Rudyard Kipling
Kim
Rudyard Kipling

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel 14.

Beim Mondaufgang brachen die Kulis auf. Der Lama, durch Schlaf und den Alkohol erfrischt, bedurfte nur der leichten Stütze von Kims Schulter, um vorwärts zu kommen – ein schweigsamer, rasch ausschreitender Mann. Eine Stunde wohl gingen sie über schieferbestreuten Rasen, bogen um die Schulter einer gewaltigen Klippe und erreichten eine Gegend, wo jede Aussicht auf das Chini-Tal abgesperrt war. Ein ungeheurer Weidegrund stieg fächerförmig empor bis zu dem ewigen Schnee: an seinem Fuße lag ein Stück flachen Landes, auf dem einige schmutzige Holzhütten standen. Hinter diesen – nach Gebirgsart waren sie an der Kante aller Dinge angeklebt – fiel der Grund zweitausend Fuß steil ab nach Shamlegh-Mitte, wohin noch keines Menschen Fuß gelangte.

Die Leute machten keine Anstalt den Raub zu teilen, bis sie den Lama in dem besten Raum des Platzes gebettet sahen. Kim massierte ihm die Füße nach muselmännischer Manier.

»Wir werden Essen schicken,« sagte der Ao-chung-Mann, »und das rote Zelt. Nach der Dämmerung wird nichts mehr vorhanden sein, was gegen uns zeugen könnte. Wenn irgend etwas in dem Zelt nicht gebraucht wird, mach es so –«

Er zeigte nach dem Fenster, das sich öffnete nach dem Abgrund, der von dem vom Schnee zurückgestrahlten Mondlicht erfüllt war und warf eine leere Whiskyflasche hinaus.

»Unnütz auf den Fall zu horchen,« sagte er, »hier ist das Ende der Welt,« und fort war er. Der Lama blickte hinaus mit Augen, die wie gelbe Opale glänzten. Von dem mächtigen Horn vor ihm streckten sich weiße Spitzen sehnsüchtig nach dem Mondlicht empor. Das übrige war wie die Dunkelheit des zwischen den Sternen befindlichen Raumes.

»Dies,« sprach der Lama, »sind in Wahrheit meine Berge. Hier sollte ein Mensch verbleiben, festgehalten über der Welt, entfernt von Wünschen, unermeßliche Gedanken denkend.«

»Ja; wenn er einen Chela hat, der ihm Tee bereitet, der ihm die Decke unter dem Kopf faltet und kalbende Kühe hinausjagt.«

Eine rauchende Lampe brannte in einer Nische; ihr Licht ward vom Mondlicht niedergedämpft, und in dem gemischten Schein bewegte Kim sich wie ein schlanker Geist und beugte sich hier über den Beutel von Eßwaren, dort über das Teegeschirr.

»Ah! Nun habe ich mein Blut gekühlt und doch klopft und trommelt mein Kopf, und es liegt ein Reif um meinen Hinterkopf.«

»Kein Wunder. Es war ein starker Schlag. Möge der, der ihn austeilte –«

»Ohne meine eigene Leidenschaft würde nichts Böses geschehen sein.«

»Böses? Du hast die Sahibs vom Tode gerettet, den sie hundertfach verdient hatten.«

»Die Lektion hast Du nicht gut gelernt, Chela.« Der Lama ruhte jetzt auf einer zusammengelegten Decke, und Kim besorgte seine abendliche Arbeit. »Der Schlag war nur ein Schatten auf einem Schatten. Böses in sich selbst – meine Beine sind seit einigen Tagen etwas müde – es begegnete Bösem in mir – Verdruß, Zorn und eine Lust, Böses zu vergelten. Das rang in meinem Blut, weckte Unruhe im Magen und betäubte mein Ohr.« Er nahm den Becher aus Kims Hand und trank zeremoniös brühheißen Tee. »Wäre ich frei von Leidenschaft gewesen, würde der Schlag nur körperliches Übel verursacht haben – eine Hautschürfung, eine Narbe – eine Täuschung. Aber mein Geist war nicht geläutert, und eine Lust drang plötzlich in ihn ein, die Spiti-Männer nicht vom Töten abzuhalten. In Bekämpfung dieser Lust ward meine Seele hin und her geworfen und gezerrt, schlimmer als tausend Schläge. Erst, nachdem ich den Segen wiederholt hatte (er meinte die buddhistischen Segnungen), ward mir Ruhe. Aber das Böse, das mir durch die Sorglosigkeit eines Augenblicks eingepflanzt wurde, wirkt seinem Ende zu. Gerecht ist das Rad, weicht nicht um eines Haares Breite ab! Lerne die Lektion, Chela.«

»Sie ist zu hoch für mich,« murmelte Kim. »Ich bin noch immer ganz erschüttert. Es freut mich, daß ich den Mann verwundete.«

»Ich fühlte das, als ich auf Deinen Knien schlief, in dem Walde dort unten. Es beunruhigte mich in meinen Träumen – das Böse aus Deiner Seele war in meine übergegangen. Doch auf der andern Seite habe ich Verdienst erworben, indem ich zwei Leben rettete – das Leben derjenigen, die mir Unrecht taten. Nun will ich in die Ursache der Dinge sehen. Das Schiff meiner Seele schwankt.«

»Schlafe und werde wieder kräftig. Das ist das Weiseste.«

»Ich meditiere: es ist nötiger als Du weißt.«

Stunde auf Stunde, bis zum Morgendämmern, bis das Mondlicht auf den hohen Bergspitzen erbleichte, und das, was wie ein schwarzer Gürtel an den fernen Bergen erschienen, sich als ein Wald von zartem Grün erwies, starrte der Lama fest auf die Wand. Zuweilen stöhnte er. Außerhalb der verriegelten Tür, wo sich ausgetriebene Rinder vor ihrem früheren Stall sammelten, gaben sich die Leute von Shamlegh und die Kulis dem Raub in Saus und Braus hin. Der Ao-chung-Mann war ihr Anführer und nachdem sie die Konserven-Büchsen der Sahibs versucht und gut gefunden hatten, war kein Halten mehr. Die Kleider der Fremden endeten auf dem Kehrichthaufen von Shamlegh. –

Als Kim nach einer Nacht voll böser Träume in den Morgennebel hinaustrat, um seine Zähne zu bürsten, nahm eine Frau von heller Gesichtsfarbe, mit türkisenbesetztem Kopfschmuck, ihn beiseite und sprach:

»Die andern sind fort. Sie ließen Dir dies Zelt, wie sie versprochen. Ich habe nicht gern mit Sahibs zu tun, aber Du wirst uns zum Dank einen Zauber machen. Wir wollen nicht, daß Klein-Shamlegh einen schlechten Namen bekommt wegen des – Zufalls. Ich bin das Weib von Shamlegh.« Sie blickte ihn mit kühnen, glänzenden Augen an, nicht mit dem verstohlenen Blick einer Gebirglerin.

»Ganz sicher. Aber es muß im Geheimen geschehen.« Sie hob das schwere Zelt wie ein Spielzeug auf und warf es in ihre eigene Hütte.

»Hinaus und verriegele die Tür. Laß keinen nahe kommen, bis es getan ist.«

»Aber dann – werden wir miteinander reden?«

Kim kippte das Zelt auf dem Boden um; ein Wasserfall von Vermessungs-Instrumenten, Büchern, Tagebüchern, Briefen, Karten und sonderbar riechenden einheimischen Briefschaften schoß hervor. Zuletzt kam ein gestrickter Beutel, der ein versiegeltes, vergoldetes und bemaltes Dokument barg, wie ein König es dem anderen sendet. Kim hielt vor Freude den Atem an und betrachtete die Situation vom Standpunkt eines Sahibs.

»Die Bücher brauche ich nicht. Es sind Logarithmen, vermutlich Meßdienst betreffend.« Er legte sie zur Seite. »Die Briefe verstehe ich nicht, aber Oberst Creighton wird sie verstehen. Sie müssen alle aufbewahrt werden. Die Karten – sie zeichnen bessere Karten als ich – natürlich. Alle die einheimischen Briefe – oho! und besonders der Murasla.« Er schnüffelte an dem gestickten Beutel. »Der muß von Hilás oder Benár sein, und Hurree Babu hat wahr gesprochen. Donnerwetter! Das ist ein feiner Fund. Wollte, daß Hurree es wüßte . . . das übrige muß zum Fenster hinaus.« Er hielt einen prächtigen prismatischen Kompaß und die glänzende Spitze eines Theodolits in der Hand. Aber, immerhin, ein Sahib darf doch nicht stehlen, und die Sachen könnten später ein unangenehmer Beweis werden. Er suchte jedes Papierschnitzel, jede Karte und den Königsbrief zusammen und machte davon ein glattes Paket. Die drei Bücher mit Metallbeschlägen und fünf abgenutzte Taschenbücher legte er beiseite.

»Die Briefe und den Murasla muß ich unter meinem Rock und Gürtel tragen; die geschriebenen Bücher müssen in den Futterbeutel. Es wird sehr schwer werden. Hier ist nichts weiter; wenn noch etwas da war, so haben die Kulis es in das Khud (Chutu: Landschaft in Ost-Asien) geworfen. So wäre alles in Ordnung. Nun gehe Du hinterher.« Er packte alles, was er los sein wollte, wie ein Zelt zusammen und hob es auf die Fensterschwelle. Tausend Fuß tiefer lag eine lange, träge, rundschulterige Bank von Nebel, noch nicht von der Morgensonne berührt. Unter dieser ein Wald von hundertjährigen Föhren. Er konnte die grünen Baumspitzen, wenn ein Wirbelwind den Nebel teilte, wie ein Bett von Moos heraufschimmern sehen.

»Nein! Ich glaube nicht, daß jemand da hinterher steigt.« Der herumgewirbelte Korb spie seinen Inhalt aus. Der Theodolit schlug gegen eine vorstehende Klippe und zersplitterte wie Glas. Die Bücher, Tintenfässer, Tuschkasten, Kompasse und Lineale glichen einen Augenblick einem Bienenschwarm. Dann war alles verschwunden und ob auch Kim, halb aus dem Fenster gebogen, seine jungen Ohren anstrengte, kein Laut drang aus dem Abgrund herauf.

»Nicht für fünfhundert, nicht für tausend Rupien könnte man sie wieder kaufen,« dachte er betrübt. »Es ist sehr verschwenderisch, aber ich habe doch alles andere – alles, was sie gearbeitet haben – hoffe ich. Nun, wie zum Kuckuck, kann ich Hurree Babu benachrichtigen, und was zum Kuckuck soll ich tun? Und mein alter Mann ist krank. Die Briefe muß ich in Öltuch wickeln, sonst werden sie feucht. Das muß zuerst geschehen; und ich bin ganz allein!« Er machte ein neues Paket, preßte das steife Öltuch an den Ecken fest zusammen: sein Vagabundenleben hatte ihn so methodisch gemacht, wie einen alten Jäger – und packte mit besonderer Sorgfalt die Bücher in den Futtersack.

Die Frau rüttelte an der Tür.

»Du hast keinen Zauber gemacht?« fragte sie, umherblickend.

»Es ist nicht nötig.« Kim hatte die Notwendigkeit einer kleinen Plauderei vollständig vergessen. Die Frau lachte unehrerbietig über seine Verlegenheit.

»Nicht nötig – für Dich. Du kannst mit einem Wink Deines Auges einen Zauber machen. Aber denke an uns armes Volk, wenn Du fort bist. Sie waren in letzter Nacht alle zu betrunken, um auf eine Frau zu hören. Du bist nicht betrunken?«

»Ich bin ein Priester.« Kim hatte sich wieder gesammelt und die Frau, die nichts weniger als unschön war, verfolgte ihr Ziel weiter.

»Ich sagte es ihnen, die Sahibs würden wütend sein, würden dem Rajah Bericht geben und sie in Untersuchung bringen. Und der Babu ist auch bei ihnen, und Schreiber haben lange Zungen.«

»Ist das alles, was Dich beunruhigt?« Der Plan war schon fertig in Kims Kopf und er lächelte vergnügt.

»Nicht alles,« sagte die Frau, ihm die harte, braune Hand, die mit silbergefaßten Türkisen überladen war, entgegen streckend.

»Ich kann das in einem Augenblick ändern,« fuhr er rasch fort. »Der Babu ist derselbe Hakim (Du hast von ihm gehört?), der durch die Hügel bei Ziglaur wanderte. Ich kenne ihn.«

»Für Geld wird er alles verraten. Sahibs können nicht einen Gebirgler vom anderen unterscheiden, aber Babus haben Augen für Männer – und Weiber.«

»Bringe ihm ein Wort von mir.«

»Für Dich würde ich alles tun.«

Er nahm das Kompliment ruhig an, wie Männer es in einem Lande tun, wo Frauen den Hof machen, riß ein Blatt aus seinem Notizbuch und schrieb mit Bleistift in plumpem Shikast – der Schrift, die unartige, kleine Jungen brauchen, wenn sie Unsinn an die Wände schmieren: »Habe alles, was sie geschrieben, ihre Karten des Landes und viele Briefe. Besonders den Murasla. Sage mir, was ich tun soll. Ich bin zu Shamlegh unter dem Schnee. Der alte Mann ist krank.«

»Bringe ihm dies. Es wird ihm den Mund verschließen. Er kann noch nicht weit fort sein.«

»Wahrlich, nein. Sie sind noch in dem Wald am Gebirgsvorsprung. Unsere Kinder haben sie dort bewacht, bis es hell wurde, und haben ihre Meldungen heraufgerufen, wenn sie weitergingen.« Kim war erstaunt. Von der Grenze der Weide her kam ein schriller, habichtähnlicher Triller. Ein Kind, das die Schafe hütete, hatte ihn von einem Bruder oder einer Schwester an der anderen Seite des Abhangs, der das Tal von Chini übersah, aufgenommen.

»Meine Gatten sind auch dort, um Holz zu sammeln.«

Sie zog eine Hand voll Wallnüsse aus ihrem Gewand, brach eine auf und begann zu essen. Kim heuchelte volle Unwissenheit.

»Kennst du nicht die Bedeutung der Wallnuß, Priester?« fragte sie schmeichelnd und reichte ihm die geteilten Schalen.

»Ein guter Gedanke!« Er schob das Stückchen Papier rasch zwischen beide. »Hast Du etwas Wachs, um sie über diesem Brief zusammen zu kleben?«

Die Frau seufzte laut und Kim lenkte ein.

»Es gibt erst einen Lohn, wenn der Dienst vollführt ist. Trage dies dem Babu hin und sage, der Sohn des Zaubers sende es.«

»Ai! wirklich, wirklich! Ein Zauberer, der aussieht wie ein Sahib.«

»Nein, Sohn des Zaubers! Und frage, ob Du eine Antwort bringen sollst.«

»Wenn er aber zudringlich wird? Ich – ich bin ängstlich.« Kim lachte. »Er ist, glaube ich, sehr müde und sehr hungrig. Die Berge machen kühle Bettgenossen. Hai, meine –« er hatte es auf der Zunge, »Mutter« zu sagen, verwandelte es aber in »Schwester« – »Du bist eine Kluge und verständige Frau. Wissen jetzt wohl alle die Dörfer schon, was den Sahibs passiert ist – he?«

»Sicher. Um Mitternacht war die Neuigkeit in Ziglaur; morgen wird sie in Kotgarh sein. Beide Dörfer werden sich ärgern und fürchten.«

»Nicht nötig. Sage den Dörfern, sie sollen die Sahibs gut füttern und in Frieden ziehen lassen. Mir müssen sie möglichst still aus unseren Tälern fortschaffen. Stehlen ist eine Sache – morden eine andere. Der Babu wird mich verstehen, und es werden keine Klagen hinterher kommen. Sei flink. Ich muß meinen Meister pflegen, wenn er erwacht.«

»So sei es. Nach dem Dienst – sagtest Du? – kommt die Belohnung. Ich bin das Weib von Chamlegh, und ich werde von dem Rajah erhalten. Ich bin keine gewöhnliche Kinder-Gebärerin. Shamlegh ist Dein, Huf und Horn und Haut, Milch und Butter. Wenn Du es nicht magst, laß es bleiben.«

Sie wandte sich entschlossen und begann, in den Morgen hineinzugehen, der fünfzehnhundert Fuß über ihnen aufglomm. Ihre silbernen Halsketten klirrten auf ihrer breiten Brust. Kim dachte nach, diesmal im Dialekt, während er die Ecken des Öltuchs mit Wachs festklebte.

»Wie kann ein Mann dem Weg folgen oder dem Großen Spiel, wenn er immer von den Weibern verfolgt wird? Erst war es das Mädchen in Akrola bei der Furt, dann die Frau des Küchenjungen hinter dem Taubenschlag – die übrigen nicht zu zählen – und nun kommt diese hier! So lang ich ein Kind war, war das ganz gut, aber jetzt bin ich ein Mann, und sie wollen mich nicht als Mann betrachten. Wallnüsse, fürwahr! Ho! Ho! In den Ebenen sind es Mandeln!«

Er ging hinaus, um Almosen zu sammeln – nicht mit der Bettelschale, die war für dort unten gut – sondern wie ein Prinz. Shamleghs Sommer-Bevölkerung besteht aus drei Familien – vier Frauen und acht oder neun Männern. Sie waren sämtlich vollgestopft mit Büchsenfleisch und gemischten Getränken, vom Ammoniak-Chinin an bis zum weißen Wodka – denn sie hatten ihren vollen Anteil an dem Diebstahl gehabt. Die netten kontinentalen Zelte waren längst zerschnitten und geteilt, und Bratenpfannen aus Aluminium lagen umher.

Sie betrachteten die Gegenwart des Lamas als ein Schutzmittel gegen alle Konsequenzen und brachten, vollkommen unbußfertig, Kim von dem Besten, was sie noch hatten, bis hinab zu einem Trunk Chang, dem Gerstenbier, das von Ladakh kommt. Dann tauten sie im Sonnenschein auf und saßen, die Füße über unermeßliche Abgründe baumelnd, schwatzend und lachend und rauchend da. Sie beurteilten Indien und die Regierung nur nach dem, was sie von wandernden Sahibs, denen sie als Shikarris dienten, gehört hatten. Kim bekam Geschichten erzählt von angeschossenen Steinböcken, von Ringelhorn-Ziegen, von Sahibs (spätfliegende Fledermaus), die von Sahibs gejagt wurden, welche seit zwanzig Jahren in ihren Gräbern lagen – jede Geschichte gleichsam von rückwärts beleuchtet, wie Baumwipfel vom Blitz.

Sie erzählten ihm von ihren Krankheiten und, was wichtiger war, von den Krankheiten ihrer kleinen, sicherfußigen Rinder; von kleinen Märschen bis Kotgarh, wo die fremden Missionare wohnen und selbst noch weiter bis nach dem wunderbaren Simla, wo die Straßen mit Silber gepflastert sind und jeder Dienst bekommen kann bei den Sahibs, die in zweirädrigen Wagen fahren und Geld mit Schaufeln austeilen. Bald gesellte der Lama, schwer und nachdenklich daher schreitend, sich zu den am Abhang schwatzenden Gruppen, die ihm breiten Raum gaben. Die dünne Luft erfrischte ihn. Er setzte sich zu ihnen, und sie warfen, wenn die Rede stockte, Steine in die Leere. Dreißig Meilen entfernt, wie der Adler fliegt, lag die nächste Bergkette, besäumt, durchzogen und punktiert mit kleinen Flecken von Gebüsch – die in der Tat Wälder waren von der Ausdehnung eines starken Tagesmarsches – und hinter dem Dorfe schnitt der Shamlegh selbst jede Aussicht südwärts ab. Man saß gleichsam in einem Schwalbennest unter dem Dachgiebel der Welt.

Von Zeit zu Zeit streckte der Lama seine Hand aus, und mit leise geflüsterten Sprüchen wies er auf den Weg nach Spiti und nordwärts über den Parungla.

»Dort wo die Hügel am dichtesten liegen, liegt Dech'en, (er meinte Han-lé) das große Kloster. s'Tag-stanras-ch'en erbaute es, und von ihm gibt es eine Sage.« Und er erzählte sie, eine phantastische Geschichte, voll von Zauberei und Wundern, die Shamlegh in keuchendes Erstaunen setzte. Sich etwas westlich wendend, spähte er nach den grünen Hügeln von Kulu und suchte Kailung unter den Gletschern. »Denn von dort her kam ich in den alten, alten Tagen. Von Leh kam ich, über den Baralachi.«

»Ja, ja, wir kennen das,« rief das weit reisende Volk von Shamlegh.

»Und ich schlief zwei Nächte bei den Priestern von Kailung. Dies sind die Hügel meines Entzückens! Schatten, gesegnet über allen Schatten! Hier öffneten meine Augen sich für diese Welt. Dort fand ich Erleuchtung: und dort gürtete ich meine Lenden für die Suche. Aus den Hügeln kam ich – den hohen Hügeln und den starken Winden. Oh, gerecht ist das Rad!« Er segnete alle nach einander – die mächtigen Gletscher, die nackten Felsen, die gehäuften Moränen und Schieferberge. Er segnete trockenes Hochland und verborgenen Salzsee, uralte Bäume und fruchtbares, wasserdurchrieseltes Tal; und Kim staunte über seine Gemütserregung.

»Ja – ja. Unseren Hügeln gleicht nichts anderes,« rief das Volk von Shamlegh und fing an sich zu wundern, daß Menschen in den heißen, schrecklichen Ebenen lebten, wo die Rinder so groß wie Elefanten sind und nicht an den Bergkanten pflügen können; wo Dorf an Dorf stößt, hundert Meilen weit, wie sie gehört; wo die Leute gleich truppweise stehlen und was die Räuber übrig lassen, von der Polizei weggenommen wird.

So verstrich der stille Vormittag und als er endete, stieg Kims Botin von dem steilen Weidegrund herauf, so ruhigen Atems, wie beim Beginn des Marsches.

»Ich sandte dem Hakim eine Nachricht,« erklärte Kim, als sie ihre Verbeugung machte.

»Hat er sich den Götzendienern zugesellt? Nein – ich erinnere mich, er machte eine Heilung an einem von ihnen. Er hat Verdienst erworben, wenn auch der Geheilte seine Stärke auf Böses verwendete. Gerecht ist das Rad! Was von dem Hakim?«

»Ich fürchtete, daß Du Schaden genommen hättest, und – ich wußte, daß er weise ist.« Kim nahm die verklebten Wallnußschalen und las auf der Rückseite seines Briefes, englisch geschrieben, folgendes: ›Geehrtes empfangen. Kann gegenwärtig nicht loskommen von gegenwärtiger Gesellschaft. Werde sie nach Simla bringen. Nachdem hoffe ich Dich einzuholen. Zwecklos, wütende Gentlemen weiter zu begleiten. Kehre auf demselben Wege zurück; werde Dich überholen. Hoch befriedigt über Korrespondenzen – meiner Voraussicht zu danken.‹ Er schreibt, Heiliger, er will den Götzendienern entwischen und zu uns zurückkehren. Sollen wir nun in Shamlegh ihn erwarten?«

Der Lama blickte lange und liebevoll auf die Berge und schüttelte sein Haupt.

»Das darf nicht sein, Chela. Ich wünsche es mit all meinen Knochen, aber es ist verboten. Ich habe das Wesen der Dinge geschaut.«

»Warum darf es nicht sein, da die Hügel Dir Tag auf Tag Deine Kräfte wieder geben? Bedenke, wir waren schwach und hinfällig dort unten in der Doon.«

»Ich bekam nur Kräfte, um Böses zu tun und zu vergessen. Ein Zänker und ein Renommist auf den Bergen war ich.« Kim verbiß ein Lächeln. »Gerecht und vollkommen ist das Rad und weicht nicht ein Haarbreit ab. Als ich ein Mann war – vor langer Zeit – pilgerte ich zu Guru Ch'wan unter den Pappeln, (er zeigte nach Bhotan zu) wo sie das Heilige Roß bewahren.«

»Stille, seid stille,« rief Shamlegh mit einer Stimme. »Er spricht von Jam-lin-nin-K'or, dem Roß, das in einem Tag rund um die Welt gehen kann.«

»Ich spreche nur zu meinem Chela,« sagte der Lama mit sanftem Vorwurf, und sie zerstreuten sich wie Reif auf südlichen Dachrinnen. »In jenen Tagen suchte ich nicht Wahrheit, sondern das Gerede des Dogmas. Alles Wahn! Ich trank das Bier und aß das Brot von Guru Ch'wan. Nächsten Tages sprach einer: ›Wir ziehen aus zum Kampf gegen Sangor Gutok drunten im Tal, zu bestimmen, (siehe wieder, wie Begierde an Zorn gebunden ist!) welcher Abt im Tale herrschen und den Gewinn von den Gebetbüchern haben soll, die sie drucken in Sangor Gutok.‹ Ich ging – und wir fochten einen Tag.«

»Aber wie, Heiliger?«

»Mit unseren Federkasten, wie ich Dir zeigen könnte . . . Ich sage, wir fochten unter den Pappeln, beide Aebte und alle Mönche, und einer spaltete mir die Stirn bis auf den Knochen. Sieh her!« Er schob den Hut zurück und zeigte eine zusammengeschrumpfte, silberige Narbe. »Gerecht und vollkommen ist das Rad! Gestern juckte die Narbe und nach fünfzig Jahren kam mir die Erinnerung, wie ich sie erhielt und an das Antlitz dessen, der mich verwundet hatte – ich verweilte ein wenig in Träumereien. Es folgte das, was Du sahest – Streit und Torheit. Gerecht ist das Rad! Des Götzendieners Schlag fiel auf die Narbe. Dann ward ich in meiner Seele erschüttert; meine Seele ward verdunkelt, und das Schiff meiner Seele schwankte auf den Wassern des Wahns. Nicht, bevor ich nach Shamlegh kam, konnte ich meditieren über den Grund der Dinge, oder erspüren die treibenden Graswurzeln des Bösen. Ich mühte mich die ganze lange Nacht.«

»Aber Heiliger, Du bist unschuldig an allem Bösen. Möge ich Dein Opfer sein!«

Kim war aufrichtig betrübt um des alten Mannes Kummer und unwillkürlich entschlüpfte ihm Mahbub Alis Phrase.

»Im Morgendämmern,« fuhr der Lama ernster fort und der Rosenkranz klapperte zwischen seinen Fingern, »kam mir Erleuchtung. Hier ist sie . . . ich bin ein alter Mann . . . in den Bergen geboren, in den Bergen aufgewachsen . . . soll ich nie wieder zwischen meinen Bergen niedersitzen. Drei Jahre wanderte ich durch Hind, aber – kann Erde stärker sein als Mutter Erde? Mein törichter Leib sehnte sich von drunten nach den Bergen oben und nach dem Schnee auf den Bergen. Ich sagte, und es ist wahr, meine Suche ist sicher. So wandte ich mich, durch mich selbst überredet, von dem Hause der Kulu-Frau bergwärts. Den Hakim trifft kein Tadel. Er – der Begierde folgend – sagte voraus, daß die Berge mich stark machen würden. Sie machten mich stark, um Böses zu tun und meiner zu vergessen. Ich ergötzte mich am Leben und an der Lust des Lebens. Ich begehrte steile Abhänge zu erklimmen, ich blickte umher, um solche zu finden. Ich maß die Stärke meines Körpers – welches Sünde ist – an den hohen Bergen. Ich spottete Deiner, als Dein Atem kurz wurde unter Jamnotri. Ich spöttelte, als Du das Gesicht abwandtest vom Schnee auf dem Paß.«

»Aber das war kein Unrecht. Ich fürchtete mich. Es war berechtigt. Ich bin kein Gebirgler; und ich liebte Dich noch mehr um Deiner neuen Stärke willen.«

»Mehr als einmal, ich erinnere mich,« er legte seine Wange kummervoll auf seine Hand, »haschte ich nach Deinem und des Hakims Lob für die bloße Kraft meiner Beine. So folgte Böses auf Böses, bis der Becher voll war. Gerecht ist das Rad. Drei Jahre hindurch erwies All-Hind mir alle Ehren – von dem Born der Weisheit in dem Wunderhause, bis« – er lächelte – »bis zu einem kleinen Kind, das bei der großen Kanone spielte. – Die Welt bereitete mir meine Straße. Und warum?«

»Weil wir Dich liebten. Es ist nur das Fieber von der Aufregung. Ich selbst bin noch krank und angegriffen.«

»Nein! Es ist, weil ich auf dem Weg war – gestimmt gleich einer Cymbel auf den Willen des Gesetzes – und abwich von der Satzung. Der Ton ward gebrochen: folgte die Strafe. In meinen eigenen Bergen, an der Grenze meines eigenen Landes, auf der Stelle selbst meiner bösen Begierde kommt der Schlag – hier!« (Er berührte seine Stirn.) »Wie ein Novize geschlagen wird, wenn er die Becher nicht richtig stellt, so bin ich geschlagen, der ich Abt von Such-zen war. Kein Wort, siehst Du, aber ein Schlag, Chela.«

»Aber die Sahibs wußten nicht, wer Du warst, Heiliger!«

»Wir paßten gut zusammen. Unwissenheit und Begierde eint sich mit Unwissenheit und Begierde und erzeugt wurde Zorn. Der Schlag war mir, der ich nicht besser bin als ein umherschweifender Yak, ein Zeichen, daß mein Platz nicht hier ist. Wer die Ursache einer Handlung lesen kann, ist halbwegs zur Freiheit!

›Zurück auf den Pfad,‹ sagt der Schlag. ›Die Berge sind nicht für Dich. Du kannst nicht Freiheit wählen und in Knechtschaft der Begierde des Lebens liegen.‹

Hätten wir doch nie den dreimal verfluchten Russen getroffen!«

»Unser Herr selbst kann das Rad nicht rückwärts drehen. Und für das Verdienst, das ich erworben hatte, wird mir jetzt noch ein Zeichen.« Er griff mit der Hand unter sein Gewand auf der Brust und zog das Rad des Lebens hervor. »Sieh her! Ich betrachtete dieses, nachdem ich meditiert hatte. Nicht mehr als meines Fingernagels Breite blieb unzerrissen durch den Götzendiener.«

»Ich sehe.«

»So groß denn ist die Spanne meines Lebens in diesem Körper. Ich habe dem Rad gedient in all meinen Tagen. Jetzt dient das Rad mir. Ohne das Verdienst, das ich erwarb, indem ich Dich auf den Weg leitete, würde mir jetzt noch ein anderes Leben auferlegt sein, bevor ich meinen Strom gefunden hätte. Ist es klar, Chela?«

Kim starrte auf die schmählich zerstörte Karte. Der Riß ging in der Diagonale von links nach rechts; ging vom Elften Hause, wo Wunsch dem Kind Entstehung gibt (so wird es von den Tibetanern gezeichnet) hinüber durch die Menschen- und die Tierwelt, bis zum Fünften Hause, dem leeren Haus der Sinne. Die Logik war unwiderlegbar.

»Bevor Unser Herr Erleuchtung gewann,« der Lama faltete mit Ehrfurcht alles wieder zusammen, »nahte Ihm die Versuchung. Auch mir nahte die Versuchung, aber es ist vorüber. Der Pfeil fiel in den Ebenen – nicht in den Bergen. Deshalb: was machen wir hier?«

»Sollen wir nicht wenigstens auf den Hakim warten?«

»Ich weiß, wie lange ich lebe in diesem Körper. Was kann ein Hakim tun?«

»Aber Du bist ganz krank und erschüttert. Du kannst nicht gehen.«

»Wie kann ich krank sein, wenn ich Freiheit sehe?« Er richtete sich unsicher auf die Füße.

»Erst muß ich Speise aus dem Dorfe holen. Oh, der mühselige Weg!« Kim fühlte, daß er auch der Ruhe bedurfte.

»Das ist nach dem Gesetz. Laß uns essen und gehen. Der Pfeil fiel in den Ebenen . . . aber ich gab der Begierde nach. Mach Dich bereit, Chela.«

Kim wandte sich zu der Frau mit dem Türkisenkopfschmuck, die müßig Steinchen über die Klippe warf. Sie lächelte ihm freundlich zu.

»Ich fand ihn, wie einen verirrten Büffel im Kornfeld – den Babu; niesend und schnaufend. Er war so hungrig, daß er seine Würde vergaß und mir schöne Worte machte. Die Sahibs haben nichts.« Sie streckte die leere Hand aus. »Einer hat arge Brustschmerzen. Dein Werk?«

Kim nickte mit strahlendem Auge.

»Zuerst sprach ich zu dem Bengalen, später zu den Leuten eines nahe liegenden Dorfes. Die Sahibs werden die Nahrung, die sie bedürfen, erhalten und die Leute werden kein Geld fordern. Der Raub ist schon verteilt. Der Babu lügt den Sahibs etwas vor. Warum bleibt er bei ihnen?«

»Weil er ein großmütiges Herz hat.«

»Nie hat ein Bengale ein Herz größer als eine getrocknete Wallnuß gehabt. Aber das ist nicht wichtig . . . nun, was die Wallnüsse anbetrifft – nach dem Dienst kommt die Belohnung. Ich sagte es, das Dorf ist Dein.«

»Schade für mich,« begann Kim. »Ich hatte es mir so schön gedacht – (wozu die Schmeicheleien, die für die Gelegenheit paßten, anführen?) Er seufzte tief . . . »Aber mein Meister, durch eine Vision geleitet –«

»Huh! Alle Augen sehen nur nach der gefüllten Bettelschale.«

»– wendet sich von diesem Dorfe wieder den Ebenen zu.«

»Befiehl ihm zu bleiben.«

Kim schüttelte den Kopf. »Ich kenne meinen Heiligen und seinen Zorn, wenn man ihm widersteht,« sprach Kim nachdrucksvoll. »Seine Flüche machen die Berge beben.«

»Schade, daß sie ihn nicht schützen konnten, als man ihm den Kopf zerschlug! Ich hörte, Du wärest der Tigerherzige, der den Sahib niederstreckte. Laß den alten Mann noch ein wenig weiter träumen. Bleibe!«

»Bergfrau,« sagte Kim mit Strenge, die jedoch das weiche Oval seines jungen Gesichts nicht härter machte, »diese Dinge sind zu hoch für Dich.«

»Die Götter mögen uns gnädig sein! Seit wann sind Männer und Weiber etwas anderes als Männer und Weiber?«

»Ein Priester ist ein Priester. Er sagt, er will in dieser Stunde gehen. Ich bin sein Chela und ich gehe mit ihm. Wir haben Speise für die Reise nötig. Er ist in allen Dörfern ein geehrter Gast, aber« – er lächelte kindlich – »das Essen hier ist gut. Gib mir etwas.«

»Und wenn ich Dir nichts gebe? Ich bin das Weib von Shamlegh.«

»Dann verwünsche ich Dich – ein wenig – nicht viel – aber genug, daß Du daran denkest.« Er mußte wieder lächeln.

»Du hast mich schon verwünscht durch Deinen Augenniederschlag und das emporgerichtete Kinn. Verwünschungen? Was kümmern mich Worte?« Sie preßte die Hände auf den Busen. »Aber ich will nicht, daß Du im Unwillen von mir gehst und schlecht von mir denkst, als wäre ich eine Gras- und Kuhdung-Sammlerin, und nicht eine Frau von Wert.«

»Ich denke nichts,« sagte Kim, »als daß ich traurig bin, weil ich fort muß und daß ich müde und hungrig bin. Hier ist der Beutel.«

Die Frau entriß ihm zornig den Beutel. »Ich war eine Närrin,« rief sie. »Wer ist Deine Frau in den Ebenen? Ist sie blond oder schwarz? Einst war ich schön. Lachst Du? Einst, vor langer Zeit, glaubst Du mir nicht? sah ein Sahib mich günstig an. Einst, vor langer Zeit, trug ich europäische Kleider in dem Missions-Haus dorten.« Sie wies nach Kotgarh hin. »Einst, vor langer Zeit, war ich Ker-lis-ti-an und sprach englisch wie die Sahibs sprechen. Ja. Mein Sahib sagte, er würde zurückkehren und mich freien – ja, freien. Er ging fort – ich hatte ihn gepflegt, als er krank war – aber er kehrte nie zurück. Da sah ich, daß die Götter der Kerlistis lügen und ich ging wieder zu meinem eignen Volk . . . Seitdem habe ich keinen Sahib wieder angesehen. (Lache nicht über mich. Der Anfall ist vorüber, kleines Priesterchen.) Dein Gesicht und Dein Gang und Deine Rede erinnerte mich an meinen Sahib, obwohl Du nur ein wandernder Bettler bist, dem ich ein Almosen reiche. Mich verfluchen? Du kannst weder verfluchen noch segnen!« Sie legte die Finger an die Lippen und lachte bitter. »Deine Götter sind Lügen: Deine Taten sind Lügen: Deine Worte sind Lügen. Es sind keine Götter in all den Himmeln. Ich weiß es. Einen Augenblick wähnte ich, mein Sahib wäre zurückgekommen, und er war mein Gott. Ja, einst spielte ich auf dem Piano in dem Missions-Haus zu Kotgarh. Jetzt gebe ich Almosen – Priestern, die Heiden sind.« Sie sprach nicht weiter englisch und band den übervollen Beutel zu.

»Ich warte auf Dich, Chela,« sprach der Lama, der an dem Türpfosten lehnte.

Die Frau überflog mit den Augen die hohe Gestalt. »Er gehen! Er kommt keine halbe Meile weit. Wohin sollen alte Knochen wandern?«

Kim, bestürzt durch das verfallene Aussehen des Lamas und den gewichtigen Umfang des Beutels, verlor die Fassung.

»Was geht es Dich an, Weib von bösem Wunsch, wie weit er kommt?«

»Nichts – eher Dich etwas, Priester mit dem Sahib-Gesicht. Willst Du ihn auf Deinen Schultern tragen?«

»Ich gehe in die Ebenen. Niemand darf mich am Rückweg hindern. Ich habe gerungen mit meiner Seele, bis ich kraftlos war. Mein törichter Leib ist verbraucht, und wir sind noch fern von den Ebenen.«

»Schau hin!« sagte sie einfach und trat zurück, damit Kim seine gänzliche Hilflosigkeit erblicke. »Verfluche mich. Vielleicht gibt ihm das Kraft zurück. Mach einen Zauber! Ruf Deinen großen Gott an. Du bist ein Priester.«

So wandte sie sich ab.

Der Lama hatte sich schlaff niedergesetzt, seine Hände hielten sich an dem Türpfosten. Ein alter Mann erholt sich nicht so leicht wie ein Knabe von solcher Erschütterung. Die Schwäche beugte ihn zur Erde, aber die Augen, die auf Kim ruhten, blickten lebendig und flehend.

»Es wird alles gut werden,« fügte Kim. »Die dünne Luft greift Dich an. Bald gehen wir. Es ist die Bergkrankheit. Auch ich bin etwas krank in der Brust« . . . er kniete nieder und tröstete ihn mit kindlichen Worten, wie sie ihm auf die Lippen kamen. Die Frau trat wieder ein und, straff aufgerichtet, sprach sie:

»Deine Götter können nicht helfen? Versuche meine! Ich bin das Weib von Shamlegh.« Sie ließ einen heiseren Ruf hören und herbei kamen aus einem Kuh-Gehege ihre beiden Gatten und zwei andere Männer, mit einer Dooli, der rohen einheimischen Tragbahre der Hügel, die gebraucht wird, um Kranke zu transportieren und um Staatsvisiten zu machen. »Dieses Rindvieh ist Dein,« sie ließ sich nicht einmal herab, die Männer anzusehen, »so lange Du ihrer bedarfst.«

»Wir wollen aber nicht den Simla-Weg gehen,« rief der Gatte Nr. 1. »Wir wollen den Sahibs nicht nahe kommen.«

»Sie werden nicht fortlaufen, wie die anderen taten, auch kein Gepäck stehlen. Zwei von ihnen sind Schwächlinge. Faßt die Deichselstangen an, Sonoo und Taree.« Sie gehorchten rasch. »Niedriger! Und hebt den alten Mann hinauf. Ich will auf das Dorf und auf Euere tugendhaften Weiber acht geben, bis Ihr wiederkommt.«

»Wann wird das sein?«

»Fragt die Priester. Belästigt mich nicht. Bindet den Futterbeutel unten an, er behält so besseres Gleichgewicht.«

»O, Heiliger!« rief Kim beruhigter, als der Lama nach der Tragbahre schwankte. »Deine Berge sind gütiger als unsere Ebenen. Es ist ein wahres Königsbett, ein Platz der Ehre und Ruhe. Und wir danken es der –«

»Frau vom bösen Wunsch. Ich brauche Deine Segnungen so wenig wie Deine Verwünschungen. Es ist mein Befehl, nicht Deiner. Hebt auf und fort! Bleibe! Hast Du Geld für die Reise?«

Sie winkte Kim nach ihrer Hütte und bückte sich nach einer abgenutzten englischen Schatulle unter ihrer Bettstatt.

»Ich brauche nichts,« sprach Kim, ärgerlich, wo er hätte dankbar sein sollen. »Ich bin schon überladen mit Deinen Gunstbezeigungen.«

Sie blickte mit sonderbarem Lächeln auf ihn und legte eine Hand auf seine Schulter. »Danke mir wenigstens. Ich bin häßlich und eine Bergfrau, aber, wie Deine Rede geht: ich habe Verdienst erworben. Soll ich Dir zeigen, wie die Sahibs danken?« Und ihre harten Augen wurden weicher.

»Ich bin nur ein wandernder Priester,« sagte Kim und seine Augen antworteten den ihrigen. »Du bedarfst weder meines Segens noch meines Fluches.«

»Nein. Aber warte einen Augenblick. – Du kannst die Dooli mit zehn Schritten überholen – wenn Du ein Sahib wärest – soll ich Dir zeigen, was Du dann tun würdest?«

»Wie, wenn ich es errate?« sagte Kim, und sie mit dem Arm umfassend. küßte er ihre Wange und fügte auf englisch hinzu: »Ich danke Dir sehr, meine Liebe.« Küssen ist den Asiaten tatsächlich unbekannt; das mag der Grund sein, daß sie sich mit weit offenen, erschreckten Augen rückwärts beugte.

»Das nächste Mal,« fuhr Kim fort, »mußt Du Deinen Heiden-Priestern gegenüber nicht so sicher sein. Nun muß ich Abschied nehmen.« Er hielt, nach europäischer Art, seine Hand hin. Sie ergriff sie mechanisch. »Leb wohl, meine Liebe.«

»Leb wohl, und – und –« Wort auf Wort kam ihr das Englisch wieder – »und wirst Du wiederkommen? Leb wohl, und – der Gott segne Dich.«

Eine halbe Stunde später, als die knarrende Bahre den Hügelpfad, der südöstlich von Shamlegh abweicht, aufwärts rüttelte, erblickte Kim vor der Hüttentür eine kleine Gestalt, die mit einem weißen Lappen wehte.

»Sie hat vor allen anderen Verdienst erworben,« sprach der Lama. »Denn einem Manne auf den Weg zur Freiheit zu helfen, ist fast so viel, als hätte sie selbst ihn gefunden.«

»Hm!« machte Kim, an das Geschehene denkend. »Mag sein, daß auch ich Verdienst erworben habe . . . wenigstens hat sie mich nicht wie ein Kind behandelt.« Er hakte sein Gewand fest, wo er die Karten und Dokumente bewahrte, schnallte den Futtersack fester, legte die Hand auf den Rand der Bahre und krümmte sich nieder zu dem langsamen Schritt der knurrenden Ehemänner.

»Diese auch erwerben Verdienst,« sprach der Lama, nach einigen Meilen.

»Mehr noch, sie werden in Silber bezahlt,« meinte Kim. Das Weib von Shamlegh hatte es ihm gegeben; und es war in der Ordnung, folgerte er, daß ihre Männer es zurückverdienten.



 << zurück weiter >>