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»Bitt um Verzeihung, Mr. Heldar, aber – aber wird sich nicht irgend etwas ereignen?« fragte Mr. Benton.
»Nein!« Dick war gerade erwacht voll Verzweiflung, und seine Stimmung war außerordentlich schlecht.
»Es ist natürlich nicht mein gewöhnliches Geschäft, Herr, und ich sage nur: ›Besorge dein eigenes Geschäft und laß andere Leute die ihrigen besorgen.‹ Aber gerade, bevor Mr. Torpenhow abreiste, gab er mir zu verstehen, als ob Sie in Ihr eigenes Haus übersiedeln würden, sozusagen ein Haus mit Zimmern oben und parterre, wo Sie besser bedient sein würden, obschon ich mich bemühe, allen unseren Mietern gerecht zu werden. Nicht wahr?«
»O, das muß ein Irrenhaus gewesen sein. Ich werde Sie nicht bemühen, mich dorthin zu bringen. Bringen Sie mir mein Frühstück, bitte, und lassen Sie mich allein.«
»Ich hoffe, ich habe nichts Unrechtes gethan, Herr, aber Sie wissen, ich hoffe, daß ich, soweit es in den Kräften eines Menschen liegt, alle Gentlemen in den Zimmern zufrieden zu stellen suche, und ganz besonders diejenigen, deren Los ein hartes ist, wie zum Beispiel das Ihrige, Mr. Heldar. Sie lieben weichen Rogen von Bücklingen, nicht wahr? Weiche Bücklinge sind seltener als harte, aber was ich sagen wollte: ›Scheue niemals eine kleine Extramühe, so lange du die Mieter befriedigst.‹«
Mr. Benton zog sich zurück und überließ Dick sich selbst. Torpenhow war bereits lange fort, in seinen Zimmern gab es keinen Lärm mehr; Dick hatte ein neues Leben begonnen, das er schwach genug war, für nicht besser als den Tod zu betrachten.
Es ist sehr hart, allein im Dunkeln zu leben, Tag und Nacht vermischend, mitten am Tage in Schlaf zu fallen aus reinem Ueberdruß und in der Kühle der Dämmerung sich ruhelos zu erheben. Anfänglich fühlte sich Dick, wenn er aufwachte, längs den Korridors bei den Zimmern vorüber, bis er jemand schnarchen hörte, dann wußte er, daß der Tag noch nicht angebrochen war, und kehrte traurig in sein Schlafzimmer zurück. Später lernte er nicht eher aufstehen, als bis er Lärm und Bewegung im Hause hörte und Mr. Benton ihm sagte, es wäre Zeit dazu. Nachdem er sich angekleidet – und das Ankleiden war, nun Torpenhow fortgegangen, ein langsames Geschäft, weil Kragen, Krawatten und dergleichen in den Ecken des Zimmers umherlagen und das Suchen nach denselben mit Stößen des Kopfes an Stühlen und Kästen verbunden war – nachdem er sich einmal angekleidet, hatte er nichts zu thun, als still zu sitzen und zu grübeln, bis die drei täglichen Mahlzeiten erschienen. Jahrhunderte lagen zwischen dem Frühstück und dem Lunch, zwischen diesem und dem Mittagessen. Er betete, daß Gott ihm seinen Verstand nehmen möge, doch wollte Gott ihn nicht erhören. Sein Denkvermögen wurde im Gegenteil rascher, und seine kreisenden Gedanken rieben sich an einander wie Mühlsteine, wenn sich kein Korn zwischen ihnen befindet; dennoch wollte sein Gehirn nicht müde werden und ihm Ruhe gönnen; es fuhr fort, zu denken, seine Phantasie war thätig, und alle Arten von Erinnerungen stiegen in ihm auf. Er dachte an Maisie und seine früheren Erfolge, an fröhliche Reisen zu Lande und zur See, an die Herrlichkeit der Arbeit und das Bewußtsein, dieselbe wäre gut, und stellte sich vor, was alles hätte geschehen können, wenn die Augen getreulich ihre Schuldigkeit gethan. Wenn das Nachdenken infolge von Ermüdung aufhörte, stiegen in Dicks Seele Fluten von Ueberwältigung gegenstandsloser Furcht – vor der Gefahr des Verhungerns, der Angst, daß die Zimmerdecke auf ihn herabstürzen könnte – auf, ferner die Furcht vor Feuer in den Zimmern und vor dem Tode einer Wanze in den Flammen, sowie die Todesangst vor noch größeren Schrecken, die nichts mit der Furcht vor dem Tode zu schaffen hatten. Dann beugte Dick sein Haupt, umklammerte die Seitenlehnen seines Sessels und kämpfte schweißtriefend gegen diese Furcht an, bis das Geräusch von Schüsseln ihm anzeigte, daß etwas zu essen vor ihn hingesetzt worden war.
Mr. Benton brachte die Mahlzeiten, wenn er Zeit übrig hatte, und Dick lernte für seine Gespräche sich zu interessiren, die gewöhnlich über schlecht schließende Gashähne, reparaturbedürftige Abzugsröhren und die Sünden der Putzfrau oder der Dienstmädchen handelten. Ein- oder zweimal wöchentlich nahm Mr. Benton Dick mit sich, wenn er ausging, um des Morgens Einkäufe auf dem Markte zu machen, mit den Verkäufern über Fische, Lampendochte, Senf, Tapioca und so weiter zu feilschen, während Dick, bald auf dem einen, bald auf dem anderen Fuße ruhend, dabei stand und absichtslos mit dem Zinngeschirr oder dem Schnurknäuel auf dem Ladentische spielte. Dann begegneten sie auch vielleicht einem Freunde von Mr. Benton, und Dick mußte ruhig warten, bis es dem letzteren beliebte, weiter zu gehen.
Dieses Leben trug nicht dazu bei, seine Selbstachtung zu vermehren. Er gab das Rasiren auf als ein gefährliches Geschäft, und sich in einem Barbierladen rasiren zu lassen, hieß sein Unglück offenbaren. Er konnte nicht sehen, ob seine Kleider sauber ausgebürstet waren, und seitdem er keine Sorgfalt mehr auf seine persönliche Erscheinung verwendete, wurde er in jeder Hinsicht ein Schmutzfinke. Ein Blinder kann nicht reinlich essen, bevor er sich nicht einige Monate an die Dunkelheit gewöhnt hat. Wenn er Beistand verlangt und zornig wird wegen des Mangels daran, muß er sich zusammennehmen und aufrecht hinstellen, dann kann der geringste Dienstbote sehen, daß er blind und infolge dessen nicht gefährlich ist. Ein weiser Mann wird seine Augen niedergeschlagen halten und still sitzen. Um sich zu unterhalten, kann er mit der Zange Stück für Stück Kohlen aus dem Kasten nehmen und dieselben zu einem kleinen Haufen in dem Kamingitter aufstapeln, indem er die Stücke zählt, die alle wieder in den Kasten zurückgelegt werden müssen, eins nach dem andern, und zwar sehr sorgfältig. Er kann sich selbst arithmetische Aufgaben stellen, um dieselben auszuarbeiten; er kann auch mit sich selbst sprechen oder mit der Katze, wenn es ihr beliebt, ihn zu besuchen, und wenn sein Geschäft das eines Künstlers gewesen ist, so kann er mit seinem Zeigefinger Skizzen in der Luft machen, doch das ist so viel als ein Schwein mit geschlossenen Augen zu zeichnen. Er kann ferner an seine Bücherbretter herantreten, seine Bücher zählen und dieselben nach ihrer Größe aufstellen, oder in seiner Garderobe seine Hemden nachzählen und dieselben auf das Bett in Haufen von zwei oder drei Stück legen, wenn Knöpfe daran fehlen oder die Manschetten ausgefranst sind. Aber auch diese Unterhaltung wird nach einiger Zeit langweilig, und die Zeit wird so lang, so schrecklich lang!
Dick wurde gestattet, eine Wertzeugkiste zu sortiren, in der Mr. Benton Hammer, Zapfen und Schrauben, Stücke von Gasröhren, Oelflaschen und Schnur aufbewahrte.
»Wenn ich nicht jedes Ding an dem Platze habe, wo ich es zu suchen weiß, dann kann ich nichts finden, wenn ich etwas gebrauche. Sie haben keine Vorstellung, Herr, von der Menge dieser kleinen Dinge, die in den Zimmern verbraucht werden,« sagte Mr. Benton. An dem Thürgriffe herumfingernd, als er fortging, fügte er hinzu: »Es ist hart für Sie, Herr, ich denke, es ist sehr hart für Sie. Wollen Sie nicht irgend etwas thun, Herr?«
»Ich will meine Miete und die Kost bezahlen. Ist das nicht genug?«
»Ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß Sie alles bezahlen können, aber ich habe oft zu meiner Frau gesagt: ›Es ist hart für ihn, weil er noch kein alter Mann ist, nicht einmal einer in mittleren Jahren, sondern ein ganz junger Gentleman. Das ist es, weshalb es ihn so hart trifft.‹«
»Ich vermute so,« erwiderte Dick zerstreut. Dieser besondere Nerv hatte, infolge langer Abnutzung, aufgehört zu fühlen.
»Ich dachte,« fuhr Mr. Benton fort, noch immer so thuend, als ob er gehen wollte, »daß es Ihnen gefallen würde, wenn mein Knabe Alf Ihnen zuweilen abends die Zeitungen vorläse. Er liest sehr gut, in Anbetracht, daß er erst neun Jahre alt ist.«
»Ich würde sehr dankbar dafür sein,« entgegnete Dick. »Nur müssen Sie mir erlauben, ihn für die Zeit zu entschädigen.«
»Wir haben daran gar nicht gedacht, Herr, aber es steht natürlich ganz bei Ihnen; doch nur Alf das Lied ›Eines Knaben bester Freund ist seine Mutter!‹ singen zu hören. – Ah!«
»Ich will ihn auch gern singen hören. Lassen Sie ihn heute abend mit den Zeitungen zu mir kommen!«
Alf war kein nettes Kind; er war aufgeblasen durch zahlreiche Schulzeugnisse über gutes Betragen und ungewöhnlich stolz auf sein Singen. Mr. Benton blieb glückstrahlend stehen, während das Kind ein unendlich langes Lied herunterjammerte, und überließ den Knaben dann Dick, um demselben die auswärtigen Telegramme vorzulesen. Zehn Minuten später kehrte Alf bleich zu seinen Eltern zurück.
»Er sagte, er könnte es nicht mehr aushalten,« erklärte er.
»Er sagte doch nicht, daß Du schlecht vorlasest, Alf?« fragte Mrs. Benton.
»Nein. Er sagte, ich läse sch"on, er hätte noch nie jemand so lesen gehört, aber er sagte, er könnte das Zeug in den Zeitungen nicht aushalten.«
»Vielleicht hat er etwas Geld in den Stocks verloren. Hast Du ihm etwas über die Stocks vorgelesen, Alf?«
»Nein; es war alles über das Fechten da draußen, wohin die Soldaten gegangen sind – ein großes, langes Stück mit vielen Zeilen dicht untereinander und sehr schweren Worten darin. Er schenkte mir eine halbe Krone, weil ich so gut gelesen habe, und sagte, wenn er nächstens wieder etwas vorgelesen haben wollte, würde er nach mir schicken.«
»Das ist gut, doch, ich denke, Alf, Du legst die halbe Krone in die Sparbüchse und lässest mich sehen, wie Du es thust – er hätte Dich dafür länger oben behalten können. Er konnte ja kaum angefangen haben zu begreifen, wie schön Du liest.«
»Man thut am besten, ihn sich selbst zu überlassen – die Gentlemen lieben das immer, wenn sie sich unglücklich fühlen,« bemerkte Mr. Benton.
Alfs sehr beschr"ankte Fähigkeiten, Torpenhows Spezialkorrespondenz zu begreifen, hatten den Teufel der Unruhe in Dick erweckt. Er konnte durch des Knaben näselnden Ton das Grunzen der Kamele in den Vierecken hinter den Soldaten außerhalb Suakim hören; er konnte hören, wie die Leute zwischen den Kochkesseln fluchten und den scharfen Rauch des Holzes riechen, der vor dem Wüstenwinde über das Lager dahin trieb.
In jener Nacht bat er Gott, daß er ihm den Verstand nehmen möchte, indem er als Beweis dafür, er sei dieser Gunst wert, anführte, daß er sich nicht schon lange vorher erschossen habe. Dieses Gebet wurde nicht erhört und Dick war sich in der That im Innersten seines Herzens bewußt, daß nur ein zurückgebliebener Sinn von Humor und nicht spezielle Tugend ihn am Leben gelassen hatte. Er überredete sich selbst, daß Selbstmord eine etwas spaßhafte Beleidigung für den Ernst der Lage sein würde, ebenso wie ein feiges Geständnis von Furcht.
»Gerade wegen des Spasses von dem Dinge,« sagte er zu der Katze, die den Platz von Binkie in seiner Wohnung eingenommen hatte. »Ich möchte wohl wissen, wie lange diese Geschichte dauern wird. Ich kann ein Jahr von den hundert Pfund leben, die Torpenhow für mich einkassirt hat. Ich muß mindestens zwei- oder dreitausend Pfund in der Bank haben – die für zwanzig bis dreißig Jahre ausreichen. Dann komme ich auf meine hundertundzwanzig jährlich zurück, die sich inzwischen vermehrt haben werden. Laß uns einmal nachrechnen! Fünfundzwanzig – fünfunddreißig – ein Mann steht dann in seiner Blüte, man sagt – fünfundvierzig – ein Mann mitten in den Jahren, in die Politik eintretend – fünfundfünfzig – ›er starb in dem verhältnismäßig frühen Alter von fünfundfünfzig,‹ wie die Zeitungen immer berichten. Bah! Wie diese Christen den Tod fürchten! Fünfundsechzig – wir kommen nun in die Jahre! Fünfundsiebzig ist dennoch gerade möglich. Große Hölle, o Katze! Noch fünfzig Jahre einsamen Gefängnisses im Dunkeln! Du wirst sterben, Benton und Torp werden sterben und Mai – jedermann sonst wird sterben, nur ich soll leben bleiben und mich herumstoßen mit nichts zu thun. Ich bin wirklich betrübt über mich selbst. Ich möchte wohl, daß jemand anders meinetwegen betrübt wäre. Offenbar werde ich nicht verrückt werden, bevor ich sterbe, aber die Qual ist ebenso schlimm als je. Wenn du eines Tages vivisezirt wirst, o Katze, wird man dich auf einen kleinen Tisch binden und dich aufschneiden – aber fürchte dich nicht; man wird sich in acht nehmen, daß du nicht stirbst. Du wirst leben und dann sehr betrübt sein, daß du nicht meinetwegen betrübt gewesen bist ... Ich wollte, ich könnte zu Torp und Nilghai gehen, ich befände mich dann doch bei ihnen.«
Pussy verließ das Zimmer, bevor die Rede zu Ende war, und Alf fand bei seinem Eintritte Dick, wie er die leere Kamindecke anredete.
»Da ist ein Brief für Sie, Herr,« sagte er. »Vielleicht wünschen Sie, daß ich ihn vorlese?«
»Gib mir ihn einen Augenblick; ich werde es Dir dann sagen.«
Seine ausgestreckte Hand bebte ein wenig und seine Stimme war nicht besonders fest. Es lag in den Grenzen menschlicher Möglichkeit, daß – das war kein Brief von Maisie. Er kannte das Gewicht von drei verschlossenen Couverts zu gut. Es war eine thörichte Hoffnung, daß das Mädchen ihm schreiben würde, denn er vergegenwärtigte sich nicht, daß es eine Schuld, ein Unrecht gibt, das kein Wiedergutmachen zuläßt, wenn der Uebelthäter auch mit Thränen und der ganzen Liebe seines Herzens bestrebt ist, es gut zu machen. Es ist am besten, das Unrecht zu vergessen, ob es nun verursacht oder erduldet ist, da es ebenso unheilbar ist, wenn die böse That einmal verübt worden.
»Lies ihn nur,« sagte Dick, worauf Alf zu lesen begann, mit der Betonung, wie sie auf den Schulbänken üblich ist.
»Ich hätte Ihnen Liebe und Treue geben können, wie Sie niemals von solchen Gefühlen geträumt haben. Glauben Sie, ich bekümmerte mich um das, was Sie wären? Aber es beliebte Ihnen, auf alles herabzusehen für gar nichts. Meine einzige Entschuldigung für Sie ist, daß Sie so jung sind.«
»Das ist alles,« sagte er, das Papier zurückgebend, damit es ins Feuer geworfen würde.
»Was stand in dem Briefe?« fragte Mrs. Benton, als Alf wieder zurückkehrte.
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, es war ein Zirkular oder eine Abhandlung über das Herabsehen auf alles, wenn man jung ist.«
»Ich muß auf irgend etwas getreten haben, als ich noch lebte und umherging; das ist nun aufgesprungen und hat mich getroffen. Gott helfe ihm, was es auch sein möge – wenn das Ganze nicht ein Scherz war. Aber ich kenne niemand, der sich die Mühe nehmen würde, einen Scherz mit mir zu machen ... Liebe und Treue für gar nichts? Es klingt verführerisch genug. Ich möchte wohl wissen, ob ich wirklich etwas verloren habe.«
Dick sann lange Zeit darüber nach, konnte sich indes nicht erinnern, wann oder wie er in der Lage gewesen, diese Kindereien von eines Weibes Hand zu erhalten.
Da dieser Brief Dinge berührte, an die er nicht denken wollte, so versetzte derselbe ihn in einen Anfall von Wahnsinn, der einen Tag und eine Nacht anhielt. Wenn sein Herz so voll Verzweiflung war, daß es zerspringen wollte, so schienen Körper und Seele in Finsternis zu versinken. Dann folgte die Furcht vor dieser Finsternis und verzweifelte Versuche, das Licht wieder zu gewinnen. Aber es gab kein Licht wieder zu gewinnen. Wenn dieser Kampf ihn schweißtriefend und atemlos zurückgelassen, fing das Versinken nach unten wieder an, bis alle diese Qualen ihn zu einem neuen Kampfe anspornten, der ebenso hoffnungslos war als der erste. Dann folgte wohl ein Schlaf von einigen Minuten, in dem er träumte, daß er sehen könne, worauf sich die Reihenfolge von Ereignissen wiederholten, bis er aufs äußerste erschöpft war und sein Gehirn die nie ruhenden Gedanken an Maisie und allerlei Möglichkeiten von neuem aufnahm.
Schließlich trat Mr. Benton in Dicks Zimmer und bot sich an, ihn mitzunehmen. »Diesesmal nicht, um Eink"aufe auf dem Markte zu machen, sondern um in den Park zu gehen, wenn es Ihnen beliebt.«
»Ich will verdammt sein, wenn ich es thue!« schrie Dick. »Bleiben Sie in den Straßen und gehen Sie auf und ab. Ich höre gern die Leute um mich her.«
Das war nicht ganz der Wahrheit entsprechend. Die Blinden lieben in den ersten Stadien ihres Gebrechens nicht diejenigen, die sich mit freien Schritten bewegen können – aber Dick hatte durchaus kein Verlangen, in den Park zu gehen. Einmal, nur ein einzigesmal, seitdem Maisie ihre Thüre abgeschlossen hatte, war er unter Alfs Führung dorthin gegangen. Alf vergaß ihn und fischte mit einigen Schulkameraden Elritzen in dem Bache. Nachdem er eine halbe Stunde gewartet, wandte Dick, fast weinend vor Wut und Zorn, sich an einen Vorübergehenden, der ihn zu einem freundlichen Polizisten führte; dieser brachte ihn an der gegenüberliegenden Seite von Albert Hall in einem Kabriolet unter. Er sagte Mr. Benton nichts von Alfs Vergeßlichkeit, aber ... das war nicht die Art und Weise, wie er früher im Park spazieren zu gehen pflegte.
»Durch welche Straßen möchten Sie denn gern gehen?« fragte Mr. Benton teilnehmend. Seine eigenen Ansichten über einen ausgelassenen Feiertag bedeuteten ein Picknick auf dem Rasen von Green Park mit seiner Familie und einem halben Dutzend Papiersäcken voll Eßwaren.
»Gehen Sie nach dem Flusse hin,« sagte Dick, worauf sie die Richtung nach demselben einschlugen; das Rauschen desselben klang Dick in den Ohren, bis sie zur Blackfriarsbrücke gelangten und sich von dort nach Waterloo Road wandten, während Mr. Benton unterwegs die Schönheiten der Scenerie erklärte.
»Auf der andern Seite des Trottoirs,« sagte er, »geht, wenn ich mich nicht irre, die junge Frauensperson, die in Ihre Wohnung zu kommen pflegte, um gezeichnet zu werden. Ich vergesse niemals ein Gesicht und behalte niemals einen Namen, ausgenommen natürlich die von zahlenden Mietern.«
»Bleiben Sie hier stehen,« sagte Dick, »es ist Bessie Broke. Sagen Sie ihr, ich möchte sie gern einmal sprechen. Rasch, Mann!«
Mr. Benton ging über die Straße und hielt Bessie auf ihrem Wege nach Norden an. Sie erkannte ihn als den Mann, der sie anzustarren pflegte, wenn sie die Treppen zu Dick hinaufging, und hatte Lust fortzulaufen.
»Waren Sie nicht Mr. Heldars Modell?« fragte Mr. Benton, sich vor sie hinpflanzend. »Sie waren es. Er steht auf der andern Seite der Straße und möchte Sie gern sehen.«
»Weshalb?« erwiderte Bessie schwach. Sie erinnerte sich an eine Geschichte mit einem soeben vollendeten Bilde.
»Weil er mich aufgefordert hat, es zu thun, und weil er ganz blind ist.«
»Betrunken?«
»Nein, hospitalblind. Er kann nicht sehen. Das ist er, da drüben.«
Dick lehnte an der Brüstung der Brücke, als Mr. Benton auf ihn zeigte, ein Geschöpf mit struppigem Barte, niedergebeugt, ein schmutziges, magentafarbiges Halstuch umgeschlungen und einen ungebürsteten Rock auf dem Leibe: Von einem solchen Menschen war nichts zu befürchten. Selbst wenn er sie verfolgen wollte, meinte Bessie, würde sie sich ihm leicht entziehen können. Sie ging hinüber, worauf Dicks Gesicht sich aufklärte. Es war schon lange her, daß irgend eine Frau sich die Mühe gegeben, mit ihm zu sprechen.
»Ich hoffe, Sie befinden sich wohl, Mr. Heldar?« sagte Bessie etwas verlegen. Mr. Benton stand daneben mit der Miene eines Gesandten.
»Ich befinde mich ganz wohl und, beim Himmel! freue mich, Sie zu sehen – zu hören, meine ich, Beß. Sie hielten es nie der Mühe wert, heraufzukommen und mich zu besuchen, nachdem Sie Ihr Geld erhalten. Gehen Sie jetzt vielleicht irgendwohin?«
»Ich bin nur ausgegangen, um einen Spaziergang zu machen,« erwiderte Bessie.
»Doch nicht das alte Geschäft?« fragte Dick leise.
»O nein! Ich bezahlte meine Prämie« – Bessie war sehr stolz auf dieses Wort – »als Schenkmädchen, wohne auch dort und bin jetzt am Schenktisch ganz ordentlich. Wirklich, es ist so!«
Mr. Benton hatte keinen besondern Grund, an die Erhabenheit der menschlichen Natur zu glauben, deshalb verschwand er wie ein Nebel und kehrte ohne ein Wort der Entschuldigung zu seinen Gashähnen zurück. Bessie beobachtete seine Flucht mit einer gewissen Unruhe, aber so lange Dick sich nicht des Schadens bewußt zu sein schien, den sie ihm angethan hatte ...
»Es ist eine schwere Arbeit, sich mit den Bierkrügen herumzuschleppen,« fuhr sie fort, »und sie haben dort eine Geldkontrollmaschine, so daß, wenn man sich am Schlusse des Tages um einen Penny irrt – aber dann glaube ich nicht, daß die Maschine recht hat. Glauben Sie es?«
»Ich habe dieselbe nur arbeiten sehen. – Mr. Benton!«
»Er ist fortgegangen.«
»Ich fürchte, ich muß Sie dann bitten, mir nach Hause zu helfen. Ich will Sie für Ihre Zeit entschädigen. Sie sehen es ja.« Die lichtlosen Augen wandten sich Bessie zu und diese sah es in der That.
»Es ist doch kein Umweg für Sie?« fragte er zögernd. »In diesem Falle kann ich einen Polizisten darum bitten.«
»O, durchaus nicht. Ich muß um sieben Uhr wieder zurück sein und bin um vier Uhr fortgegangen. In diesen Stunden geht es ruhig zu.«
»Gütiger Himmel! Ich bin die ganze Zeit frei. Ich wünschte wohl, ich hätte etwas zu arbeiten. Lassen Sie uns nach Hause gehen, Beß.«
Er drehte sich um und stieß gegen einen Mann auf dem Trottoir, der mit einem Fluche zurückprallte. Bessie nahm seinen Arm und sagte nichts – ebenso wie sie nichts gesagt hatte, wenn er ihr befohlen, ihr Gesicht mehr dem Lichte zuzuwenden. Sie gingen eine Zeit lang schweigend weiter, während das Mädchen ihn sicher durch die Menge leitete.
»Und wo ist – wo ist Mr. Torpenhow?« fragte sie schließlich.
»Er ist weit fort in die Wüste gegangen.«
»Wo ist das?«
Dick zeigte nach rechts. »Im Osten – aus der Mündung der Themse hinaus,« sagte er. »Dann nach Westen, nach Süden und dann wieder östlich, immer längs der Südseite von Europa. Zuletzt wieder südlich, Gott weiß wie weit.« Diese Erklärung unterrichtete Bessie nicht im mindesten, aber sie hielt den Mund und gab auf Dicks Pfad acht, bis sie dessen Zimmer erreichten.
»Wir wollen Thee und Kuchen haben,« sagte er fröhlich. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, Bessie, wie sehr ich mich freue, Sie wieder getroffen zu haben. Weshalb gingen Sie damals so plötzlich fort?«
»Ich glaubte, Sie bedürften meiner nicht mehr,« erwiderte sie, kühn gemacht durch seine Unwissenheit.
»Ich brauchte Sie in der That nicht mehr – aber später. Jedenfalls freue ich mich, daß Sie gekommen sind. Sie kennen die Treppen.«
Bessie brachte ihn nach Hause und in sein Zimmer, ohne daß es jemand verhindert hätte, und schloß die Thür des Ateliers zu.
»Was für eine Unordnung!« war ihr erstes Wort. »Seit Monaten hat sich kein Mensch um alle diese Sachen bekümmert.«
»Nein, nur seit Wochen, Beß. Man kann nicht erwarten, daß sie sich darum kümmern.«
»Ich weiß nicht, was Sie von den Leuten erwarten in dieser Hinsicht. Dieselben müssen doch wissen, was Sie ihnen dafür bezahlt haben. Der Staub ist geradezu entsetzlich. Die ganze Staffelei ist damit bedeckt.«
»Ich benütze dieselbe jetzt nicht viel.«
»Auch die Bilder, der Fußboden und Ihr Rock sind ganz bedeckt mit Staub. Ich möchte wohl mit diesen Dienstmädchen sprechen.«
»Dann läuten Sie, daß man Thee bringt.« Dick fühlte sich nach dem Sessel hin, den er gewöhnlich benützte. Bessie sah es und wurde gerührt davon, soweit es in ihrer Natur lag. Aber es blieb immer noch ein keckes Gefühl von frisch erlangter Ueberlegenheit zurück, das auch in ihrer Stimme herausklang, wenn sie sprach.
»Wie lange befinden Sie sich in diesem Zustande?« fragte sie zornig, als ob seine Blindheit irgend ein Verschulden der Dienstmädchen wäre.
»Wie?«
»Nun, was Sie sind.«
»Seit dem Tage nach dem, an welchem Sie mit dem Check fortgingen, sobald als mein Bild vollendet war; ich habe dasselbe kaum gesehen.«
»Dann hat man Sie seitdem stets betrogen, das ist klar. Ich kenne ihre netten kleinen Mittel und Wege.«
Eine Frau kann den einen Mann lieben und den andern verachten, aber sie wird nach allgemein weiblichen Grundsätzen ihr Möglichstes thun, den verachteten Mann davor zu bewahren, betrogen zu werden. Ihr Geliebter kann für sich selbst sorgen, aber der andere Mann bedarf des Schutzes, zumal wenn er augenscheinlich hilflos ist.
»Ich glaube nicht, daß Mr. Benton mich viel betrügt,« sagte Dick.
Bessie ging hastig auf und ab im Zimmer, während er ein starkes Gefühl von Freude verspürte, als er das Rascheln ihres Kleidersaums vermischt mit dem leichten Tritte hörte.
»Thee und dünnen Kuchen,« sagte sie kurz, als das Dienstmädchen infolge des Läutens eingetreten, »zwei Theelöffel voll und einen dazu für den Topf. Ich wünsche nicht den alten Theetopf wieder zu haben, der hier war, als ich zu kommen pflegte; er zieht nicht ordentlich. Bringen Sie einen andern.«
Das Dienstmädchen ging entrüstet fort, während Dick kicherte. Darauf fing er an zu husten, als Bessie im Atelier anfing auszuklopfen, um den Staub zu entfernen.
»Was machen Sie denn da?«
»Die Sachen in Ordnung bringen. Dies ist ja gerade wie eine unmöblirte Wohnung. Wie konnten Sie es so weit kommen lassen?«
»Wie konnte ich es ändern? Stauben Sie nur weiter ab.«
Sie klopfte wütend den Staub aus, und mitten in all den Lärm trat Mrs. Benton ein. Ihr Gatte hatte ihr bei seiner Rückkehr die Situation erklärt, sich mit dem besonders zutreffenden Sprichworte tröstend »Thue anderen, wie du willst, daß man dir thue.« Sie war herunter gekommen, um der Person ihren Platz anzuweisen, die dünnen Kuchen und einen nicht gesprungenen Theetopf verlangt, als ob sie ein Recht zu beidem hätte.
»Sind die Kuchen fertig?« fragte Bessie, immer noch ausklopfend. Sie war nicht mehr ein schmutziges Weibsbild von der Straße, sondern eine junge Dame, die, dank dem Check von Dick, ihre Prämie bezahlt hatte und berechtigt war, Bierkrüge mit dem besten Stoffe zu füllen. Da sie sehr nett in Schwarz gekleidet war, zögerte sie durchaus nicht, Mrs. Benton gegenüberzutreten, worauf zwischen den beiden Frauen gewisse Blicke gewechselt wurden, die Dick sicherlich gewürdigt hätte. Die Situation wurde durch Blicke entschieden. Bessie hatte gesiegt, und Mrs. Benton kehrte zurück, um Kuchen zu backen und scharfe Bemerkungen über Modelle, Weibsbilder, Schlampen und dergleichen zu machen.
»Es kommt nichts dabei heraus, dazwischen zu treten, Lisa,« sagte Mr. Benton. »Alf, gehe hinaus auf die Straße und spiele. Wenn er guter Laune ist, kann er freundlich sein wie die Güte selbst; wenn er aber ärgerlich ist, ist er der reine Teufel. Wir nahmen zu viel Sachen aus seinen Zimmern, seitdem er blind geworden. Es sind natürlich keine Gegenstände für einen blinden Mann, aber wenn die Geschichte vor Gericht käme, würden wir den Laufpaß bekommen. Ja, ich brachte das Mädchen zu ihm, weil ich selbst ein mitfühlender Mensch bin.«
»Viel zu mitfühlend!« Mrs. Benton klopfte die dünnen Kuchen aus der Pfanne auf die Schüssel und dachte an vor langer Zeit wegen Verdacht entlassene, hübsche Dienstmädchen.
»Ich schäme mich dessen nicht, und es ist nicht unsere Sache, hart über ihn zu urteilen, so lange er ruhig und regelmäßig bezahlt, wie er es thut. Ich weiß, wie man junge Gentlemen behandeln, Du weißt, wie man für sie kochen muß, und, was ich sagen wollte, laß einen jeden auf seine eigenen Geschäfte achten, dann wird niemals Streit entstehen. Trage die Kuchen hinunter, Lisa, und sei überzeugt, daß Du keinen Wortwechsel mit der jungen Person haben wirst. Sein Los ist grausam schwer, und wenn man ihm widerspricht, flucht er schlimmer, als irgend jemand, den ich je bedient habe.«
»Das ist besser,« bemerkte Bessie, sich zum Thee niedersetzend. »Sie brauchen nicht zu warten; danke Ihnen, Mrs. Benton.«
»Ich hatte durchaus nicht die Absicht, es zu thun, das versichere ich Sie.«
Bessie gab keine Antwort. Dieses war, wie sie wußte, die Art und Weise, wie wirkliche Damen ihre Feinde behandelten, und wenn man ein Schenkmädchen in einem öffentlichen Lokale ersten Ranges ist, kann man nach zehn Minuten Aufmerkens eine wirkliche Dame werden.
Ihre Augen fielen auf den ihr gegenüber sitzenden Dick, und sie wurde erschüttert und ungehalten. Die ganze Vorderseite seines Rockes war bis unten hin voll von Flecken von herabgefallenen Speisen, der Mund hing mürrisch herab unter dem struppigen Barte; die Stirn war voll Falten und gerunzelt, während das Haar an den Schläfen von einer unbestimmten Farbe war, die man wohl grau nennen konnte. Das äußerliche Elend und diese Vernachlässigung des Mannes rührten sie, während aus dem Grunde ihres Herzens ein böses Gefühl lag, daß derjenige, der sie einst gedemütigt, nun selbst gedemütigt und erniedrigt worden war.
»O, es ist so gut zu hören, wie Sie sich hier umherbewegen,« sagte Dick, sich die Hände reibend.
»Erzählen Sie mir alles über Ihre Erfolge am Schenktisch, Bessie, und wie Sie jetzt leben.«
»Denken Sie nichts Derartiges; ich bin ganz respektabel, wie Sie bemerken könnten, wenn Sie mich sähen. Sie aber scheinen nicht besonders gut zu leben. Wodurch wurden Sie so plötzlich blind? Warum ist denn niemand hier, um nach Ihnen zu sehen?«
Dick war zu dankbar für den Ton ihrer Stimme, um diese Frage übel zu nehmen.
»Ich erhielt vor längerer Zeit einen Schwerthieb über den Kopf, der meine Augen zu Grunde gerichtet hat. Ich glaube nicht, daß irgend jemand es der Mühe wert hält, nach mir zu sehen. Weshalb sollte man es auch thun? – Außerdem besorgt Mr. Benton wirklich alles, was ich nötig habe.«
»Kennen Sie denn keine Herren und Damen aus der Zeit her, als Sie noch – gesund waren?«
»Einige wenige, aber ich wünsche nicht, daß dieselben zu mir kommen.«
»Ich vermute, weil Sie sich haben einen Bart wachsen lassen. Lassen Sie sich ihn abnehmen, er kleidet Sie nicht.«
»Gütiger Himmel, Kind, bilden Sie sich ein, daß ich jetzt noch daran denke, was mich kleidet?«
»Sie müssen. Lassen Sie ihn abnehmen, bevor ich wieder komme. Ich nehme an, daß ich kommen darf, nicht wahr?«
»Ich würde Ihnen wirklich sehr dankbar sein, wenn Sie es thäten. Ich denke, ich habe Sie früher nicht besonders gut behandelt; ich pflegte Sie oft zornig zu machen.«
»Sehr zornig, das ist wahr.«
»Es thut mir sehr leid. Kommen Sie und besuchen Sie mich, wann und so oft Sie können. Gott weiß, es gibt keine Seele auf der Welt, außer Ihnen und Mr. Benton, die sich die Mühe macht.«
»Eine ganze Menge Mühe macht er sich und Sie dazu,« sagte Bessie kopfschüttelnd. »Sie haben Sie alles thun lassen, so gut Sie konnten, und haben selbst gar nichts für Sie gethan. Ich habe das auf den ersten Blick gesehen. Ich werde kommen und mich freuen, wieder zu kommen, aber Sie müssen sich rasiren lassen und andere Kleider anziehen – diese sind nicht mehr zum Ansehen.«
»Ich habe irgendwo einen ganzen Haufen von Kleidern,« sagte er hilflos.
»Ich weiß es. Sagen Sie Mr. Benton, er solle Ihnen einen neuen Anzug geben; ich werde denselben ausbürsten und sauber halten. Sie mögen so blind sein wie ein Scheunenthor, Mr. Heldar, das ist aber keine Entschuldigung, daß Sie aussehen wie ein Lumpenkerl.«
»Sehe ich denn aus wie ein Lumpenkerl?«
»O, es thut mir leid Ihretwegen; es thut mir das Ihretwegen so leid,« rief sie erregt aus, Dicks Hände ergreifend. Mechanisch bog er seinen Kopf herab, als ob er sie küssen wollte – sie war das einzige weibliche Wesen, das Mitleid mit ihm hatte, und er war jetzt nicht mehr zu stolz gegen ein wenig Mitleid. Sie stand auf, um fortzugehen.
»Nichts Derartiges, als bis Sie wieder mehr wie ein Gentleman aussehen. Es ist das ganz leicht, wenn Sie sich rasiren lassen und andere Kleider anziehen.«
Er hörte, wie sie ihre Handschuhe anzog, und stand auf, um ihr Adieu zu sagen. Sie trat hinter ihn, küßte ihn keck auf den Nacken und lief so schnell fort wie an jenem Tage, als sie die Melancholie zerstört hatte.
»Wer hätte je gedacht, daß ich Mr. Heldar küssen würde,« sagte sie vor sich hin, »nach allem, was er mir gethan, und dem übrigen! Nun, er thut mir leid, und wenn er rasirt ist, wird er nicht so übel aussehen, aber ... O, diese Bentons, wie schändlich haben sie ihn behandelt. Ich weiß, daß dieser Benton seine Hemden heute auf dem Leibe trägt, gerade als ob ich es gesehen hätte. Morgen werde ich sehen ... Es sollte mich wundern, wenn er noch viel davon hat. Es wäre vielleicht mehr wert als der Schenktisch – ich würde gar nichts zu arbeiten brauchen – und gerade so respektabel sein, wenn niemand es wüßte.«
Dick war Bessie nicht dankbar für ihre Abschiedsgabe. Er fühlte dieselbe genau im Genick während der ganzen Nacht, aber sie schien ihm außer anderen Dingen die Ueberzeugung zu geben, daß er sich rasiren lassen müsse. Am andern Morgen that er es auch und fühlte sich wohler darnach. Ein neuer Anzug, weiße Wäsche und das Bewußtsein, daß jemand auf der Welt gesagt, er nähme Interesse an seiner persönlichen Erscheinung, richtete ihn selbst beinahe auf, denn sein Gehirn wurde eine Zeit lang von dem Gedanken an Maisie befreit, die unter anderen Umständen ihm jenen Kuß und eine Million andere hätte geben können.
»Laß uns nachdenken,« sagte er nach dem Lunch. »Das Mädchen kann sich nicht um mich bekümmern; es ist noch sehr die Frage, ob sie wieder kommt oder nicht, aber wenn Geld sie erkaufen kann, nach mir zu sehen, so soll sie erkauft werden. Niemand auf der Welt würde sich die Mühe nehmen und ich kann sie dafür entschädigen. Sie ist ein Kind der Gosse, das als Schenkmädchen angestellt ist; deshalb soll sie alles haben, dessen sie bedarf, wenn sie nur kommen, mit mir reden und nach mir sehen will.«
Er rieb sein frisch rasirtes Kinn und versetzte sich selbst in Aufregung durch den Gedanken, daß sie vielleicht nicht kommen würde.
»Ich vermute, daß ich wirklich wie ein Lumpenkerl ausgesehen habe,« fuhr er fort. »Ich hatte ja keine Ursache, anders auszusehen. Ich wußte, daß meine Kleider voll Flecken waren, aber ich beachtete es nicht. Es wäre grausam, wenn sie nicht käme. Sie muß. Maisie kam ein einzigesmal, das war genug für sie. Sie hatte ganz recht. Sie muß arbeiten. Dieses Geschöpf hat nur Bierkrüge zu füllen, wenn sie nicht irgend einen jungen Mann verleitet hat, ihr Gefährte zu sein. Ein netter Gedanke, wegen eines Ladentischspringers betrogen zu werden! Wir sind wirklich recht nett gesunken!«
In ihm rief etwas ganz laut: »Dies wird mehr schmerzen als irgend etwas, das früher geschehen. Es wird dir alles zurückrufen, dich an alles erinnern und dich quälen und schließlich dich zum Wahnsinn treiben.«
»Ich weiß es, ich weiß es!« schrie Dick, seine Hände verzweiflungsvoll zusammenschlagend, »aber, gütiger Himmel, hat ein armer blinder Bettler etwas anderes von seinem Leben, als drei Mahlzeiten täglich und eine schmierige Weste? Ich wünschte, sie käme.«
Zeitig nachmittags kam sie, weil es gerade damals keinen jungen Mann in ihrem Leben gab und sie an die materiellen Vorteile dachte, die ihr dafür zufallen würden, daß sie für den Rest ihrer Tage müßig ginge.
»Ich würde Sie nicht wieder erkannt haben,« sagte sie beifällig. »Sie sehen aus wie sonst – wie ein Gentleman, der etwas auf sich hält!«
»Glauben Sie nicht, daß ich nun einen zweiten Kuß verdiene?« fragte Dick, ein wenig errötend.
»Kann sein, aber Sie werden ihn jetzt noch nicht bekommen. Setzen Sie sich und lassen Sie uns sehen, was ich für Sie thun kann. Ich bin überzeugt, daß Mr. Benton Sie betrügt, nun Sie nicht in jedem Monat die Haushaltungsbücher durchsehen können. Ist das nicht wahr?«
»Sie thäten dann besser, herzukommen und für mich hauszuhalten, Bessie.«
»In diesen Zimmern würde ich das nicht thun können, Sie wissen das ebenso gut wie ich.«
»Ich weiß es, doch könnten wir anderswohin gehen, wenn Sie es der Mühe wert halten.«
»Jedenfalls will ich versuchen, nach Ihnen zu sehen, aber ich möchte nicht für uns beide zu arbeiten haben.«
Dies war verlockend.
Dick lachte.
»Entsinnen Sie sich, wo ich mein Bankbuch hinzulegen pflegte?« fragte er. »Torp nahm es, um dasselbe abschließen zu lassen, gerade bevor er fortging. Sehen Sie einmal nach!«
»Es lag gewöhnlich unter dem Tabakskasten. Ah!«
»Nun?«
»O, viertausendzweihundertundzehn Pfund neun Schilling und einen Penny! O, wie viel Geld!«
»Sie können den Penny haben. Das ist nicht so übel für die Arbeit eines Jahres. Ist das und hundertundzwanzig Pfund jährlich genug?«
Das Nichtsthun und hübsche Kleider befanden sich beinahe in ihrem Bereich, aber sie mußte als eine haushälterische Person zeigen, daß sie dieselben verdiene.
»Ja; aber Sie müßten dann ausziehen, und wenn wir ein Inventar aufnehmen, so werden wir meiner Ansicht nach finden, daß Mr. Benton hie und da verschiedene kleine Sachen aus den Zimmern fortgenommen hat. Dieselben sehen nicht so voll aus wie früher.«
»Thut nichts, wir wollen sie ihm lassen. Der einzige Gegenstand, den ich besonders gern mitnehmen möchte, ist das Bild, zu welchem ich Sie gebrauchte, als Sie noch auf mich zu fluchen pflegten. Wir wollen von dieser Stelle fortziehen, Beß, so weit, als wir nur können.«
»O ja,« erwiderte sie etwas unbehaglich.
»Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll, um vor mir selbst zu fliehen, aber ich will es versuchen und Sie sollen alle die hübschen Kleider haben, nach denen Sie verlangen. Das wird Ihnen gefallen. Geben Sie mir jetzt den Kuß, Beß! Ihr Götter, es ist schön, wieder einmal seinen Arm um eines Weibes Taille zu legen.«
In demselben Augenblicke mußte er an die Erfüllung der Prophezeiung denken. Wenn sein Arm ebenso um Maisies Taille läge und ein Kuß ebenso zwischen ihnen ausgetauscht worden wäre – wie dann! Er drückte das Mädchen fest an sich, weil ihn der Schmerz quälte. Sie überlegte, wie sie den kleinen Vorfall mit der Melancholie erklären sollte. Wenn dieser Mann wirklich wünschte, sich durch ihre Gesellschaft zu trösten – sicherlich würde er in seine frühere Verwahrlosung zurückfallen, wenn sie dieselbe ihm entzog – so würde er jedenfalls ein wenig mehr darüber betrübt sein. Wenigstens würde es amüsant sein, zu sehen, was geschähe, und nach ihren Erfahrungen war es gut für einen Mann, eine gewisse Ehrfurcht oder Scheu vor seiner Gefährtin zu haben.
Sie lachte etwas nervös und schlüpfte aus seinem Bereiche.
»Ich würde mich an Ihrer Stelle nicht so viel um das Bild bekümmern,« fing sie an, in der Absicht, seine Aufmerksamkeit abzulenken.
»Es steht irgendwo hinter meinen übrigen Bildern. Suchen Sie es, Beß; Sie kennen es ebenso gut wie ich.«
»Ich kenne es – aber –«
»Aber was? Sie haben Verstand genug, um den Verkauf desselben an einen Kunsthändler zu besorgen. Frauen feilschen viel besser als Männer. Es kann sich dabei leicht um eine Summe von acht- bis neunhundert Pfund für uns handeln. Ich habe nur seit längerer Zeit nicht gern an diese Sache gedacht. Diese hing so sehr mit meinem Leben zusammen. Aber wir wollen glatte Bahn machen und alles losschlagen, wie? Nehmen Sie einen frischen Anlauf von Anfang an, Beß.«
Da bereute sie sehr, was sie gethan, denn sie kannte den Wert des Geldes. Doch es war wahrscheinlich, daß der blinde Mann den Wert seines Werkes überschätzte. Die Herren waren, wie sie wußte, lächerlich eingenommen von ihren Sachen.
Sie kicherte, wie ein nervöses Dienstmädchen kichert, wenn es versucht, das Zerbrechen einer Pfeife zu erklären.
»Es thut mir sehr leid, aber Sie entsinnen sich, daß ich wütend über Sie war, bevor Mr. Torpenhow fortging?«
»Sie waren sogar sehr wütend, Kind, und, auf mein Wort, hatten auch einigen Grund dazu.«
»Da – aber sind Sie überzeugt, daß Mr. Torpenhow es Ihnen nicht erzählt hat?«
»Mir was erzählt hat? Lieber Himmel, weshalb machen Sie so viel Umstände, wenn Sie mir ebenso gut noch einen Kuß geben könnten.«
Er fing an einzusehen, nicht zum erstenmal in seinem Leben, daß das Küssen ein accumulatives Gift ist; je mehr man davon erhält, nach desto mehr verlangt man.
Bessie gab ihm prompt den Kuß und flüsterte dabei: »Ich war so wütend, daß ich das Bild mit Terpentin ausrieb. Sie sind deswegen nicht böse, nicht wahr?«
»Was? Sagen Sie das noch einmal!« Seine Hand umschloß ihr Handgelenk.
»Ich rieb es mit Terpentin und dem Messer aus,« stammelte Bessie. »Ich glaubte, Sie brauchten es nur noch einmal zu malen, Sie thaten das auch, nicht wahr? O, lassen Sie mein Handgelenk los, Sie thun mir weh.«
»Ist gar nichts von dem Ding übrig geblieben?«
»Nichts, was irgend einem Dinge ähnlich sähe. Es thut mir leid – ich wußte nicht, daß Sie so viel davon hielten; ich wollte nur einen Spaß machen. Sie wollen mich doch nicht schlagen?«
»Sie schlagen! O nein! Lassen Sie mich nachdenken.«
Er ließ ihr Handgelenk nicht los und starrte auf den Teppich. Darauf schüttelte er seinen Kopf wie ein junger Stier, wenn er einen Schlag mit der Peitsche über die Nase erhält, um ihn auf den Weg zu den Fleischscharren zurückzutreiben, denen er entrinnen wollte. Seit Wochen hatte er sich gezwungen, nicht an die Melancholie zu denken, weil dieselbe ein Teil seines toten Lebens war. Mit Bessies Rückkehr und gewissen neuen Plänen, die sich entwickelt hatten, war die Melancholie – reizender in seiner Phantasie, als sie jemals auf der Leinwand gewesen – wieder erschienen. Durch dieselbe hatte er sich mehr Geld verschafft, um damit Bessie zu amüsiren und Maisie zu vergessen. Jetzt war – dank der Thorheit eines bösen kleinen Dienstmädchens – nicht mehr die Rede davon, nicht einmal die Hoffnung vorhanden, daß er eines Tages ein dauerndes Interesse an dem Dienstmädchen nehmen könnte. Das Aergste von allem war, daß er in Maisies Augen infolge dessen lächerlich erschienen. Eine Frau wird dem Manne, der die Arbeit ihres Lebens vernichtet hat, verzeihen, so lange er ihr Liebe gibt; ein Mann kann demjenigen verzeihen, der die Liebe seines Lebens vernichtet, aber niemals wird er die Zerstörung seines Werkes verzeihen.
»Tok – tok – tok,« machte Dick zwischen den Zähnen, dann lächelte er mild. »Es ist ein Omen, Bessie, und – alles genauer betrachtet – es geschieht mir recht für das, was ich gethan habe. Beim Himmel, das erklärt das Fortlaufen von Maisie. Sie muß mich für vollständig verrückt gehalten haben – sie ist nur wenig zu tadeln. Das ganze Bild ist also verdorben, nicht wahr? Weshalb thaten Sie es?«
»Weil ich damals zornig war. Ich bin es jetzt nicht – es thut mir ganz schrecklich leid.«
»Das wundert mich. – Es macht jedoch nichts. Ich bin zu tadeln wegen meines Irrtums.«
»Welchen Irrtums?«
»Etwas, was Sie nicht verstehen würden, Teuerste. Großer Gott, zu denken, daß ein kleines Stück Schmutz wie Sie mich aus meiner Bahn schleudern konnte!«
Dick sprach mit sich selbst, als Bessie versuchte, ihr Handgelenk aus seinem Griffe zu befreien.
»Ich bin kein Stück Schmutz, Sie sollten mich nicht so nennen! Ich that es, weil ich Sie haßte, und es thut mir jetzt nur leid, weil Sie – weil Sie –«
»Gerade heraus – weil ich blind bin. Es geht nichts über Takt bei kleinen Dingen.«
Bessie begann zu schluchzen. Sie liebte es nicht, gegen ihren Willen festgehalten zu werden; sie fürchtete sich vor dem blinden Antlitz und fürchtete sich, dasselbe anzublicken, und war außerdem betrübt, daß Dick über ihre große Rache nur gelacht hatte.
»Weinen Sie nicht,« fügte er und nahm sie in seine Arme. »Sie thaten nur, was Sie für recht hielten.«
»Ich – ich bin kein kleines Stück Schmutz, und wenn Sie das sagen, werde ich niemals wieder zu Ihnen kommen.«
»Sie wissen gar nicht, was Sie mir angethan haben. Ich bin nicht zornig – wirklich nicht. Seien Sie eine Minute ruhig.«
Bessie blieb zitternd in seinen Armen. Dicks erster Gedanke fiel auf Maisie; es schmerzte ihn, als wenn ein weißglühendes Eisen auf eine Wunde trifft. Nicht umsonst ist es einem Manne gestattet, sich mit der unrechten Frau zu verbünden. Sobald der erste Schmerz, die erste Verbindung vorüber, die nur das Vorspiel sind, beginnt das eigentliche Spiel, denn die gerechte Vorsehung, der es gefällt, Schmerzen aufzuerlegen, hat bestimmt, daß der Todeskampf wiederkehren wird, und zwar mitten in der ärgsten Freude. Diejenigen kennen diese Qual, die durch die Liebe ihres Lebens verlassen worden sind oder dieselben verlassen haben und gezwungen wurden, sich diese Liebe in den Armen ihrer zweiten Frau zu vergegenwärtigen. Es ist besser, allein zu bleiben und nur die Qualen dieses Alleinseins zu erdulden, so lange es möglich ist, in der täglichen Arbeit Zerstreuung zu finden. Wenn dieses Mittel aufhört, so muß der Mensch bemitleidet und allein gelassen werden.
An diese Dinge und noch einige andere dachte Dick, während er Bessie an sein Herz gedrückt hielt.
»Obgleich Sie es vielleicht nicht wissen,« sagte er, sein Haupt aufrichtend, »so ist der Herr ein gerechter und ein schrecklicher Gott, Beß, mit einem sehr kräftigen Sinn für Humor. Es geschieht mir recht – es geschieht mir ganz recht! Torp würde es verstehen, wenn er hier wäre; er muß unter Ihren Händen etwas gelitten haben, Kind, doch nur für einen Augenblick. Ich rettete ihn. Möge das jemand mir gutschreiben.«
»Lassen Sie mich gehen,« sagte Bessie, während ihr Gesicht sich verfinsterte. »Lassen Sie mich gehen.«
»Alles zu seiner Zeit. Haben Sie jemals die Sonntagsschule besucht?«
»Nein. Lassen Sie mich gehen, sage ich Ihnen! Sie machen sich über mich lustig.«
»Wirklich nicht. Ich mache mich über mich selbst lustig ... Also: ›Er erlöste andere, sich selbst konnte er nicht erlösen.‹ Es ist nicht ganz genau ein Schulstubentext.« Er ließ ihr Handgelenk los, aber da er sich zwischen ihr und der Thüre befand, konnte sie nicht entfliehen. »Was für eine ungeheure Menge Böses kann doch solch eine kleine Frau anrichten?«
»Es thut mir leid, ganz schrecklich leid wegen des Bildes.«
»Mir nicht. Ich bin Ihnen sogar sehr dankbar dafür, daß Sie es verdorben haben ... Worüber sprachen wir, ehe Sie dieser Sache erwähnten?«
»Ueber das Fortziehen – und über Geld. Daß ich und Sie fortziehen sollten.«
»Natürlich. Wir wollen fortgehen – das heißt, ich werde es.«
»Und ich?«
»Sie sollen fünfzig ganze Pfund für das Verderben eines Bildes erhalten.«
»Dann wollen Sie nicht –?«
»Ich fürchte, nein, Teuerste. Denken Sie an die fünfzig Pfund für lauter hübsche Dinge für Sie.«
»Sie sagten doch, Sie könnten nichts machen ohne mich.«
»Das war vor kurzem auch wahr. Dank Ihnen, befinde ich mich jetzt besser. Geben Sie mir meinen Hut.«
»Nehmen Sie an, ich thäte es nicht?«
»Dann wird es Benton thun, und Sie würden fünfzig Pfund verlieren. Das ist alles. Geben Sie ihn her.«
Bessie fluchte leise vor sich hin. Sie hatte den Mann aufrichtig bemitleidet, ihn beinahe ebenso aufrichtig geküßt, denn er war nicht häßlich; es gefiel ihr bei ihm und eine Zeit lang seine Beschützerin zu sein, und vor allen Dingen waren da viertausend Pfund zu handhaben. Jetzt hatte sie infolge eines Ausgleitens der Zunge und eines kleinen weiblichen Verlangens, jemand ein wenig, nicht zu viel, Schmerz zu verursachen, das Geld verloren, ebenso das gesegnete Nichtsthun und die hübschen Sachen, das Zusammenleben, sowie die Gelegenheit, von außen wie eine respektable wirkliche Dame auszusehen.
»Jetzt stopfen Sie mir eine Pfeife. Der Tabak schmeckt mir zwar nicht, doch das thut nichts, ich will über etwas nachdenken. Welchen Tag in der Woche haben wir, Beß?«
»Dienstag.«
»Dann ist Donnerstag Mailtag. Was für ein Thor – was für ein blinder Thor bin ich gewesen! Zweiundzwanzig Pfund genügen für meine Rückreise. Nehmen wir zehn für außerordentliche Ausgaben. Wir müssen bei Madame Binat aus alter Freundschaft einkehren. Zweiunddreißig Pfund zusammen. Fügen wir hundert Pfund hinzu für die Kosten des letzten Ausfluges – Gott, wie wird Torp mich anstarren, wenn er mich sieht! – hundertundzweiunddreißig, es bleiben achtundsiebenzig für Bakschisch – ich werde sie nötig haben – und zum Spielen. Weshalb weinen Sie, Beß? Es war nicht Ihre Schuld, mein Kind, es war die meine ganz allein. O, Sie komisches, kleines Opossum, trocknen Sie Ihre Augen und führen Sie mich aus! Ich bedarf des Paß- und des Checkbuches. Warten Sie eine Minute. Viertausend Pfund zu vier Prozent – das ist ein sicherer Zinsfuß – geben hundertundsechzig Pfund jährlich; hundertundzwanzig Pfund jährlich – die ebenfalls sicher sind – macht zweihundertundachtzig, und zweihundertundachtzig Pfund zu dreihundert jährlich addirt, bedeuten goldenen Luxus für eine einzelne Frau. Beß, wir wollen zur Bank gehen.«
Um zweihundertundzehn Pfund reicher, die in seinem Geldgurt untergebracht waren, veranlaßte Dick Bessie, die jetzt ganz verwirrt geworden, von der Bank nach den Bureaux der P. und O. mit ihm zu fahren, wo er seine Sache glatt erklärte.
»Port Saïd, Einzelkabine erster Klasse, die Kabine so nahe als möglich bei der Gepäckluke. Welches Schiff geht?«
»Der Kolpong,« antwortete der Beamte.
»Das ist ein nasser kleiner Hooker. Ist es in Tilbury mit einem Tender oder in Galleons bei den Docks?«
»Galleons. Zwölf vierzig, Donnerstag.«
»Danke. Bitte, wechseln Sie. Ich kann nicht besonders gut sehen. Wollen Sie mir das Geld in die Hand zählen?«
»Wenn alle Leute ihre Passage so nähmen wie der, anstatt über ihre Koffer zu schwatzen, würde das Leben etwas wert sein,« bemerkte der Beamte zu seinem Nachbarn, der versuchte, einer abgematteten Mutter zahlreicher Kinder auseinanderzusetzen, daß kondensirte Milch für Babies auf dem Meere ebenso gut sei als täglich frisch gemolkene.
»Wir sind nun,« rief Dick aus, als sie wieder in das Atelier zurückgekehrt waren, und klopfte dabei auf seinen mit Billet und Geld angefüllten Geldgurt – »wir sind nun außerhalb des Bereiches von Mann, Teufel oder Weib, was noch viel wichtiger ist. Ich muß noch drei kleine Geschäfte abmachen vor Donnerstag, aber ich bedarf dabei nicht Ihrer Hilfe, Beß. Kommen Sie am Donnerstag morgens neun Uhr her. Wir werden zusammen frühstücken und Sie sollen mich dann hinunter nach der Galleonsstation bringen.«
»Was wollen Sie denn thun?«
»Natürlich fortgehen. Weshalb sollte ich noch hier bleiben?«
»Sie können doch aber nicht für sich selbst sorgen?«
»Ich kann alles thun. Ich stellte es mir früher nicht so vor, aber ich kann es. Ich habe bereits ein gut Teil gethan. Der Entschluß soll mit einem Kuß belohnt werden, wenn Bessie nichts einzuwenden hat.«
Merkwürdig genug hatte Bessie etwas einzuwenden, worauf Dick lachte: »Ich vermute, Sie haben recht. Nun kommen Sie übermorgen um neun Uhr und Sie werden Ihr Geld erhalten.«
»Bestimmt?«
»Ich bin kein Schwindler, und Sie werden nicht erfahren, was ich thue oder lasse, wenn Sie nicht kommen. O, aber es ist lange, sehr lange zu warten. Adieu, Bessie – schicken Sie Benton her, wenn Sie fortgehen.«
Der Haushälter kam.
»Was ist die ganze Ausstattung in meinen Zimmern wert?« fragte Dick herrisch.
»Das kann ich nicht sagen, Herr. Einige Sachen sind sehr hübsch und manche schrecklich abgenützt.«
»Ich bin für zweihundertundsiebenzig Pfund versichert.«
»Versicherungspolicen sind nicht maßgebend, obschon ich nicht sage –«
»O, verdammt sei Ihre Weitschweifigkeit! Sie haben Ihre Auslese bei mir und den übrigen Mietern gehalten. Wie, Sie sprachen neulich davon, sich zurückzuziehen und ein öffentliches Haus zu kaufen. Geben Sie auf eine gerade Frage eine gerade Antwort.«
»Fünfzig!« sagte Mr. Benton, ohne einen Augenblick zu zaudern.
»Verdoppeln Sie die Summe oder ich werde die Hälfte von allem zerbrechen und den Rest verbrennen.«
Er tastete sich nach dem Bücherständer hin, auf dem ein Haufen Skizzenbücher lag, und drehte eine von den Mahagonisäulen heraus.
»Das ist sündhaft,« sagte der Haushälter beunruhigt.
»Es ist mein Eigentum. Hundert oder –«
»Einhundert sei es. Es wird mich drei Pfund sechs Schilling kosten, um diese Säule wieder ausbessern zu lassen.«
»Ich glaubte so ungefähr. Was müssen Sie für ein ausgemachter Schwindler sein, um den Preis auf einmal so zu verdoppeln.«
»Ich hoffe, daß ich nichts gethan habe, um irgend einen von den Mietern unzufrieden zu machen, am wenigsten von allen Sie, Herr.«
»Das thut nichts. Bringen Sie mir morgen das Geld und sorgen Sie dafür, daß meine sämtlichen Kleider eingepackt werden in den kleinen Koffer aus Büffelleder. Ich gehe fort.«
»Aber die Rechnung für das Vierteljahr?«
»Ich werde Entschädigung bezahlen. Sehen Sie nach dem Einpacken und lassen Sie mich allein.«
Mr. Benton besprach diese neue Abreise mit seiner Gattin, die der festen Ueberzeugung war, daß Bessie die Ursache von allem sei. Ihr Gatte hatte eine mildere Ansicht.
»Es kommt sehr plötzlich – aber er war stets so plötzlich in allem, was er that. Höre ihn nur jetzt!« Aus Dicks Zimmern ertönte ein altes Matrosenlied.
»Mr. Benton! Mr. Benton! Wo, zum Henker, ist meine Pistole?«
»Rasch, er will sich erschießen – nachdem er verrückt geworden!« rief Mrs. Benton aus.
Mr. Benton sprach besänftigend zu Dick, aber erst etwas später konnte der letztere, in seinem Schlafzimmer auf und ab trabend, die Absicht des Versprechens begreifen, daß er morgen alles finden würde.
»O, Sie kupfernasiger alter Narr – Sie impotenter Akademiker,« schrie er schließlich. »Glauben Sie, ich wollte mich totschießen? Nehmen Sie doch die Pistole in Ihre albern zitternde Hand. Wenn Sie dieselbe berühren, wird sie losgehen, weil sie geladen ist. Sie muß sich irgendwo unter meinen Feldzugsgegenständen befinden – in der Abteilung auf dem Boden des Koffers.«
Lange vorher hatte sich Dick sorgfältig mit einer Feldausrüstung von vierzig Pfund Gewicht versehen, die nach seinen eigenen Erfahrungen zusammengestellt war. Es war dieser beiseite geschobene Schatz, den er herauszufinden und wieder zu benützen versuchte. Mr. Benton zog den Revolver von seinem Platze oben auf dem Gepäck hervor, während Dick seine Hand zwischen den Khakirock und Hosen steckte, die blauen Tuchgamaschen und die dicken Flanellhemden, die über ein Paar gebogene Sporen ausgebreitet waren. Unter diesen und der Wasserflasche lagen ein Skizzenbuch und eine schweinslederne Schreibmappe.
»Diese Dinge gebrauchen wir nicht; Sie können dieselben bekommen, Mr. Benton. Alles andere will ich behalten. Packen Sie das übrige oben rechts in meinen Koffer. Wenn Sie das gethan haben, so kommen Sie mit Ihrer Frau zu mir ins Atelier; ich habe euch beide nötig. Warten Sie noch einen Augenblick, geben Sie mir eine Feder und ein Blatt Notenpapier.«
Es ist keine leichte Sache, zu schreiben, wenn man nicht sehen kann, und Dick hatte besondere Gründe zu wünschen, daß seine Schrift deutlich sei. Er fing deshalb an, indem er seiner rechten Hand mit der linken folgte: »Die schlechte Schrift rührt davon her, weil ich blind bin und meine Feder also nicht sehen kann.« – »Hm! Selbst ein Anwalt kann das nicht mißverstehen. Es muß unterzeichnet sein, vermute ich, braucht aber nicht bezeugt zu werden. Jetzt einen Zoll niedriger – weshalb lernte ich nicht, mich einer Schreibmaschine zu bedienen?« – »Dies ist der letzte Wille und das Testament von mir, Richard Heldar. Ich bin körperlich und geistig gesund, auch ist kein vorhergehendes Testament zu widerrufen.« – »Das ist alles richtig. Verdammte Feder! Wo war ich denn auf dem Papier?« – »Ich vermache alles, was ich auf der Welt besitze, nämlich viertausend Pfund, sowie zweitausendsiebenhundertundachtundzwanzig Pfund, die für mich angelegt sind –« – »O, ich kann das nicht so geradezu sagen.« Er riß die Hälfte des Blattes ab und begann von neuem mit der Klausel bezüglich der Handschrift; dann fuhr er fort: »Ich hinterlasse alles Geld, das ich besitze ...« hier folgten Maisies Namen, sowie diejenigen der beiden Banken, bei denen sein Geld angelegt war. »Es mag wohl nicht ganz in Ordnung sein, aber kein Mensch hat nur einen Schatten von Recht, es anzufechten, auch habe ich Maisies Adresse angegeben. – Kommen Sie herein, Mr. Benton. Dies hier ist meine Unterschrift; Sie haben dieselbe oft genug gesehen, um sie zu kennen; es ist notwendig, daß Sie und Ihre Frau dieselbe bezeugen. Ich danke. Morgen müssen Sie mich zu dem Hausbesitzer führen, weil ich Entschädigung dafür bezahlen will, daß ich ohne Kündigung fortgehe; auch will ich dieses Papier bei ihm deponiren, im Falle mir während meiner Abwesenheit etwas zustoßen sollte. Jetzt wollen wir ein Feuer im Kamin des Ateliers anzünden. Bleiben Sie bei mir und reichen Sie mir meine Papiere, wie ich dieselben gebrauche.«
Niemand, der es nicht selbst erfahren hat, weiß, was für ein schönes Feuer Briefe, Zettel und Listen, die sich im Laufe eines Jahres angesammelt haben, machen können. Dick stopfte jedes Schriftstück aus dem Atelier in den Kamin – nur drei uneröffnete Briefe verschonend, verbrannte Skizzenbücher, Notizbücher, desgleichen neue und halb vollendete Bilder.
»Was für einen Haufen von Plunder hat doch ein Mieter um sich herum, wenn er längere Zeit an einem Orte bleibt!« sagte Mr. Benton schließlich.
»Das ist wahr. Ist noch irgend etwas übrig geblieben?« Dick tastete längs den Wänden hin. »Nicht ein Stück, der Kamin ist beinahe glühend rot.«
»Vortrefflich, Sie haben an den Skizzen einen Wert von etwa tausend Pfund Wert verloren. Ha, ha! Ganze tausend Pfund an Wert, wenn ich daran denke, was ich zu sein pflegte.«
»Ja, Herr,« bemerkte Mr. Benton höflich. Er war fest überzeugt, daß Dick verrückt geworden sei, sonst würde derselbe sich niemals von seiner schönen Einrichtung für einen Pappenstiel getrennt haben. Die Bilder hätten nur Platz fortgenommen, es war viel besser, dieselben zu verbrennen.
Es blieb jetzt nur noch übrig, das kurze Testament in sichere Hände niederzulegen, was indes erst am folgenden Tage geschehen konnte. Dick griff auf dem Boden umher, suchte die kleinsten Papierstücke zusammen und überzeugte sich wiederholt, daß kein geschriebenes Wort, kein Zeichen aus seinem vergangenen Leben in den Schubkästen oder dem Schreibtische zurückgeblieben war; darauf setzte er sich vor den Kamin hin, bis das Feuer erlosch und das erkaltete Eisen im Schweigen der Nacht krachte.