Eduard von Keyserling
Am Südhang
Eduard von Keyserling

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Karl Erdmann erwachte davon, daß Doktor Ulich sehr gefühlvoll sagte: »Ach, lassen Sie ihn doch noch ein wenig schlafen.« Worauf Graf Lynck kühl erwiderte: »Es ist aber Zeit.« Karl Erdmann richtete sich auf und lachte den Doktor an: »Wissen Sie, Doktor, wie Sie das eben sagten? so als ob Sie im Gefängnis am Bette eines Delinquenten ständen, nun lassen Sie es gut sein, ich bin gleich fertig.«

Der Platz der Zusammenkunft war von der Waldhüterei zwanzig Minuten entfernt. Der Weg führte durch den Wald, die Tannen hingen voller Tropfen und hauchten eine empfindliche Kühle aus. Der Himmel war bewölkt und gleichmäßig grau. »Es ist fatal«, sagte Botho, »daß solche Affären immer zu so früher Morgenstunde stattfinden, das gibt ihnen etwas so ungemütlich Examenhaftes.« »Gemütlich ist es nicht«, meinte Graf Lynck, »ich kannte einen merkwürdigen Herrn...« »Hör, Ottomar«, unterbrach ihn Karl Erdmann, »es ist bewunderungswürdig, daß du zu so früher Morgenstunde schon einen Herrn gekannt hast, an den sich eine Anekdote hängt.« Graf Lynck zog bedauernd die Augenbrauen empor und behielt seine Geschichte für sich. Auf einer kleinen Waldlichtung fanden sie die Herren der Gegenpartei schon versammelt. Herr von Asch kam ihnen grüßend entgegen, klein, elegant, er lachte ohne besonderen Grund und zeigte dabei sehr weiße Zähne, die voll blanker Plomben waren. Dann kam auch Graf Wirks, Unparteiischer, ein starker Herr mit Kaiser-Friedrich-Bart und tiefer Stimme, er war sehr feierlich und gemessen. Der Referendar stand abseits, schmalschultrig und blond, der lange Schnurrbart, eben aus der Bartbinde entlassen, war zu stark nach oben gedreht und entstellte ein wenig das hübsche, junge Gesicht. Alle drei aber waren bleich und sahen aus wie Leute, die sich unbehaglich fühlen, weil sie zu früh aufgestanden sind. Während die andern an das Abmessen der Distanz gingen, trat Karl Erdmann beiseite und zündete sich eine Zigarette an. »Soll ich ihm auf die Beine halten, oder soll ich überhaupt nicht zielen«, dachte er. Doktor Ulich trat zu ihm, seine blauen Augen waren rund, klar vor Erregung. Karl Erdmann lachte, als er ihn ansah: »Nun, Doktor, ein wenig Kopfweh von gestern?« »Ach nein, das ist es nicht«, erwiderte Doktor Ulich, »obgleich ich fürchte, ich habe mich gestern ungehörig benommen. Es war taktlos, von diesen Dingen zu sprechen, aber das ist mein Unglück, ich bin zuweilen, taktlos, und jetzt bin ich sehr aufgeregt – Sie verstehen. Ich habe nie so etwas durchgemacht.«

»Beruhigen Sie sich«, meinte Karl Erdmann. »Sie werden sehen, es ist ganz undramatisch. Und was das gestrige Gespräch anbetrifft, so war es doch etwas Neues, denn Ottomar Lyncks diplomatische und meines Bruders militärische Anekdoten kenne ich schon alle. Aber jetzt ist es wohl Zeit anzutreten.«

Die Gegner stellten sich gegenüber, Karl Erdmann hielt seine Pistole und sah das Bein des Referendars an, ein ziemlich dünnes Bein in einer grau in grau gestreiften Hose, es zitterte ein wenig, »es friert wohl«, dachte er. Dann begann Graf Wirks zu zählen, Karl Erdmann schoß, er wußte nicht, ob er auf das Bein des Referendars schoß, er hörte auch den Schuß seines Gegners, Graf Wirks zählte noch einen Augenblick, dann war es zu Ende. Karl Erdmann gab seine Pistole dem Grafen Lynck ab und steckte die Hände in die Taschen, weil sie ihm froren. Er sah zum Referendar hinüber und fand, daß dieser ziemlich ungelenk von einem Fuße auf den andern trat, wie jemand, der in Verlegenheit ist, was er tun soll. »Wahrscheinlich sehe ich jetzt auch ein wenig komisch aus«, ging es Karl Erdmann durch den Kopf. Die Sekundanten schossen ihre Pistolen aus, Graf Wirks unternahm es, die Gegner zu versöhnen, endlich trat der Referendar auf Karl Erdmann zu und reichte ihm eine unangenehm weiche, kalte Hand. Man stand noch eine Weile beieinander, sprach von dem Walde und dem Wildstande, endlich trennte man sich. »Wir brauchen uns nicht zu sehr zu beeilen«, sagte Botho auf dem Heimwege, »wir können ruhig frühstücken, ich schicke einen reitenden Boten voraus, der wird zu Hause melden, daß an Bord alles gesund ist.«

Die Stimmung beim Frühstück war gedrückt. Graf Lynck gähnte viel, behauptete schlecht geschlafen zu hab und klagte über Gerüche des Hauses. Botho war gereizt, und als Karl Erdmann etwas Militärisches erzählte, widersprach er ihm ironisch, und es entstand eine spitze Diskussion zwischen den Brüdern. Der Doktor schwieg. Später auf der Fahrt begannen Botho und Graf Lynck sofort zu schlafen. Auch Karl Erdmann war müde, die Augenlider wurden ihm schwer. Trotz des bewölkten Himmels herrschte druckende Schwüle, dazu die dichten Staubwolken, die den Wagen umgaben, das Atmen erschwerten und in der Nase kitzelten. Karl Erdmann nickte zuweilen ein, fuhr immer wieder aus dem Schlafe auf, und jedesmal hatte er das seltsame Gefühl, als sei etwas Unangenehmes, Widerwärtig geschehen. Er mußte sich auf sich selbst besinnen, sie sagen, daß nichts geschehen sei, im Gegenteil, alles war in bester Ordnung, es wurde weiter gelebt, und das war doch bequem und gemütlich. Einmal fiel sein Blick auf den Doktor, dieser schlief nicht, sondern saß da mit gesenktem Kopf, die Hände gefaltet, drehte die Daumen umeinander, und sein Gesicht hatte einen so mißmutigen Ausdruck, daß Karl Erdmann lachen mußte. »Doktor«, sagte er, »Sie sind verstimmt und enttäuscht.« Der Doktor fuhr auf: »Enttäuscht, o nein, Herr von Wallbaum, ich bin glücklich darüber, daß alles so gut abgelaufen ist, sehr glücklich.« »Und doch«, wandte Karl Erdmann ein. Doktor Ulich lächelte ein kindlich befangenes Lächeln: »Ja, ich weiß nicht, was das ist, wahrscheinlich liegt darin eine besondere Vornehmheit und Feinheit, daß alles so nüchtern und alltäglich aussah. Sie wollten doch dem Herrn Referendar nichts tun und er Ihnen auch nichts. Aber entschuldigen Sie, es ist wohl unschicklich, davon zu sprechen, natürlich liegt es an mir, ich hatte mich ein wenig aufgeregt, ich hatte sozusagen innerlich zu große Vorbereitungen getroffen; wir sind doch auch geizig mit unsern Erregungen, es verstimmt ein wenig, wenn wir an ein Erlebnis mehr Erregung gewandt haben, als nötig war. Es ist vielleicht, obgleich der Vergleich gewiß unpassend ist, es ist vielleicht doch etwas Ähnliches wie der Ärger, den wir fühlen, wenn wir uns im Hotel durch eine unnütze Anwandlung von Großartigkeit haben hinreißen lassen, dem Oberkellner ein zu großes Trinkgeld zu geben. Sie lachen, Herr von Wallbaum, und es ist gewiß lächerlich, was ich da sage. Eben mußte ich an etwas denken, etwas – aber es ist sozusagen eine literarische Reminiszenz.«

»O bitte, das macht nichts, meinte Karl Erdmann fröhlich. »Ich verstehe zwar wenig von Literatur, aber ich habe nichts gegen sie.«

»Lichtenberg erzählt einmal«, begann der Doktor, »von einem Traum. Er steht auf einem Marktplatze und sieht zwei Männern zu, die ein Spiel spielen mit Würfeln, glaube ich. Nachdem er eine Weile mit Interesse zugesehen hatte, fragte er einen der Männer: ›Was kann man bei diesem Spiele gewinnen?‹ ›Nichts‹, antwortete der Mann. ›Was kann man verlieren?‹ fragte er gleich weiter. ›Nichts‹, antwortete der Mann. Und dieses Spiel schien mir ein sehr wichtiges Spiel, endet der Bericht. Schön, nur glaube ich, daß der Professor Lichtenberg, als er von diesem Traum erwachte, einen Augenblick etwas ärgerlich, etwas beschämt darüber gewesen ist, daß er das Traumspiel so wichtig genommen hatte. Übrigens, Kutscher, halten Sie an, hier geht ein Richtweg durch den Wald bis zu meiner Wohnung, ich möchte ein wenig gehen. Die Herren schlafen, ich will sie nicht stören, leben Sie wohl, Herr von Wallbaum, ich bin sehr glücklich, daß alles so gut abgelaufen ist.« Er schüttelte Karl Erdmann herzlich die Hand, sprang aus dem Wagen und schlug einen Fußpfad über eine Wiese ein. Karl Erdmann schaute ihm nach, wie er nachdenklich mit gesenktem Haupte dahinging, wie er sich allmählich aufrichtete, wie ein jugendliches, lustiges Sichwiegen in die Gestalt kam. Jetzt nahm er den Hut ab und streckte den Arm aus. » Ich glaube, der Kerl singt«, dachte Karl Erdmann, »der ist froh, uns los zu sein. Wir kommen ihm wohl etwas unheimlich, vielleicht ein bißchen lächerlich vor. Ein wunderlicher Kauz mit seinen inneren Vorbereitungen, eigentlich eine Frechheit, was er da gesagt hat, und doch –« er dachte an die Nacht im Park, an Danielas Tränen, die auf sein Gesicht fielen, an die schmerzhafte und doch so wundervolle Gespanntheit seiner Seele in jener Nacht. Es mochte nicht ganz leicht sein, da wieder anzuknüpfen, als sei nichts geschehen. Aber schließlich war er doch nicht verpflichtet, tot zu sein; und als es gegen Abend kühler wurde, der westliche Himmel sich rot und gold färbte und aus den Wiesen und Feldern der Sommer wieder stark und süß zu duften begann, da erschien dieses Anknüpfen ans Leben Karl Erdmann immer leichter. Als endlich am Ende der Allee das Haus auftauchte und die Freitreppe, auf der sich im Abendlichte Gestalten in hellen Sommerkleidern bewegten, da freute er sich wieder stark auf das Leben, das ihn dort erwartete.

Leo rief »Hurra«, und Frau von Wallbaum lehnte ihren Kopf an Karl Erdmanns Brust und weinte: »Ach, diese schrecklichen Sachen, die die Männer tun«, klagte sie. Aber Herr von Wallbaum klopfte ihr auf den Rücken und beruhigte sie: »Nun, nun, jetzt ist's ja vorüber, jetzt braucht man nicht mehr davon zu sprechen und daran zu denken.« »Ach ja«, sagte Frau von Wallbaum und wischte sich die Augen, »jetzt braucht man an diese schrecklichen Dinge nicht mehr zu denken.«

Karl Erdmann sah sich nach Daniela um. Sie stand ein wenig abseits und schaute sich ruhig, als gehörte sie nicht dazu, die Familienbegrüßung an. Als Karl Erdmann auf sie zutrat, reichte sie ihm die Hand und sagte: »Nun also.« Er wollte ihr in die Augen sehen, sie aber sah an ihm vorüber, das kränkte ihn. Allein er tröstete sich, jetzt hatte er ja Zeit, es war doch gut, wenn man nicht mehr Eile zu haben braucht.

Die Familie wartete heute einigermaßen gespannt auf das Abendessen, große Krebse waren angekommen und sollten serviert werden. Herr von Wallbaum beriet mit Graf Lynck und Botho über den Moselwein, der dazu getrunken werden sollte, auch Karl Erdmann interessierte sich für den Moselwein. Die Mahlzeit gestaltete sich nun auch sehr angeregt, und Karl Erdmann faßte die Heiterkeit um ihn her als Ovation für sich auf, er wurde ganz ausgelassen. Zuweilen schaute er zu Daniela hinüber, sie war ja doch der eigentlichste, tiefste Grund seiner Heiterkeit und seines Glückes. Sie saß wieder so da, als hätte sie keinen rechten Anteil an der Familienheiterkeit, die wohlwollende Fremde, die von der Familie ein wenig abrückt. Sie sollte nur abrücken, Karl Erdmann wußte wohl, von ihm konnte sie nicht fortrücken. Er fühlte sich ordentlich erhoben von dem starken männlichen Besitz- und Machtbewußtsein.

Nach dem Essen auf der Veranda mußte Karl Erdmann neben seiner Mutter sitzen, sie hielt seine Hand und erzählte vom gestrigen Tage, und er empfand es wieder, daß es nichts Beruhigenderes gab als diese Stimme. Es war die alte Kindergewohnheit, und das Kind hatte gewußt, daß, wo diese Stimme erklang, ihm nichts geschehen konnte. Während er behaglich zuhörte, versuchte er unter den Gestalten, die sich vor ihm im Dunkeln auf der Veranda bewegten, Daniela zu erkennen. Dort war sie, schmal, weiß, aufrecht, gefolgt von dem leisen Rauschen ihrer Schleppe. Jetzt stieg sie einige Stufen der Treppe hinab, jetzt stand sie und sprach mit jemand. Es war Dorn. »Ach, Herr Dorn«, sagte sie, »ich habe meine griechische Lektion für morgen noch nicht gelernt, wie werde ich morgen bestehen.« »Morgen, gnädige Frau«, erwiderte Dorn, »bis morgen ist es noch eine Unendlichkeit hin.«

Karl Erdmann ärgerte sich darüber, daß dieser Herr die einfachsten Dinge so pathetisch sagte, als sollte es eigentlich eine Liebeserklärung sein. Als Daniela gleich darauf allein auf dem Gartenwege stand, ging er zu ihr hinüber. »Daniela«, sagte er leise und heiser vor Erregung, »für Sie – für dich scheint es, bin ich noch nicht zurückgekommen.« Er griff nach ihrer Hand, die einen Augenblick kühl und schlaff in der seinen lag und sich ihm dann entzog. »Bitte, lassen Sie«, sagte Daniela. »Ach, Karl Erdmann, Sie gehören auch zu jenen, die nie verstehen.« Karl Erdmann schwieg, starrte vor sich ins Dunkle hinaus – nein, er verstand nicht, er wußte nur, daß er sich plötzlich so elend fühlte, daß er fror. Daniela war nicht mehr neben ihm, er stand allein da und sann. Eine große Wut stieg in ihm auf. »Was will sie?« murmelte er vor sich hin. Er ging abseits, sich in eine dunkle Ecke der Veranda zu setzen. Das Gespräch der andern klang jetzt wie etwas Fernes, das ihn nichts anging, zu ihm herüber. Jemand rief: »Karl Erdmann!« er antwortete nicht, er drückte sich in seine Ecke und versuchte zu verstehen.

Durch die Stille des nächtlichen Gartens kam ein Ton, ein kurzer, trockener Ton. »Es war ein Schuß«, sagte Herr von Wallbaum. »Ja, drüben im Park«, sagte Botho. Nun hörte man hastige Schritte über den Kies laufen, sie kamen aus der Allee auf die Treppe zu. Jemand im hellen Kleide blieb vor der Treppe stehen, und man hörte ein lautes Weinen. »Was gibt es?« rief Herr von Wallbaum und stieg die Treppe hinab, »wer ist da? Sie, Lina? Wo kommen Sie her? Was ist denn geschehen? Wer hat geschossen?« »Ach Gott, ach Gott«, jammerte Lina, »ich weiß nicht, wir – ich war drüben am Teich, da hat einer geschossen. Jetzt liegt er auf der Bank unter dem Ahorn.«

»Wer denn? So sprechen Sie, Mädchen«, herrschte Herr von Wallbaum sie an.

»Aristides Dorn«, sagte jemand. Karl Erdmann trat schnell zu den andern; war es nicht Daniela gewesen, die »Aristides Dorn« gesagt hatte? Eine große Aufregung entstand jetzt, Herr von Wallbaum rief nach den Dienern, nach Laternen. Von allen Seiten kamen Leute, und man machte sich auf, in den Park zu gehen. Karl Erdmann ging mit, aber er war noch so in seine Gedanken versunken, daß er ein wenig zurückblieb. Warum hatte Daniela »Aristides Dorn« gesagt, wie wußte sie das? »Sie sind von denen, welche nie verstehen«, hatte sie gesagt, und nicht zu verstehen, sie nicht zu verstehen, empfand er als quälende Demütigung. Die andern waren schon an der Bank unter dem Ahorn angelangt, als Karl Erdmann sie einholte. Auf dem Boden lag Aristides Dorn ausgestreckt, die Laternen beleuchteten hell sein Gesicht, das von einer graugelben Blässe und leicht verzogen war wie im Schmerz oder als wollte es weinen. Von der Schläfe lief ein dunkler Blutstreif auf die Wange herab. Bei ihm aber kniete Daniela, sie hatte den Kopf des Toten auf ihre Knie gelegt, beugte sich auf ihn nieder und strich ihm sanft mit der Hand die schwarze Locke aus der Stirn. Zuweilen erhob sie den Kopf und sagte etwas zu den Umstehenden. Ihre Wangen waren leicht gerötet, ihr Gesicht feucht von Tränen, und ihre Augen hatten den strahlenden Glanz überstarken Fühlens, der auch im Schmerz etwas wie die Erregung eines Glückes in sie hineinlegte. Karl Erdmann sah all das ganz deutlich, ja er sah nur das, so furchtbar ergriff ihn diese bei dem Toten kniende Frau. Männer kamen mit einer Art Tragbahre, auf die Aristides Dorn gelegt wurde, und dann setzte sich der Zug langsam dem Hause zu in Bewegung. Daniela ging neben der Bahre her, als würde dort etwas getragen, das ihr gehörte. Am Hause gab Herr von Wallbaum leise seine Befehle, die Leiche sollte in dem leeren Zimmer neben dem Wintergarten aufgebahrt werden, Leute sollten nebenan wachen, der Arzt mußte geholt werden, der Totenschau wegen. Karl Erdmann wurde es unerträglich, bei der Bahre zu stehen, er ging ins Haus.

Im Gartensaal standen die Frauen verschüchtert beieinander. Als Karl Erdmann eintrat, schauten ihn alle aufgeregt an. Er nickte und sagte leise: »Ja, es ist Dorn.« Er wollte nicht mehr sprechen, stellte sich an ein Fenster und schaute hinaus. »Warum?« fragte Frau von Wallbaum. Er zuckte die Achseln. Lina, die in einer Ecke des Zimmers stand, begann laut zu weinen und wurde von Frau von Wallbaum zur Ruhe verwiesen. Als dann auch Leo heftig zu weinen begann, mußte ihm Lina Wasser holen. Dann schwiegen alle, saßen da und schauten vor sich hin, als warteten sie auf etwas. Einmal sagte Frau von Wallbaum zu Lina: »So schließen Sie doch die Gartentüre, es ist unerträglich, so ins Dunkle hineinzusehen.« Endlich kamen die andern. Herr von Wallbaum hatte das Bedürfnis, laut und schnell zu sprechen: »Fatal, sehr fatal. So ein junger Mensch schießt sich tot, mir nichts, dir nichts. Und warum? Keiner hat ihm was getan. Aber das ist die Schlappheit der heutigen Jugend. Keine Zucht. Zu meiner Zeit schoß man sich tot, wenn der Karren so verfahren war, daß er nicht mehr weiterging. Die heutigen jungen Leute machen ihren Abendspaziergang und schießen sich eine Kugel durch den Kopf, wie ein anderer sich eine Zigarette anzündet. Widerlich.« Er ging in das Eßzimmer hinüber, trank einen Kognak, kam dann zurück, sprach weiter: »Kann einer mir sagen warum? Hat einer eine Ahnung warum?« Da niemand antwortete, ließ er sich in einen Sessel fallen und schwieg auch. Als eine Türe aufging, schreckten alle ein wenig zusammen.

Daniela erschien. Sie kam aus ihrem Zimmer, hatte einen schwarzen Mantel umgelegt und ging eilig zur Gartentüre. Einen Augenblick blieb sie stehen und sagte zu Frau von Wallbaum: »Ich gehe noch hinüber.« Dann verschwand sie. Alle schauten ihr nach, als hätte etwas Unerklärliches sich eben ereignet. Graf Lynck trat an das Fenster, um hinauszuschauen. »Was tut sie?« fragte Herr von Wallbaum leise. »Jetzt pflückt sie die Lilien«, berichtete Graf Lynck. »Meine Lilien!« klagte Frau von Wallbaum leise. »Jetzt geht sie in den Wintergarten«, meldete Graf Lynck weiter. Herr von Wallbaum schlug sich mit der flachen Hand auf das Knie: »Ist denn heute alles toll geworden! Weiß einer, was die Daniela mit diesem jungen Menschen zu tun hat. Lauter ganz unverständliche Sachen!« Graf Lynck lächelte sein überlegenes Lächeln und meinte: »Es gibt eben Frauen, die nicht genug fünfte Akte erleben können.« Aber Herr von Wallbaum ärgerte sich darüber: »Das ist eine Redensart, mein Lieber, im besten Fall ein Witz, erklärt aber nichts.« Da keiner Lust zu haben schien, eine Erklärung zu geben, erhob sich Herr von Wallbaum: »Jetzt ist nichts zu machen. Wenn der Doktor kommt und so, gibt es Schreibereien genug für mich, also gute Nacht.« »Ja, gehen wir«, sagte Frau von Wallbaum, »nicht wahr, Mann, du kommst bald nach.« »Ich schlafe heute nacht bei Oda«, sagte Heida, »und Lina schläft bei mir«, verkündete Fräulein Undamm.

»Wovor fürchtet ihr euch denn?« fragte Botho erstaunt.

»Des armen Herrn Dorns wegen«, meinte Heida, »fürchte ich mich nicht. Das eigentlich Unheimliche ist Daniela.«

So zogen sie sich alle zurück, nur Karl Erdmann blieb und ging unruhig im Saale auf und ab. Er konnte Daniela nicht allein lassen dort bei dem Toten, die andern alle verließen sie, flüsterten über sie, fürchteten sich vor ihr. Ein qualvolles Mitleid stieg in ihm auf. Mit der Liebe und der Eifersucht hatte er Not genug, nun kam noch dieses Mitleid und machte ihn vollends wehrlos und krank. »Ich geh zu ihr«, beschloß er und stieg in den Garten hinunter. Er näherte sich dem Wintergarten, um durch das Fenster zu schauen. Das große, weißgetünchte Zimmer war von Kerzen hell erleuchtet, auf einem weißen Ruhebette lag Aristides Dorn, seine Züge hatten jetzt eine strenge, überlegene Ruhe, die Locke lag tintenschwarz auf seiner bleichen Stirn. Ein großes Büschel Lilien war ihm auf die Brust gelegt. Abseits in einer Ecke saß Daniela in einem Gartenstuhl, fest in ihren Mantel gewickelt. Sie schaute tief in Gedanken gerade vor sich hin und ihr Gesicht hatte einen aufmerksamen und belebten Ausdruck, wie sie ihn zuweilen in Gesprächen hatte, die ihr Gefühl erregten. Karl Erdmann öffnete leise die Tür und trat ein. Daniela schreckte ein wenig zusammen und wandte sich nach ihm um. »Sie, Karl Erdmann, warum kommen Sie?« fragte sie flüsternd. »Ich komme Sie holen, Daniela«, antwortete er ebenso leise. »Sie dürfen hier nicht allein bleiben, kommen Sie zu uns.« Daniela wandte ihren Kopf wieder von ihm ab und sagte abweisend: »Ach nein, ich bleibe noch ein wenig, ich glaube, es würde ihm wohltun, wenn er wüßte, daß ich hier bei ihm sitze.«

Karl Erdmann zuckte die Achseln: »Er? – Ihm können wir doch nicht mehr helfen.«

Daniela schien das nicht zu hören, sie sprach weiter, erhob ein wenig die Stimme, als spräche sie dort zu dem Toten hinüber: »Wissen Sie, daß sie einen Zettel bei ihm gefunden haben, auf dem hat er in seiner guten ordnungsliebenden Art geschrieben: ›Der Ordnung wegen bemerke ich, daß ich freiwillig aus dem Leben gehe‹, ich weiß aber, daß er um mich gestorben ist.«

»Ein Kranker«, unterbrach Karl Erdmann sie ungeduldig, »er hat es mir selbst gesagt, daß er krank war.«

Daniela lächelte wie zu einer Torheit: »Sie wissen nicht, Karl Erdmann, wie schrecklich es ist, wenn etwas so unendlich Großes wie solch eine Liebe uns ganz nahe gewesen ist, und wir haben sie nicht beachtet, und wir haben es geschehen lassen, daß sie sich still fortschleicht.«

»Seine schwächliche Liebe«, stieß Karl Erdmann mühsam vor Erregung heraus, aber Daniela unterbrach ihn: »Sagen Sie nichts, Karl Erdmann, Sie können das nicht verstehen, bitte gehen Sie, stören Sie uns nicht, Ihnen kann es doch gleich sein, ob ich hier sitze oder nicht.« Sie lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen.

Karl Erdmann stand noch da, er sah zu Aristides Dorn hinüber, schaute dies Gesicht an, das so streng und überlegen zwischen den weißen Lilien lag, und ein heißes Gefühl des Zornes schnürte ihm die Kehle zusammen, und dann schämte er sich dieses Zornes gegen den hilflosen Toten. Leise verließ er das Zimmer.

Draußen in der lauwarmen Dunkelheit begann er langsam wie eine Schildwache vor dem Wintergarten hin und her zu gehen. Aber Aristides Dorns bleiches Gesicht stand deutlich wie eine Vision vor seinen Augen, und dann war es nicht mehr das Gesicht des Toten dort, sondern des Lebenden, wie er in der Morgendämmerung auf der Bank gesessen hatte, die frierenden Lippen lächelten mühsam ihr hochmütiges Lächeln und sagten: »Sie vertragen hier keinen Alltag, da kommt ein armer Werktagsmensch nicht auf, der zählt nicht.« Karl Erdmann blieb stehen, ein Gedanke, der ihm durch den Kopf schoß, erschütterte ihn. Aristides Dorn hatte nicht mehr alltäglich sein wollen, und er, Karl Erdmann, war wieder alltäglich. Jetzt verstand er, aber das Verstehen war bitterer noch als das Nichtverstehen.

 


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