Eduard von Keyserling
Am Südhang
Eduard von Keyserling

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Die Abfahrt zu früher Stunde war lustig. Frau von Wallbaum stand wieder auf der Treppe, hob segnend die Hände und sagte: »Unterhaltet euch gut.« Die Herren lehnten sich behaglich in den Landauer zurück und zündeten ihre Morgenzigarren an. »Angenehme Lebenslage«, sagte Graf Lynck. »Ja, sehr angenehm«, bestätigte Karl Erdmann. Trotz der wenigen Stunden Schlaf fühlte er sich ausgeruht und war mit dem Leben zufrieden, zufrieden mit dem, was er erlebt hatte, und dem, was er erleben sollte. Vor allem aber war er heute mit sich selbst ganz einverstanden, er war sozusagen gern mit sich selbst zusammen, mit diesem Karl Erdmann, der geliebt und beweint wurde und nun fröhlich seiner ritterlichen Pflicht entgegenfuhr. Bis zur Wohnung des Doktors Ulich war es eine Stunde. Dort hielt dann der Wagen vor dem roten Backsteinhause, das mitten in einem flachen, baumlosen Garten lag, der voller Gemüsebeete, roter Verbenen und Johannisbeerbüsche war. Der Doktor wartete bereits vor der Haustür, ein junger Mensch mit einem runden Kindergesicht, dem wie zum Scherz ein roter Backenbart angeklebt schien. Als er in den Wagen stieg, richtete er sich noch einmal auf, um in den Garten hinüberzugrüßen, wo seine Frau bei den Johannisbeeren beschäftigt war. Die kleine Frau, der die dicken blonden Zöpfe sich wie ein gelber Metallhelm um den Kopf legten, hob die Hände, die rot von Johannisbeeren waren, in den Sonnenschein hinein und winkte. Dann fuhr man ab.

»Sehr hübsch dieser Garten«, bemerkte Graf Lynck, »all das viele Rot im Sonnenschein, die roten Verbenen, die rotbemalten Hände Ihrer Frau Gemahlin.« Doktor Ulich errötete und lächelte: »Ja, Johannisbeeren, wir haben sehr viel Johannisbeeren, da gibt es zu tun. Meine Frau macht sie für den Winter ein, das ist sehr angenehm, aber –«, er hielt inne und schaute Karl Erdmann erschrocken an, »ich erzähle hier von Johannisbeeren, es ist wohl nicht am Platz – die Herren haben gewiß an andere, ernste Dinge zu denken.« »Daß ich nicht wüßte«, sagte Graf Lynck, »im Gegenteil, ich denke gern an Johannisbeeren. Der Geruch und der Geschmack von Johannisbeeren sind mir mit einer hübschen Jugenderinnerung verbunden. An einem Johannisbeerbusch machte ich als Achtzehnjähriger meine erste Liebeserklärung, und zwar der Engländerin meiner Schwester; eine blonde junge Dame, weiß und rot wie Porzellan, und sie hatte einen kleinen runden Mund, der aussah, als sei er vom vielen ›O‹ sagen selbst ein blutrotes O geworden. Sie war sehr erschrocken über meine Erklärung und zerdrückte in ihren Händen die Johannisbeeren, die sie hielt, so daß sie ganz rote Hände bekam.« Ja, die Engländerinnen, Botho hatte auch welche gekannt. Und nun sprach man von Engländerinnen und von andern Damen, endlich von Weibern im allgemeinen. Der Doktor hörte aufmerksam zu und lachte viel, indem er den Mund dabei weit öffnete.

Es begann sehr heiß zu werden, dichte Staubwolken hüllten den Wagen ein. Die Herren zogen die Kapuzen ihrer Staubmäntel über die Köpfe und wurden schläfrig. Einer nach dem andern schloß die Augen, nur der Doktor behielt seine runden, blauen Augen weit offen, er wollte keinen Augenblick des interessanten Erlebnisses versäumen.

Um die Mittagzeit wurde vor einem Kruge haltgemacht, die Pferde sollten ein wenig ausruhen, und die Herren gingen in die Krugstube, um dort ihren Imbiß zu nehmen. Die Stube roch nach Kalk und Bier, an den Fenstern lärmten zahllose Fliegen, und hinter seinem Schenktische schlummerte dick und erhitzt der Wirt. In einer Ecke des Zimmers saßen drei wandernde Musikanten vor ihrem Glase Bier, grau vom Straßenstaub vor sich hinstarrend, als könnten sie sich vor Hitze und Müdigkeit nicht regen. »Auch Musik ist da, das ist gut«, sagte Karl Erdmann, und während Graf Lynck sorgsam das Frühstück auspackte, den Wein eingoß, ermunterte Karl Erdmann die drei schlaffen Burschen: »Spielt etwas, so was Patriotisches, einen Marsch oder Heil dir im Siegeskranze!«

Widerwillig zogen die Musikanten ihre Hörner hervor und spielten traurig und falsch einen Marsch, während die Herren frühstückten. »Köstlich, famos«, sagte der Doktor, »dieser Wein, diese Musik, diese ganze Lebenslage, unerhört interessant.«

»Margusch, bedien die Herren«, rief der Wirt, und Margusch kam, eine seltsam grelle, farbige Gestalt, unter dem roten Kopftuch quoll das ungeordnete schwarze Haar hervor, in dem blanken, bräunlichen Gesicht saßen die Augen wie braunrote Glaskugeln, und der Mund sah aus, als hätte ein in Karmin getauchter Pinsel einen saftigen roten Fleck in das Gesicht gemacht. »Ein Farbkasten, die Person«, bemerkte Lynck. »Neapel!« rief der Doktor begeistert. Da die Musikanten jetzt einen Walzer spielten, so erhob Karl Erdmann sich und tanzte mit Margusch, die dabei ganz ernst blieb, die Augen schloß und sich mit Gewalt drehte. Endlich war Karl Erdmann atemlos, er ließ das Mädchen stehen und sagte: »Nun, meine Herren, jetzt können Sie tanzen.« »Ich will lieber nach den Pferden sehen«, sagte Botho, »komm, Margusch.« Er erhob sich und ging mit dem Mädchen hinaus. Doktor Ulich rieb sich die Hände und murmelte: »Herrlich, herrlich. Ich bin glücklich, das zu erleben. Man denkt sich das alles ganz anders, ein Duell, mein Gott, und nun...«

»Trinken Sie, Doktor«, sagte Karl Erdmann und schlug Ulich auf die Schulter, »Sie sind wirklich von einer erfrischenden Empfänglichkeit.«

Als die Fahrt fortgesetzt wurde, führte der Weg durch den Wald, an prachtvollen Föhrenstämmen hin und dann durch alten Tannenbestand, in dem es fast dämmerig war. Die Feierlichkeit des Waldes machte die Herren schweigsam, und nachdenklich ließen sie die großen Baumgestalten an sich vorüberziehen, sie machten ernste Gesichter, als müßten sie jetzt einer Zeremonie beiwohnen.

Bei Sonnenuntergang hielten sie vor der Waldhüterei. Ein niedriges Holzhaus stand zwischen den großen Tannen, daneben ein kleiner, offener Heuschober und ein Stall. Die Gebäude waren noch neu und schimmerten grell und unruhig aus der großen Ruhe des Waldesschattens heraus. Vor der Tür stand der Waldhüter, ein Riese, den Kopf und das Gesicht voll struppiger Haare, neben ihm seine Frau, hübsch und bleich, ein Kind an der Brust.

»Es ist alles fertig, wie die Herren es bestellt haben«, sagte der Waldhüter, und die Frau sah die Ankommenden ernst und feindselig an. Die Herren mußten durch eine dunkle Küche gehen, in der der Rauch ihnen die Tränen in die Augen trieb, dann kamen sie in die beiden Zimmer, die für sie bereitet waren. Es roch hier nach frischen Brettern, nach Harz und feuchtem Leim. »Herrlich«, rief Doktor Ulich, »man steht mitten im Märchen, man hätte Lust zu sagen, laßt die Hexe herein.« Graf Lynck verzog sein Gesicht: »Ja, wenn wir nur die zum Komfort nötig hätten, dann würde es ja gehen.«

Botho und Graf Lynck machten sich zum nahegelegenen Kruge auf, um mit den Herren, die dort ihr Quartier aufgeschlagen hatten, die Verabredung für morgen zu treffen. Doktor Ulich ging unter den Tannen auf und ab, den Hut in der Hand, um sich ganz in die Natur zu versenken. Karl Erdmann trat vor die Haustür. Es dunkelte schon stark, an der Hauswand lehnten zwei weiße Gestalten, ein großes Mädchen, nur mit Rock und Hemd bekleidet, und ein Bursche in einer weißen Leinwandhose. Sie standen schweigend da, ließen die nackten Arme schlaff niederhängen und kühlten sich. Auf einer niedrigen Holzbank saß in Tücher gewickelt und in sich zusammengebogen eine ganz alte Frau. Karl Erdmann setzte sich zu ihr auf die Bank. »Nun, Mutter, gut ist es hier«, sagte er.

»Kalt«, antwortete die Alte verdrießlich, »wie kann es gut sein, wenn es kalt ist, mir ist immer kalt.«

»Aber am Tage«, wandte Karl Erdmann ein, »wenn die Sonne da ist?«

Die Stimme der Alten wurde tiefer und böser, als sie erwiderte: »Die Bäume, die Luder, lassen sie nicht heran«, und dann wies sie mit einem seltsam knorrigen Finger zu dem Mädchen und dem Burschen hin, »die da schwitzen und mir ist kalt, anders ist es nicht. Ist man jung, dann ist einem zu heiß, ist man alt, dann friert man, anders ist es nicht.«

Durch die geöffnete Haustür klang das Wimmern eines Kindes, das Schelten einer Frauenstimme, Schritte nackter Füße auf Steinfliesen. Hinten im Stall grunzten Schweine, die beim Schlafengehen wohl in Streit geraten sein mochten. Die Finsternis sank immer tiefer hernieder. »Kalt, kalt«, sprach die böse Stimme der Alten zuweilen vor sich hin. Über dem allen aber aus den schwarzen Wipfeln ertönte das große Rauschen des Waldes langatmig und ernst. Karl Erdmann schloß die Augen, um ihm zuzuhören, um zu hören, wie es die kleinen, kummervollen Töne um ihn her überdeckte, als unwesentlich und sinnlos auslöschte. »Es mag wohl sein«, dachte Karl Erdmann, »daß es sich in dem großen Rufen dort oben um anders wichtige Sachen handelt, als wir hier treiben.«

Endlich kehrten Botho und Graf Lynck von ihrem Gange zurück, Botho rief nach Essen, und Graf Lynck ließ einen Tisch, Stühle und eine brennende Petroleumlampe an der Schmalseite des Hauses aufstellen. Dann begann er sehr sorgsam die Eßvorräte auszupacken und auf dem Tische anzuordnen. »So, meine Herren, das Souper ist bereit«, sagte er und setzte sich. Der Doktor rieb sich vergnügt die Hände, beugte sich mit seinen kurzsichtigen Augen nahe auf die Speisen nieder und murmelte: »Welche Herrlichkeiten! Da sind Rebhühner und Eier, und sogar Gänseleberpastete, und der göttliche Östricher! Was nimmt man nun zuerst? Ich möchte keinen Fehler begehen.«

»Nun«, meinte der Graf ernst, »ich würde zur Pastete raten, denn die Trüffel verlangt sozusagen eine noch jungfräuliche Zunge.«

»Ich danke, Herr Graf, ich werde mir das merken«, sagte der Doktor.

Eine Weile aßen nun die Herren eifrig und schweigend, allein nach dem dritten Glase Rheinwein vermochte der Doktor mit seiner Begeisterung nicht mehr an sich zu halten. »Wir tafeln hier, und hinter unsern Stühlen steht der Wald wie ein Diener, groß und schwarz.« »Das ist allerdings ein wenig seltsam«, bemerkte Botho, »diese Dunkelheit da. Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, als stünde dort jemand und schaute uns zu.« »Sie schauen uns zu«, rief der Doktor, »sie schauen uns zu, die Bäume und die Sterne und die ganze große Natur. Wir sitzen hier wie auf einer kleinen mystischen Lichtinsel...« »Sie schreiben wohl ein Tagebuch, Herr Doktor«, warf Graf Lynck ein. »Warum?« fragte der Doktor. »Nun, weil Sie jede Situation gern gleich druckfertig machen.« Der Doktor errötete. »Früher als Junggeselle, ja, da schrieb ich alles nieder, aber jetzt, wo ich verheiratet bin, wozu! Ich erzähle meine Eindrücke meiner Frau, das ist einfacher.« »So, so«, meinte Botho, »das mag gewiß ein Hauptvorteil der Ehe sein, daß man in ihr stets sein Publikum hat.« Aber der Doktor wollte sich in seiner Begeisterung nicht stören lassen. »Mystisch«, begann er wieder, »alles ist hier mystisch. Wenn wir bedenken, wozu wir hier sind – und doch die Ruhe und Gemütlichkeit. Mut ist doch was Großes und Schönes.«

»Ach was, Mut«, brummte Karl Erdmann ärgerlich, und Botho versetzte zerstreut: »Mut, Mut, na ja, man hat Mut, wie man eine Nase hat.« Das entzückte den Doktor vollends: »Das ist es ja; Ihnen ist das selbstverständlich, und überhaupt ein Duell, an sich ein Mysterium, eine erhabene Sinnlosigkeit, eine sakramentale Handlung, credo quia absurdum est. Wer hat einen Vorteil davon, bitte? Und doch welch eine Wirkung.« Graf Lynck lächelte ironisch: »Es ist ein Mittel gegen ein Übel. Sie, lieber Doktor, wissen doch auch nicht, wodurch die Mittel, die Sie Ihren Kranken eingeben, wirken.«

Die Waldhütersfrau kam, um die Teller fortzuräumen, und unterbrach das Gespräch. Die Herren zündeten die Zigarren an, füllten die Weingläser und lauschten eine Weile schweigend dem Rauschen des Waldes.

Endlich begann der Graf wieder, als hätte er in Gedanken das Gespräch fortgesetzt: »Man gewinnt nichts dabei, meinen Sie, na, darüber ließe sich doch manches sagen, aber wissen Sie, daß zuweilen beim höchsten Spiel der eine zwar einen für ihn sehr wichtigen Einsatz verlieren kann, der andere aber nichts dabei gewinnt als die Genugtuung über den Verlust seines Gegenspielers. Kein gutes Zeichen für die Liebenswürdigkeit der menschlichen Natur. Da erinnere ich mich, in Dresden einen Polen gekannt zu haben, v. Kirbitzky hieß er, seine Leidenschaft und sein Beruf waren das Spiel. Da erzählte man mir eines Tages, Kirbitzky hat in vergangener Nacht in irgendeinem Cercle ein sehr hohes Spiel gespielt und alles, was er besaß, verloren. Als er nichts mehr zu setzen hatte, setzte er sein rechtes Ohr, das der Gegenspieler für einen ansehnlichen Betrag als Einsatz gelten ließ. Nun, Kirbitzky hatte Glück und gewann. Als ich bald darauf den Herrn traf, fragte ich ihn nach der Geschichte, und er bestätigte sie mir. »Gut«, sagte ich, »wenn Sie nun verloren hätten, was hätten Sie getan?« »Ich hätte mir natürlich das Ohr abgeschnitten«, sagte er, »und hätte mir das Haar über die rechte Seite gekämmt, übrigens hat man Ihnen die Geschichte nicht ganz richtig erzählt. Als ich mein Ohr setzte und gewann, da bog ich die Karte.«

Doktor Ulich hatte vom Wein und der Erregung rote Backen und blanke Augen bekommen, er legte beide Hände an die Schläfen, als sei ihm der Kopf zu voll von Gedanken: »Unbegreiflich!« rief er. »Was ist der Mensch für ein unheimliches Wesen, un monstre incompréhensible, sagt Pascal, aber schließlich ist ein Ohr doch nur ein Ohr. Aber wenn der Tod sich hereinmischt, da wird die Sache feierlich. Immer, wenn wir eine Sache erhaben und feierlich machen wollen, muß immer irgendwie der Tod dabei sein. Haben Sie das nicht bemerkt, meine Herren?«

»Nun« das ist richtig«, meinte Botho, »so in Theatern und in Büchern und auch sonst wird ein bißchen Tod gern als Gewürz benutzt.«

»Und doch, man weiß immer noch nicht, was er ist«, sagte Karl Erdmann. Auf die drei andern wirkten diese Worte seltsam, sie machten Gesichter wie Leute, die sich einer Taktlosigkeit bewußt werden, und schauten Karl Erdmann ein wenig erschrocken an. Dieser errötete und lachte verlegen. »Sie, Doktor«, sagte er, »haben ja viel mit diesen Dingen zu tun, haben Sie nie etwas bemerkt, was einen Aufschluß geben könnte?«

Der Doktor zuckte die Achseln und sagte bedauernd: »Nein, wirklich, ich habe nichts bemerkt. Wenn der Patient den letzten Atemzug getan hat, wenn ich ihm die Augen zudrücke und die Morphiumspritze einpacke, dann kommt es mir vor, als würde ganz brutal vor mir eine Tür zugeschlagen. Ja, wirklich, ich komme mir geradezu hinausgeworfen vor.«

»Nicht sehr schmeichelhaft für die Menschheit«, knarrte Graf Lynck, die Zigarre zwischen den Zähnen behaltend, »der Tod ist nun eine millionenjahrealte Erfahrung, und es ist ihm doch gelungen, sein Inkognito zu wahren.«

Doktor Ulich trank hastig und erregt sein Glas leer und lächelte geheimnisvoll. »Und doch«, sagte er, »es gibt Augenblicke, in denen wir fast etwas zu wissen glauben.«

»Nun?« fragte Karl Erdmann und beugte sich ein wenig vor.

»Nein, nein, nicht wissen«, wehrte der Doktor ab, »wie sollte ich etwas wissen, aber ahnen, fühlen, wie es vielleicht sein könnte. Also wir sitzen auf unserer gelben Lichtinsel eng und gemütlich beieinander. Um uns steht die Finsternis ganz nah und unbekannt, aber wir wissen, dort rauscht es und weht es, dort treibt ein großes Sein sein Wesen. Und plötzlich entwische ich aus unserer Lichtinsel hinein in die große Finsternis. Ich verliere mich ganz in sie, ich schmelze in sie hinein. Werde ich dann nicht ein unendlich wohltuendes Strecken und Dehnen fühlen, ein Atmen, wie mit immer weiter werdenden Lungen, etwas wird sich in mir lösen, in das ich eingeschnürt war, etwas wird von mir abfallen, und was sich löst und was abfällt, das werde ich sein, das wird Friedrich Karl Ulich sein, und statt dessen werde ich auch als das große Wesen, als die große Finsternis, als das große Sein mein Wesen treiben. Das kann doch gut sein.« Er hatte laut und von seinen Worten hingerissen gesprochen, aber plötzlich wurde er befangen, errötete und schwieg.

Graf Lynck schaute ihn neugierig an, dann lächelte er spöttisch und bemerkte: »Gott, ich weiß nicht, man hat sich nun mal an sich selbst gewöhnt.«

»Kalt, dunkel«, brummte Botho vor sich hin und schaute mit Abneigung in diese Dunkelheit, die sie da so eng einschloß. Ja, wirklich, es schien ihm, als bedrückte sie ihn, als würde es ihm schwer, zwischen diesen schwarzen Wänden zu atmen. Teufel, dieser Doktor mit seinen Visionen hatte nicht gerade einen heiteren Rausch. Alle schwiegen jetzt, rauchten und sannen vor sich hin. Endlich erhob sich Graf Lynck und sagte: »Ich denke, wir gehen schlafen, unsere Unterhaltung ist ja ohnehin so weit gediehen, daß es wohl nichts mehr zu sagen gibt.« Sie schickten sich an, ins Haus zu gehen, nur Karl Erdmann blieb zurück. »Kommst du nicht?« fragte Botho.

»Nein, geht nur«, erwiderte er, »der Wein hat mich heiß gemacht, ich will mich ein wenig abkühlen.« Damit ging er eilig in den Wald hinein.

Der breite Waldweg lag wie eine bleichere Finsternis zwischen dem Schwarz der Tannen. Hier unten war alles still und regungslos, oben aber ging eine starke Bewegung durch die Wipfel, ein dunkles Flattern, Sichneigen und Biegen. Wenn Karl Erdmann emporschaute, sah er zwischen den Zweigen Sterne auftauchen und verschwinden, sie schienen durch die Nacht zu laufen wie Funken durch eine verlöschende Kohle. Gespannt lauschte er in sich hinein, er wollte etwas von den Gefühlen entdecken, von denen der Doktor gesprochen hatte; dieses Hinschmelzen, dieses Lösen war etwas, das er gern erlebt hätte. Allein er spürte nichts, immer nur fand er sich selbst mit seiner Freudlosigkeit, die ihn heute quälte, mit einer kindischen Neigung, sich selbst zu bemitleiden, etwas Großes, Befreiendes wollte sich nicht einstellen, es war recht ärgerlich. Er begann schneller zu gehen. Auf einer kleinen Lichtung, an der er vorüberkam, lag der Nebel wie eine unsichere Helligkeit, ein Rehbock schreckte auf und brach bellend durch das Unterholz. »Nein«, dachte Karl Erdmann, »ich bin wohl sehr weit davon entfernt, mit der Nacht eins zu sein, ich störe nur, sie bellt mich böse und leidenschaftlich an.« Der Weg wurde enger, eine vom Wind gebrochene Tanne lag quer über ihn hingeworfen da. Karl Erdmann fühlte sich erschöpft und setzte sich auf den Stamm der Tanne. So würde es vielleicht eher gehen. Es gab doch indische Heilige, die jahrelang auf einem Flecke sitzen und nichts tun als von sich fortdenken und die sich dann eins fühlen mit dem All oder so etwas. Er schloß die Augen, das Rauschen über ihm hatte etwas, das gefangennahm, emporhob, ein wenig schwindlig machte, es war nicht ein Rauschen, sondern es war, als kämen immer wieder neue, große Flügel herangesaust, und sie kamen von sehr weit aus einem unendlichen Raum und flogen eilig, eilig vorüber, von sehr weit, von sehr weit. Ja, als er das dachte, da war es dagewesen, das Gefühl, aber nun war es doch gleich vorüber. Nah von sich hörte er jetzt ein Schnaufen und Blasen, eine unförmliche Gestalt schlich langsam über den Weg, ein Dachs auf seiner nächtlichen Jagd. Karl Erdmann regte sich nicht, um das Tier nicht zu verscheuchen, die Gegenwart dieses dicken Gesellen, der so gemütlich fauchend und blasend ganz nahe an ihm vorüberging, tat ihm wohl, die Unendlichkeit war fort, und der Wald wurde zu etwas Vertrautem und Gemütlichem, in dem man seine Höhle hat und seine vertrauten Wege, auf denen man nach Wurzeln und Käfern sucht. Als der Dachs fort war, fühlte Karl Erdmann sich einsam, er stand auf und machte sich auf den Heimweg. »Das ist alles Unsinn«, dachte er, »was weiß denn der Doktor. Er war übrigens betrunken heute abend.«

In der Waldhüterei war schon alles still. Als Karl Erdmann an dem offenen Schuppen vorüberging, sah er, daß der Bursche und das Mädchen fest aneinandergeschmiegt auf dem Heu lagen und schliefen. Die Küche war voll des eifrigen Schrillens der Heimchen, von nebenan wurden die lauten Atemzüge der schlafenden Waldhütersfamilie vernehmbar. »Na ja«, dachte Karl Erdmann, »eng zusammenkriechen, beieinander sein, das ist schon verständlicher. Man ist eben noch nicht das All.« Er wollte machen, daß er zu Bett kam, wollte an zu Hause, an den Garten, an Daniela denken, bis er einschlief.

 


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