen Werk, diese Verzerrung, diese Ungestalt, dieser Mißklang mit mir! Und du bist, bist ganz, wie ich dich dachte, fühlte und sah! Diese Worte sagen mir es deutlich; ihr Sinn durchbebte meine Seele, und aus dem Zittern entsprang ein Lichtstrahl des Himmels. Die Menschen konnten ihre Bestimmung nur dadurch aus den Augen verlieren, daß sie das schönste, erhabenste Werk der Schöpfung in sich und den Gegenständen um sich her verunstalteten, verstümmelten und zerstörten. Und wie sie dieses bewirkten, wodurch sie so unglücklich wurden, und wie sie glücklich werden können: Das soll mich dieser dein Priester lehren, heilige Natur! Schon stehe ich vor den Geheimnissen: der Vorhang ist aufgezogen, und der Geist meines Hadems steht mir zur Seite.«

Mit eben der Anstrengung und Heftigkeit, mit welcher ein Durstiger in der Wüste Afrika's arbeitet, den feuchten Boden auszusprengen, unter dem er eine Quelle wittert, sein kochendes Blut zu erfrischen, arbeitete Ernst an der Enthüllung der Worte, welche die Gedanken und Empfindungen verschleierten, von denen er die Ruhe seiner Seele erwartete. Er stand vor dem Buche, wie der Unglückliche vor der begeisterten Priesterin zu Delphos, die ihm von ihrem Dreifuß einen Rath ertheilt, dessen Sinn er nicht ganz begreift. Seine beschränkte Kenntniß dieser Sprache reichte nicht hin, den Mann zu fassen, der so viel mit wenigen Worten sagt. Auch wagte er es nicht, eine Zeile zu verlassen, deren Sinn er nicht hell begriffen hatte, aus Furcht, seinen neuen Führer zu mißdeuten. Ueber seiner Anstrengung ging die Sonne auf: er überblickte den erworbenen Gewinn neuer Ideen und Gefühle, verschloß seinen Priester der Natur, wie er ihn nannte, und freuete sich auf die nächtliche Zusammenkunft mit ihm.


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