Alexander Kielland
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Alexander Kielland

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»Grün ist die Hoffnung«.

»Du stäubst!« rief Vetter Hans.

Ole hörte nicht.

»Er ist ebenso taub wie Tante Maren,« dachte Vetter Hans; »du stäubst, Ole!« rief er lauter.

»Bitte um Verzeihung!« sagte Ole und hob bei jedem Schritt die Beine hoch in die Luft. Um keinen Preis der Welt hätte er seinen Bruder geniren mögen; er hatte schon genug auf dem Gewissen.

Ging er nicht in diesem Augenblick umher und dachte an die, von welcher er wußte, daß der Bruder sie liebe? und war es nicht sündhaft, daß er nicht Herr einer Leidenschaft werden konnte, die ein Unrecht gegen den eigenen Bruder und außerdem gänzlich hoffnungslos war?

Vetter Ole ging streng mit sich ins Gericht; und während er sich auf der anderen Seite des Weges hielt, um keinen Staub aufzuwirbeln, versuchte er mit aller Macht an gleichgültige Dinge zu denken. Aber wie weit entfernt er auch mit seinen Gedanken begann, so kam er doch auf den wunderlichsten Richtwegen stets zu dem verbotenen Punkt mit ihnen zurück und ließ sie wie die Motten ums Licht flackern.

Die Brüder, welche auf Ferienbesuch bei ihrem Onkel, dem Prediger, waren, befanden sich grade auf dem Wege zur nächsten Hardesvogtei, wo eine Tanzgesellschaft für die Jugend stattfand. Es waren viele Studenten auf Besuch in der Gegend, so daß diese Jugendtanzgesellschaften wie eine Epidemie von Hof zu Hof gingen.

Vetter Hans war daher ganz in seinem Element: er sang, er tanzte, er war witzig vom Morgen bis zum Abend; und wenn sein Ton ein wenig scharf gewesen, als er behauptete, daß Ole stäubte, so war es eigentlich nur aus Aerger darüber, daß er den Bruder durchaus nicht in dieselbe Stimmung bringen konnte.

Wir wissen schon, was Ole bedrückte. Aber selbst unter normalen Verhältnissen war er ruhiger und schweigsamer als der Bruder. Er tanzte »wie ein Nußknacker« – sagte Hans –, konnte durchaus nicht singen (Vetter Hans behauptete auch, daß seine Stimme beim Sprechen unsympathisch und monoton sei), außerdem war er in Damengesellschaft zerstreut und linkisch.

Als sie sich der Hardesvogtei näherten, hörten sie einen Wagen hinter sich.

»Das ist der Doctor,« sagte Hans und stellte sich auf, um zu grüßen; denn die Geliebte war die Tochter des Districtsarztes.

»O – wie reizend sie ist – in rosa!« sagte Hans. Vetter Ole sah sofort, daß die Geliebte in hellgrün war, aber er wagte kein Wort zu sprechen, um sich nicht durch seine Stimme zu verrathen; denn das Herz saß ihm im Halse.

Der Wagen fuhr in voller Fahrt vorbei; die jungen Leute grüßten und der alte Doctor rief: »Willkommen auf später!«

»Nein, es war ja die Hellgrüne!« sagte Vetter Hans; er hatte kaum Zeit gehabt, seine brennenden Blicke von der Hellrothen auf die Hellgrüne zu richten; »aber war sie nicht hübsch, Ole!«

»O ja!« antwortete Ole mit Anstrengung.

»Du bist ein Querkopf!« rief Hans empört aus; »aber wenn du auch allen Sinnes für weibliche Schönheit bar bist, so scheint es mir doch, daß du für die – die – die Zukünftige deines Bruders mehr Interesse zeigen könntest.«

»Wenn du nur wüßtest, wie sehr sie mich interessirt« – dachte Ole und schlug die Augen nieder.

Aber Hans war durch diese reizende Begegnung in eine Stimmung von Verliebtheit und Glückseligkeit gekommen: er schwang seinen Stock, schnalzte mit den Fingern und sang aus voller Kehle. Und während er an jene mit dem hellgrünen Kleide dachte – an das frühlingsfrische, sommervogelleichte Gewand, wie er es nannte – fiel ihm ein altes Lied ein, das er mit großem Behagen sang:

Grün ist die Hoffnung – Trommelommelom, trommelommelom.
Immer und ewig schön, – – Trommelommelom, trommelommelom.

Dieser Vers schien ihm so vortrefflich in die Situation zu passen, daß er ihn bis in die Unendlichkeit wiederholte – bald in dem Walzertakt der alten Melodie, bald als Marsch – bald in hohen, jubelnden Tönen, bald im Flüsterton, als vertraue er seine Liebe und seine Hoffnung dem Mond und dem Walde an.

Vetter Ole war außer sich. Denn wie große Ehrfurcht er auch vor dem Gesänge seines Bruders hatte, so wurde er dieser »grünen Hoffnung« und des ewigen »Trommelommelom« doch so müde, daß es eine wahre Erleichterung für ihn war, als sie endlich ihren Einzug auf dem Hofe des Hardesvogt hielten.

Der Nachmittag ging auf die gewöhnliche Weise hin; man amüsirte sich herrlich. Denn die meisten waren verliebt, und die, welche es nicht waren, ergötzten sich eigentlich noch mehr, indem sie diejenigen im Auge behielten, welche es waren.

Man spielte Reifenspiel. Vetter Hans lief behende umher und machte tausend Späße, brachte das Spiel in Verwirrung und erwies seiner Dame alle möglichen Aufmerksamkeiten.

Vetter Ole stand auf seinem Posten und nahm die Sache ernst; er fing den Reif und warf ihn weiter mit der größten Präcision. Ole würde sich auch amüsirt haben, wenn nur sein Gewissen ihm nicht so harte Vorwürfe über seine verbrecherische Liebe zu der »Zukünftigen« seines Bruders gemacht hätte.

Als der Abend kühl wurde, ging die Gesellschaft in den großen Saal, und der Tanz begann.

Ole tanzte niemals viel, aber heute war er besonders wenig dazu aufgelegt. Er vertrieb sich die Zeit damit, Hans zu beobachten, der den ganzen Abend mit der »Zukünftigen« umherschwärmte; Ole's Herz schnürte sich zusammen, wenn er die Hellgrüne im Arm des Bruders dahinschweben sah, und es schien ihm, als tanzten sie jeden Tanz mit einander.

Endlich kam die Zeit zum Aufbruch. Die meisten Eltern waren schon in den altehrwürdigen Wagen fortgefahren, während die Jugend beschlossen hatte, einander nach Hause zu begleiten, da es eine schöne Mondnacht war.

Aber als die letzte Galoppade getanzt war, wollte die Wirthin durchaus nicht zulassen, daß die jungen Damen so warm in die Nachtluft hinaus gingen. Sie decretirte daher eine halbe Stunde Abkühlung. Um diese Zeit auf die angenehmste Weise auszufüllen, bat sie Vetter Hans ein kleines Lied vorzutragen.

Dieser war gleich bereit; er gehörte nicht zu jenen unangenehmen Menschen, die sich lange bitten lassen; er war sich dessen, was er bieten konnte, bewußt.

Indessen war es das Eigenthümliche mit Hans' Gesang, oder eigentlich in der Beurtheilung desselben, daß die Meinungen mehr als gewöhnlich getheilt waren. Von drei Personen wurde sein Gesang für mehr als unvergleichlich schön gehalten. Diese drei Personen waren erstens Vetter Ole, dann Tante Maren und endlich Vetter Hans selbst. Dann kam eine große Partei, welche meinte, daß es komisch sei, Vetter Hans zuzuhören: »er lege immer so viel hinein.« Aber schließlich kamen einige Uebelwollende, welche behaupteten, daß er weder singen noch spielen könne.

In Bezug auf diesen letzten Punkt, das Accompagnement, machte Vetter Ole dem Bruder stets einen stillen Vorwurf – der einzige, welcher seine Bewunderung für ihn verdunkelte.

Er wußte nämlich, wieviel Mühe es Hans selbst und den Schwestern gekostet hatte, ihm diese Begleitungen einzustudiren, besonders jene drei Mollaccorde, mit denen er zu schließen pflegte und die er stets wieder einübte, bevor er in eine Gesellschaft ging.

Wenn er dann den Bruder am Clavier sitzen sah, wie er die Finger achtlos über die Tasten laufen ließ, zur Decke aufblickte und vor sich hin murmelte: »Ja, wie geht das doch!« – als suche er die richtige Tonart, da überlief es Vetter Ole kalt. Denn er wußte, daß Hans überhaupt nur drei Begleitungen kannte: eine in Moll und zwei in Dur.

Aber wenn der Sänger, indem er sich vom Clavier erhob, diese drei wohleinstudirten Mollaccorde so hingeworfen, so willkürlich ausklingen ließ, als sei es etwas, das ihm zufällig in die Finger gekommen, da schüttelte Ole den Kopf und sagte zu sich selbst: »Das ist doch nicht ganz ehrlich von Hans.«

Inzwischen sang der Bruder frischweg von seinem reichen Repertoire; Schubert und Kjerulf waren seine Lieblinge, und so trug er vor: »Du bist die Ruh', – Ich grolle nicht, – Die alten bösen Lieder, – Alles leg' ich dir zu Füßen, – Aus meinen großen Schmerzen mach' ich die kleinen Lieder« – alles mit derselben überlegenen Ruhe und dem leichten, halb spielenden Accompagnement. Das einzige was ihm Schwierigkeiten machte, war die fatale Stelle: »Ich legt' auch meine Liebe und meinen Schmerz hinein«; aber auch darüber kam er hinfort.

Plötzlich hörte Ole, welcher ganz genau die Grenzen von Hans' Fertigkeit auf dem Clavier kannte, daß dieser die gewohnten Wege verließ und begann, sich auf den Tasten umher zu tummeln; und zu seinem Schrecken glaubte er wahrzunehmen, daß Hans nach dem unseligen: »Grün ist die Hoffnung« umher suche. Aber zum größten Glück fand er es nicht und beschränkte sich daher darauf, das Lied halblaut zu summen, indem er die drei berühmten Mollaccorde griff.

»Jetzt sind wir abgekühlt!« rief die Hellgrüne.

Allgemeines Gelächter erhob sich über ihren Eifer, fortzukommen, und sie war feuerroth, als sie »Gute Nacht« sagte.

Vetter Ole, welcher in der Nähe der Hausfrau stand, nahm Abschied; Vetter Hans hingegen wurde vom Hardesvogt zurückgehalten, welcher wissen wollte, unter welchem Professor er Musik studirt habe; und das nahm Zeit in Anspruch.

So geschah es, daß Ole und die Hellgrüne zusammen in das Vorzimmer hinauskamen, wo die jungen Leute sich bald um die Kleiderhalter drängten, theils um die eigenen Röcke zu suchen, theils um die der anderen herunter zu reißen.

»Es nützt nichts, sich vorzudrängen,« sagte die Hellgrüne.

Jetzt schnürte Ole's Kehle sich in ärgerlicher Weise zusammen, so daß es ihm nur glückte, einen dummen Laut hervorzubringen. – Sie standen dicht bei einander, da es sehr eng war, und Ole hätte gern einen Finger darum gegeben, wenn es ihm geglückt wäre, irgend etwas Angenehmes oder auch nur Vernünftiges zu sagen; aber es war ihm unmöglich.

»Sie haben sich heute Abend gewiß nicht amüsirt?« sagte sie freundlich.

Vetter Ole dachte an die traurige Rolle, welche er den ganzen Abend gespielt hatte; seine Unliebenswürdigkeit schien ihm so drückend, und deshalb antwortete er (das Dümmste, das ihm hätte einfallen können – meinte er, indem er die Worte aussprach):

»Es ist schade, daß ich nicht singen kann.«

»Wahrscheinlich eine Familienschwäche,« antwortete die Hellgrüne mit einem schnellen Blick.

»N – ei – n,« sagte Ole ganz confus, »mein Bruder singt ja ausgezeichnet.«

»So? Finden Sie das?« sagte sie trocken.

Dies war das Sonderbarste, was Ole je begegnet war: daß es über den Gesang des Bruders mehr als eine Meinung geben könne, und daß sie, »die Zukünftige«, nicht zwischen den Bewunderern sein sollte! – und doch war es ihm unangenehm das zu hören.

Wieder ein Schweigen, das Ole vergebens zu brechen suchte.

»Tanzen Sie nicht gern?« fragte sie.

»Nicht mit allen,« platzte er heraus.

Sie lachte: »Nein, nein, ein Herr kann ja wählen.«

Jetzt begann Ole den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ihm war wie einem, der in Gedanken versunken an einem Winterabend durch die Straßen geht und plötzlich merkt, daß er auf eine Eisfläche gerathen ist. Es gab keine andere Hilfe als sich aufrecht zu halten und mit dem Muth der Verzweiflung sagte er: »Wenn ich wüßte – oder zu hoffen wagte, daß eine der Damen – nein! daß die Dame, mit welcher ich tanzen will, daß sie Lust hätte – hm! daß sie mit mir tanzen wollte – so – so,« weiter kam er nicht, und nachdem er ein paar Mal »so« – »so« gesagt hatte, schwieg er endlich.

»Sie könnten ja fragen,« – sagte die Hellgrüne.

Das Armband war aufgegangen, und das Schloß war so schwierig zu schließen, daß sie sich vorüber beugen mußte, um es zusammenzudrücken; dabei wurde sie feuerroth.

»Würden Sie zum Beispiel mit mir tanzen?« und dabei ging alles vor Ole im Kreise herum.

»Ja, weshalb nicht,« antwortete sie. Sie stand und bohrte die Spitze ihres Schuhs in eine Spalte des Fußbodens.

»Am Freitag sind Gäste im Pfarrhofe – wollen Sie mir da einen Tanz schenken?«

»Mit Vergnügen; welchen Tanz wünschen Sie?« antwortete sie, indem sie sich bemühte, in dem Ton einer feinen Dame zu sprechen.

»Eine Française?« – denn die ist so lang, dachte Ole.

»Die zweite Française ist noch frei,« antwortete das Fräulein.

»Und eine Galoppade?«

»Ja, danke; die erste Galoppade!« antwortete sie zögernd.

»Und eine Polka?«

»Nein, nein! nicht mehr!« rief die Hellgrüne und blickte Ole angsterfüllt an.

In diesem Augenblick kam Hans in voller Fahrt daher: »Ach, wie glücklich, daß ich Sie gefunden habe, Fräulein! – aber in welcher Gesellschaft!«

Dann zog er in seiner liebenswürdigen Weise die Hellgrüne mit sich fort, um ihren Mantel zu suchen und sich den anderen anzuschließen.

»Eine Française und eine Galoppade; aber nicht mehr – ja, ja! ja, ja!« wiederholte Vetter Ole. Er stand wie festgewurzelt auf der Stelle. Endlich merkte er, daß er allein sei. Schnell ergriff er die erst beste Kappe, ging durch die Hinterthür, schlich sich durch den Garten und kletterte mit der größten Mühe über den Gartenzaun, dicht neben der Pforte, welche noch dazu halb geöffnet war.

Er nahm den ersten Fußsteig, welcher über die Wiese führte und heftete den Blick auf die Schornsteine des Pfarrhofes. Er hatte eine schwache Empfindung, als würde er in dem hohen Grase naß bis an die Knie, aber er merkte durchaus nicht, daß die alte Uniformsmütze vom Hardesvogt, welche er in der Eile so glücklich gefaßt hatte, auf seinem Kopfe hin und her rutschte, bis sie sich endlich beruhigte, nachdem der breite Schirm ihm über das rechte Ohr gefallen.

»Eine Française und eine Galoppade; aber nicht mehr! – – ja, ja! – ja, ja! – – –

Es war ziemlich spät in der Nacht, als Hans sich dem Pfarrhofe näherte. Er hatte die Damen des Doctors nach Hause begleitet, und jetzt ging er und schloß die Rechnung des Tages ab.

»Sie ist etwas scheu; aber im Grunde genommen gefällt mir das.«

Als er auf den Weg zum Garten des Pfarrhofes einbog, sagte er: »sie ist verteufelt scheu, beinahe mehr, als mir lieb ist!«

Aber als er über den Hofplatz ging, schwur er, daß launenhafte, schnippische Damen das Unerträglichste seien, was er sich vorstellen könne.

Die Sache war nämlich die, daß er durchaus nicht mit dem Resultat des Tages zufrieden war. Nicht, daß er einen Augenblick daran zweifelte, geliebt zu werden; aber grade deshalb fand er ihr kaltes und zurückhaltendes Wesen so ärgerlich. Niemals hatte sie ihm den Reifen zugeworfen, nicht ein einziges Mal hatte sie ihn zu einer Tour geholt, und auf dem Heimwege hatte sie mit allen anderen, nur nicht mit ihm gesprochen. Aber das nächste Mal würde er es anders anfangen; sie sollte diesen Tag noch bereuen.

Leise trat er ins Haus, damit Onkel nicht hören sollte, wie spät er heim kam. Um in sein und des Bruders Schlafzimmer zu gelangen, mußte er über einen großen Boden gehen. Hier war ein Fenster, welches die Jugend als eine Thür benützte, durch welche man auf eine Art von Altan gelangte, der von der Bedachung der Gartentreppe gebildet wurde.

Vetter Hans bemerkte, daß das Fenster geöffnet stand; und draußen auf dem Altan sah er in dem klaren Mondschein die Gestalt seines Bruders.

Ole hatte noch die weißen Handschuhe vom Balle an; er hielt sich mit beiden Händen am Gitterwerk fest und starrte in den Mond hinein –

Vetter Hans konnte nicht begreifen, weshalb sein Bruder sich um diese Zeit der Nacht da draußen aufhielt; aber am allerwenigsten konnte er fassen, weshalb er sich einen Blumentopf auf den Kopf gestülpt hatte.

»Er ist betrunken,« dachte Hans und ging vorsichtig näher.

Da hörte er den Bruder etwas von einer Française und einer Galoppade murmeln und dann begann er so wunderliche Bewegungen mit den Händen zu machen.

Hans glaubte, sein Bruder versuche, mit den Fingern zu schnalzen; und jetzt sagte Ole langsam und deutlich in seiner unsympathischen, monotonen Stimme: »Grün ist die Hoffnung – trommelommelom – trommelommelom;« – – der Arme, er konnte ja nicht singen!


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