Egon Erwin Kisch
Geschichten aus sieben Ghettos
Egon Erwin Kisch

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Lobing, pensionierter Redakteur

Lobing, pensionierter Redakteur – erführe der alte Lobing, daß sich diese drei Worte auf ihn beziehen, er würde ihnen ein geharnischtes Dementi entgegensetzen: Weder heiße er Lobing, noch sei er pensionierter Redakteur. Eine solche Erklärung von seiner Seite müßte als authentisch und unanfechtbar gelten; denn jeder weiß doch selbst am besten, wie er heißt und welchen Beruf er hat.

Nur gerade für Lobing, den pensionierten Redakteur, stimmt das nicht. Er weiß wirklich nicht, daß er Lobing heißt und ein pensionierter Redakteur ist.

Es war auch nicht immer so. Mehr als vierzig Jahre lang war er ein aktiver Redakteur und hieß Löwi, an mehr als vierzigmal dreihundertfünfundsechzig Abenden behandelte er je eine Nachricht oder einen Standpunkt oder eine Forderung teils mit Empörung, teils mit Belehrung, teils mit Verehrung, bis alles zusammen genau zwei Spalten à hundert Zeilen lang war und sich an der Spitze des Blattes sehen lassen konnte. Im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts haben sich alle wichtigen und viele unwichtige Vorgänge die Behandlung durch den Redakteur Löwi gefallen lassen müssen. In jedem seiner Leitartikel loderte die dem Abonnentenstamm bekömmliche Erregung über das Verhalten dieses oder jenes Staatswesens auf, der Leser am Frühstückstisch oder sonstwo mußte ihn mit dem langsamen Kopfschütteln der Anerkennung zu sich nehmen und dazu brummen: »Der gibt es ihnen heute ganz schön!«

Löwi war streng und gerecht. Wohl züchtigte er seinen jeweiligen Gegner, aber er ließ es dabei an wohlmeinenden Ratschlägen nicht fehlen, und diese wurden in einer so würdigen, ja feierlichen Sprache vorgebracht, daß die europäerfeindlichen Mandarine der chinesischen Kaiserin oder der französische General Mac-Mahon oder die Projektanten des Suezkanals das häufig die zweihundertste Zeile abschließende »Caveant consules« sicherlich beherzigt hätten, würden sie den betreffenden Leitartikel Löwis gelesen haben.

Sie haben ihn nicht gelesen und haben sich die Folgen selbst zuzuschreiben. Davon abgesehen sind sie um ästhetische Genüsse gekommen, denn Löwi verstand es wie kein zweiter, eine einfache Behauptung mit Schwung und Wucht und Hohn hinzuschleudern. »Wahrlich nimmermehr«, weissagte seine scharfe Feder am Tage vor der Schlacht bei Königgrätz, »wahrlich nimmermehr werden es die feigen Horden des in unauflöslichem Verfall begriffenen Preußenvolkes wagen, die jämmerlich gestammelten Drohungen des törichten Gernegroß Bismarck wahr zu machen und ihre rostigen Waffen zu erheben versuchen gegen die siegesgestählte, glorreiche Monarchie, deren vom hehren Geiste Vater Radetzkys durchpulstes Heer der wilhelminischen Soldateska fürwahr alsbald ein zweites Cumae bereiten würde . . .«

Solches und ähnliches verkündete Löwi vierzigmal jahrein, vierzigmal jahraus. Wenn er zu diesem Behufe von der neunten bis zur zwölften Nachtstunde an seinem Schreibtisch saß, durfte es niemand wagen, auch nur ein Wort an ihn zu richten, denn Löwi schrie jeden Störer mit Stentorstimme an: »Zur Erregung brauche ich Ruhe!«

Selbst Nachrichten, die sich auf das Thema des in Entstehung begriffenen Leitartikels bezogen, nahm er während des Schöpfungsaktes nur im äußersten Notfall entgegen. Er haßte Telegraf und Telefon, das waren Büttel Luzifers, ausgesendet, um die schönstgeschliffenen Prämissen eines Leitartikels ins Gegenteil zu verkehren und dadurch die eben gezogenen ehernen Folgerungen aufzuheben.

Neuerungen gegenüber, von denen dem Leitartikel keine direkte Gefahr zu drohen schien, gab sich Löwi modern, sogar die Erfindung des Automobils erweckte sein Wohlgefallen, wenngleich er es nicht unterließ, seinem Lob die Einschränkung hinzuzufügen: »Ein Verkehrsmittel kann es allerdings niemals werden.«

Was er noch mehr haßte als Telefon und Telegraf, war das »Klavier des Teufels«. In der Ära des Handsatzes war der gänzliche Umbau eines Leitartikels schon aus zeitlichen Gründen unmöglich gewesen, der Setzer brauchte genausoviel Zeit, wie Löwi brauchte, um zu dichten. Als das erste Klavier des Teufels, die Setzmaschine, aufgestellt wurde, war es mit der Sicherung des Leitartikels vorbei. Jede noch so spät einlaufende Nachricht barg die Möglichkeit, in einen Leitartikel umgemünzt zu werden. Allerdings nicht von Löwi selbst. Ihm, der vierzig Jahre lang allmitternächtlich die Redaktionsstube mit der Sicherheit verlassen hatte, der Welt die richtige staatsmännische Beurteilung der Lage geliefert zu haben, ihm widerfuhr es nun wiederholt, daß er morgens an der Spitze des Blattes etwas las, was mit dem gestern abend von ihm Verfaßten in keiner Weise identisch war.

Eine andere Generation von politischen Journalisten war auf den Plan getreten, die ihre Wichtigtuerei und Eitelkeit unter der Maske von Zynismus und Selbstverspottung verbargen. Diese wendigen und spritzigen Gesellen genossen die Protektion der beiden neuen Herausgeber, die die Zeitung mit dem Tode ihres Vaters übernommen hatten und beweisen wollten, daß sich das Blatt gewendet habe, gleichgültig, wie. Vor allem paßten ihnen die zu jüdischen Namen des Redaktionspersonals nicht, die Pollak, Kohn und Löwi, und so erwirkten sich die Herausgeber für eine dem Regierungschef erwiesene Gefälligkeit den Gegendienst, die Namen der Redakteure kumulativ ändern zu lassen.

Der alte Löwi kam bei dieser Gelegenheit zu dem Namen Lobing. Als er sich aber weiterhin nur »Löwi« nannte und als die Herausgeber eines Tages bemerkten, daß er sich im Quittungsbuch konsequent als Löwi unterschrieb, fiel ihnen ein: Sie hatten vergessen, ihn von seiner Namensänderung zu benachrichtigen. Nun ließen sie es schon dabei bewenden und nahmen auch davon Abstand, dem alten Lobing, der immer seltener und schließlich überhaupt nicht mehr zur Abfassung von Leitartikeln herangezogen worden war, von seiner Versetzung in den dauernden Ruhestand Mitteilung zu machen.

So weiß Lobing, der pensionierte Redakteur, weder, daß er Lobing heißt, noch daß er ein pensionierter Redakteur ist.

An jedem Monatsersten nimmt er seine Pension in Empfang, die er für sein Gehalt hält, die Zwischenzeit verbringt er in der Redaktion, die Räume streng und würdig und allzeit leitartikelbereit durchmessend, gleichsam auf den Kothurnen, auf denen er einst je zweihundert Zeilen lang die Tagesereignisse begleitet hat.

Anfangs machte sich die Redaktionsjugend das Gaudium, ihn nach verschiedenen Aktualitäten zu fragen, von denen er keine Ahnung hatte, und sich an seiner gespreizten Antwort zu ergötzen. Später hörte der Spaß auf, Spaß zu sein, und man ließ den Alten in Frieden und Feierlichkeit durch die Zimmer wandeln. Was in ihm vorging, ahnte niemand. Bis an einem Sommertage des Jahres 1923 ein junger Redakteur aus Langerweile oder Übermut das Bedürfnis fühlte, Lobing anzusprechen.

»Was sagen Sie zur Abschaffung der Todesstrafe?«

Lobing hielt inne in seinem Löwengang, faltete die Hände auf dem Rücken und reagierte mit der Gegenfrage, die jeder erraten wird, der auch nur einen einzigen der Lobingschen Leitartikel gelesen hat. Mit erhobenen Brauen und erhobener Stimme fragte er: »Von wannen kommt Euch diese Wissenschaft?«

»Das Parlament hat es beschlossen.«

Er hob den Finger. »Wobei füglich zu bedenken ist, daß jede beschlossene Änderung der Verfassung oder der Gesetze zuvörderst der Approbation des Kaisers bedarf.«

»Welches Kaisers?« stieß der verblüffte Kollege hervor.

Belehrend und dennoch vorsichtigerweise den Namen des Kaisers vermeidend, gab Lobing zur Antwort: »Seiner Apostolischen Majestät des Kaisers von Österreich, Königs von Ungarn, Königs von Böhmen . . .«

Er hätte sicherlich den ganzen großen Titel deklamiert, aber der Kollege ließ ihn nicht einmal bis zum König von Lodomerien und Illyrien kommen, geschweige denn zum Gefürsteten Grafen von Tirol, zum Herrn von Görz und Gradiska oder gar zum König von Jerusalem, sondern unterbrach ihn: »Wir haben doch keinen Kaiser mehr!«

»Höre ich recht? Keinen Kaiser mehr? Was haben wir denn, mit Verlaub zu fragen?«

»Eine Republik haben wir.«

Ganz fest sah Lobing den Sprecher an. »Seit welchem Zeitraum soll denn diese von Ihnen behauptete Staatsform der römischen res publica hierzulande Kraft und Geltung besitzen?«

»Seit fünf Jahren.«

Lobing zuckte zusammen. »Seltsam und befremdlich!« Dann wandte er sich jäh um und nahm mit erregten Schritten seinen Aufundabgang durch die Redaktionsräume wieder auf.

Staunend schaute der Urheber des Gesprächs dem Alten nach, der einst alles Geschehen der Zeit ausführlich und kategorisch zu beurteilen hatte und nun vom Ausgang des Weltkriegs, vom Umsturz keine Kenntnis mehr besaß. Vielleicht, so dachte der Jüngere, vielleicht habe ich ihm diese Tatsachen zu rücksichtslos beigebracht, ihn dadurch gekränkt, daß er vor mir eine beschämende Lücke bloßlegen mußte.

Er eilte dem alten Lobing ins andere Zimmer nach, ihn zu begütigen. »Aber, Herr Löwi, Sie wissen doch natürlich, daß wir eine Republik haben, Sie wollten doch nur einen Spaß . . .«

»Nein«, fiel Lobing, der pensionierte Redakteur, ihm ins Wort, elementar brach ein jahrzehntealter Groll gegen seine Hintansetzung hervor, Verbitterung und Beschwerde, »nein, ich hab das natürlich nicht gewußt. Ich bin ja in dieser Redaktion das fünfte Rad am Wagen. Mir sagt man doch nichts.«

Und dieses schreiend, ballte er die Fäuste gegen einen Feind, der ihm die wichtigsten Ereignisse verheimlichte.

 


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